Der Mann aus Caracas

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Er ist alles, was sich eine Frau nur wünschen kann - reich, gut aussehend und unglaublich erotisch: Antonio Rodrigo Cordoba del Rey! Auch Kyra ist in ihren sinnlichen Träumen längst seine Geliebte geworden, doch tagsüber zeigt sie ihm die kalte Schulter. Niemals will sie sich in die Schar seiner Verehrerinnen einreihen…


  • Erscheinungstag 04.11.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753931
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Sie gehörte nicht zu den Frauen, die Antonio Rodrigo Cordoba del Rey attraktiv oder auch nur reizvoll fand, und trotzdem beobachtete er sie schon seit einer Stunde.

Verrückt, dachte er stirnrunzelnd. Was war bei näherer Betrachtung eigentlich an ihr dran?

Sie war groß und graziös und viel zu schlank für seinen Geschmack, obwohl die hohen, festen Brüste und der sanfte Schwung ihrer Hüften, die sich unter dem engen Seidenkleid abzeichneten, zugegebenermaßen interessant waren.

An ihrem Typ konnte es auch nicht liegen. Er mochte blauäugige Blondinen mit hellem Teint lieber. Die Haut dieser Frau dagegen war sonnengebräunt mit einem goldenen Schimmer, und ihre Augen waren grau. Wenn sie den Kopf bewegte, glänzte ihr kurzes rotbraunes Haar wie Kastanien.

Und dennoch hatte sie etwas an sich, das ihn faszinierte. Das stolze Profil, das allzu höfliche Lächeln … Antonio stutzte. Er kannte genug Frauen wie sie. Trotz der samtweichen Haut und des Haars, das wie flüssiges Kupfer leuchtete, war sie eine Eisprinzessin – arrogant und abweisend.

Sie erinnerte ihn an jene makellosen Statuen im Museum, die unsichtbare Tafeln zu tragen schienen mit der Warnung, das unwürdige Publikum dürfe sie zwar ansehen, nicht aber anfassen.

Sie erinnerte ihn an eine Zeit in seinem Leben, die er längst vergessen zu haben glaubte.

Antonio wandte seine Aufmerksamkeit dem Begleiter der Frau zu. Offenbar bildete der Mann sich ein, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die sie vielleicht einmal berühren durften. Das bewies die Hartnäckigkeit, mit der er sich bereits auf der öden Cocktailparty, die dem Dinner vorausgegangen war, an ihre Fersen geheftet hatte. Allerdings zeigte die Frau auch jetzt nicht das geringste Interesse an ihm. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung und schob das Hühnchen mit Pilzsoße auf ihrem Teller hin und her.

Okay, das Menü war wirklich miserabel! Die gute Erziehung verlangte allerdings, dass man wenigstens so tat, als würde man davon kosten… Die Frau versuchte jedoch keineswegs, den Schein zu wahren. Sie langweilte sich auf dieser Wohltätigkeitsveranstaltung, sie langweilte sich in ihrer Tischrunde, sie langweilte sich in der Gegenwart des Mannes, der sie hier hergebracht hatte – und es war ihr verdammt egal, ob es jemand merkte oder nicht.

Antonio wunderte sich nicht darüber. Frauen ihrer Gesellschaftsschicht benahmen sich häufig so, besonders jene, die genau wussten, wie schön und begehrenswert sie waren. Ich bin hier, sagten ihre kühlen Gesichter, freust du dich nicht darüber? Aber erwarte nicht, dass ich ähnlich empfinde oder so tue, als würde ich mich wohl fühlen …

„Antonio?“

Er beobachtete, wie der Begleiter der Frau sich ihr zuwandte und ihr lächelnd etwas zuflüsterte. Selbst aus der Entfernung konnte Antonio erkennen, dass der Mann nervös war. Merkte sie denn nicht, dass ihr Tischherr eine kleine Ermunterung brauchte? Ein Lächeln oder ein freundliches Wort.

Stattdessen zuckte sie achtlos die nackten Schultern und verzog leicht die zimtbraun geschminkten Lippen.

„Antonio? Ich rede mit dir!“

Der Mann war ein Narr! Warum saß er neben ihr wie ein treues Schoßhündchen, das auf eine Belohnung wartete? Warum protestierte er nicht gegen diese gleichgültige Behandlung? Warum stand er nicht einfach auf und verließ den Saal?

Es gab eine ganz einfache Möglichkeit, eine Frau wie sie zur Vernunft zu bringen. Man musste ihr diese Überheblichkeit austreiben, indem man ihr vor Augen führte, was sie wirklich war: ein Geschöpf, das vor Leidenschaft zitterte.

Diese Lektion hat bislang alle in die Knie gezwungen, dachte Antonio und lächelte kühl.

Er straffte die Schultern. Er würde die Frau in seine Arme nehmen und ihre hochmütig verzogenen Lippen küssen, bis sie vor Verlangen geschwollen waren. Er würde sie von hier fort zu seinem Privatjet bringen. In der Abgeschiedenheit der dunklen Kabine würde er ihr in zehntausend Meter Höhe das schwarze Kleid ausziehen und ihre Brüste liebkosen. Dann würde er sie immer wieder nehmen, bis sie endlich begriffen hätte, dass sie eine Frau war und keine kalte Statue …

„Antonio! Was, um alles in der Welt, ist mit dir los?“ Eine schmale Hand mit rotlackierten Fingernägeln legte sich auf seinen Arm.

Antonio räusperte sich und verdrängte die aufreizenden Bilder, die ihm seine Fantasie plötzlich vorgegaukelt hatte. „Susannah.“ Er lächelte die Frau neben sich an. Sie war blond, blauäugig und verkörperte all das, was ihm gefiel – und nun schaute sie ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

Antonio atmete tief durch. Zum Teufel! Vielleicht war er tatsächlich durchgedreht. Nur ein Verrückter würde seine Zeit damit vergeuden, über eine Eisprinzessin nachzugrübeln, während eine heißblütige Frau an seiner Seite saß.

Querida.“ Er nahm ihre Hand. „Entschuldige. Ich war mit meinen Gedanken meilenweit fort.“

Die Blondine lächelte, aber ihr Blick blieb kalt. „Ach ja? Ich fand nicht, dass die Brünette am anderen Ende des Saals so weit weg ist…“

„Welche Brünette?“, fragte Antonio unschuldig. „Ich habe an dich gedacht.“

Die Blondine entspannte sich. „Und ich hatte schon befürchtet, du hättest mich vergessen.“

„Können die Gezeiten den Mond vergessen?“ Antonio rückte näher an sie heran. „Ich habe mein Versprechen gehalten“, flüsterte er, „und mein Land bei der Eröffnung des Denver Dance Folklore Festivals vertreten. Meinst du, es wäre sehr unhöflich von mir, wenn ich jetzt vorschlagen würde, einen etwas intimeren Ort aufzusuchen?“

Er sah, dass ein erwartungsvoller Schauer Susannahs Körper überlief. Sie war bereit für ihn, das wusste er. Das war sie beinahe schon bei ihrer ersten Begegnung in Vegas – oder war es Reno? – gewesen. Genau konnte er sich nicht daran erinnern. Seine Geschäfte führten ihn in viele Städte, und überall gab es Frauen. Schöne Frauen, die sich ihm bereitwillig hingaben, obwohl er ihnen stets von Anfang an klar machte, dass ihre Beziehung nicht von Dauer sein würde.

„Du bist zu arrogant, Antonio“, hatte ihn eine Frau einmal scherzhaft getadelt und gleich darauf lachend hinzugefügt: „Aber das war bei deinem attraktiven Äußeren und deinem Reichtum auch nicht anders zu erwarten.“

Sie hat recht, dachte Antonio, als er aufstand. Warum sollte er es nicht zugeben? Sein gutes Aussehen ließ sich nicht leugnen – es war das einzige Erbe von seinen Eltern, die er nie kennen gelernt hatte. Und was sein Vermögen betraf … Er hatte schließlich hart dafür gearbeitet und brauchte sich vor niemandem dafür zu rechtfertigen. Nur diejenigen, die mit dem viel zitierten goldenen Löffel im Mund geboren worden waren und sich deshalb für etwas Besseres als den Rest der Welt hielten, sollten sich dessen schämen. Das hatte er vor langer Zeit von einer Frau mit dem Gesicht eines Engels und dem Herzen und der Moral einer puta gelernt.

Verdammt! Was war nur heute los mit ihm? Es musste an dieser Frau liegen, die am anderen Ende des Saals saß. Rein äußerlich erinnerte sie ihn zwar überhaupt nicht an Jessamyn, aber ansonsten hatte sie manches mit ihr gemein: die gelangweilte Miene, die Ausstrahlung von Überheblichkeit.

Plötzlich spürte er, dass sie ihn ansah.

Obwohl er ihren Blick fast körperlich fühlte, verriet er mit keinem Wimperzucken, dass er sich beobachtet wusste. Galant half er Susannah beim Aufstehen, verabschiedete sich von den Gentlemen an seinem Tisch mit einem Händedruck und küsste den Damen die Hand.

Fürsorglich nahm er Susannahs Arm, und dann – diesen kleinen Triumph hatte er sich aufgespart – drehte er sich mit ihr um und sah die Frau an.

Ihm war, als hätte man ihm einen Fausthieb in den Magen versetzt. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass sie ihn anschauen würde, aber seine Reaktion darauf brachte ihn völlig aus der Fassung. Das Blut pulsierte auf einmal schneller durch seine Adern, und er merkte, wie Lust in ihm erwachte. Der Bankettsaal verblasste und trat in den Hintergrund. Es gab nur ihn und sie und den Wunsch …

Die Frau verzog spöttisch die Lippen. Sie hob das Kinn und wandte sich ab. Schlagartig fühlte Antonio sich in jene Zeit zurückversetzt, als er statt eines maßgeschneiderten Smokings ausgeblichene Jeans, ein verschwitztes T-Shirt und Arbeitsstiefel getragen hatte.

„Antonio, du tust mir weh!“

Er erwachte aus seiner Benommenheit und blickte auf Susannah, deren Handgelenk er fest umklammert hatte. Verlegen lockerte er den Griff und entschuldigte sich halblaut. Den Arm um ihre Taille gelegt, führte er sie durch den Saal. Er wählte allerdings nicht den direkten Weg zum Ausgang, sondern steuerte unauffällig auf den Tisch zu, an dem die Frau mit den silbergrauen Augen und dem kastanienbraunen Haar saß.

Als er sein Ziel erreicht hatte, ließ er Susannah den Vortritt zwischen den engen Reihen hindurch. Diese Geste verschaffte ihm genau die kurze Zeitspanne, die er brauchte. Verwunderung spiegelte sich auf den Zügen der Frau wider, als er auf sie herabschaute.

„Señorita“, fragte er höflich, „sprechen Sie vielleicht Spanisch?“

Nach kurzem Zögern nickte sie.

Lächelnd beugte Antonio sich zu ihr herab und flüsterte ihr in seiner Muttersprache ins Ohr: „Schämen Sie sich, weil Sie einen Mann wie mich begehren, Señorita?“

Sie schnappte empört nach Luft.

Er lachte leise. „Vielleicht fühlen Sie sich besser, Señorita, wenn ich Ihnen versichere, dass ich lieber ein Keuschheitsgelübde ablegen als Sie in mein Bett holen würde.“

Dann richtete er sich wieder auf, nickte den anderen Gästen grüßend zu und folgte Susannah zum Ausgang.

Kyra Landon fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

Die Welt wimmelte nur so von Verrückten. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren wusste selbst sie das – trotz aller Versuche ihres Vaters, sie vor den Widrigkeiten des Lebens zu beschützen.

Allerdings war ihr bis zu diesem Tag noch nie jemand begegnet, der so unverfroren war wie dieser Mann.

„Kyra?“

Sie sah hoch. Ronald musterte sie mit gerunzelter Stirn. Die anderen Gäste am Tisch starrten sie ebenfalls an. Du liebe Güte, dachte sie entsetzt, wenn einer von ihnen Spanisch versteht …

„Was, zum Teufel, hat der Mann zu dir gesagt?“

Die Gattin des Kulturbeauftragten beugte sich neugierig vor. „Es muss etwas wirklich Unglaubliches gewesen sein“, rief sie aufgeregt. „Sie sind ja ganz rot geworden, meine Liebe.“

„Natürlich war es etwas Unglaubliches.“ Der Freund des Ballettmeisters seufzte verzückt. „Ein so attraktiver Mann kann gar keine Banalitäten von sich geben, stimmt’s, Miss Landon?“

Kyra räusperte sich. „Spricht jemand von Ihnen Spanisch?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Der Choreograf schüttelte den Kopf. Allmählich beruhigte sich auch Kyras Herzschlag wieder.

Ronald sah sie zweifelnd an. „Was hat er denn gesagt?“

„Er sagte … ich möchte den Verantwortlichen bitte ausrichten, dass … das Kunstzentrum wirklich wundervoll sei und dass er leider nicht zur Ballettaufführung bleiben könne, aber … das Dinner sei ausgezeichnet gewesen.“

Himmel, warum hatte sie so übertreiben müssen? Die anderen am Tisch waren schon halb überzeugt gewesen – bis sie die Bemerkung über das Essen gemacht hatte. Niemand würde ihr jetzt mehr glauben, nicht in einer Million Jahren …

„Nun ja“, erklärte die Gattin des Kulturbeauftragten geschmeichelt, „er hat es gewiss ernst gemeint. Er ist schließlich Mexikaner. Ihm muss jedes Gericht, das nicht mit Chili und all diesen scharfen Gewürzen gekocht wurde, wie eine Delikatesse erscheinen.“

„Spanier“, korrigierte Kyra sie spontan. Als alle sich ihr verwundert zuwandten, schluckte sie trocken. „Er ist kein Mexikaner.“

„Hat er dir das erzählt?“, fragte Ronald misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht. Aber er hatte nicht den typischen Akzent eines Mexikaners. Auf der Schule habe ich fünf Jahre lang Spanischkurse belegt und …“ Sie verstummte.

Und ich mache mich gerade lächerlich, dachte sie. Dabei grenzte es fast an ein Wunder, dass sie überhaupt einen zusammenhängenden, halbwegs sinnvollen Satz herausbrachte, nachdem dieser Fremde, der sie den halben Abend über förmlich mit seinen Blicken ausgezogen hatte, es gewagt hatte, sie derart zu beleidigen.

„… nicht wahr, Kyra?“

Sie zuckte zusammen. „Wie bitte?“ Entschuldigend lächelte sie den Freund des Ballettmeisters an.

„Ich sagte, dass ein Mann von dieser Körpergröße niemals Mexikaner sein könne.“ Er verdrehte schwärmerisch die Augen. „Er ist mindestens einsfünfundachtzig, und diese Muskeln …“

Er ist sogar noch größer, dachte Kyra. Einsneunzig oder so. Und muskulös war er tatsächlich, das hatte selbst das maßgeschneiderte Dinnerjackett nicht verbergen können. Sie hatte noch nie einen Mann mit so breiten Schultern gesehen. Als er aufgestanden war, hatte sie seine schmalen Hüften bemerkt – und die langen Beine …

Es ließ sich nicht leugnen: Er war der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war, obwohl sein Gesicht keineswegs schön im klassischen Sinn war. Seine Wangenknochen waren zu ausgeprägt, die Nase zu markant, um mit den Stars in Hollywood konkurrieren zu können. Und trotzdem hatte er ein interessantes Gesicht mit Augen, die so blau waren wie der Sommerhimmel und von dichten schwarzen Wimpern beschattet wurden. Sein glänzendes Haar schimmerte blau-schwarz, seine Lippen waren fest und sinnlich.

Kyra hatte ihn vor ungefähr einer Stunde bemerkt – genau wie viele andere Frauen. Ihr waren die verstohlenen Blicke, die in seine Richtung geworfen wurden, nicht entgangen. Während der Cocktailparty hatte sie plötzlich gespürt, dass er sie beobachtete. Sie hatte ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten müssen, um sich nicht umzudrehen und nachzuschauen, ob sie sich nicht vielleicht täuschte. Er war einfach zu männlich und zu arrogant, kurz, ein Mann, der glaubte, die Welt gehöre ihm… Die Blondine an seiner Seite mochte ihm das glauben, aber Kyra wusste es besser.

Ihr war klar, dass sie sich Ronald gegenüber unfair benahm. Obwohl er sich redlich Mühe gab, sie abzulenken, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu ihrem Vater. Charles Landon fühlte sich schon seit Monaten unwohl, und heute schien es noch schlimmer zu sein als sonst. Trotzdem hatte er darauf bestanden, dass sie als Vertreterin von Landon Enterprises an der feierlichen Eröffnung des Kunstzentrums teilnahm.

Kyra presste die Lippen zusammen. Mit Charles zu streiten bedeutete, eine Katastrophe heraufzubeschwören.

„… unsere Plätze suchen?“

Kyra schaute auf. Ronald war aufgestanden, die anderen Gäste verließen bereits den Ballsaal. „Oh.“ Sie lächelte ihn strahlend an. „Natürlich. Entschuldige.“

Gemeinsam schlenderten sie in den Zuschauerraum des angrenzenden Theaters. Die Beleuchtung erlosch, und der Vorhang hob sich. Zum Klang einer einzelnen Trommel sprangen ein Dutzend Männer in hautengen Trikots auf die Bühne.

„Wundervoll, nicht wahr?“, flüsterte Ronald ihr zu.

Sie zuckte zusammen, als ein gewaltiger Paukenschlag aus dem Orchestergraben ertönte. „Wundervoll“, bestätigte sie und lehnte sich zurück.

Vergeblich versuchte sie, sich auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, aber ihre Gedanken kreisten unablässig um den Zwischenfall beim Dinner. Hätte sie diesen Mann doch nur nie angesehen! Sie hatte sich bemüht, ihn zu ignorieren, sogar dann, als sie gemerkt hatte, dass er sie beobachtete. Doch letztlich hatte die Neugier gesiegt, und sie, Kyra, hatte verstohlen zu ihm hinübergespäht. Und dann …

Unverhohlenes Verlangen hatte aus seinen tiefblauen Augen gesprochen. Unwillkürlich hatte Kyras Puls zu rasen begonnen, eine Sehnsucht von erschreckender Intensität hatte sie erfasst. Sekundenlang hatte sie die Kontrolle über sich verloren, und er hatte es bemerkt. Er hatte genau gewusst, was sie bewegte. Und deshalb hatte er auch diese widerwärtigen Dinge zu ihr gesagt.

Kyra sprang auf. Verblüfft sah Ronald sie an. Lächelnd bedeutete sie ihm, sitzen zu bleiben, und flüsterte ihm zu, dass sie kurz den Waschraum aufsuchen wolle.

Was war nur los mit ihr? Die Vorstellung, dass dieser Spanier sie interessieren könnte, war einfach absurd. Wenn sie sich je für einen Mann entscheiden sollte, ganz gewiss für niemanden, der herumstolzierte und mit seiner Männlichkeit prahlte.

Doch als sie plötzlich eine schwere Männerhand auf ihrer Schulter fühlte, beschleunigte sich erneut ihr Herzschlag.

„Miss Landon?“

Kyra wirbelte herum. War er zurückgekommen? Wollte er ihr etwa sagen, dass er sich noch nie so sehr nach einer Frau gesehnt hatte wie nach ihr und dass er mit ihr schlafen wollte? Würde sie den Mut aufbringen, ihm zu gestehen …

Aber er war es nicht. Es war der Manager des neuen Kunstzentrums.

„Miss Landon“, begann er ernst. „Ich habe in meinem Büro einen Anruf für Sie entgegengenommen. Leider sind es keine guten Nachrichten.“

Wie betäubt folgte Kyra ihm. Noch ehe sie den Hörer aufnahm, wusste sie, wer am anderen Ende der Leitung war und warum er sie zu sprechen wünschte.

Es war der Arzt, der ihr mitteilte, dass ihr Vater gestorben war. Charles Landon war tot.

1. KAPITEL

Der wundervolle Morgen ließ vergessen, dass bereits in wenigen Wochen der harte Winter in Colorado beginnen würde. Der herbstliche Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Im goldenen Schein der Sonne wirkten sogar die schroffen Konturen von Landon Mansion beinahe weich.

Seufzend lehnte Kyra sich an den Zaun zur unteren Weide, auf der die Frühjahrsfohlen herumtollten. Ihre Bewegungen waren noch ein wenig staksig, und ihre seidigen Mähnen wehten im Wind. Etwas abseits grasten friedlich die Stuten.

Ein leichtes Lächeln umspielte Kyras Lippen. Das war es, was das Leben auf dem Anwesen erträglich machte: eine Herde temperamentvoller Vollblüter und die herrliche Landschaft am Fuß der Rocky Mountains. Diesem Anblick galt ihre ganze Liebe – und nicht dem imposanten, düsteren Gebäude, das sich auf dem Hügel erhob. Ein Haus, das jetzt ihr gehörte.

Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans und wanderte langsam den kiesbedeckten Pfad entlang, der zu dem Espenhain hinter dem Haus führte.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, warum ihr Vater etwas derart Hässliches gebaut hatte. Ihre Brüder glaubten, Charles Landon habe der Nachwelt seinen Reichtum und seine Macht in Stein und buntem Glas dokumentieren wollen. In den Ausläufern der Rockys gab es genug Häuser, die ebenfalls ein Vermögen gekostet hatten und sich dennoch ihrer Umgebung harmonisch anpassten.

Irgendwann hatte Kyra die Lösung des Problems gefunden. Die Antwort war ganz einfach und logisch.

Charles Landon hatte eben nie einen Gedanken an die ästhetische Seite von Landon Mansion verschwendet. Er hatte ein weitläufiges, beeindruckendes Gebäude verlangt, für dessen Errichtung die besten – und somit die teuersten – Materialien verwendet werden sollten. Der Rest hatte ihn nicht interessiert.

Der Architekt hatte ihn genau verstanden. Er hatte den Charakter seines Klienten richtig eingeschätzt und Charles’ Wunsch bis ins letzte Detail erfüllt. Es war ein Haus geworden, das das Wesen seines Besitzers widerspiegelte, ein Haus, hinter dessen prachtvoller Fassade sich kein Herz oder gar eine Seele verbarg. Und Charles Landon war zufrieden gewesen. Er hatte nichts über Herzen oder Seelen gewusst – weder bei Häusern noch bei Menschen.

Selbst dann nicht, wenn es seine Tochter betroffen hatte.

Kyra seufzte erneut. Im Nachhinein erschien es ihr unglaublich, dass sie ihr Leben lang mit einer Lüge gelebt hatte.

„Du bist die einzige, die mich niemals enttäuschen wird, mein Engel“, hatte Charles kurz vor seinem Ende gesagt.

Und dabei hatte sie ihn enttäuscht – beinahe jeden Tag. Tief in ihrem Herzen war sie nie der perfekte Engel gewesen, für den er sie gehalten hatte.

Im Wäldchen war es kühl. Fröstelnd schlug Kyra den Kragen ihrer gefütterten Jeansjacke hoch.

Unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter hatte sich ihr Leben von Grund auf geändert. Kyra konnte sich nicht mehr an Ellen Landon erinnern, bei ihrem Tod war sie noch ein Baby gewesen. Trotzdem hatte sie gespürt, dass sie plötzlich zum Mittelpunkt im Dasein des Vaters geworden war.

„Meine kleine Lady“, nannte er sie und wiegte sie in seinen Armen… „Du bist die Freude meines Lebens!“

Während sie seine Freude war, betrachtete er seine Söhne als Heimsuchung. Charles brachte für sie keinerlei Geduld auf. Er behandelte Cade, Grant und Zach mit einer Kälte, die fast an Grausamkeit grenzte… Kyra hatte sich nie erklären können, warum. Mit fünf Jahren wurde sie sich allerdings zum ersten Mal ihrer Macht bewusst.

Es passierte an einem regnerischen Nachmittag, als die Kinder im Haus spielen mussten. Ihre Brüder spielten in der Halle Fangen, ein Zeitvertreib, der ihnen strengstens verboten war. In ihrem Übermut liefen sie auch in Charles’ Arbeitszimmer und warfen dabei eine große Vase um, die prompt entzwei ging.

Kyra würde niemals das blanke Entsetzen vergessen, das die drei gepackt hatte. Sie war selbst erschrocken gewesen, wusste sie doch, welche Strafe ihre geliebten Brüder erwartete.

Die drei drückten sich jedoch nicht vor ihrer Verantwortung. Am Abend gingen sie zu Charles und beichteten den Vorfall.

Seine Miene wurde abweisend. „Wer von euch hat die Vase zerbrochen?“

Die Jungen sahen einander ratlos an. „Wir wissen es wirklich nicht, Sir“, erwiderte Grant.

Charles runzelte die Stirn. „Sagt mir die Wahrheit.“

„Das ist die Wahrheit, Sir“, versicherte Zach, der gerade im Stimmbruch war. „Wir sind alle herumgerannt und …“

„Ihr werdet alle verprügelt, es sei denn, der Schuldige meldet sich.“

„Wir wissen wirklich nicht, wer es war, Vater“, flüsterte Cade…

„Na schön. Wer will den Anfang machen?“

Sekundenlang herrschte Schweigen, dann trat Grant vor.

„Nein“, riefen Zach und Cade wie aus einem Mund, doch Grant winkte ab.

„Ich war es“, behauptete er.

„Warst du es wirklich, oder willst du nur deine Brüder schützen?“

Grant hielt dem prüfenden Blick seines Vaters stand. „Ich … ich …“

„Ihr müsst allesamt mehr Verantwortungsbewusstsein entwickeln“, sagte Charles aufgebracht. Er schob die drei in die Bibliothek und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.

Kyra überlegte nicht lange, sie handelte. Sie riss die Tür auf und lief den anderen nach. Wütend drehte Charles sich zu ihr um, die Hand bereits am Gürtel.

Instinktiv ahnte Kyra, dass es sinnlos war, um Gnade für die Brüder zu bitten. Daher lächelte sie strahlend und begann, von ihrem neuen Pony zu erzählen und von den Reitstunden, die sie am Vormittag genommen hatte. Allmählich verschwand Charles’ finsterer Gesichtsausdruck. Schließlich fragte sie ihn, ob er nicht mitkommen und sich von ihren Reitkünsten überzeugen wolle. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Antwort.

Charles blickte von ihr auf seine Söhne. Nach einer kleinen Ewigkeit deutete er mit dem Kopf zur Tür. „Geht auf eure Zimmer“, befahl er barsch, „und überlegt euch, wie ihr die Vase ersetzen könnt. Diesmal kommt ihr ungeschoren davon.“ Liebevoll nahm er Kyras Hand.

Und so war Kyra die perfekte Tochter geworden. Ihre Brüder hatten das nie begriffen. Für sie war sie das süße, unschuldige Kind, das keine Ahnung hatte, wie der alte Mann wirklich war.

Warum hätten sie auch je anders über sie denken sollen? Versonnen verließ Kyra das Wäldchen und kehrte zum Haus zurück. Immerhin war es ihr mit ein bisschen Fantasie gelungen, das Leben für alle erträglicher zu machen.

Allerdings hatte sie nie vorgehabt, diese Rolle so lange zu spielen. Ihre Brüder waren aus dem Haus, und sie war inzwischen erwachsen geworden. Die ersten Anzeichen von Charles’ Krankheit hatten Kyras Plänen jedoch jäh ein Ende bereitet.

Sie konnte ihn schließlich nicht allein lassen, wenn er sie brauchte. Trotz all seiner Fehler war er immer noch ihr Vater.

Die Absätze ihrer Stiefel klapperten auf den Stufen, die zur Küchentür führten. Sie durchquerte den Raum, holte einen Becher aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein.

Jetzt gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt. Ihr Vater war tot. Grant, Cade und Zach hatten ihr gewohntes Leben wieder aufgenommen. Es war also an der Zeit, dass sie sich um ihre eigene Zukunft kümmerte. Was wollte sie eigentlich? Einen Job? Karriere? Einen Collegeabschluss?

Kyra wusste es nicht. Aber irgendetwas musste sie tun. Etwas, das sie sich selbst ausgesucht hatte, ganz allein und ohne die Hilfe anderer – auch nicht seitens ihrer Brüder.

Nicht, dass sie diese nicht liebte, im Gegenteil. Es war wundervoll gewesen, sie in der Woche nach der Beerdigung um sich zu haben, aber es hatte ihr auch bewiesen, dass sie in ihren Augen noch ein Kind war.

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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