Die Chisholm Brüder - Eine neue Chance für die Liebe (3-teilige Serie)

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WO DAS HERZ ZU HAUSE IST
"Bist du Single?" Zwei niedliche Mädchen blicken zu Sloan auf. Der Rancher ist gerührt - zugleich fasziniert von der schönen Mutter der beiden. Und als er miterlebt, wie sie ihren Job verliert, kann er nicht anders: Er bietet Emily Nelson an, seine Haushälterin zu werden …

AUF EINMAL IST ES LIEBE
Mit keinem Mann kann Melanie so herzlich lachen wie mit Caleb - und keiner kennt ihre Sorgen so gut wie er. Deshalb möchte sie ihn auch nie als besten Freund verlieren. Doch genau das könnte passieren, denn in ihre Gefühle mischen sich auf einmal Leidenschaft und Begehren …

HAB VERTRAUEN, LIEBSTE
Blaire kann sich selbst kaum verstehen! Wieder liegt sie in Justins Armen und liebt ihn voller Zärtlichkeit. Der attraktive Rancher scheint eine magische Anziehungskraft auf sie zu haben! Trotzdem lehnt Blaire seinen Antrag ab. Sie wei§, dass Justin sie begehrt, aber heiraten möchte er sie nur, weil sie sein Baby erwartet. Obwohl ihr fast das Herz bricht, will Blaire auf das Glück mit Justin verzichten! Sie ist entschlossen, ihm niemals ihr Jawort zu geben. Es sei denn, er gesteht ihr endlich seine Liebe ...


  • Erscheinungstag 03.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719784
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Janis Reams Hudson, Janis Reams Hudson

Die Chisholm Brüder - Eine neue Chance für die Liebe (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

Wo das Herz zu Hause ist erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2004 by Janis Reams Hudson
Originaltitel: „The Daddy Survey“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1542 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733719791

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Als Sloan Chisholm gegenüber dem Imbiss hielt, stellte er sich schon das gegrillte Steak vor. Er wollte ein großes. Groß genug, um über den Tellerrand zu ragen, mit einer Riesenportion Kartoffelpüree, beides unter einer dicken, hellen Soße begraben. Seit Samstag letzter Woche hatte er keines mehr gehabt, und er litt schon unter Entzugserscheinungen. Es war höchste Zeit für den nächsten Schuss.

Aber bevor er die Chance bekam, etwas für seine Arterienverkalkung zu tun, passierte ihm etwas, das sein Leben für immer verändern würde: die Daddy-Umfrage.

Eigentlich veränderte sein Leben sich bereits ein paar Minuten früher. Und zwar, nachdem er nach dem Pferd auf dem Anhänger geschaut, die Straße überquert und den Imbiss betreten hatte. Denn in genau dem Moment verliebte er sich Hals über Kopf.

Sloan hatte es geschafft, fünfunddreißig zu werden, ohne sich jemals zu verlieben. Jedenfalls nicht richtig. Nicht unter die Haut gehend, bis über beide Ohren, mit Schmetterlingen im Bauch. Und die anderen beiden Male zählten nicht.

Es war seltsam. Obwohl seine Großmutter sich in letzter Zeit dauernd darüber beschwerte, dass seine Brüder und er noch nicht verheiratet waren und sie keine Urenkel zum Verwöhnen hatte, hatte Sloan nicht erwartet, dass sein Herz jemals so außer Kontrolle geraten würde. Aber jetzt fühlte er, wie es geschah, und konnte nichts dagegen tun. Und selbst wenn er damit gerechnet hätte, hätte er nie geglaubt, dass er der Typ war, der sich in zwei Frauen zugleich verliebte. Aber es war so. Die beiden standen da, und es war um ihn geschehen.

Sie waren die hinreißendsten Geschöpfe, die er je gesehen hatte. Beide waren blond, auch wenn das Haar der einen eine Spur dunkler war. Beide hatten blaue Augen und sahen einander so ähnlich, dass Sloan sie für Schwestern hielt. Aber die eine hatte Grübchen, die andere nicht. Eine trug eine Brille, die andere nicht. Eine war größer als die andere.

Die eine war acht, die andere etwa sechs.

„Guten Tag, Sir.“ Das ältere der zwei Mädchen schob sich die Brille auf die kecke kleine Nase. Sie drückte einen Stapel Speisekarten an die Brust und ein Notizbuch, in dessen Spiralbindung ein Bleistift mit Radiergummi steckte. „Raucher oder nicht?“

„Sie meint Nichtraucher“, erklärte die Jüngere.

Die Ältere runzelte die Stirn. „Das weiß er.“

Die Jüngere lächelte nur.

Bevor zwischen den beiden ein Streit ausbrechen konnte, klopfte Sloan sich auf die Hemdtasche. Sie war leer. Wie seit anderthalb Jahren. Dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte, erstaunte ihn noch immer. „Um die Frage zu beantworten, ich rauche nicht, Ladys“, erwiderte er und nahm den Hut ab.

Sie führten ihn zu einer Nische am großen Fenster zur Straße.

Sloan hatte in besseren Läden gegessen, aber auch schon in schlechteren. Dieser hier rangierte knapp unter dem Durchschnitt. Der rote Kunststoff, auf dem er saß, hatte einen Riss, durch den die weiße Füllung zu sehen war. Ein paar Schritte von ihm entfernt wölbte sich der abgetretene Teppichboden und wartete darauf, dass ein Gast darüber stolperte und den Betreiber verklagte.

Aber der Tisch war sauber und das Personal, bisher jedenfalls, süß.

Einen Moment später, als die Kellnerin mit einem Plastikkrug voll Wasser zu ihm kam, fühlte Sloan den zweiten Tritt in die Magengrube. Sie war nicht schön, jedenfalls nicht nach Hollywood-Maßstäben, aber sie war so hübsch, dass es ihm fast den Atem verschlug.

Zierlich war das Wort, das ihm einfiel. Oder vielleicht auch zart. Nicht, dass Sloan mit den beiden Ausdrücken viel Erfahrung hatte. Schließlich verbrachte er den größten Teil seiner Zeit mit Rindern, Pferden und erwachsenen Männern, die nach Scheune und Schweiß rochen. Aber die Kellnerin war klein und schlank, und das kurze Haar ließ ihren Hals ungemein verletzlich aussehen.

Selbst die Augen, die so strahlend blau wie die der beiden Mädchen waren, verrieten Verletzlichkeit.

Sein Bedürfnis, sie zu beschützen, verblüffte ihn zutiefst. Sloan wollte sie in die Arme nehmen und Schaden, Kälte und Angst von ihr fernhalten. Und als sein Blick wie von selbst auf den hellen Streifen am Ringfinger ihrer linken Hand fiel, wollte er dafür sorgen, dass sie nie wieder allein schlafen musste.

Kurz gesagt, er wollte sie vor Typen wie ihm bewahren.

Ihr Lächeln war höflich und freundlich, ohne anbiedernd zu wirken. Sie stellte den Krug auf den Tisch. „Ich lasse Ihnen etwas Zeit zum Aussuchen“, sagte sie und wandte sich den beiden kleinen Schönheiten zu. „Mädchen, ihr wisst, dass ihr die Gäste nicht belästigen sollt.“

„Aber, Mom …“

„Sie belästigen mich nicht“, kam Sloan der Älteren zuvor. „Ganz im Gegenteil. Ich kann mich nicht erinnern, jemals reizendere Gesellschaft gehabt zu haben.“

Die Jüngere kicherte und errötete, die Ältere lächelte scheu.

„Na gut, aber lasst ihn in Ruhe aussuchen und dann essen“, sagte ihre Mutter sanft.

„Ja, Mom“, antworteten die Mädchen wie aus einem Mund.

Sloan sah der Kellnerin nach, bewunderte ihren Hüftschwung und dankte Levi Strauss und seinen Zelten aus Denim, die während des Goldrauschs in Kalifornien niemand hatte kaufen wollen.

„Das ist unsere Mommy“, verkündete das kleinere Mädchen.

Sloan lächelte. „So?“

„Ja, genau. Und ihr Name ist Emily. Emily Nelson. Finden Sie sie hübsch?“

„Oh ja“, erwiderte er mit Nachdruck. „Das tue ich.“ Emily. Emily Nelson. „Sie ist genauso hübsch wie ihr zwei.“

Dies war der Zeitpunkt, zu dem er etwas Dummes sagen konnte. Euer Daddy ist ein glücklicher Mann, zum Beispiel. Aber das würde bedeuten, die Mädchen auszuhorchen, und so tief wollte er nicht sinken. Außerdem war ihr Daddy vielleicht von der Bildfläche verschwunden und ihn zu erwähnen würde den beiden nur wehtun.

Also lud er sie ein, mit ihm zu essen.

„Danke, Sir“, sagte die Ältere, ganz höflich und erwachsen. „Aber wir haben schon gegessen.“

„Schade.“ Und das war sein Ernst. Es wäre eine nette Abwechslung, mit den beiden eine halbe Stunde am Tisch zu sitzen. „Dann könntet ihr mir vielleicht einfach nur Gesellschaft leisten, während ich esse?“

„Nun ja …“ Das ältere Mädchen warf seiner Schwester einen verstohlenen Blick zu. „Das könnten wir, und vielleicht möchten Sie an unserer Umfrage teilnehmen, während Sie auf Ihre Bestellung warten.“

„Umfrage? Was für eine Umfrage?“

„Upps.“ Die Kleine stieß ihre Schwester an. „Mommy kommt. Wissen Sie schon, was Sie essen wollen?“

Sloans Blick folgte der Kellnerin. Mit einer Kaffeekanne in der einen Hand und einem Krug mit Eistee in der anderen bewegte sie sich wie eine Tänzerin von Tisch zu Tisch, mit einem Gruß oder einer freundlichen Bemerkung für jeden Gast.

Als Sloan sich fragte, ob sie sich auch dann so anmutig bewegte und so wunderschön lächelte, wenn sie im Bett unter einem Mann lag, zwang er sich, aus dem Fenster zu schauen.

Das mit dem Beschützen konnte er vergessen. Wer würde ihn beschützen?

Sie blieb an seinem Tisch stehen. „Wissen Sie, was Sie möchten?“

Oh Junge, dachte er. Was für eine Frage.

Sie musste etwas in seinen Augen gesehen haben, denn sie räusperte sich und starrte blinzelnd auf ihren Block. „Möchten Sie jetzt bestellen?“

Ohne die Speisekarte zu überfliegen, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet, orderte Sloan ein Grillsteak mit allem, was dazugehörte.

Sie notierte es sich. „Ich bringe es Ihnen, sobald es fertig ist.“

Sie ist so verdammt hübsch, dachte er zum zweiten Mal, als sie davonging.

„Sir?“

Er wandte sich wieder den Mädchen zu. „Sloan“, sagte er. „Nennt mich Sloan.“

„Okay.“ Die Kleinere strahlte. „Ich bin Libby, und das ist meine Schwester Janie. Möchten Sie bei unserer Umfrage mitmachen?“

„Warum nicht? Was ist das für eine Umfrage?“

„Es ist ein Da…“

Aber Janie fiel ihrer Schwester ins Wort. „Wir machen eine Umfrage unter alleinstehenden Männern zwischen einundzwanzig und fünfundsechzig. Fallen Sie darunter?“

Nur mit Mühe unterdrückte er ein Lächeln. „Zwischen einundzwanzig und fünfundsechzig, ja? Das ist eine ziemliche Spanne, aber ja, ich gehöre dazu.“

„Und Sie sind alleinstehend?“

„Heut’ morgen war ich’s noch.“

Janie legte die Stirn in Falten.

„Ja“, sagte er. „Ich bin alleinstehend.“

Ihre Miene erhellte sich.

„Oh, gut“, sagte Libby lächelnd.

Janie räusperte sich. „Okay.“ Sie zog das Notizbuch aus ihrem Stapel Speisekarten und klappte es auf. „Auf einer Skala von eins bis fünf, wobei eins ‚gar nicht‘ und fünf ‚sehr, sehr‘ bedeutet, wie sehr mögen Sie kleine Mädchen?“

„Das ist leicht“, antwortete Sloan. „Fünf.“

Libby kicherte.

Janie notierte sich seine Antwort. „Und auf einer Skala von eins bis fünf, wie gut finden Sie … körperliche Züchtigung?“

Sloans Augen wurden groß. „Bei kleinen Mädchen? Null. Niemand sollte kleine Mädchen schlagen.“

Beide Mädchen strahlten um die Wette.

„Wie sehr mögen Sie Leber mit Zwiebeln?“, lautete die nächste Frage.

„Drei.“

„Wie sehr mögen Sie Eiscreme?“

„Eine große Fünf.“

Janie musterte ihn. Ihre blauen Augen blickten ernst. Dann holte sie tief Luft. „Ja oder nein, weiß der Weihnachtsmann, wo Sie wohnen?“

Schlagartig wurde Sloan klar, was Libby hatte sagen wollen. Dass dies ein Daddy-Test war. Die beiden befragten die Imbissgäste auf der Suche nach einem neuen Daddy. Es brach ihm das Herz. Am liebsten hätte er sie an sich gedrückt, auf den Schoß genommen und ihnen versprochen, dass …

Was? Dass er ihr Daddy sein würde?

Wow, Partner. Immer mit der Ruhe.

„Mr. Sloan?“, drängte Janie.

„Entschuldigung. Und nicht Mister. Nur Sloan.“

„Oh nein“, widersprach Libby. „Wir müssen alle Erwachsenen Mr. oder Mrs. nennen.“

„Aus Respekt“, erklärte Janie.

„Es ist eine der Regeln“, ergänzte Libby.

„Na gut“, sagte Sloan. „Wir wollen keine Regeln brechen, also schätze ich, ihr könnt mich Mr. Sloan nennen. Also, wo waren wir?“

„Der Weihnachtsmann.“

„Richtig. Na ja, sicher. Wir haben sogar einen Kamin für ihn, und jedes Jahr stellen wir einen Baum mit Lichtern und Schmuck auf.“

Beide Mädchen atmeten hörbar auf und lächelten einander zu. Dann kam Janie wieder zur Sache.

„Wieder eins bis fünf. Wie sehr mögen Sie Welpen?“

„Oh, ich mag Welpen sehr.“

„Ist das eine Fünf?“, fragte Janie.

„Eindeutig.“

„Was ist mit Kätzchen?“, wollte Libby wissen.

„Das gehört nicht zur Umfrage“, protestierte ihre Schwester.

„Sollte es aber“, entgegnete Libby und nickte so heftig, dass ihre hellblonden Locken hüpften.

Janie zog die Augenbrauen zusammen. „Okay, Kätzchen. Aber es ist nicht fair, weil die anderen Männer die Frage nicht beantwortet haben.“

„Die können wir ihnen stellen, wenn sie wiederkommen“, bot Libby an.

„Gute Idee.“

„Also Kätzchen?“, fragte Sloan. „Fünf. Wir haben viele Kätzchen auf unserer Ranch.“

Libby starrte ihn an. „Wirklich?“

„Sie haben eine Ranch?“, fragte Janie atemlos. „Mit Pferden und Kühen und allem?“

„Sicher. Mit Pferden und Kühen und allem.“ Er zeigte auf die andere Straßenseite. „Seht ihr den Pick-up dort drüben? Auf der Tür steht der Name der Ranch.“

„Cherokee Rose“, las Janie.

„Cherokee?“ Libbys Augen wurden riesig. „Sind Sie ein Indianer?“

„Nicht Indianer, Dummkopf“, tadelte Janie streng. „Amerikanischer Ureinwohner.“

„Ist er das?“, fragte Libby. „Sind Sie das?“

„Indianer ist okay“, sagte Sloan. „Und ja, ich bin zum Teil Indianer.“

Libby starrte ihn noch immer an. „Welcher Teil?“

Sloan konnte nicht anders, er lachte. Zum Glück brauchte er Libbys Frage nicht zu beantworten, denn ihre Mutter erschien mit seinem Essen.

Emily Nelson hörte das tiefe Lachen des Cowboys, lange bevor sie seinen Tisch erreichte. Was immer ihre Töchter zu ihm sagten, er schien sich zu amüsieren.

Er hatte ein nettes Lachen. Ein nettes Gesicht.

Na ja, vielleicht war nett nicht das richtige Wort für die kupferfarbenen, wie gemeißelt wirkenden Züge, aber attraktiv passte. Und fesselnd.

Der Gedanke verblüffte sie. Sie wusste nicht mehr, wann ihr zum letzten Mal aufgefallen war, wie ein Mann aussah. Der letzte Mann, der einzige, den sie jemals so genau betrachtet hatte, war Michael.

Der vertraute Schmerz setzte ein, wie erwartet. Aber inzwischen war es ein dumpfer Schmerz, nicht mehr der stechende, der sie früher zu lähmen gedroht hatte. Sein Tod war zwei Jahre her, und jetzt konnte sie auch voller Liebe und Dankbarkeit an ihn denken.

Er war die Liebe ihres Lebens gewesen und hatte ihr diese beiden süßen Töchter geschenkt, die Fremden die Zeit vertrieben, während sie arbeitete, um Geld zu verdienen. Das Geld, das sie brauchte, um den versprochenen Job in Arkansas antreten zu können. Wenn ihr Wagen nicht mitten im Nichts den Geist aufgegeben hätte, hätte sie nicht hier im Imbiss anfangen müssen, nur um die Reparatur zu bezahlen. Einen Babysitter für die Mädchen konnte sie sich bei dem kleinen Gehalt nicht leisten. Also war sie heilfroh, dass ihr Chef den beiden erlaubte, im Imbiss zu bleiben, während sie bediente.

„Mommy, Mommy!“ Libby sprang am Tisch des Mannes auf und ab. Ihre Stimme war im ganzen Raum zu hören. „Mr. Sloan hat eine Ranch mit Pferden und Kätzchen und allem, und er ist zum Teil Indianer und findet dich richtig hübsch.“

Oh nein, dachte Emily, während ihre Wangen zu brennen begannen. Wo war das Loch im Boden, in dem sie verschwinden konnte?

Aber wie üblich tat sich keines auf, und der Mann sah, wie sie errötete.

Er schmunzelte, genau wie mehrere andere Gäste.

Emilys Gesicht glühte.

„Ladys“, sagte der Mann. „Ich glaube, wir haben eure Mutter in Verlegenheit gebracht.“

„Haben wir, Mommy?“, fragte Libby kichernd. „Haben wir dich in Verlegenheit gebracht?“

Emily verdrehte die Augen. „Wie immer, wenn ihr vor der ganzen Welt ausplappert, was ihr wisst.“

„Ach, Mommy“, sagte Libby. „Aber es stimmt doch. Nicht wahr, Mr. Sloan?“

„Ja“, bestätigte er, während Emily ihm seinen Teller hinstellte.

Sie hatte ihn nicht wieder ansehen wollen, aber sein gutmütiges Lachen zog ihren Blick an.

„Jedes Wort.“ Und er zwinkerte. Nicht in Richtung ihrer Töchter, sondern in ihre.

Du meine Güte. Taten Männer so etwas noch? Frauen zuzwinkern?

Er hatte ihr tatsächlich zugezwinkert. Wie im Fernsehen. Wie sollte sie reagieren? Danke sagen? Die Stirn runzeln? Die Lider senken?

Am liebsten hätte sie wie ihre Töchter einfach nur kindisch gekichert.

Meine Güte.

Der Mann sah auf den Teller. „Das sieht ja großartig aus.“

Emily kam sich idiotisch vor, wie ein zum ersten Mal verliebtes Schulmädchen. Hastig legte sie ihm das Besteck hin. „Ich bringe Ihnen Tee. Ab mit euch, Mädchen, lasst den Mann essen.“

„Mommy“, rief Libby.

„Sie stören mich nicht“, sagte der Mann. „Wirklich nicht. Wenn Sie nichts dagegen haben, können sie mir gern Gesellschaft leisten.“

Führte er Böses im Schilde? Oder war er einfach nur ein netter Mann, der Kinder mochte? Da sie es nicht wissen konnte, ging Emily auf Nummer sicher. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber die beiden haben Sie lange genug behelligt. Mädchen.“ Sie warf ihnen einen strengen Blick zu.

„Ja, Mom.“ Janie schob Libby zur Seite. „Auf Wiedersehen, Mr. Sloan.“

„Auf Wiedersehen, Mr. Sloan“, wiederholte ihre Schwester.

Emily folgte ihnen und scheuchte sie auf die zwei letzten Hocker am Tresen. Eine Minute später stand sie wieder am Tisch des Mannes und füllte sein Glas mit Eistee.

„Danke.“ Er lächelte. „Sie haben zwei großartige Mädchen. Sie müssen stolz auf sie sein.“

„Danke. Das bin ich. Möchten Sie sonst noch etwas? Vielleicht ein Stück Apfelkuchen? Heute Morgen frisch gebacken.“

„Nein, danke.“

Sie legte die Rechnung umgedreht auf den Tisch und ging davon. Sloan sah ihr nach. Sie blieb am Tresen stehen und flüsterte ihren Töchtern etwas ins Ohr.

Wahrscheinlich war der Babysitter krank geworden, und sie hatte die beiden mit zur Arbeit nehmen müssen.

Aber irgendwie hatte er den Verdacht, dass die Mädchen sich oft im Imbiss aufhielten.

Kinder allein zu erziehen war hart, auch für Männer. Aber wenn eine Frau es tat und auch noch so verletzlich und schutzlos wie ein neugeborenes Kätzchen wirkte, musste es besonders hart sein. In einem Laden wie diesem verdiente sie bestimmt nicht viel. Und es herrschte zu wenig Betrieb, um ordentlich Trinkgelder abzuwerfen. Vielleicht konnte sie sich keinen Babysitter leisten. Vielleicht waren die Mädchen jeden Tag hier.

Würde ein Chef das erlauben?

Achselzuckend machte Sloan sich über das Steak her. Es ging ihn nichts an. Emily Nelson war keine Maid in Not, und er nicht ihr edler Ritter.

Nicht, dass er etwas dagegen hatte, hin und wieder jemandem zu helfen, ob Mann oder Frau. Nur weil er ein paarmal geglaubt hatte, sich verliebt zu haben … Na ja, eine hatte sich in einer echten Notlage befunden. Die andere hatte ihn wie einen Fisch an der Angel zappeln lassen. Seine Großzügigkeit ausgenutzt.

Selbst schuld, hatten seine Brüder gesagt. Warum hatte er auch ein so weiches Herz?

Er wusste nicht, warum es passiert war, denn wenn er sich schon eine Ehefrau vorstellte, dann eine starke Persönlichkeit, die auf eigenen Beinen stand. Nach Connie Sue sollte er eigentlich einen weiten Bogen um hilflose Frauen machen. Aber nein, einige Jahre später hatte er sich in Donna Daniels verliebt, die nur so tat, als wäre sie hilflos. In Wirklichkeit war sie in etwa so hilflos wie eine ausgewachsene Bärin gewesen. Sie hatte ihn dazu bringen wollen, seinen Teil der Ranch zu verkaufen und ihr ein Haus in der Stadt zu schenken.

Nein, Sir, auf die Nummer würde Sloan Chisholm nie wieder hereinfallen.

Schade war, dass er sich nicht in Melanie verliebt hatte. Melanie Pruitt lebte auf der Nachbarranch und war auf dem Pferd und mit dem Lasso so geschickt wie der beste Cowboy. Aber wenn sie sich zurechtmachte und ein Kleid anzog, blieb dem härtesten Mann die Sprache weg. Ja, Mel sah verdammt gut aus, kein Zweifel.

Und als wäre das alles nicht genug, war sie auch noch in Sloan verliebt – seit ihrem fünften Lebensjahr.

Er hatte keine Ahnung, warum er ihre Gefühle nicht erwidern konnte. Alles, was er jemals für Mel empfunden hatte, war tiefe Freundschaft. Und jetzt war sie über ihn hinweg und sah in ihm einen Freund, mehr nicht. Pech gehabt. Er liebte sie wirklich, aber nur als die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte.

Oh ja, es war wirklich eine Schande, dass er sich immer für die Falschen interessierte.

„Du mochtest Mr. Sloan, oder, Mommy?“, fragte Libby zum fünften Mal seit dem Abendessen, als Emily ihre Töchter zudeckte. Die beiden lagen im Doppelbett, das im Motelzimmer neben dem ihrer Mutter stand.

„Er schien ganz nett zu sein“, antwortete Emily zum fünften Mal seit dem Abendessen.

„Aber du mochtest ihn doch?“, beharrte Libby.

Emily küsste ihre Jüngste auf die Nase. „Dazu kenne ich ihn nicht gut genug. Jetzt macht die Augen zu und schlaft, alle beide“, fügte sie mit einem Lächeln für Janie hinzu.

„Aber, Mommy …“

Emily legte einen Finger auf Libbys Lippen. „Schlaf jetzt.“

„Okay. Gute Nacht, Mommy.“

Danach kamen die üblichen Bitten um etwas zu trinken, gefolgt von allerletzten Ausflügen ins Bad, dann noch eine Runde Umarmungen und Gutenachtküsse. Dieses Ritual dauerte wie immer etwa eine halbe Stunde, aber schließlich schliefen die beiden ein.

Sie sind so hübsch, dachte Emily. Sie mochten ihr ähnlich sehen, aber sie hatten so viel von ihrem Vater. Vor allem Libby mit ihrer offenen, vollkommen furchtlosen Art. Janie war ruhiger und sachlicher und hatte Michaels Intelligenz geerbt.

Zum hundertsten Mal fragte Emily sich, ob es richtig war, mit ihnen nach Arkansas zu ziehen. Aber eine andere Wahl hatte sie nicht, nachdem ihr Job im Shop des örtlichen Museums wegrationalisiert worden war. Sie hatte einfach keine andere Stelle gefunden, um all das zu bezahlen, was man als Mutter von zwei heranwachsenden Mädchen brauchte. Also hatte sie sich entschieden, Colorado zu verlassen und nach Fort Smith aufzubrechen, wo ihre Cousine in einer Fabrik arbeitete.

„Oh Michael“, flüsterte sie. „Tue ich das Richtige?“

Sie stellte ihm oft Fragen, aber er antwortete nie. Vor zwei Jahren war er an Leukämie gestorben. Die einzigen Antworten waren Zweifel und Schweigen.

Emily hatte keine Zeit, sich zu bemitleiden. Sie musste genug verdienen, um ihren Wagen reparieren zu lassen. Mit grimmiger Entschlossenheit zählte sie ihre mageren Ersparnisse.

Heute waren die Trinkgelder anständig ausgefallen, auch dank dem Mann, von dem ihre Töchter so angetan waren. Was er auf dem Tisch liegen gelassen hatte, war mehr als großzügig gewesen.

Sie wünschte sich noch ein paar solche Gäste, dann wäre ihr Wagen in der nächsten Woche vielleicht schon wieder fahrbereit. Vielleicht. Und wenn die Ehefrau ihres Chefs endlich nach Hause kam, würde er auch seine unverschämten Hände bei sich behalten …

Sloan verbrachte die Nacht auf einer Ranch außerhalb von Wagon Mound, New Mexico. Jeb Cotter war froh, seine Stute zurückzuhaben, ohne die üble Angewohnheit, ihren Reiter zu beißen – was Caleb und Justin viel Schweiß und Geduld gekostet hatte. Ihr Besitzer war so dankbar, dass er Sloan nicht in der einfachen Unterkunft für die Cowboys, sondern in seinem Gästezimmer unterbrachte.

Als Sloan an diesem Abend zu Bett ging und die Augen schloss, sah er zwei süße kleine Mädchen und ihre hübsche Mutter vor sich. Fast den ganzen Nachmittag hindurch, auf der Fahrt zur Ranch, hatte er an die drei gedacht. Und sich Sorgen um sie gemacht.

Deshalb legte er zwei Tage später auf dem Rückweg einen Zwischenstopp beim Imbiss ein. Normalerweise wäre er eine andere Strecke gefahren, denn er nahm lieber eine Route, die er noch nicht kannte, aber nicht dieses Mal.

Eigentlich gingen sie ihn nichts an, Emily und ihre Töchter. Er wollte einfach mal nach ihnen sehen, mehr nicht. Schließlich würde er sie nie wieder zu Gesicht bekommen, was konnte es also schaden?

Es war kurz nach Mittag, als er gegenüber dem Imbiss hielt, neben der Einfahrt zum Motel. Als er ihn kurz darauf betrat, klingelte die Glocke über der Tür, aber keine kleinen Mädchen begrüßten ihn. Und keine sexy Kellnerin huschte zwischen den Tischen umher.

Sloan war enttäuscht.

Er versuchte gerade, sich einzureden, dass es besser so war, da hörte er seinen Namen.

„Mr. Sloan.“

Er entdeckte sie sofort. Es war die Kleinere. Libby. Lächelnd und winkend sprang sie vom Hocker am Ende des Tresens und rannte auf ihn zu. Ihre Schwester Janie folgte ihr etwas langsamer.

„Mr. Sloan“, rief Libby wieder, und ihre blonden Locken hüpften um die strahlenden Augen. „Sie sind zu …“

Sloan sah es wie in Zeitlupe. Libbys kleiner Schuh verfing sich in der hochstehenden Kante des Teppichbodens, und sie fiel nach vorn.

Er rief ihren Namen und rannte los, wusste jedoch, dass er sie nicht rechtzeitig erreichen würde.

Libby wollte sich noch an einem Tisch festhalten, schaffte es allerdings nur, einem Gast sein Glas mit Eistee über den Overall zu kippen. Mit einem erschreckten Aufschrei sprang der Mann auf.

Aber Sloan hörte nur das dumpfe Geräusch, mit dem Libbys kleiner Kopf auf den Fußboden prallte. Sie machte eine Rolle vorwärts, und dabei trafen ihre Füße ihn im Gesicht.

Er achtete nicht darauf, sondern packte sie an den schmalen Schultern.

„Libby, alles okay?“

Mit großen blauen Augen sah sie ihn an. „Ich bin hingefallen.“

„Das bist du, Süße. Tut dir der Kopf weh?“

Ihre Unterlippe zitterte, die Augen füllten sich mit Tränen. „Nein.“

„Bist du sicher? Das war ein ziemlich harter Aufprall.“

Schluchzend rieb sie sich die Stirn. „Ich bin okay, Mr. Sloan, ehrlich.“

Rasch tastete er ihren Kopf, die Arme und Beine ab, bevor er erleichtert seufzte. Es hätte schlimmer ausgehen können. Die kleine Libby hatte noch mal Glück gehabt. Er dagegen würde wahrscheinlich zwei blaue Augen davontragen. Aber das machte nichts. Hauptsache, Libby war nichts passiert.

Er half ihr gerade auf, und Janie beugte sich besorgt über ihre Schwester, als die Schwingtür zur Küche gegen die Wand knallte. Ein kleiner Mann, mit schütterem Haar, einem Küchentuch um die Taille und rund wie ein Fass, hob eine fleischige Hand und wedelte drohend mit einem Pfannenwender aus Edelstahl. „Was zum Teufel ist hier los? Was haben die Gören jetzt schon wieder angestellt?“

Libby begann zu wimmern.

Sloan spürte, wie sein Herz zu hämmern begann. Er legte eine Hand auf Libbys Schulter und trat vor sie. „Es geht ihr gut. Danke, dass Sie gefragt haben.“

Der Mann knurrte etwas Unverständliches.

„Kein Grund zur Aufregung“, sagte Sloan. „Nur ein kleiner Unfall.“

„Und wer sind Sie?“, fragte der Mann.

„Ich bin ein Freund von Libby. Wer sind Sie?“

Der Mann kniff die Augen zusammen. „Howard Bisman. Mir gehört dieser Laden, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich nicht einmischen würden.“

Sloan lächelte kühl. „Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie vor den Kindern etwas freundlicher wären.“

Emily war im Büro gewesen, um eine Rolle Vierteldollar für die Kasse zu holen, als Howard aus der Küche gestürmt war. Ihr erster Gedanke galt den Mädchen. Howard war wütend auf sie und würde es vielleicht an ihnen auslassen. Sie eilte nach vorn.

„Diese Kinder machen nichts als Ärger, seit ich ihre Mutter angeheuert habe“, sagte ihr Chef gerade.

Emily erstarrte. „Was ist denn los?“

„Ärger, was sonst!“, fauchte Howard. „Und wie immer sind es Ihre Gören.“

Emily war ein höflicher Mensch, aber niemand beschimpfte ihre Töchter. „Nennen Sie sie nicht Gören. Margaret hat mich eingestellt und gesagt, dass sie hier willkommen sind.“

„Na ja, meine Frau ist nicht hier, und ich will diese Kinder raushaben, bevor sie den ganzen Laden in Trümmer legen.“

„Das ist nicht fair“, protestierte Emily.

Sloan staunte darüber, wie ruhig sie blieb. Er hätte das nicht geschafft.

„Meine Mädchen haben noch nie Ärger gemacht.“

„Aber jetzt haben sie es“, knurrte der Mann. „Ich will, dass sie verschwinden.“

Janie stellte sich neben ihre Mutter.

Emily legte einen Arm um sie. „Sie wissen genau, dass ich sie nicht allein im Motel lassen kann.“

„Pech für Sie.“

Sloan hatte genug. „Hören Sie, Mister.“

„Halten Sie sich raus.“

„Das werde ich nicht.“ Sloan war einen Meter achtzig groß. In Stiefeln und mit Hut kam er auf einen Meter neunzig. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. „Sie machen den Ladys Angst.“

Der Mann machte einen Schritt zurück. „Das hier geht Sie nichts an.“

„Oh, da irren Sie sich. Libby wollte zu mir, als sie über Ihren zerrissenen Teppich gestolpert ist.“

„Libby ist hingefallen?“, rief Emily.

Aber Sloan war nicht zu bremsen. „Wie lange steht die Kante schon hoch? Wundert mich, dass noch niemand Sie verklagt hat. Libby hätte sich eine Platzwunde am Kopf zuziehen können.“

„Libby?“ Emily reckte den Hals, um an den beiden Männern vorbei nach ihrer Tochter zu sehen. „Wo ist sie?“

„Solchen Ärger kann ich nicht gebrauchen“, verkündete Howard. „Emily, nehmen Sie Ihre Gören und Ihren großmäuligen Freund, und verschwinden Sie. Sie sind gefeuert.“

Im Raum war es so still, dass man Eis hätte schmelzen hören können. Emilys entsetzter Aufschrei war der einzige Laut.

Sloan ballte die Fäuste. „Sie können sie nicht feuern, Sie Ratte. Sie kündigt.“

Emily schüttelte den Kopf. „Augenblick mal …“

„Schön.“ Der Imbissbetreiber nickte. „Sie ist auch aus dem Motel gefeuert. In spätestens einer Stunde will ich sie aus dem Zimmer haben.“

Irgendwo im Hinterkopf wusste Sloan, dass er zu weit ging, aber er konnte nicht anders. „Sie wird in dreißig Minuten draußen sein.“

Er wirbelte herum und wollte nach Libby greifen.

Das Kind war nicht mehr da.

„Wo ist Libby?“, fragte Emily. „Geht es ihr gut? Sie haben gesagt, sie ist hingefallen.“

Sloan runzelte die Stirn. „Gerade eben war sie noch hier.“

Aber jetzt, dachte er besorgt, ist sie weg.

2. KAPITEL

Sie sahen überall nach. Unter jedem Tisch und jedem Stuhl, hinter dem Tresen, in der Küche, sogar auf der Herrentoilette. Die Suche dauerte weniger als vier Minuten. Libby war nirgendwo zu finden.

Emily fühlte, wie die Panik ihr die Kehle zuschnürte. Ihr Baby war verschwunden. Aber das konnte nicht sein.

Sie fragten jeden Gast, aber keiner hatte auf Libby geachtet.

„Was habe ich gesagt?“, tobte Howard. „Ärger, nichts als Ärger.“

Draußen hielt ein Sattelschlepper, und Emilys Herz krampfte sich zusammen. Sie drehte sich zur Tür. „Der Highway!“ Was, wenn Libby versucht hatte, zum Motel zu laufen? Der Verkehr raste mit über sechzig Meilen vorbei. „Libby, lieber Gott.“

Sloan hörte ihr verzweifeltes Wispern. „Würde sie das tun?“

„Was?“ Zitternd wandte sich Emily zu dem Mann um, der für sie gekündigt hatte.

„Die Straße. Würde sie versuchen, sie zu überqueren?“

Emily schluckte. „Sie weiß, dass sie es nicht darf, aber wir wohnen in dem Motel dort drüben, also …“ Sie brach ab und setzte sich in Bewegung. „Janie, du bleibst hier.“

Die Gäste begannen zu murmeln.

Sloan übernahm das Kommando. Er schickte zwei Männer zur Tankstelle an der Ecke und zwei weitere zur Werkstatt westlich vom Imbiss. „Sehen Sie überall nach“, befahl er. „Innen und außen. Und dann kommen Sie zurück und informieren Janie. Okay, Janie?“

Mit blassem Gesicht und riesigen Augen nickte das Mädchen. „Okay, Mr. Sloan. Wohin wollen Sie?“

„Nach hinten.“ Wenn dieser Mistkerl Libbys Gefühle verletzt hatte, konnte das arme Mädchen überallhin gelaufen sein.

Libby war zutiefst verletzt. Aber sie war nicht im Motel. Sie hätte sich gern die Bettdecke über den Kopf gezogen und geweint, aber sie durfte den Highway nicht ohne ihre Mutter überqueren.

Außerdem hätte jeder die Glocke an der Tür des Imbisses gehört.

Sie wollte nicht weglaufen, sie wollte, dass Mommy sie in den Arm nahm und ihr versprach, dass alles gut werden würde. Aber das hatte Libby nicht verdient. Sie war eine Göre gewesen, das hatte Mr. Bisman gesagt, und sie war schuld, dass er ihre Mommy gefeuert hatte.

Libby wusste, was eine Göre war. Schließlich war sie kein Baby mehr, sondern sechs. In drei Monaten würde sie sechseinhalb sein.

Aber sie fühlte sich wie ein Baby, als sie sich an der Rückseite des großen Mülleimers hinter dem Imbiss zusammenkauerte und die Tränen abwischte.

Es war Sloan, der sie fand.

Ihr Schluchzen verriet sie. Und da saß sie, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, den Kopf vergraben, mit zuckenden Schultern.

„Ach, Süße.“ Ihm war weh ums Herz, als er sich zu ihr kniete. „Lass dich von dem aufgeblasenen Trottel nicht unterkriegen.“

Sie hob den Blick. Ihre Wangen waren klitschnass. „Was ist auf…geblasen?“

Ohne daran zu denken, was für Abfälle neben dem Eimer gelandet waren, setzte er sich zu ihr und schmunzelte. „Aufgeblasen ist jemand, der sich gern reden hört und dabei viel Wind macht. Aber dabei kommt meistens nichts raus.“

Libby schluchzte wieder. „Ich bin schuld, dass Mommy gefeuert worden ist. Jetzt sind wir obdachlos.“

Sloan drückte das Mädchen an sich. „Nein, ihr seid doch nicht obdachlos.“

Sie sah ihn an wie ein Hündchen, das am Tisch bettelte. „Nein?“

„Bestimmt nicht. Jetzt komm. Deine Mommy macht sich große Sorgen um dich. Wir sollten sie wissen lassen, dass du okay bist, meinst du nicht? Vielleicht wirst du ihr sagen müssen, wie leid es dir tut, dass du einfach weggelaufen bist.“

„Okay, Mr. Sloan.“

Nachdem sie Libby im Motel nicht gefunden hatte, hastete Emily wieder über die Straße und betrat den Imbiss in genau dem Moment, in dem Sloan ihre jüngste Tochter durch die Hintertür führte. Mit einem erleichterten Aufschrei rannte Emily zu ihr und nahm sie auf den Arm.

Sie war so glücklich, dass sie erst nach einem Moment merkte, wie sie nach draußen gebracht wurde, eine Tochter an der Hand, die andere auf der Hüfte. Erst auf dem Parkplatz blieb sie stehen und starrte den Mann an, den ihre Kinder Mr. Sloan nannten.

„Was haben Sie getan?“, brachte sie mühsam heraus.

„Ihre verschwundene Tochter gefunden?“

„Ja.“ Sie schloss die Augen und atmete tief durch. „Und dafür werde ich Ihnen ewig dankbar sein. Aber Sie haben ihm gesagt, dass ich meinen Job gekündigt habe!“

„Tut mir leid.“ Er nahm ihren Arm und drehte sie zur Straße. „Aber ohne den Mistkerl sind Sie besser dran.“

„Besser dran?“ Sie zog den Arm aus seinem Griff. „Besser dran? Ohne Job, ohne Dach über dem Kopf? Ich würde sagen, Sie haben dafür gesorgt, dass wir auf der Straße sitzen, aber es gibt keine Straße, nur einen Highway. Und mein Wagen ist verreckt.“ Erneut stieg Panik in ihr auf. „Wie bin ich da besser dran?“

Libby schluchzte. „Es war meine Schuld.“

„Nein, Honey, war es nicht.“ Emily küsste sie auf die Stirn und funkelte den wahren Schuldigen an. „Mr. Sloan ist schuld.“

Der Mann hob eine Hand. „Ich habe gesagt, es tut mir leid. Ich habe es verbockt.“

Emily lächelte gequält. „Wow, das hilft mir, Mister. Danke.“ Sie starrte zur Straße hinüber. Was sollte sie tun? Wohin sollten sie jetzt? Und wie sollten sie hinkommen ohne Auto?

Wären die Mädchen nicht bei ihr, würde sie den Mann anschreien, der für diese jüngste Katastrophe in ihrem Leben verantwortlich war. Vielleicht würde sie ihn sogar ohrfeigen. Aber sie wollte nicht, dass die Mädchen erlebten, wie ihre Mutter sich vor ihren Augen in eine Furie verwandelte.

Na ja, wenn sie ehrlich war, hatte sie schon seit drei Tagen damit gerechnet, dass Howard sie entlassen würde. Seit seine Frau zu ihrer Mutter nach Denver gefahren war. Denn wenn sie fort war, hielt sich Howard mit dem schütteren Haar und den verschwitzten Händen für unwiderstehlich.

Keine der Kellnerinnen schien seine Ansicht zu teilen, Emily schon gar nicht. Als er sie in eine Ecke gedrängt hatte, war ihre Reaktion ebenso verblüfft wie unhöflich gewesen. Sie hatte ihm keine blutige Nase verpassen wollen. Nicht wirklich. Doch als er nach ihrer Brust gegriffen und zugedrückt hatte, hatte sie nicht lange überlegt.

Dass er sie nicht sofort gefeuert hatte, wunderte sie noch immer.

Jetzt hatte er es getan, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was konnte sie tun? Sie hatte genug Geld, um mit dem Greyhound-Bus nach Fort Smith zu fahren. Aber der kam hier nicht vorbei. Sie hatte keine Ahnung, wo er hielt und wie sie dorthin gelangen sollte.

„Wie groß ist Ihr Problem?“, fragte der Mann namens Sloan.

„Das geht Sie nichts an.“

„Das sehe ich anders, schließlich haben Sie selbst gesagt, dass ich daran schuld bin, jedenfalls zum Teil.“

„Sie haben dazu beigetragen, das steht fest“, murmelte sie.

„Hören Sie.“ Er drehte sie zu sich. „Wenn Sie einen Job brauchen, kann ich vielleicht helfen.“

Emily wandte sich ab und ging weiter. „Wenn er nicht zu Fuß erreichbar ist, muss ich leider ablehnen. Trotzdem danke.“

„Was ist mit Ihrem Wagen?“, fragte er, während er neben Janie den Highway überquerte.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie gereizt. „Irgendetwas mit der Ölpumpe. Sie haben gesagt, dass sie den ganzen Motor ausbauen müssen, aber damit fangen sie nicht an, bevor ich das Geld dafür habe. Deshalb habe ich im Imbiss gekellnert. Im Motel habe ich unser Zimmer abgearbeitet.“

Sloan verzog das Gesicht. Sein Eingreifen hatte sie den Job gekostet. Beide Jobs.

Okay. Wenn er der Grund für ihr Problem war, würde er auch die Lösung sein müssen. „Können Sie einen Haushalt führen?“

„Wie bitte?“ Sie ging am Büro des Motels vorbei und blieb vor Zimmer zwölf stehen.

„Sie wissen schon, kochen, staubsaugen, waschen, so etwas.“

Ihr Auflachen klang traurig. „Wenn es etwas gibt, das ich kann, dann ist es Hausarbeit.“

„Dann arbeiten Sie für mich. Auf der Ranch. Wir schleppen Ihren Wagen ab. Mein Bruder Caleb ist der beste Mechaniker weit und breit und kostet nicht viel.“

Emily schüttelte den Kopf. „Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich mit meinen Töchtern bei einem Wildfremden einsteigen würde?“

„Mommy?“ Libby stieß sie an.

„Gleich, Süße.“

„Ich kann Ihre Bedenken verstehen“, sagte er. „Sie kennen mich kaum.“

„Mommy.“ Libby gab nicht auf. „Mommy, er ist kein Wildfremder, er ist Mr. Sloan.“

Janie drückte Emilys Hand. „Libby hat recht. Er ist Mr. Sloan, kein Fremder.“

Emily schluckte den frustrierten Aufschrei herunter. „Ja, Honey, ich weiß.“

„Hören Sie“, sagte Sloan. „Warten Sie hier. Ich bin gleich zurück.“ Er machte kehrt und steuerte die Straße an.

Emily öffnete die Zimmertür und ging mit den Mädchen hinein. Für wen hielt der Mann sie? Sie müsste schon sträflich dumm sein, um sich und ihre Töchter einem Unbekannten anzuvertrauen. Aber was sollte sie stattdessen tun? Hier konnten sie nicht bleiben.

Ihr fiel nichts ein. Kein Job, kein Plan, keine Idee, außer der, ihre Cousine in Fort Smith anzurufen, aber das kam nicht infrage. Brenda hatte auch kein Geld. Also musste sie jemanden finden, der sie zur nächsten Busstation mitnahm. Ihren Wagen konnte sie vergessen. Aber wie würde sie in Fort Smith ohne Wagen zurechtkommen? Und wie würde sie sich je einen neuen leisten können?

Sie waren obdachlos. Ihre Töchter und sie gehörten jetzt zu den armen Menschen, die auf der Straße lebten und um Geld betteln mussten. Oder noch schlimmer.

„Was tun wir jetzt, Mommy?“, fragte Janie.

Emily seufzte. „Ich bin nicht sicher, Honey. Ich werde ein paar Minuten nachdenken müssen.“

Libby schluchzte. „Müssen wir jetzt unsere Sachen packen?“

Emily ließ sie nach unten gleiten. „Noch nicht.“

Es klopfte an der Tür. Als Emily öffnete, stand Sloan mit einer Aktentasche vor ihr. Misstrauisch betrachtete sie sie. „Wofür ist die?“

Er trat ein und ging zu dem kleinen Nachttisch, auf dem das Telefon stand. „Die wird Ihnen – hoffentlich – beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin.“ Er nahm einen Notebook-Computer heraus und verband ihn mit der Telefonleitung. Dann schaltete er ihn ein, loggte sich ins Internet ein und rief die Webseite einer Ranch namens Cherokee Rose auf.

„Kennen Sie sich damit aus?“, fragte er und zeigte auf den Bildschirm.

Das tat sie nicht, aber sie gab es nur ungern zu.

„Ich kenne mich aus“, rief Janie. „In der Schule gehen wir oft ins Netz. Aber wo ist Ihre Maus?“

„Man benutzt das hier“, erklärte er. „Man nennt es ein Touch Pad. Man streicht mit dem Finger darüber. Versuch es mal.“

Janie probierte es und navigierte entschlossen durch die Webseite.

Was Emily dort las, war interessant. Mr. Sloan war Sloan Chisholm, Mitbetreiber der Cherokee-Rose-Ranch in Oklahoma, gemeinsam mit seinen Brüdern Caleb und Justin. Die Eigentümerin war ihre Großmutter Cherokee Rose Chisholm. Sie züchteten Rinder und Pferde und hatten jede Menge Preise verliehen bekommen, von Organisationen wie der American Quarter Horse Association und der Oklahoma Cattlemen’s Association.

Emily hatte keine Ahnung von Rinder- und Pferdezucht, aber sie war beeindruckt.

„Also, was halten Sie davon?“, fragte er.

Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken. Dieser Fremde bot ihr und ihren Töchtern einen Ausweg aus ihrer Notlage. Einen Job als Haushälterin für seine Familie. Sie brauchte ihm nur zu vertrauen.

„Sie würden für meine Großmutter arbeiten.“

„Ihre Großmutter?“ Ihr wurde ein wenig leichter ums Herz.

„Sie tut zu viel. Und sie hasst Hausarbeit. Sie würde ihre Tage lieber auf dem Pferd verbringen. Aber sie liebt Kinder, also würde sie sich über die Mädchen freuen. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Zum Job gehören Kost und Logis.“

Es ging alles so schnell. Sie stand auf, doch als er das Gehalt nannte, setzte sie sich wieder hin.

So viel würde sie als Kellnerin oder Zimmermädchen niemals verdienen.

Emily wischte sich die Handflächen an den Jeans ab. „Ich könnte nur arbeiten, bis der Wagen repariert ist.“ Sie konnte nicht glauben, dass sie sein Angebot auch nur in Betracht zog.

Er lächelte. „Wer weiß? Vielleicht mögen Sie uns und bleiben.“

„Wir sind auf dem Weg nach Fort Smith, zu einem guten Job, in der Fabrik, in der meine Cousine arbeitet.“

Er nickte. „Okay. Ich nehme an, Ihr Wagen steht in der Werkstatt auf der anderen Straßenseite?“

„Ja. Auf dem Hof.“

„Ich kümmere mich darum. Warum fangt ihr Ladys nicht schon mit dem Packen an?“

Emily konnte sich nicht erinnern, Ja gesagt zu haben, aber eine Stunde später saß sie vorn in Sloan Chisholms viertürigem Pick-up. Ihre Töchter hopsten aufgeregt auf der Rückbank herum. Ihr Gepäck stand auf der Ladefläche, und ihr Wagen hing an der Abschleppstange, während Imbiss, Motel und Werkstatt im Rückspiegel kleiner wurden.

Vor der Abfahrt war Sloan ins Büro gegangen und hatte Howard und Margarets Tochter seinen Führerschein gezeigt und ihr seine Telefonnummern gegeben. Außerdem hatte er sie gebeten, die Polizei zu verständigen, wenn sie heute Abend und am nächsten Morgen nichts von Emily hörte.

Emily fand es sehr beruhigend. Das und die Tatsache, dass sie in Richtung Amarillo fuhren, wo sie notfalls immer noch den Bus nehmen konnten.

Und ihren Wagen abschreiben. Verdammt.

„Ich nehme es Ihnen nicht übel.“

Hatte sie es laut ausgesprochen?

Blinzelnd sah Emily den Mann am Steuer an. „Wie bitte?“

„Dass Sie misstrauisch sind. Aber ich bin wirklich ein netter Typ. Sie müssen sich keine Sorgen machen.“

„Sie züchten Rinder, retten Kellnerinnen aus der Not und lesen Gedanken?“

Er lachte. „Richtig. Waren Sie schon mal auf einer Ranch?“

„Als Kind. Michaels Cousin lebte auf einer Ranch in der Nähe von Pueblo.“

„Michael?“

Emily lächelte traurig. „Mein Ehemann.“

„Was ist passiert?“

Sie starrte nach vorn. Die gepunktete Linie in der Mitte des Highways hatte etwas Hypnotisches. Sie senkte die Stimme. „Er ist vor zwei Jahren gestorben. Leukämie.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Sloan. „Es muss hart für Sie alle gewesen sein.“

„Vor allem für ihn.“ Emily zuckte zusammen. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe.“

„Warum? Es dürfte die Wahrheit sein.“

Emily legte die Hände in den Schoß. „Es klingt nur so … flapsig. So respektlos.“

„Für mich klingt es einfach nur ehrlich.“

Sie schwiegen. Nur das Summen der Reifen auf dem Asphalt und das Flüstern der kleinen Mädchen waren zu hören.

„Und wie kam es, dass Sie für den Mistkerl dort hinten gearbeitet haben?“, fragte Sloan nach einer Weile.

„Dass er ein Mistkerl ist, weiß ich erst, seit seine Frau verreist ist.“

„Der Imbiss ist ziemlich weit von Pueblo entfernt.“

„Wollen Sie meine Lebensgeschichte hören, Mr. Chisholm?“

„Ich heiße Sloan und versuchte nur, Konversation zu machen.“

„Dann sollten Sie mir vielleicht erzählen, wie es einen Rancher aus Oklahoma an eine abgelegene Kreuzung in New Mexico verschlagen hat“, schlug sie vor, um von sich abzulenken.

„Mal sehen. Vor zwei Tagen habe ich dort Rast gemacht. Ich war unterwegs, um ein Pferd bei seinem Besitzer abzuliefern.“

„Und heute?“

„Heute war ich auf dem Rückweg.“

Emily musterte ihn. „Und rein zufällig kamen Sie wieder zur Mittagszeit vorbei?“

Er zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Muss Schicksal gewesen sein.“

Sie war nicht sicher, was sie von dem Mann halten sollte. „Warum sind Sie zurückgekommen?“

„Angenehme Gesellschaft, guter Service, gar nicht mal so übles Essen, obwohl ich das nur ungern zugebe, nachdem ich dem Koch begegnet bin. Sie machen nicht zufällig ein ordentliches Steak wie das, das Sie mir serviert haben?“

„Gehört Kochen auch zu meinem Job?“

„Ja. Ist das ein Problem?“

„Für wie viele?“

„Meine Großmutter, meine beiden Brüder und mich. Und natürlich für Sie und die Mädchen.“

„Sie haben keine Cowboys, oder wie immer die heißen?“

„Manchmal, aber die bringen sich ihren Lunch mit. Sie wohnen nicht auf der Ranch. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Wie lautete die?“

„Das Steak?“

Emily lachte. „Wenn Sie unbedingt wollen, dass Ihre Arterien verkalken, kann ich Ihnen dabei helfen.“

„Sie sind ein Engel“, sagte er lächelnd.

Auf der Rückbank hielten Janie und Libby sich an der Hand, drückten die Daumen und versuchten, nicht zu oft zu kichern. Aber es war so schwer, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie fuhren zu Mr. Sloans Ranch! Von all den Männern, die sie im Imbiss befragt hatten, war Mr. Sloan mit Abstand der beste Daddy-Kandidat, und beide Mädchen wollten einen neuen Daddy.

Libby war vier gewesen, als ihr Daddy gestorben war, und wusste noch, wie ihre Mutter an dem mit Blumen bedeckten Sarg neben dem großen Loch in der Erde gestanden und geweint hatte. Libby dachte nicht gern daran, denn es machte sie traurig.

Sie wollte einen neuen Daddy. Einen, der sie in die Luft warf, bis sie quietschte. Einen, der machte, dass Janie nicht immer so ernst war. Der ihre Mommy zum Lachen brachte. Janie hatte ihr erzählt, dass ihre Mommy früher oft gelacht hatte.

Sie erreichten Amarillo am späten Nachmittag. Die Mädchen waren eingeschlafen, und Sloan beschloss, eine Übernachtung einzulegen. Sie würden essen, sich ausruhen und früh am nächsten Nachmittag auf der Cherokee Rose eintreffen. Er fand ein sauber aussehendes Best Western mit einem rund um die Uhr geöffneten Restaurant daneben und einem großen Parkplatz, auf dem er den Anhänger nicht abzukoppeln brauchte.

Sloan nahm ein Zimmer für Emily und ihre Töchter und eins für sich. Von dort aus rief er sofort zu Hause an. Justin meldete sich.

„Du musst mir einen Gefallen tun“, sagte Sloan.

„Auch dir ein freundliches Hallo“, erwiderte sein Bruder. „Wo bist du?“

„Amarillo. Du musst etwas für mich tun.“

„Also kommst du heute Abend nach Hause?“

„Nein. Ich übernachte hier.“

„Machst du Urlaub? Seit wann bist du vier Stunden von hier entfernt und übernachtest dort, obwohl es noch nicht mal dunkel ist?“

„Seit ich Mitreisende habe.“

„Mitreisende? Du bringst die Stute wieder mit? Was ist passiert?“

Sloan seufzte. „Die Stute ist dort, wo sie hingehört. Ich habe eine Frau kennengelernt.“

„Halleluja!“

„Nein, verdammt, so ist es nicht. Sie und ihre Mädchen haben ein Problem, und ich helfe ihnen, es zu lösen.“

„Aha.“

„Aha? Was soll das heißen?“

„Nichts Besonderes“, erwiderte Justin. „Nur dass du offenbar mal wieder den edlen Ritter spielst. Ich nehme an, sie ist hübsch.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Ha! Also habe ich recht, oder? Sie ist … Augenblick mal, was für Mädchen?“

„Ihre beiden Töchter. Ich möchte, dass du in die Stadt fährst und Earline einen Besuch abstattest.“

„Earline? Wozu? Sie war gerade hier.“

„Ich möchte, dass du sie in Urlaub schickst. Sie und Jeff. In einen bezahlten Urlaub. Zwei, nein, drei Wochen. Sie wollten schon immer mal mit ihren Enkelkindern nach Disney World.“

Justin antwortete nicht sofort. „Ich soll was?“

„Du hast mich verstanden. Ich habe Emily einen Job versprochen und ihr gesagt, dass Caleb ihren Wagen repariert.“

„Weißt du, was du tust?“, fragte Justin ernst.

„Ich helfe einer Frau in Not.“

„Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.“

„Das bedeutet noch lange nicht, dass ich mich in sie verlieben werde“, versicherte Sloan. „Sie bleibt nur, bis ihr Wagen wieder flott ist.“

Justins Antwort bestand aus einem skeptischen Brummen.

Im Zimmer nebenan telefonierte Emily ebenfalls. Sie versicherte Howards Tochter Sandra, dass Sloan sie nicht ermordet und in einen Graben geworfen hatte, dann rief sie ihre Cousine Brenda an.

„Ich hatte keine Wahl“, erklärte sie.

„Also bist du zu einem Wildfremden in den Wagen gestiegen?“, rief Brenda entsetzt. „Hast du den Verstand verloren?“

„Vermutlich.“

„Mit Sicherheit.“ Brendas Stimme wurde noch schriller. Gleich würde Glas zersplittern. „Das kann nicht dein Ernst sein. Sag mir, dass du nicht so dumm bist.“

Emily seufzte. „Ich dachte mir, ich nehme morgen früh ein Taxi zur Busstation. Mein Geld reicht, um nach Fort Smith zu kommen, aber dann muss ich den Wagen zurücklassen.“

„Oh Em, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich würde dir ja gern helfen, aber hier herrscht seit drei Jahren eine solche Dürre, dass die Ernte nicht ausreichen wird, um die gestiegene Pacht zu bezahlen.“

„Ich weiß, Brenda. Vielleicht sollte ich Sloans Angebot annehmen und doch auf der Cherokee Rose arbeiten.“

„Cherokee Rose?“

„Seine Ranch in Oklahoma.“

„He, Tommy“, rief Brenda ihrem Mann zu. „Schon mal was von einer Ranch namens Cherokee Rose gehört? In Oklahoma?“

Emily hörte gedämpftes Gemurmel, dann kam Tommy an den Apparat.

„Wie heißt der Typ?“

„Sloan“, antwortete sie. „Sloan Chisholm.“

„Sloan Chisholm von der Cherokee Rose in Oklahoma.“

„Richtig.“

„Bist du sicher?“

„Na ja, ich habe seinen Führerschein gesehen und seine Webseite. Und auf der Tür seines Pick-ups steht Cherokee Rose.“

„Honey, du könntest nicht in sichereren Händen sein“, sagte Tommy.

Emilys Herz schlug schneller. „Was meinst du?“

„Jeder, der in der Pferde- oder Rinderzucht einen Namen hat, kennt die Chisholms und die Cherokee Rose.“

„Warum?“

„Weil sie gute Leute sind. Ihre Pferde und Rinder sind die besten. Rose Chisholm ist eine lebende Legende. Unter ihrem Dach gibt es keine Mätzchen.“

„Ist sie ein altmodischer Drachen?“

„Nein, nur eine nette Lady. Jeder mag sie, respektiert sie und vertraut ihr. Wenn du mich fragst, auf der Cherokee Rose bist du besser aufgehoben als in Amarillo mit einem kaputten Wagen.“

Emily drehte sich der Kopf. Eigentlich war sie entschlossen gewesen, den Wagen abzuschreiben und den Greyhound-Bus nach Fort Smith zu nehmen. Aber jetzt kam ihr die Idee, auf Sloans Ranch zu arbeiten, gar nicht mehr so verwegen vor. Ganz im Gegenteil, wenn sie Tommy glauben konnte.

Im Bett am Fenster kuschelte Janie sich an ihre kleine Schwester. Sie sollte schlafen, aber die leise Stimme ihrer Mutter hatte sie geweckt. Jetzt kniff Janie die Augen zusammen und drückte beide Daumen.

Bitte, Mommy, lass uns nicht den Bus nehmen. Lass uns mit Mr. Sloan zu seiner Ranch fahren.

Janie wusste nicht, ob sie sich jemals etwas so sehr gewünscht hatte wie das hier. Außer, dass ihr Daddy wieder gesund wurde. Aber das war nicht in Erfüllung gegangen. Ihr Daddy war gestorben. Danach war nichts mehr wie früher gewesen. Sie brauchten einen neuen Daddy.

Nicht, dass Mommy sich nicht gut um sie kümmerte. Sie passte immer auf sie auf. Sie brauchten nicht zu hungern oder barfuß zu laufen, wie die armen Kinder im Fernsehen. Aber wenn Mommy lachte, was nicht oft vorkam, dann leuchteten ihre Augen nicht mehr wie früher.

Janie und Libby hatten jeden Mann befragt, der den Imbiss betrat und aussah, als könnte er ein guter Daddy sein. Janie hatte in der Schule gelernt, wie man eine Umfrage machte. Aber nur ein Mann hatte richtig gut abgeschnitten, und das war Mr. Sloan.

Während ihre Mutter mit Tante Brenda telefonierte, betete Janie so fest wie noch nie in ihrem jungen Leben. Bitte lass uns mit Mr. Sloan fahren. Bitte mach, dass er unser neuer Daddy wird. Und dass er ein guter Daddy wird und Mommy wieder zum Lachen bringt.

3. KAPITEL

Janies Wunsch, jedenfalls der erste Teil, erfüllte sich am nächsten Morgen, als sie wieder in Mr. Sloans Pick-up stiegen, um nach Oklahoma und zur Cherokee Ranch zu fahren. Sie strahlte so sehr, dass ihre Wangen schmerzten, aber das war ihr egal. Auch Libbys Augen leuchteten.

„Worüber freut ihr beide euch denn so?“, fragte Emily von vorn.

„Nichts“, antworteten die Mädchen kichernd.

Emily drehte sich wieder nach vorn und starrte auf die Interstate 40. Sie verstand nicht, warum die beiden sich so freuten. Fremden gegenüber waren sie bisher immer sehr scheu gewesen.

Na ja, Libby war eigentlich niemand fremd. Jeder aß ihr aus der winzigen Hand. Janie war zurückhaltender, vor allem seit ihr Vater gestorben war. Ihre Töchter schienen Sloan wirklich zu mögen, und das machte ihr Sorgen. Denn sie würden nur so lange auf seiner Ranch bleiben, bis ihr Wagen heil war. Sie wollte nicht, dass sie sich zu sehr an den Mann gewöhnten.

Und das galt auch für sie selbst. Sie war nicht sicher, ob sie in diesem Pick-up saß, weil Tommy es ihr geraten hatte oder weil sie es wollte.

Ein ernüchternder Gedanke. Dass sie sich auf so etwas einließ. Sie, Emily Nelson? Auf ein solches Abenteuer?

Wer hätte das gedacht?

„Darf ich mich mitfreuen?“

Emily zuckte zusammen. „Mitfreuen? Worüber?“

„Über das, was so amüsant ist“, sagte er. „Sie lächeln, als hätten Sie gerade einen guten Witz gehört.“

Sie schmunzelte. „Der Witz muss über mich sein. Ich dachte gerade, wie verrückt es ist, dass wir drei in Ihren Wagen steigen und mit Ihnen davonfahren.“

„Hey, bei mir sind Sie sicher.“

Sie sah ihn an. „Das ist ja das Verrückte. Ich glaube Ihnen nämlich.“

Um zwei Uhr nachmittags bog Sloan vom Highway ab.

„Ist die Ranch nach Ihrer Großmutter benannt?“, fragte Emily und zeigte auf das Schild, das über der Schotterstraße hing.

„Umgekehrt.“

„Sie heißt nach der Ranch?“

„Richtig. Sie wurde hier geboren.“

„Seht mal“, rief Janie. „Sind das Cherokee-Rosen?“ Auch sie zeigte auf das Schild.

Sloan hielt davor. „Stimmt.“

Emily hatte nur auf die Schrift geachtet. Jetzt schaute sie genauer hin. Auf der linken Seite erkannte sie einige kleine rötliche Felsbrocken, die wie Rosen geformt waren. Rechts waren weiße Rosenblüten aufgemalt.

„Welches sind die Cherokee-Rosen?“

„Alle.“

Janie beugte sich vor. „Die Steine sind Rosen?“

„Diese Rosen sind versteinerte Tränen.“

Janie runzelte die Stirn. „Wie kann das sein?“

Sloan warf einen Blick in den Rückspiegel. „Habt ihr schon mal vom Pfad der Tränen gehört?“

Die Mädchen schüttelten den Kopf. „Ich schon, aber ich erinnere mich nicht so genau“, gab Emily zu.

„Meine Großmutter kann euch davon erzählen.“ Sloan sprach nicht oft über Nunna dual Tsuny. Über den Weg, auf dem sie weinten. Seine Großmutter hatte ihren Frieden mit diesem Abschnitt der Cherokee-Vergangenheit gemacht. Was ihn selbst anging, war er da nicht so sicher. Wenn er zu oft an den Betrug und die Lügen dachte, die seine Vorfahren auf den über tausend Meilen langen Marsch von Georgia nach Oklahoma geschickt hatten, stiegen unbändiger Zorn und Trauer in ihm auf. Und ein Gefühl makabrer Ironie, denn die eine Hälfte seiner Vorfahren war marschiert, während die andere – die weiße – sie mit ihren Gewehrkolben antrieb.

Aber er durfte die Mädchen nicht enttäuschen, und über die Blumen und die Rosensteine zu sprechen fiel ihm nicht schwer. „Vor langer Zeit …“

„Vor wie langer?“, wollte Janie wissen.

„Hmm. Mal sehen. Es war 1838, ist also etwa hundertfünf-undsechzig Jahre her. Damals wurden sieben Clans der Cherokee-Nation gezwungen, zu Fuß von Georgia nach Oklahoma zu marschieren.“

„Ist das weit?“, fragte Libby.

„Sehr weit. Es hat Monate gedauert. Es war eine schreckliche Reise.“

„Es muss grauenhaft gewesen sein“, warf Emily ein.

„Und das ist noch milde ausgedrückt“, fuhr Sloan fort. „Viele Menschen sind unterwegs gestorben. Man sagt, die Mütter des Stammes waren über den Tod ihrer Kinder und Familien so traurig, dass die Häuptlinge um ein Wunder beteten, das sie glücklich und stark genug machte, um für die überlebenden Kinder sorgen zu können. Von da an blühte überall dort, wohin die Träne einer Mutter fiel, eine weiße Rose auf.“

Janies Augen wurden groß. „Ist das wahr?“

„Ist es“, bestätigte er. „Das ist die weiße Rose, die ihr rechts auf dem Schild seht. Man nennt sie eine Cherokee-Rose, und sie ist jetzt die Staatsblume von Georgia. Sie wächst wild, und zwar überall, wo die Cherokee in die Verbannung marschiert sind.“

„Oh“, flüsterte Libby nur.

„Aber was ist mit den Steinen?“, fragte Janie. „Sie haben gesagt, dass sie mal Tränen waren.“

„Das habe ich. Als die Cherokee endlich ihr Ziel erreichten, genau hier in diesem Teil von Oklahoma, wollte Gott sie für ihre Tapferkeit ehren. Wo immer die Träne eines Cherokee auf die Erde fiel, verwandelte sie sich in einen kleinen rosenförmigen Stein. Also nennt man diese Steine auch Cherokee-Rosen.“

„Oh“, wiederholte Libby.

Sloan lächelte, als er wieder anfuhr.

„Sind Sie sicher, dass Ihre Großmutter nicht nach der Blume oder nach dem Stein benannt ist?“, fragte Emily.

„Nun ja, sie sieht so zart aus wie eine Blume, ist aber so stark wie ein Stein. Aber sie ist nach der Ranch benannt, denn sie wurde hier geboren.“

Kurz darauf hielten sie vor einem großen, weißen Haus mit dunkelgrünen Fensterläden. Sloan hatte seine Großmutter treffend beschrieben, fand Emily. Die Frau auf der Veranda wirkte zerbrechlich – bis man in ihre braunen Augen schaute. Sie verrieten nicht viel über die Frau, nur eine vorsichtige Neugier und eine innere Kraft, die man mehr spürte als sah.

Unwillkürlich straffte Emily die Schultern. Sie würde dafür sorgen müssen, dass Cherokee Rose Chisholms Enkel seine Entscheidung, eine wildfremde Frau mit zwei Töchtern als Haushälterin einzustellen, nicht bereute.

Während sie den Mädchen half, ihre Spielsachen einzusammeln, stieg Sloan aus und öffnete ihr die Tür. Als er die Hand ausstreckte, zögerte sie.

„Willkommen auf der Cherokee Rose“, sagte er.

Emily rang sich ein Lächeln ab. „Danke.“ Sie ergriff seine Hand.

Es war lange her, dass ein Mann ihr beim Aussteigen geholfen hatte. Michael hatte es nur getan, wenn sie zusammen ausgingen, um sich einen besonders schönen Abend zu machen.

Nicht, dass er kein Gentleman gewesen war. Aber sie waren zusammen aufgewachsen, und er hatte gewusst, dass sie keine verwöhnte Lady war und auch nicht so behandelt werden wollte.

Als sie neben Sloan stand, öffnete er die hintere Tür und verbeugte sich. „Ladys, darf ich Ihnen aus Ihrer Kutsche helfen?“

„Kutsche?“, wiederholte Janie verwirrt.

Hinter ihr kicherte Libby und gab ihrer Schwester einen Schubs. „Er tut nur so. Er meint den Pick-up.“

„Das weiß ich.“

„Kommt schon“, drängte Sloan. „Ich stelle euch meine Familie vor.“

Zwei Männer hatten sich zu der Frau auf der Veranda gesellt. Das mussten Sloans Brüder sein. Ihre Großmutter reichte ihnen gerade bis zur Schulter, aber das änderte nichts an Cherokee Rose Chisholms beeindruckender Ausstrahlung. Sie mochte zart sein, zerbrechlich war sie nicht.

Die vier Chisholms hatten die gleiche kupferfarbene Haut und dunkelbraune, intelligente Augen, aber Mrs. Chisholms fast schwarzes Haar war von Grau durchzogen. Allerdings nicht annähernd so viel, wie es bei einer Frau ihres Alters zu erwarten war. Emily hatte einen Blick auf Sloans Führerschein geworfen und wusste, dass er fünfunddreißig war. Also musste seine Großmutter mindestens siebzig sein. Man sah es ihr nicht an. Ihr Gesicht wies kaum Falten auf, nur um die Augen, und ihre Haltung war die einer jungen Frau.

Sloan führte die Mädchen auf die Veranda. „Großmutter, ich möchte dir Janie und Libby Nelson und ihre Mutter vorstellen.“ Er winkte Emily zu sich. „Das ist Emily, unsere neue Haushälterin.“

„Willkommen auf der Cherokee Rose“, sagte seine Großmutter.

„Danke, Mrs. Chisholm.“ Emily gab ihr die Hand.

„Ich heiße Rose“, erwiderte sie und schüttelte Emilys Hand. „Und diese beiden sind meine anderen Enkel. Caleb und Justin, unser Baby.“

Justin verdrehte die Augen.

Libby trat vor und zog an seiner Hand.

„Hallo.“ Er ging vor ihr in die Hocke.

„Mich nennen sie auch immer Baby“, wisperte sie laut. „Aber das ist okay. Damit meinen sie nur, dass man am jüngsten ist.“

„Aha.“ Justin lächelte. „Dann sollten wir es ihnen durchgehen lassen, was?“ Er flüsterte nicht leiser als sie, und alle unterdrückten ein Schmunzeln.

„Dann fühlen sie sich besser“, verkündete Libby strahlend.

Er zwickte sie in die Nase. „Ich habe mich gerade verliebt. Ich behalte sie.“

„Augenblick mal“, protestierte Sloan. „Ich habe sie zuerst gesehen. Alle drei, also achte auf deine Manieren, Kleiner.“

Mit großen Augen sah Libby ihn an. „Heißt das, Sie behalten uns, Mr. Sloan?“

Emily war gespannt, wie Sloan reagieren würde.

„Na ja, jedenfalls für eine Weile“, antwortete er und zeigte auf Justin. „Und es heißt, dass der hier gern flirtet, also achtet nicht auf ihn.“

Bevor Justin sich verteidigen konnte, scheuchte Rose Emily und die Mädchen ins Haus. „Ihr Jungs holt das Gepäck.“

Die luftigen Räume sahen gemütlich aus. Das Wohnzimmer war so groß wie Emilys letztes Apartment. Um einen großen Fernseher standen drei bequeme Sessel und eine Couch, vor dem Kamin aus Naturstein zwei Ohrensessel, und unter der Treppe nach oben gab es ein kleines Büro mit Schreibtisch, Aktenschrank, Computer, Drucker und Faxgerät.

Auf dem Fußboden aus Pinienholz lagen Teppiche verstreut. Es herrschte Ordnung, aber man sah, dass der Raum bewohnt wurde. Neben einem der Sessel lag ein Paar Socken. Emily unterdrückte ein Lächeln. Hier würde sie sich wohlfühlen.

Rose schüttelte den Kopf. „Diese Jungs.“ Aber sie hob die Socken nicht auf. „Dies ist Ihre erste Regel, Emily. Wenn ein Mann seine Sachen gewaschen haben will, muss er sie in einen der Körbe bei der Waschmaschine legen. Socken bleiben liegen, bis jemand ihren Anblick leid ist oder der Geruch uns stört. Dann werden sie in den Müll geworfen. Ohne Vorwarnung.“

Emily lächelte. „Klingt gut. Landen viele Socken im Müll?“

„Hin und wieder. Aber in letzter Zeit nicht. Vielleicht wollen sie Sie auf die Probe stellen. Fallen Sie nicht auf ihre Tricks herein, sonst lassen sie sich bedienen. Sie sind nicht verzogen, wären es jedoch gern.“

„Ich verstehe. Mit anderen Worten, sie sind typische Männer.“

„Typische Chisholms.“

Rose führte sie an der Treppe vorbei und versprach, ihr das Obergeschoss am Tag darauf zu zeigen. „Morgen ist früh genug. Jetzt wollen Sie sich sicher erst mal einrichten und frisch machen.“

„Oh, es macht mir nichts aus, sofort mit der Arbeit anzufangen.“

„Mal sehen“, erwiderte Rose nur. Sie zeigte ihr und den Mädchen die riesige Küche mit einem langen Esstisch und acht Stühlen. Vor der Hintertür lag eine weitere Veranda, auf der Waschmaschine, Trockner und eine große Kühltruhe standen. Es gab Haken für Hüte und Jacken und, am anderen Ende, ein Badezimmer, komplett mit Duschkabine. Neben der Tür zum Bad befanden sich mehrere hohe Schränke.

„Hier waschen wir uns, wenn wir von der Arbeit kommen. Dann schleppen wir keinen Dreck ins Haus.“

„Das dürfte meinen Job erleichtern“, meinte Emily.

„Jedenfalls war das die Absicht, als das Haus gebaut wurde.“ Rose zog eine Schublade auf. „Hier finden Sie Werkzeug, falls Sie welches brauchen. Und Sachen wie Glühlampen, Dichtungen, Wasserhähne, Lichtschalter, so etwas.“

„Sie sind auf alles vorbereitet.“

Rose schloss die Schublade. „Die Stadt ist über eine halbe Stunde entfernt. Manchmal ist es unpraktisch, wegen eines tropfenden Hahns so weit zu fahren.“

Zurück in der Küche, führte Rose Emily und die Mädchen über einen kurzen Flur zu einem Schlafzimmer mit eigenem Bad. „Hier werden Sie schlafen. Ich hoffe, Sie finden alles, was Sie brauchen.“

Der Raum war groß genug für ein Doppelbett an einer Wand, ein Etagenbett an der anderen, eine Kommode dazwischen und einen Kleiderschrank. Nicht schick, aber sauber und einladend, mit einem kleinen Fernseher auf der Kommode als nette Überraschung.

„Oh ja, Ma’am.“ Emily lächelte glücklich. „Das werden wir bestimmt. Vielen Dank.“

Rose hoffte, dass das Lächeln ein gutes Zeichen war. Sloan hatte noch nie eine Frau nach Hause eingeladen – nicht einmal als Haushälterin getarnt.

Haushälterin. Ha! Dieser Junge …

Sie fragte sich, was er ausheckte. Von Justin wusste sie, dass Emily Nelsons Wagen kaputt war und Sloan sie hier unterbringen wollte, bis er repariert war. Aber war es mehr als Hilfsbereitschaft? Ihr Sloan hatte ein großes Herz, das so weich wie Schlagsahne war. Und kein Rennpferd trug so gewaltige Scheuklappen wie Sloan, wenn es um Frauen ging.

Was Emily Nelson betraf, behielt Rose sich ein Urteil vor. Es war durchaus möglich, dass die junge Frau so freundlich und vertrauenswürdig war, wie sie wirkte. Eine solche Frau zu finden, und sei es rein zufällig, wäre für Sloan eine echte Premiere.

Die Zeit und diskrete Beobachtung würden es ihr verraten, da war Rose zuversichtlich.

Nachdem Emily und die Mädchen sich eingerichtet hatten, zeigte Sloan ihnen die nähere Umgebung. Es gab so viel zu sehen, und Libby und Janie tanzten praktisch vor Aufregung.

Der Hinterhof war klein und eingezäunt, zwei alte Eichen standen hier. Im Garten daneben wuchsen in ordentlichen Beeten Tomaten, Okras, Kürbisse, grüne Bohnen, Mais und Wassermelonen.

„Haben Sie je Gemüse angebaut?“, fragte Sloan Emily.

„Jahrelang, bis Michael krank wurde. Ich vermisse es.“

„Na ja, jetzt nicht mehr“, meinte er. „Großmutter wird für jede Hilfe dankbar sein. Wie gesagt, sie sitzt lieber im Sattel, aber vom Pferd aus ist es schwierig, Bohnen zu pflücken.“

„Ja, das ist es wohl.“

Er lachte. Je häufiger er mit Emily zusammen war, desto mehr mochte er sie. Mehr kam nicht infrage. Schließlich war sie auf dem Weg nach Fort Smith und würde nur so lange auf der Ranch bleiben, bis ihr Wagen heil war.

Er zeigte den Mädchen die alte Schaukel, die vom Ast einer Pappel am Bach hinter dem Haus hing, und freute sich über ihre Begeisterung. Emily dagegen ließ den Blick von der steilen Uferböschung zu den vielen Felsbrocken im Flussbett wandern und machte ein strenges Gesicht.

„Ihr werdet auf keinen Fall ohne mich herkommen“, ermahnte sie ihre Töchter.

„Warum denn nicht, Mom?“, fragte Janie.

Sloan zog die Augenbrauen hoch, hielt jedoch den Mund.

Kluger Mann, dachte Emily. „Weil es gefährlich ist“, antwortete sie. „Habt ihr verstanden?“

„Dürfen wir jetzt spielen?“, bat Libby und starrte sehnsüchtig auf die Schaukel.

„Vielleicht später. Erst müssen wir herausfinden, was Mr. Sloan uns noch alles zeigen muss, okay?“

„Zeigen Sie uns die Kätzchen?“, fragte Libby.

„Klar.“ Er zeigte auf den Baum. „Dort oben sind zwei von ihnen.“

Libby und Janie legten die Köpfe in den Nacken und stießen einen Freudenschrei aus. Zwei halb erwachsene Katzen, die eine bunt gescheckt, die andere getigert, schauten neugierig aus drei Meter Höhe auf sie herab.

„Oh“, sagten die Mädchen gleichzeitig.

Libby sprang auf und ab. „Sieh mal, Mom! Kätzchen!“

„Kommen sie herunter?“, fragte Janie. „Kommt her, Kätzchen.“

„Sie sind ein wenig scheu“, sagte Sloan. „Eigentlich sind sie keine Haustiere, sondern Mitarbeiter.“

Libby zog die Nase kraus. „Was?“

„Was für Arbeit können Katzen denn machen?“, wollte Janie wissen.

„Sie fangen Mäuse. Das ist ihr Job. Hier draußen auf dem Land würden wir uns ohne Katzen vor Mäusen nicht retten können“, erklärte er, während sie die Vierbeiner, den Baum mit der Schaukel und den Fluss, der Emily nervös machte, hinter sich ließen.

„Ich zeige euch jetzt die Scheune, in der sie leben.“

Auf dem Weg dorthin kamen sie am Hühnerstall und drei Geräteschuppen vorbei. Einer davon, so breit wie eine Doppelgarage, stand offen, und Emilys Blick fiel auf den Kühlergrill ihres Wagens.

„Caleb wird ihn sich nach dem Abendessen ansehen“, sagte Sloan.

„Oh. So schnell?“

„Es wird eine Weile dauern. Er kann nur abends daran arbeiten.“

„Sie werden von mir keine Beschwerde hören“, erwiderte sie.

Die Scheune war der Mittelpunkt der Ranch, alle anderen Gebäude, auch das Wohnhaus, gruppierten sich im Halbkreis darum. Links und rechts davon erstreckte sich je ein Pferch. In einem befanden sich eine Handvoll Pferde, im anderen ein halbes Dutzend Kühe. Mit großen Augen starrten Janie und Libby auf die für sie riesigen Tiere. Als Großstadtmädchen hatten sie noch nichts Größeres als einen Hund gesehen.

„Wow“, flüsterte Janie, als sie am Zaun stehen blieben. „Sie sind so hübsch.“

„So groß“, fügte Libby hinzu.

Sloan schmunzelte. „Das sind sie. Seht ihr dieses Geländer?“ Er stellte einen Fuß auf den untersten Querbalken.

„Ja, Sir“, antworteten die Mädchen wie aus einem Mund.

„Dieser Zaun funktioniert in zwei Richtungen. Er hält die Pferde drin und die Menschen draußen. Ihr zwei müsst mir versprechen, dass ihr nicht mal eine Hand durch den Zaun streckt, erst recht keinen anderen Körperteil.“

„Er meint, wir dürfen nicht hineingehen“, sagte Janie zu Libby.

Libby schnitt eine Grimasse. „Das weiß ich.“

„Ja, genau das meine ich. Ihr dürft auch nicht auf den Zaun klettern. Janie hat recht, das sind einige der hübschesten Pferde, die ihr je sehen werdet. Aber auch Libby hat recht, und sie könnten euch sehr wehtun, ohne es zu wollen. Also versprecht es mir.“

„Ja, Sir.“

„Das gilt auch für die Rinder in dem anderen Pferch. Die sind nicht annähernd so höflich wie die Pferde. Es sind keine Haustiere, sondern einfach nur große, launische Vierbeiner. Ich möchte euer Wort, dass ihr die Pferche auch dann nicht betretet, wenn sie leer sind.“

„Warum nicht?“, fragte Libby.

„Weil er es gesagt hat“, erklärte Emily ihr.

„Oh.“

Sloan lächelte. „Seht ihr die Türen dort?“ Er zeigte auf die Öffnungen in der Seitenwand der Scheune. „Selbst wenn der Pferch leer aussieht, können die Pferde nach draußen kommen und euch erschrecken. Sie selbst würden auch einen Schreck bekommen und wild werden, bevor ihr in Sicherheit seid. Also, gebt ihr mir euer Wort?“

„Ja, Sir“, antwortete Libby.

„Ja, Sir“, wiederholte Janie. „Wir werden die Pferche nicht betreten. Es sei denn, Sie erlauben es uns.“

„Gut.“

Rose hatte gesagt, dass Emily ihren Job erst am nächsten Tag antreten musste, aber sie wollte nicht untätig bleiben, während Sloans Großmutter eine Mahlzeit auf den Tisch brachte. Also schickte sie die Mädchen zum Fernsehen in ihr Zimmer und half in der Küche.

„Die beiden müssen nicht in Ihrem Zimmer bleiben“, sagte Rose. „Bestimmt würden sie lieber am großen Fernseher im Wohnzimmer gucken.“

„Oh nein“, protestierte Emily. „Der ist für Ihre Familie.“

„Unsinn. Während sie auf der Ranch sind, gehören sie zur Familie. Außerdem hat der große Fernseher Satellitenempfang, der in Ihrem Zimmer nicht.“

Emily hatte eine solche Großzügigkeit nicht erwartet und war dankbar dafür. Die Mädchen würden begeistert sein und um diese Tageszeit vermutlich über Satellit eher eine geeignete Sendung finden als in den regulären Programmen. „Danke.“

Die Mädchen freuten sich, und selbst Janie konnte ihre Aufregung nicht verbergen, als ihre geliebten Zeichentrickfiguren in leuchtenden Farben auf dem Schirm erschienen.

Während ihre Töchter gebannt zusahen, folgte Emily Rose wieder in die Küche.

Die beiden Frauen bereiteten eine große Lasagne zu und schoben sie in den Ofen. Dann kümmerte Rose sich um die grünen Bohnen, die sie am Nachmittag gepflückt hatte, und Emily machte einen Salat.

„Oh, die sind toll“, sagte sie und griff nach zwei großen, rubinroten Tomaten. „Sind die aus Ihrem Garten?“

„Ja.“

„Und die Bohnen?“

„Die auch. Wir hatten ein gutes Jahr. Arbeiten Sie gern im Garten?“

„Früher schon. Es fehlt mir. Ich hoffe, ich darf Ihnen draußen helfen.“

„Ha! Sie tun im Garten so viel, wie Sie wollen. Ich werde keine Träne vergießen. Hinter dem Haus ist ein kleiner Schuppen, in dem Sie alles finden, was Sie brauchen.“

Emily lächelte. „Vielleicht sehe ich mich nach dem Essen mal um.“

Rose wusch sich die Hände. „Wenn Sie bei der Hausarbeit auch so eifrig sind, werde ich Sie gern hier haben.“

„Oh, ich arbeite gern im Haus. Wenn Sie mir sagen, was Sie erledigt haben wollen, werde ich es tun. Wenn etwas nicht so ausfällt, wie Sie wollen, sagen Sie es mir, und ich tue mein Bestes, um es in Ordnung zu bringen.“

„Einverstanden. Wir gehen alles durch, wenn wir die Jungs satt gekriegt haben.“

Wie aufs Stichwort ging die Tür zur hinteren Veranda auf, und schwere Stiefel polterten über den Boden. Kurz darauf betraten die drei Chisholm-Brüder die Küche.

Emily begrüßte jeden von ihnen mit einem Lächeln, aber bei Sloan blieb ihr Blick etwas länger. Vermutlich weil seiner es auch bei ihr tat.

„Wascht euch“, befahl Rose. „In zehn Minuten steht das Essen auf dem Tisch.“

Sloan war es gewohnt, seine Großmutter abends in der Küche stehen zu sehen. Zusammen mit Earline, aber die war inzwischen einundsechzig und hatte ein hartes Leben hinter sich.

Eine hübsche junge Frau mit einem Eine-Million-Watt-Lächeln und Augen so blau wie ein Sommerhimmel war ein neuer Anblick, der ihm unter die Haut ging.

„Hi.“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Also wenn das nichts für meine müden Augen ist.“ Grinsend schlug Justin seinen Hut gegen die Knie und schob sich vor Sloan. „Zwei hübsche Frauen, die auf uns warten.“

„Lassen Sie sich nicht täuschen“, warnte Rose Emily. „Er will nur in den Ofen schauen.“

Justin legte eine Hand auf die Brust. „Du verletzt mich, Großmutter.“ Er zwinkerte. „Außerdem weiß ich, was im Ofen ist. Lasagne. Ich rieche sie schon. Junge, ich kann es kaum abwarten. Ich bin am Verhungern.“

„Wasch dich.“

Autor

Janis Reams Hudson
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