Only You Band 19

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Es gibt viele Gründe für eine Ehe – die Liebe ist der beste! Doch nicht immer ist bei einer Hochzeit das schönste aller Gefühle im Spiel. Aber was nicht ist, das kann noch werden – und sorgt dann für umso mehr Herzklopfen.

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  • Erscheinungstag 22.11.2025
  • Bandnummer 19
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532914
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Kate Walker, Jessica Hart

ONLY YOU BAND 19

Kim Lawrence

1. KAPITEL

Das Dorf lag im Dunkeln, als Rafael Farrar auf dem Weg zu seinem Großvater durch den kleinen Ort fuhr. Für Tagesausflüge gerade ein wenig zu weit von den beliebten Stränden entfernt, war das Dorf relativ unberührt von Modernisierung und Tourismus geblieben.

In diesem verschlafenen, kleinen Nest hatte Rafael seine Kindheit verbracht. Seit dem Tod seines älteren Bruders Alec und dem Umzug seines Vaters an die Riviera war sein Großvater der einzige Farrar, der das Herrenhaus am Ortsrand bewohnte. Er hatte sich vor Kurzem aus Altersgründen aus dem internationalen Bankgeschäft zurückgezogen und kam mit dem Ruhestand nicht gut zurecht. Als schwarzes Schaf der Familie hatte Rafael sich nur ungern zu diesem Pflichtbesuch aufgerafft.

Eigentlich hatte er einen Gast mitbringen und seinem Großvater vorstellen wollen, Claudine, die seine Frau hätte werden sollen. Doch sie hatte sich inzwischen von ihm getrennt, und er grübelte nun darüber nach, wie es dazu gekommen war. Normalerweise ein vorsichtiger und umsichtiger Fahrer, war er an diesem Tag so in Gedanken versunken, dass er schneller durch die schmalen, nächtlichen Gassen fuhr als gewohnt und das Tier viel zu spät sah, um noch rechtzeitig zu bremsen.

Nur seinen schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass er den Hund, der plötzlich vor ihm über die Straße lief, an der Seite traf und nicht überfuhr. Dass er dabei von der Straße abkam und einen Baum streifte, war eine andere Sache. Fluchend sprang er aus dem Wagen und sah sich den Schaden an. Ein Frontscheinwerfer war beschädigt, und der Hund lag zitternd auf dem Grasstreifen am Straßenrand.

„Alles in Ordnung, alter Junge“, sprach Rafael beruhigend auf ihn ein. Dann tastete er den mageren Körper ab. Das mächtige Tier ließ es sich gefallen, ohne sich zu rühren. Rafael war zwar kein Experte, aber doch ziemlich sicher, dass es eher einen Schock als eine lebensbedrohliche Verletzung erlitten hatte.

„Sieht aus, als hättest du noch mal Glück gehabt.“ Er kraulte den Hund hinter dem Ohr. Das Tier sah anbetend zu ihm auf. Rafael brauchte nicht erst auf der Marke nachzusehen, um zu wissen, wer der Besitzer war.

Der Hund sah aus wie ein gemeiner Straßenköter von der Sorte, die im Tierheim verblieben, nachdem alle einigermaßen ansprechend aussehenden Tiere ein Zuhause gefunden hatten. Sein schmutzigweißes Fell glänzte nicht, und es war voller Narben. So ein Hund konnte nur einem Menschen gehören: Tess Trelawny. Schon als sie und Rafael noch Kinder gewesen waren, hatte sie sich aller herrenlosen Hunde im Umkreis von zehn Meilen angenommen.

Rafael hob den Hund hoch und legte ihn auf den Rücksitz. Es war schade um die hellen Lederbezüge, aber da ließ sich jetzt nichts machen. Dann stieg er wieder ein und fuhr zu dem gemütlichen, kleinen Cottage, das Tess vor vier Jahren von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Auch wenn kein Licht im Haus gebrannt hätte, hätte er keine Skrupel gehabt, sie zu wecken. Er freute sich sogar, dass er nun einen legitimen Grund hatte, seinem Ärger Luft zu machen. In dieser Nacht war ihm sehr danach zumute. Auf Tess brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Sie war ohne Weiteres imstande, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Den Hund im Arm, trat er heftig gegen die Küchentür. Sie ging unter lautem Knarren und Ächzen auf, das einem Horrorfilm Ehre gemacht hätte.

„Du könntest ruhig mal deine Tür ölen“, sagte Rafael und trat über die Schwelle in die hell erleuchtete Küche. „Was ist denn hier los? Hat jemand bei dir eingebrochen?“, rief er dann verblüfft. Es schien die beste Erklärung für das Durcheinander im Raum zu sein. Der Inhalt sämtlicher Schränke schien in kleinen und größeren Häufchen auf dem Fußboden verteilt zu sein.

Die kleine, schlanke Person, die nur ein kurzes Baumwollnachthemd und gelbe Küchenhandschuhe trug, ignorierte seine Frage. „Baggins!“, rief sie erschrocken und wandte sich dann vorwurfsvoll an Rafael. „Was hast du mit ihm gemacht?“

„Warum schließt du deine Tür nicht ab?“, stellte er die Gegenfrage. „Ich hätte ja sonst wer sein können.“

Tess warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. „Aber nun bist du es ja nur“, sagte sie. „Da habe ich noch mal Glück gehabt.“

„Lass das“, schimpfte Rafael, als sie ihm den Hund abnehmen wollte. „Er ist viel zu schwer für dich. Außerdem kann das arme Tier ganz gut selbst laufen.“ Er setzte den Hund ab. „Ich habe ihn nur getragen, um zu verhindern, dass er mir ausreißt und noch einmal einem nichts ahnenden Autofahrer vor den Wagen läuft.“ Er schloss die Tür hinter sich.

„Oh!“ Tess beruhigte sich etwas, als Baggins sich sofort verspielt wie ein Welpe verhielt. „Ich habe den Zaun repariert, aber er gräbt sich immer wieder drunter durch. Bestimmt hast du ihn mit deinem großen Angeberauto angefahren.“

„Ich habe ihn nur ganz leicht gestreift.“ Was für kleine, schmale Füße sie hat, überlegte er. Genauso zierlich wie die ganze Tess. Zierlich und schlank, aber nicht dünn, sondern mit weichen, vollen Rundungen an genau den richtigen Stellen – und das überall! Sie sah richtig sexy aus!

Kaum war er in Gedanken so weit gelangt, da schien es nur natürlich, dass er sich vorstellte, wie sie wohl unter dem leichten Nachthemd aussah. Verwirrt versuchte er, seine Gedanken in eine unverfänglichere Richtung zu lenken. Er hatte nichts gegen Sex. Und auch nichts gegen Tess. Aber Tess und Sex? Das war ihm bisher noch nicht in den Sinn gekommen.

„Erspare mir einen Vortrag darüber, dass Baggins sein Leben nur deinen schnellen Reflexen verdankt!“

Rafael verbarg seine Verwirrung hinter einem ironischen Lächeln. „Das ist also der Dank für das Opfer, das ich gebracht habe.“

„Welches Opfer?“

„Ein kaputter Scheinwerfer. Und danke für die Nachfrage, nein, mir ist glücklicherweise nichts passiert.“ Erleichtert stellte er fest, dass er ihr wieder in die Augen sehen und sie wie gewohnt als gute alte Freundin betrachten konnte. Der kurze, lustvolle Moment war bestimmt auf seine Trennung zurückzuführen. Liebeskummer konnte die merkwürdigsten Folgen haben, das wusste ja jeder.

„Dass du nicht verletzt bist, ist offensichtlich.“

„Ich habe den Eindruck, dass es dir lieber wäre, wenn ich mir den einen oder anderen Knochen gebrochen hätte. Empfängst du Gäste öfter so? Dann wundert es mich, dass überhaupt noch jemand vorbeikommt.“

„Vielleicht wäre ich glücklicher, wenn keiner käme“, entgegnete sie scharf.

„Ach, haben wir vor, uns ganz von den Menschen zurückzuziehen?“

„Du bist zwar der Gutsherr und das Ergebnis von Generationen der Inzucht, aber geht es nicht doch ein bisschen weit, wenn du das königliche ‚Wir‘ verwendest?“

„Ich habe nicht von mir gesprochen. Und ehe du mir noch mehr Beleidigungen an den Kopf wirfst, möchte ich daran erinnern, dass unter diesem kräftigen, männlichen, der Inzucht zu verdankenden Äußeren eine empfindsame Seele wohnt.“ Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. „Da, ich bin aus Fleisch und Blut.“

Tess konnte zwar seine Seele nicht fühlen, aber sie spürte seine Wärme und den langsamen, gleichmäßigen Herzschlag. Wie erstarrt blickte sie auf ihre Finger. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern. Es machte sie seltsam nervös, so zu stehen. Nach einer Weile wurde ihr schwindelig. Verwirrt hob sie den Blick und sah ihn an. Seine Gesichtszüge verschwammen vor ihren Augen.

Rafael erwiderte ihren Blick und ließ hastig ihre Handgelenke los. Er räusperte sich. „Dir ist das vielleicht nicht klar, aber zwischen angeberisch und echter Klasse besteht ein Riesenunterschied.“

„Ach was, ein Spielzeug für kleine Jungs.“ Ich hätte wirklich etwas essen sollen, dachte sie, dann wäre mir nicht so schwindelig.

„Wenn du mein Auto beleidigst, beleidigst du mich.“

Sie lächelte schalkhaft. „Ich würde lieber dich beleidigen.“

„Das habe ich mir beinah gedacht.“

Sie zuckte die Schultern. Natürlich wusste sie, dass ihr Ärger ihrer Nichte Chloe galt, aber da Rafael im Gegensatz zu Chloe zur Hand war, ließ sie ihren Zorn eben an ihm aus. Zum Glück besaß er ja breite Schultern. Sehr breite sogar.

„Ich habe gestern mit angesehen, wie du den armen Mann fertiggemacht hast.“

„Hast du etwa einen Fernseher? Das passt gar nicht zu deinem Lebensstil. Ich dachte, du wärst jetzt ganz zu Naturkost und einem natürlichen Leben übergegangen.“

Dass er sich darüber amüsierte, verletzte sie. Er kam offensichtlich nicht auf die Idee, dass ihr der eine oder andere Konzert- oder Theaterbesuch fehlte, Dinge, die einst ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen waren.

„Gran hatte keinen Fernseher. Ich besitze ein kleines, tragbares Gerät. Dass ich mein eigenes Gemüse anbaue, bedeutet noch lange nicht, dass ich all meine Interessen aufgegeben habe. Und spar dir deine Kritik. Ich handle wenigstens aus Überzeugung.“ Oder weil sie sich Biogemüse nicht leisten konnte.

„Willst du damit sagen, dass ich das nicht tue?“

„Zumindest hattest du vor Nicola nicht das geringste Interesse daran, den Planeten zu retten.“ Nicola, eine aktive Umweltschützerin, war seine erste feste Freundin gewesen. Abgesehen von ausgeprägten Ansichten, hatte Nicola, ebenso wie alle Freundinnen, die nach ihr kamen, sehr lange Beine, eine Traumfigur und wallendes blondes Haar. „Du hast sie doch nicht etwa vergessen?“

Nicola lag lange Zeit zurück, und er erinnerte sich nur vage an sie. Trotzdem lächelte er. „Ein Mann vergisst ein Mädchen wie Nicola nicht so leicht. Sie besaß jede Menge Schwung.“

Ganz zu schweigen von bemerkenswerten Brüsten, dachte Tess.

In diesem Moment wischte Baggins mit dem Schwanz über einen Stapel Teller und fegte den obersten vom Tisch. Rafael fing ihn geschickt auf, ehe er auf den Boden fallen und zerbrechen konnte.

„Dieser Hund ist eine Gefahr“, sagte er unwirsch.

„Wenn du meinen Hund beleidigst, beleidigst du mich“, griff sie seine Bemerkung von zuvor auf. „Vielleicht sollte ich den Tierarzt anrufen, um ganz sicherzugehen, dass ihm nichts passiert ist?“

„Wenn er ein Pferd wäre, hätte man ihn schon längst zu Hundefutter verarbeitet.“

„Nicht, wenn er mein Pferd wäre.“

„Du bist zu sentimental, Tess.“

„Und das von dir! Dabei führt dein erstes Pony ein Luxusleben.“

„Es lebt in angemessenem Komfort“, korrigierte Rafael und zeigte ihr damit, dass sie mit ihrer Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. „Wenn du dir wirklich Sorgen machst, rufen wir Andy an. Er macht bestimmt gern einen Hausbesuch.“

Das ganze Dorf wusste, dass der Tierarzt, der um einiges älter war als Tess, ihr, seit er die Tierarztpraxis übernommen hatte, den Hof machte. Rafael hatte ihn nur einmal kurz kennengelernt und ihn sofort als einen selbstgerechten, aufgeblasenen Langweiler eingestuft.

Tess errötete. „Hast du nicht gehört, dass Andy die Praxis wieder verkauft hat? Er ist in den Norden gezogen.“ Sie wusste, dass Rafael genau das dachte, was jeder andere im Dorf auch gedacht hatte. Und wenn er es wagte, ihr mit Mitleid zu kommen, dann würde sie …

Bloß weil sie Single, weiblich und beinahe dreißig war, nahmen alle an, sie würde nur darauf warten, dass jeder halbwegs gut aussehende Mann mit ihr eine romantische Beziehung anfing. Zugegeben, halbwegs gut aussehende Männer waren Mangelware, und sie hatte Andrews Gesellschaft genossen. Aber obwohl sie nur gelegentlich zusammen essen gegangen waren, hatte die gesamte Nachbarschaft viel mehr in dieser Freundschaft gesehen. Das hatte sie den vielsagenden Blicken und anzüglichen Bemerkungen entnommen.

„Ich fand schon immer, dass er ein aalglatter Typ war.“

„Vielleicht tröstet es dich, dass er auch nicht viel von dir gehalten hat.“

Rafael streichelte den Hund, der hingebungsvoll zu ihm aufsah. „Wo hast du den her?“

„Er hat Mr. Pettifer gehört. Erinnerst du dich an ihn?“

Rafael nickte, obwohl er sich nur schwach an den hinfälligen Achtzigjährigen erinnerte.

„Keiner wollte den Hund nehmen.“

„Das wundert mich aber!“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass viele Familien gern so ein hässliches Untier aufgenommen hätten.

Tess strich sich ärgerlich das dichte kastanienbraune Haar, dem ein Haarschnitt gut getan hätte, aus dem Gesicht und sah Rafael an. „Er hat einen wunderbaren Charakter.“

„Sein Atem stinkt.“

„Egal, Ben liebt ihn.“ So, wie sie das sagte, war klar, dass es keine bessere Empfehlung gab. Irgendwie kam ihr Rafael diesmal verändert vor. Sie wusste nicht, was es war, aber … „Hast du etwas getrunken?“, sprach sie ihren Verdacht laut aus.

„Noch nicht.“ Suchend ließ er den Blick über die Küchenregale schweifen. „Wer sagt’s denn? Genau das, was ich suche.“ Er nahm eine angestaubte Flasche aus einem Fach und las das Etikett. „Holunderwein! Meine Lieblingssorte. Korkenzieher?“ Ungeduldig streckte er die Hand aus.

Du willst tatsächlich deine anspruchsvollen Geschmacksnerven Grans hausgemachtem Holunderwein aussetzen?“, neckte sie ihn.

„Ich trinke ihn nicht allein.“

„Eine echte Versuchung, aber es ist drei Uhr nachts.“ Sie sah automatisch auf ihre Armbanduhr, nur um zu entdecken, dass sie sie nicht umhatte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie, abgesehen von dem kurzen Baumwollnachthemd, kaum etwas anhatte. Unwillkürlich zupfte sie am Saum, um ihre Beine ein Stückchen mehr zu bedecken.

Rafael dagegen sah perfekt angezogen aus wie immer. Die Uhrzeit machte für ihn offensichtlich keinen Unterschied. Er trug eine geschmackvolle und sicher sehr teure Kombination: eine dunkelolivgrüne Hose und dazu ein Polohemd. Dabei kam es auf die Einzelheiten nicht so sehr an, da er einen Meter neunzig maß und athletisch gebaut war mit langen Beinen, schmalen Hüften und breiten Schultern. Außerdem besaß er eine sinnliche Ausstrahlung, die es Frauen leicht machte, darüber hinwegzusehen, dass sein Gesicht einem Schönheitsideal nicht standgehalten hätte. Es war attraktiv, interessant und kraftvoll, aber nicht schön.

„Mir ist klar, wie viel Uhr es ist, Tess. Veranstaltest du eigentlich oft mitten in der Nacht einen Frühjahrsputz?“

„Ich konnte nicht einschlafen“, verteidigte sie sich, zog die Gummihandschuhe aus und warf sie auf die Spüle.

Ihr war es egal, ob er sie für exzentrisch hielt. Eigentlich kümmerte es sie überhaupt nicht, was er von ihr dachte. Sie fand, der Erfolg hatte ihn nicht zu seinem Vorteil verändert. Solange er ihr alter Freund Rafael gewesen war, zwei Jahre jünger als sie und ein Kind aus der Nachbarschaft, hatte sie ihn nett, wenn auch manchmal etwas anstrengend gefunden.

Doch über die Jahre war das Gefühl der Überlegenheit verschwunden, das sie ihm gegenüber als Kind empfunden hatte, da sie die Ältere war. Vermutlich gibt es kaum Menschen, die sich Rafael überlegen fühlen, dachte sie. Er besaß eine natürliche Autorität, sodass die Leute zu ihm aufsahen und ihn als Führungskraft akzeptierten, ohne dass er viel dazu tun musste. Aber sie zählte sich nicht zu jenen, die ihm jedes Wort unbesehen abnahmen.

Doch obwohl sie ihn oft mit seiner Herkunft und dem ehrwürdigen Namen seiner Familie aufzog, glich er nicht den anderen Farrars, die noch nach beinah mittelalterlichen Wertvorstellungen lebten. In seiner Familie wurde die Tradition hochgehalten. Das hieß, dass ein jüngerer Sohn zum Militär ging, während der älteste Sohn sich in dem Familienunternehmen, einer Investmentbank, hocharbeiten musste.

Rafaels älterer Bruder war der Tradition treu geblieben und in die Bank gegangen. Tess vermutete allerdings, dass sein Interesse an den Finanzen ausschließlich dem Geldausgeben galt. Seit Rafael von dem teuren Internat geflogen war, das die Farrars seit Generationen besucht hatten, hatte seine Familie sich sicher nicht gewundert, dass er alle weiteren Pläne der Familie für seine Zukunft ignorierte.

Er hatte ihnen nicht einmal den Gefallen getan zu scheitern. Stattdessen arbeitete er sich in überraschend kurzer Zeit bei einer großen, überregionalen Tageszeitung nach oben und machte sich schließlich als Moderator einer Sendung zum Hintergrund von tagespolitischen Themen einen Namen.

Der Beruf eines Moderators war ihm wie auf den Leib geschnitten. Er befragte seine Interviewpartner weder aggressiv noch feindselig. Das brauchte er gar nicht. Denn Rafael besaß die seltene Gabe, selbst den unwilligsten Kandidaten auf charmante Art ehrliche Antworten zu entlocken. Und er tat es mit einer solchen Leichtigkeit, dass nur wenige seine Fähigkeiten zu würdigen wussten oder ahnten, wie viel Hintergrundrecherchen dazugehörten, um das Wissen zu sammeln, aufgrund dessen er seine Fragen so locker stellte.

Er war so beliebt, dass sich viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens danach drängten, von ihm befragt zu werden. Zweifellos hielten sie sich für zu schlau, um ihm auf den Leim zu gehen und sich in einem falschen Gefühl der Sicherheit zu wiegen. Allerdings hegte Tess den Verdacht, dass nicht nur Rafaels Fähigkeiten, sondern auch sein ungeheuer fotogenes Aussehen etwas damit zu tun hatte, dass er beinah über Nacht zum Star geworden war.

„Ich kann besser denken, wenn ich dabei etwas tue“, erklärte sie. Obwohl diese Nacht eine Ausnahme von der Regel zu sein schien, denn beim bloßen Gedanken an das Dilemma, in dem sie steckte, wurde ihr beinah übel.

Rafael sah sie forschend an. „Ich verspreche dir, nicht zu sagen, dass die Dinge mit der Zeit sicher besser werden. Das tun sie vermutlich nicht.“

„Du warst immer so ein sonniger Mensch. Woher kommt denn diese depressive Note plötzlich?“

„Ich bin eben Realist. Das Leben zehrt auch an mir.“ Er entkorkte die Flasche und schenkte eine ordentliche Menge des Holunderweins in einen Becher.

„Ich bin froh, dass du vorbeigekommen bist. Mir geht es schon viel besser.“ Geistesabwesend nahm sie den Becher. „Das schmeckt ja ganz gut“, bemerkte sie überrascht und trank einen größeren Schluck.

Rafael folgte ihrem Beispiel, schüttelte sich und beschloss, sie nicht über die tatsächliche Qualität des Getränks aufzuklären. „Was ist denn los in deinem Leben, dass du dich derart aufregst?“, fragte er achtlos und schenkte nach.

„Du bist immer noch der Alte“, sagte sie scharf. Beinah freute es sie, als sie merkte, dass es ihn irritierte. „Du übertriffst einfach immer alle. Selbst deine Trauer ist größer als die der anderen.“

„Und das heißt …?“

„Dass ich in meinem einfachen Leben unmöglich so große Höhen und so schreckliche Tiefen erleben kann wie du.“

Rafael sah sie verblüfft an. „Und das alles schließt du aus meiner harmlosen Frage?“

„Ja, weil du so gefragt hast, als ob dich die Antwort nicht wirklich interessiert.“ Sie trank ihren Becher leer. „Warum sollte sie auch?“

„Ich dachte, wir wären Freunde, Tess.“

„Das war einmal. Im Alter von zehn beziehungsweise acht Jahren“, sagte sie leicht verärgert. „In letzter Zeit hast du dich hier kaum sehen lassen.“

Das fand er unfair. Ehe Tess das Baby bekommen hatte, hatten sie sich regelmäßig getroffen. Doch seit sie wieder aufs Land gezogen war, hatte er sie nur ab und an zu einem Besuch in der Stadt eingeladen. Nachdem sie einige Male abgelehnt hatte, hatte er es aufgegeben.

„Du bist damals auch aus dem Dorf weggezogen“, erinnerte er sie.

„Und wieder zurückgekehrt.“ Genau das war das Problem. Solange sie sich in der Stadt eine Karriere aufgebaut hatte, hatten sie viel gemeinsam gehabt. Und seit sich ihr Leben hauptsächlich um das Baby drehte, gab es kaum noch Gemeinsamkeiten. Sie empfand ihr Leben als erfüllend, aber sie war nicht so naiv zu glauben, dass andere sich ebenfalls für Bens Probleme beim Zahnen interessierten.

„Und wie würdest du das hier nennen?“, frage Rafael und wies auf seine mächtige Brust. „Ein Hologramm?“

„Einen Monarchen auf Besuch beim Volk.“ Mit einem spöttischen Lächeln verneigte sie sich vor ihm und merkte nicht, dass ihr weites Nachthemd ihm dabei einen großzügigen Blick auf ihre Brüste erlaubte. „Hast du deine neueste Freundin dabei, um sie mit der Familiengruft oder dem Schlossgespenst zu beeindrucken?“

Er wirkte plötzlich beinah verlegen. Tess lachte leise vor sich hin, weil sie seine Reaktion falsch auslegte.

„Ach, da liegt der Hase im Pfeffer! Sie wollte nicht mitfahren. Wenn du als frustrierter Liebhaber gekommen bist, ist mir klar, warum du hier so streitlustig hereinspaziert bist. Und dabei so sorgenvoll, als wärst du einer griechischen Tragödie entsprungen.“ Sie sah ihn forschend an. „Ich habe richtig getippt, stimmt’s?“ Solange sie über die Probleme eines anderen spekulierte, musste sie sich wenigstens nicht um ihre eigenen kümmern.

Da Rafael nun ziemlich genau wusste, was sie unter dem Nachthemd trug oder eben nicht trug, fiel es ihm noch schwerer als zuvor, nicht ständig daran zu denken. „Ist es so offensichtlich, dass sie mich hat fallen lassen?“, entgegnete er ärgerlich.

„Wie einen alten Schuh?“, neckte sie ihn. Sie hatte keine Lust auf Dramatik. Davon hatte sie schon mehr als genug mit ihrer Nichte Chloe erlebt. Sie fand es schwer, Mitgefühl mit ihm zu empfinden, wenn das Schlimmste, das ihm fehlte, ein neuer Haarschnitt war. Ärgerlich sah sie sein dichtes, glänzendes Haar an. „Man braucht keine Hellseherin zu sein, um zu merken, dass du auf einen Streit aus bist!“

Trotz seines Ärgers amüsierte sich Rafael über die Ironie der Situation. „Dann bin ich ja genau an der richtigen Adresse.“

Ebenso plötzlich, wie sie wütend geworden war, beruhigte sich Tess. Jetzt merkte sie, wie schwach sie sich fühlte. „Vielleicht hatte ich einfach keine Lust, mich von oben herab behandeln zu lassen. Sag mal, hat dich wirklich jemand abgewiesen?“

„Erheitert dich die Vorstellung?“

Es fiel ihr schwer, es zu glauben. „Du musst zugeben, dass es in gewisser Weise etwas Neues ist. Sieh es doch einfach von der positiven Seite.“

„Wenn du so weitermachst, erwürge ich dich“, warnte er sie.

„Ich zittere schon vor Angst.“

Rafael überlegte, wie es wäre, wenn er sie wirklich zum Zittern brächte, und zwar nicht, indem er ihr Angst machte.

„Vielleicht tut die Erfahrung dir sogar gut“, überlegte Tess laut. „Du hättest schon längst eine Dosis Bescheidenheit gebrauchen können.“

Zum ersten Mal in dieser Nacht betrachtete sie ihn aufmerksam. Er sah auf eine attraktive, vitale Art so aus, als führte er ein ziemlich wildes Leben. Sein harter Blick war ihr neu. War das der Preis für ein ausschweifendes Nachtleben?

„Dann erzähle ich dir jetzt mal was zum Lachen“, sagte er wütend. „Die Frau, mit der ich Kinder haben und den Rest meines Lebens verbringen wollte, hat sich entschieden, doch bei ihrem Mann zu bleiben.“

Tess sah ihn verblüfft an.

„Reicht das für deinen Geschmack? Meinst du, dass diese Erfahrung eine charakterbildende Lehre für mich sein wird?“

2. KAPITEL

„Du hast eine Beziehung mit einer verheirateten Frau angefangen?“ Tess wusste nicht, was sie daran mehr störte: die Vorstellung, dass seine Freundin verheiratet war oder dass er an Hochzeit und Kinder gedacht hatte. „Und du wolltest Babys mit ihr haben?“ Sie sah ihn an, als hätte er eine besonders abstoßende Krankheit.

„Der Vollständigkeit halber sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich von ihrer Ehe nichts wusste, bis es zu spät war.“

„Zu spät wofür?“

„Um zu verhindern, dass ich mich in sie verliebte“, antwortete er wütend.

Tess sah ihn mit großen Augen an. Ihre Lippen bebten.

Oh nein, bloß kein Mitleid, dachte er entsetzt. Schnell packte er sie am Arm und schob sie zur Tür.

„Was soll das, Rafael?“

„Ich muss mich endlich mal hinsetzen, und so, wie du aussiehst, geht es dir nicht anders.“

Sie widersprach nicht, denn plötzlich merkte sie, wie wackelig sie sich auf den Beinen fühlte. Dass es mit dem Wein zu tun haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.

Rafael sah erleichtert, dass ihr Frühjahrsputz vor dem kleinen, eichengetäfelten Wohnzimmer haltgemacht hatte. Er schob die Katze von dem mit Chintz bezogenen Sofa und ließ sich mit einem lauten Seufzer darauf nieder. Gleich darauf sprang er wieder auf, da ihn ein unangenehm spitzes Objekt gestochen hatte. Eine schnelle Suche förderte einen Spielzeugtrecker mit drei Rädern zutage.

„Oh wie schön“, rief Tess. „Den habe ich vorhin stundenlang gesucht.“ Sie drückte das verbeulte Stück an die Brust und blieb ganz still stehen.

„Weinst du etwa?“ Rafael hatte bisher weder Tränen noch überraschende Blicke auf unverhüllte weibliche Formen mit Tess verbunden und fühlte sich verunsichert.

Sie wandte ihm schnell den Rücken zu und verstaute das Spielzeug in einer übervollen, bunt bemalten Spielzeugkiste. Dann drehte sie sich wieder um. „Und wenn es so wäre?“

„Ben geht’s gut, oder?“, fragte er beunruhigt. „Er ist doch nicht krank?“ Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es vielleicht nicht leicht war, allein ein Baby großzuziehen. Wie alt mochte Ben jetzt sein? Zwölf Monate? Oder schon mehr?

„Ja, Ben geht es gut. Er schläft.“ Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie konnte nichts dagegen tun. Also gab sie den Versuch auf, einen ruhigen und gelassenen Eindruck zu erwecken.

„Irgendwas ist aber los. Komm, Tess, erzähl schon.“

„Ach, wozu denn? Du kannst sowieso nichts daran ändern.“

„Seit wann bist du so kleingläubig?“

„Niemand kann mir helfen“, sagte sie düster. Der Alkohol hatte mit einem Schlag die Mauern zum Einsturz gebracht, die sie um sich herum aufgebaut hatte. Ohne Rafael anzusehen, setzte sie sich neben ihn und legte den Kopf an seine breite Brust. Mehrmals hieb sie mit ihrer kleinen Faust frustriert gegen seine Schulter.

„Ich halte es nicht aus, wenn sie ihn mir wegnehmen“, sagte sie und schluchzte. „Das überlebe ich nicht.“

Trotz ihrer Verzweiflung nahm sie noch wahr, dass Rafael sich fest und muskulös anfühlte und dass er verführerisch duftete.

Ihre Verzweiflung machte ihn hilflos. Und ihre plötzliche Nähe, ihr Duft, ihre weichen weiblichen Formen erregten ihn, als sie sich jetzt an ihn schmiegte. Er fühlte sich wie ein Verräter, denn sie verließ sich auf ihn als einen zuverlässigen alten Freund. Sie vertraute ihm und hatte jedes Recht dazu.

„Wen nehmen sie dir weg? Deinen Tierarzt?“, fragte er. Dann packte er sie an den Schultern und schüttelte sie kräftig.

„Man kann doch nichts verlieren, das man nie besessen hat und auch nicht haben möchte. Hörst du eigentlich nie richtig zu?“, fragte sie empört.

„Wen hast du denn verloren?“

„Meine Hemmungen. Das liegt bestimmt am Wein.“

„Hör auf zu lachen!“

Na toll! Wenn er Tränen lieber mochte, die konnte er haben. „Ben will ich nicht verlieren.“

„Du wirst Ben nicht verlieren“, tröstete er sie zuversichtlich.

Rafael dachte immer, er wüsste alles. Diesmal hatte er sich aber gründlich geirrt! Sie hob wütend den Kopf. An ihren langen Wimpern hingen glitzernde Tränen.

„Doch. Chloe will ihn haben.“

Rafael sah sie verblüfft an. Jetzt redete sie richtigen Unsinn. Ob sie Alkohol vielleicht nicht vertrug?

„Ich weiß, dass Chloe gewöhnlich bekommt, was sie will“, bemerkte er trocken. „Aber in diesem Fall musst du, glaube ich, nicht Ja sagen. Du solltest wirklich nichts trinken, Tess.“

„Du verstehst überhaupt nichts!“

Er schüttelte den Kopf und schwieg.

„Ben ist nicht mein Kind. Chloe ist seine Mutter.“ Tess schluchzte herzzerreißend und ließ sich wieder an seine Brust sinken.

Rafael brauchte Zeit, um die unerwartete Neuigkeit zu verdauen. Als Tess damals einen längeren unbezahlten Urlaub von ihrem Job in der City genommen hatte, aufs Land gegangen und einige Zeit später mit einem Baby wieder aufgetaucht war, war er ebenso schockiert gewesen wie all ihre Freunde. Dass sie den Job nach einem erfolglosen Versuch, Mutterschaft und Arbeit miteinander zu verbinden, wenige Monate später aufgegeben hatte, um in das Cottage zu ziehen, hatte dann keine so große Überraschung mehr ausgelöst. Und jetzt stellte sich heraus, dass sie gar kein eigenes Kind hatte!

Erst zehn Minuten später hatte sich Tess so weit gefasst, dass sie sich in ihren Schaukelstuhl setzen und wieder sprechen konnte. Aber wie sie mit vor der Brust verschränkten Armen und trotziger, verschlossener Miene dasaß, war klar, dass sie am liebsten nichts gesagt hätte.

„Warum das alles, Tess?“

„Chloes Eltern waren damals auf einer längeren Reise im Ausland. Irgendwo im Dschungel“, erklärte sie.

„Selbst wenn sie im Lande gewesen wären, hätten sie ihr nicht viel helfen können“, meinte Rafael.

Er hatte recht, aber sie ging nicht weiter darauf ein. Chloes Eltern, zwei renommierte Paläontologen, kannten sich mit vorgeschichtlichen Skeletten wesentlich besser aus als mit den Problemen ihrer Tochter.

„Chloe war schon im fünften Monat, als sie merkte, dass sie schwanger war, und absolut verzweifelt, weil eine Abtreibung nicht mehr infrage kam.“ Tess sah ein bisschen verlegen aus.

„Ich kann mir vorstellen, dass sie das Kind los sein wollte“, sagte Rafael verständnisvoll. „Sie war schon immer ein egoistisches, verzogenes Gör.“

Wenn sie ehrlich war, konnte Tess dem nicht widersprechen. Ihre ältere Schwester und deren Mann hatten ihre Tochter schon immer entweder verwöhnt oder ganz ignoriert. Mit dem Ergebnis, dass Chloe eine unglaublich schöne und extrem selbstsüchtige junge Frau geworden war.

„Vielleicht ein völlig verängstigtes, verzogenes Gör“, räumte Tess ein. „Sie wollte es vor allen geheim halten. Ich musste ihr versprechen, es niemandem zu erzählen. Deshalb bin ich damals mit ihr weggefahren.“

„War das nicht ein bisschen altmodisch?“

„Vielleicht. Aber du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr sie sich aufgeregt hat.“ Sie hatte wirklich befürchtet, ihre Nichte würde sich etwas antun. „Ich dachte, ein Tapetenwechsel würde ihr gut tun. Sie musste weg von all den Menschen, die sie kannten. Außerdem hatte ich gehofft, dass sie nach der Geburt vielleicht …“

„… mütterliche Instinkte entwickeln würde?“ Rafael sah sie zweifelnd an.

„Vielen Frauen geht das so“, beharrte Tess.

„Das war ein klassischer Fall von Betriebsblindheit bei dir. Chloe wird niemals ihre Partys aufgeben, zu Hause bleiben und auf ein Baby aufpassen. Ich verstehe nicht, wie du so dumm sein konntest.“

„Warum nicht?“ Allmählich wurde sie ärgerlich. Er hatte leicht reden, denn er war nicht dabei gewesen. „Dir fällt es doch sonst nicht schwer, zu glauben, dass ich eine Idiotin bin.“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Tatsache bleibt jedenfalls, dass Chloe die Mutter ist. Wenn sie Ben haben will, kann ich nichts dagegen tun, außer ich wandere aus, aber dazu fehlt mir das nötige Kleingeld. Ich wünschte, ich hätte ihn damals adoptiert, als sie es vorschlug.“

„Ich kann nicht glauben, dass du alle so an der Nase herumgeführt hast“, bemerkte Rafael.

„Es war keine Absicht. Das ergab sich so.“

„Unsinn. Du hast doch nicht zufällig einen tollen Job aufgegeben, der dir großen Spaß gemacht hat. Oder ein ganzes Jahr deines Lebens dafür gegeben, das Kind einer anderen aufzuziehen.“

„Manchmal vergesse ich selbst, dass er nicht mein Kind ist“, gab sie zu. „Vielleicht wirkt es unglaublich auf dich, aber ursprünglich sollte es keine dauerhafte Lösung sein. Chloe wollte Ben zur Adoption freigeben. Aber man hört doch immer wieder von Frauen, die ihr Baby weggegeben haben und diesen Schritt dann ihr Leben lang bereuen. Das wollte ich ihr ersparen. Ich dachte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie es selbst begreifen würde. Und während dieser Zeit habe ich irgendwann vergessen, dass ich nur eingesprungen bin.“ Sie schluchzte laut auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. „Und ich hatte recht. Jetzt hat sie gemerkt, dass sie ihn bei sich haben möchte. Nur ist es nun schon so lange her, seit ich …“

„Verflixt noch mal, Tess!“ Rafael schlug ärgerlich mit der Faust auf den Schreibtisch. Er hatte sie mit ihrem Baby erlebt. Es war sonnenklar, dass sie den Kleinen liebte und er sie. Egal, ob sie die Mutter war oder nicht, natürlich gehörten die beiden zusammen. „Sie kann ihn dir nicht einfach so wegnehmen.“

Tess sah ihn tieftraurig an. „Doch, das kann sie.“

„Jetzt spiel nicht die Märtyrerin. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass es das Beste für Ben wäre, wenn er bei Chloe leben würde, oder?“, rief er aus. „Du kennst Chloe. Ihre Begeisterung für das Neue wird sich nach spätestens zwei Monaten legen, und was wird dann aus Ben? Also hör jetzt auf zu weinen, und mach einen Plan, wie du sie daran hindern willst, ihn dir wegzunehmen.“

„Was glaubst du wohl, was ich die ganze Zeit tue? Aber egal, wie man es dreht und wendet, Chloe ist und bleibt die Mutter. Ich dagegen bin nur eine entfernte Verwandte.“

„Du bist die einzige Mutter, die Ben je kennengelernt hat.“

Tess wurde blass. „Es war so egoistisch von mir, ihn zu behalten. Ich hätte Chloe ermutigen sollen, sich aktiver an seiner Erziehung zu beteiligen.“ Ihre Stimme klang immer verzweifelter. „Der arme Ben! Er wird überhaupt nicht wissen, wie ihm geschieht. Was habe ich nur getan?“

Rafael kniete sich neben ihren Stuhl und nahm ihre Hand. „Du hast ihn geliebt“, betonte er sanft. „Und ist da nicht noch jemand? Ein Mensch, den du noch gar nicht erwähnt hast?“

Sie sah ihn verständnislos an.

„Was ist mit dem Vater?“

„Wieso?“

„Hat er nichts dazu zu sagen? Ich nehme doch an, dass sie weiß, wer …“

„Ja natürlich.“

„Zahlt er Unterhalt?“

„Er ist nicht in England.“

„Du könntest Kontakt zu ihm aufnehmen, und …“

„Er ist tot“, unterbrach sie ihn kurz. „Er starb noch vor Bens Geburt. Chloe will heiraten, deshalb findet sie, dass es jetzt an der Zeit ist, dass Ben bei ihr lebt.“

„Und wer ist der Glückliche?“

„Ian Osborne.“

Rafael runzelte die Stirn. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Der Schauspieler. Er hat seine eigene Fernsehserie.“

„Ach, ja, die Krankenhausserie.“

„Genau.“

„Ein kluger Schachzug. Bestimmt heiratet ihn Chloe, um ihre Karriere anzukurbeln. Das ist ganz sicher keine wahre Liebe.“

„Doch, sie ist bis über beide Ohren verliebt“, antwortete Tess düster. Aus den Telefonaten mit Chloe hatte sie den Eindruck gewonnen, dass es Ian Osborne zu verdanken war, dass Chloe sich plötzlich für Ben interessierte. „Du bist viel zu zynisch.“

„Immer noch besser als in der Opferrolle.“

Sein verächtlicher Tonfall verletzte Tess. „Ich bin aber kein …“

Er war froh, dass sie sich provozieren ließ. So gefiel sie ihm viel besser als in der düsteren, resignierten Stimmung von zuvor. „Egal. Du kannst diesen Osborne bestimmt davon überzeugen, dass er kein Kleinkind um sich haben will.“ Nachdenklich strich er sich über das dichte Haar.

Tess sah ihn verblüfft an. Nur Rafael konnte eine solche Idee so vorbringen, dass es auch noch vernünftig klang. „Ich will gar nicht wissen, welche hinterlistigen Strategien dir vorschweben“, antwortete sie. „Ich möchte nur das Beste für Ben. Also muss ich tun, was ich schon längst hätte tun sollen: ihn darauf vorbereiten, dass er bei seiner Mutter leben wird.“

Und um das fertigzubringen, musste sie ihre Gefühle auf Sparflamme drehen, damit der Übergang so schmerzlos wie möglich verlief. Sollten dann Chloe und ihr Mann Ben unglücklich machen, würde sie sicher wünschen, nie geboren zu sein.

„Du kannst ihn nicht darauf vorbereiten, dass er die einzige Mutter verlieren wird, die er jemals gekannt hat! Nein, Tess, was wir jetzt brauchen, ist eine gute Idee. Und bis dahin – wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?“

„Ich will keinen Kaffee.“

„Du brauchst ihn aber. Du bist betrunken.“

Sie wollte ihm widersprechen, aber dann merkte sie, dass er recht haben musste. Denn sonst hätte sie niemals dieses Gespräch mit ihm geführt und wäre ganz sicher nicht in seiner Gegenwart in Tränen ausgebrochen.

„Bleib sitzen, ich koche uns welchen.“

Tess, die keine Anstalten gemacht hatte aufzustehen, blieb, wo sie war. Dass Rafael Bens Sache plötzlich zu seiner eigenen erklärte, überraschte sie nicht. Seine Mutter hatte damals die Familie verlassen. Über die Gründe gingen die Meinungen im Dorf weit auseinander. Es kam ganz darauf an, wen man fragte. Mit seiner Stiefmutter war Rafael nie gut zurechtgekommen, denn als Achtjähriger hatte er sich nicht dagegen wehren können, dass sie ihm den Vater entfremdete.

Nach kurzer Zeit kam Rafael mit zwei Bechern heißem Kaffee zurück ins Wohnzimmer. „Nimmst du Zucker, Tess? Ich kann mich nicht erinnern …“

Die zierliche Gestalt im Schaukelstuhl regte sich im Schlaf, aber sie wachte nicht auf.

3. KAPITEL

Tess stöhnte und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen.

„Der Wein müsste einen Warnhinweis tragen.“ Diese mitfühlende Reaktion auf ihr Unbehagen kam von irgendwo links neben ihr.

„Ich werde das Zeug in Zukunft nicht einmal mehr angucken.“ Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf Rafaels lächelndes Gesicht. „Du liegst ja in meinem Bett.“

„Auf deinem Bett“, korrigierte er sie, schob einen Arm unter den Kopf und rollte sich auf die Seite.

Tess konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Bett gekommen war. Aber sie vergewisserte sich mit einem Blick, dass Rafael noch vollständig angezogen war und sie selbst dasselbe Nachthemd trug wie am Abend zuvor. Dann fiel ihr wieder ein, welcher Tag es war – Chloe und ihr Verlobter wollten kommen und Ben abholen, um mit ihm in den Zoo zu fahren. Selbst Chloe war aufgefallen, dass sie ihn nicht zu sich nehmen konnte, ohne sich zuerst mit ihm anzufreunden.

„Das ist nicht das erste Mal, dass ich in deinem Bett liege, Tess. Ganz im Gegenteil, falls du dich erinnerst.“

Ihre Besorgnis verschwand, und ihre Züge wurden weich. Natürlich erinnerte sie sich. Als Teenager hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, und Rafael, der damals viel verletzlicher gewesen war, war oft genug in ihren Armen eingeschlafen. Jetzt bedauerte sie, dass diese Zeiten vorbei waren. Sie hatte nie wieder eine solche Freundschaft mit jemandem geschlossen. Aber es war unvernünftig zu erwarten, dass so viel Nähe bis ins Erwachsenenalter hinein erhalten bleiben würde.

Wer hätte gedacht, dass der magere Junge von damals sich in ein so perfektes Exemplar von einem Mann verwandeln würde? Unwillkürlich atmete sie schneller, während sie Rafaels Reize begutachtete. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dabei spürte sie einen Kloß im Hals, und ihr war, als müsste sie gleich weinen. Sie fand es in Ordnung zu merken, dass dieser Mann ein Übermaß an Sex-Appeal besaß, aber es ging nicht an, dass sie deswegen den Kopf verlor. Rafael wurde von genug Frauen umschwärmt, ohne dass sie dem Fanclub auch noch beitrat.

Misstrauisch sah sie hoch, um festzustellen, ob er bemerkt hatte, was in ihr vorging. Doch sein Blick ruhte gar nicht auf ihrem Gesicht.

„Vieles hat sich seit damals verändert.“ Seine tiefe Stimme klang anerkennend, während er wie gebannt ihre Brüste ansah, die sich unter ihrem dünnen Nachthemd abzeichneten.

Dann sah er auf und warf ihr einen trägen, verführerischen Blick zu. Sie reagierte sofort so, als hätte er ihre Brüste mit seinen warmen Lippen zärtlich berührt. Diese Vorstellung weckte so erotische Gefühle in ihr, dass sie sich schnell zusammennahm und den erstbesten Gedanken aussprach, der ihr einfiel.

„Manche Dinge dagegen ändern sich nicht – zum Beispiel dein absolutes Unvermögen, die Gefühle anderer zu berücksichtigen.“ Das war eine schreiende Lüge, deshalb suchte sie verzweifelt nach einem Beispiel, um ihre Behauptung zu untermauern. „Deine Familie hat sich bestimmt jedes Mal große Sorgen gemacht, wenn du über Nacht weggeblieben bist …“

„Wenn sich die Intensität ihrer Sorge an der Härte der Bestrafung messen lässt, sind sie tatsächlich sehr besorgt gewesen.“ Seine Miene blieb unbewegt, wie versteinert.

Tess erinnerte sich an das eine Mal, als sie im Schwimmbad die Striemen auf seinem Rücken gesehen hatte. Plötzlich verstand sie, warum er an so vielen heißen Sommertagen seinen langärmeligen Pullover anbehalten hatte. Ihr wurde schlecht.

„Er hat dich geschlagen!“ Wütend setzte sie sich auf. Ihre Kopfschmerzen waren vergessen. „Und du hast mir nie davon erzählt.“

„Lass das Thema“, sagte Rafael kurz. Er beobachtete interessiert, wie ihre kleinen, aber wohlgeformten Brüste sich unter dem dünnen Hemd hoben und senkten.

„Aber …“ Tess wollte ihre Gefühle nicht verleugnen, und sie verstand seine ungerührte Haltung nicht. „Macht dich die Erinnerung nicht wütend?“, fragte sie ungläubig.

Viele Jahre lang war es so gewesen, aber er wollte nicht erklären, wie viel Mühe und Entschlossenheit es ihn gekostet hatte, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen.

Sie sah ihn empört an. „Am liebsten würde ich …“

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen und nahm mit der anderen Hand ihre kleine Faust. Sanft öffnete er sie. „Ja, ich weiß, was du gern tun würdest.“

Wie oft hatte er dem Schicksal gedankt, dass er als Reaktion auf die Gewalttätigkeiten seines Vaters eine tiefe Abneigung gegen die Anwendung von Gewalt entwickelt hatte und gegen die Menschen, die andere mit Gewalt unter ihrer Kontrolle hielten.

Er hatte seine Kraft einmal im Leben eingesetzt, und das nur, um einen anderen Menschen zu schützen. Im Internat war er eines Tages in einen Gemeinschaftsraum gekommen, wo drei Schüler abwechselnd auf einen vierten einschlugen. Da hatte er rotgesehen. An jenem Tag hatte er mit einigen bösen Erinnerungen abgerechnet. Und er war von der Schule verwiesen worden.

Während dieser Überlegungen streichelte er Tess’ Hände. Sie wurde unter der zarten Berührung ganz ruhig. Ein merkwürdiges Zittern breitete sich in ihr aus. Schließlich hob sie den Blick und sah ihm in die dunklen Augen.

Auf die Intensität, mit der er ihren Blick erwiderte, war sie nicht vorbereitet. Diesmal war die erotische Spannung, die sie spürte, noch deutlicher als zuvor. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und sah ihn nur hilflos und verwirrt an.

„Ich weiß, welche Frage dir auf der Seele brennt, Tess.“

Seine tiefe, vibrierende Stimme, mit der er sicher schon Dutzende Frauen verführt hatte, weckte heißes Verlangen in ihr. Nach all den Jahren, in denen sie erotische Empfindungen ignoriert hatte, verlangten ihre Hormone ausgerechnet in diesem unpassenden Augenblick ihr Recht.

„Die Antwort lautet: Nein, ich habe deine Einladung im leicht angetrunkenen Zustand nicht angenommen. Aber ich konnte dich auch nicht im Schaukelstuhl schlafen lassen. Deshalb habe ich dich ins Bett gebracht.“

„Ich habe dich nicht in mein Bett eingeladen!“

„Stimmt.“ Aber er erinnerte sich, wie oft sie sich in der Nacht an ihn geschmiegt und wie selig sie in seinen Armen geschlafen hatte. Immerhin wusste er nun, dass er zwar wegen Claudine an einem gebrochenen Herz litt, dass aber seine übrigen körperlichen Reaktionen unverändert waren.

Nett von ihm, dass er mich hinaufgetragen hat, dachte Tess. Ein Blick auf seine Oberarme zeigte ihr, dass es ihn kaum angestrengt haben durfte. Aber als Gentleman hätte er sich dann doch wohl im Nebenzimmer schlafen legen können.

„Und dann hat dich die Erschöpfung übermannt, oder wie?“, fragte sie spitz.

„Ja, so muss es gewesen sein.“

Erschöpft sah er nicht aus, sondern geradezu unverschämt vital, und das so früh am Morgen.

„Wie viel Uhr ist es?“

Er sagte es ihr.

Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang sie aus dem Bett. „Chloe und ihr Freund kommen heute!“

„Und was willst du tun? Ihnen einen roten Teppich ausrollen?“

Sein sarkastischer Tonfall ging ihr auf die Nerven. Er tat ja gerade so, als hätte sie die Wahl! „Ich weiß jedenfalls, was ich nicht tun werde. Ich werde nicht Zuflucht zu unfairen Tricks nehmen.“

„Ganz wie du willst.“

„Ich verstehe nicht, dass Ben sich noch nicht gemeldet hat“, bemerkte sie, während sie einige Kleidungsstücke aus der untersten Schublade der großen alten Mahagonitruhe nahm und sie achtlos über die Schulter aufs Bett warf. „Er wacht sonst immer vor sieben Uhr auf.“

Rafael streckte die Hand aus und fing das letzte Kleidungsstück im Flug auf. Es war ein BH. Ein Blick auf das Etikett sagte ihm, dass er die Größe korrekt geschätzt hatte. Das war nur einer von vielen Gedanken, der ihm während der vergangenen schlaflosen Nacht durch den Kopf gegangen war, und erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er an Claudine gedacht hatte. Das überraschte ihn nun doch ein wenig.

„Ben hat vorhin mal kurz hereingeschaut.“

„Er hat was?“ Sie sah ihn entrüstet an.

„Vielleicht dachte er, dass hier heute Morgen nicht viel Platz für ihn wäre“, meinte Rafael. Er fuhr mit der Hand über die schmale Bettseite, wo Tess geschlafen hatte. Das Bettzeug war noch warm. „Jedenfalls ist er wieder abgezogen. Ich bin hinterher gegangen und habe nach ihm gesehen. Er schien ganz zufrieden mit seinen Spielsachen. Also habe ich ihn in Ruhe gelassen.“

„Ist dir nicht klar, dass er aus dem Gitterbettchen geklettert sein muss?“

„Und das bedeutet?“

„Das ist gefährlich!“

„Ihm ist nichts passiert, soweit ich gesehen habe.“

„Wie kannst du ihn nur unbeaufsichtigt im ersten Stock herumlaufen lassen?“, rief sie aufgebracht. „Er hätte die Treppe hinunterfallen können.“

„Reg dich wieder ab, Tess. Oben an der Treppe ist doch ein Sicherheitsgitter. Ich habe mir an dem Ding gestern Nacht beinahe den Hals gebrochen, als ich mit dir auf dem Arm heraufgekommen bin.“

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Ben nichts passiert war, fiel ihr noch etwas ein. „Er hat dich in meinem Bett gesehen!“

„Na und? Was stört dich daran? Dass er dich mit jemandem im Bett gesehen hat oder dass ich es war?“

Sie schwieg.

„Hör auf, dich zu sorgen“, forderte Rafael allmählich etwas ungeduldig. „Ich glaube kaum, dass der Anblick seine Moral ernsthaft gefährdet hat.“

„Darum geht es gar nicht, aber du hättest mich wecken sollen. Routine ist sehr wichtig für Kinder.“

„Vergiss nicht, Chloe das zu erzählen.“

Tess sah so betroffen aus, dass er seine Bemerkung sofort bereute. „Wenn Ben einen unglücklichen Eindruck gemacht hätte, hätte ich dich sofort geweckt. Was willst du nun wegen Chloe unternehmen?“

Er schwang seine langen Beine über den Bettrand, stand auf und reckte sich. Unter seinem leichten Hemd zeichnete sich sein muskulöser Oberkörper deutlich ab. Tess sah schnell weg.

„Was kann ich schon tun?“ Ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit überwältigte sie beinah. „Ich werde Chloe einschärfen, dass so eine Umstellung langsam und einfühlsam geschehen sollte, damit es keinen zu plötzlichen Bruch gibt. Am besten wäre es, sich an Bens Tempo anzupassen. Es ist ja nicht so, dass ich ihn von einem Tag auf den anderen gar nicht mehr sehen werde.“ Ihre Stimme zitterte leicht. Sie hob energisch das Kinn. „Er wird mich besuchen kommen, und ab und an besuche ich ihn … Bestimmt bleibe ich seine Lieblingstante.“

„Und du glaubst, dass sie sich auf ein vorsichtiges Vorgehen einlässt?“

Rafael beobachtete, wie sich Tess’ zartes, herzförmiges Gesicht in eine Maske der eisernen Entschlossenheit verwandelte.

„Ja, das wird sie“, sagte sie grimmig. Mit verschlossener Miene nahm sie die Kleidungsstücke, die sie ausgesucht hatte, und wies ihm die Tür. „Du findest den Weg, nehme ich an?“ Ablenkung war das Letzte, was sie jetzt noch brauchte, und Rafael fiel sicher unter diese Bezeichnung.

„Kann ich vielleicht vorher noch duschen?“

„Wenn’s sein muss.“ Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich um. „Vermutlich brauche ich dir nicht zu sagen, dass ich es vorziehen würde, wenn du vorläufig niemandem davon erzählst, dass Ben nicht mein Kind ist. Ich fürchte, ich habe mich heute Morgen ein bisschen albern benommen …“ Verlegen erinnerte sie sich, wie sie sich an seiner Brust ausgeweint hatte. Gleichzeitig hatte sie eine so erstaunlich lebhafte Erinnerung an seinen herben männlichen Duft, dass sie beinahe aus dem Gleichgewicht geriet. „Ehrlich gesagt, kam Chloes Anruf gestern wie aus heiterem Himmel, sodass es ein großer Schock für mich war.“

„Du meinst, ich soll nicht mit dem Lautsprecherwagen durchs Dorf fahren und es laut hinausposaunen?“, fragte Rafael ärgerlich. Was hielt sie denn von ihrer alten Freundschaft zu ihm? Er kannte zwar viele Menschen, aber er war doch sehr eigen, wenn es darum ging, jemanden als Freund zu bezeichnen. Von diesen wenigen Auserwählten erwartete er absolutes Vertrauen, und das natürlich auf Gegenseitigkeit.

Sie seufzte. Vielleicht hätte sie sich etwas vorsichtiger ausdrücken können, aber sie hatte jetzt wirklich an Wichtigeres zu denken als daran, Rafaels Gefühle zu schonen. „Okay, okay, reg dich wieder ab. Ich wollte nur ganz sicher sein.“

„Es mag dir vielleicht entgangen sein, aber du bist nicht die Einzige, die sich nach der vergangenen Nacht angreifbar fühlt. Meinst du, ich sollte dich auch schwören lassen, dass du meine Neuigkeiten für dich behältst?“

„Oh. Das hatte ich ganz vergessen“, log sie. Seltsamerweise hätte sie die letzten Enthüllungen über Rafaels Liebesleben am liebsten gar nicht erfahren. Bisher hatte sie die Erzählungen über seine mehr oder weniger oberflächlichen Affären immer amüsant gefunden oder sie zumindest toleriert. Aber einen Rafael, der über Ehe und wahre Liebe sprach, fand sie überhaupt nicht mehr amüsant.

„Das klingt so leicht.“ Er sah sie gequält an. „Das Vergessen …“

Tess mochte nichts weiter von der Frau hören, die den Weg zu seinem Herzen gefunden hatte, nur um es ihm dann zu brechen. „Ich wollte nicht unsensibel sein, aber …“ Plötzlich kam ihr eine Idee, die erklärte, warum er … „Mochtest du gestern nicht allein sein? Bist du deshalb hier geblieben?“

„Du meinst, ich sei zu Verhaltensmustern aus meiner Kindheit zurückgekehrt?“ Er strich sich über die Bartstoppeln am Kinn.

Tess hatte bisher immer glatt rasierte Männer geküsst und überlegte nun, wie es wohl sein mochte, wenn sie …

„Als Ort des Rückzugs? Vielleicht. Das hatte ich mich auch schon gefragt.“

Tess war tief errötet.

„Wäre das nicht ein Witz, wenn ich mich jedes Mal, wenn ich ein bisschen Trost brauche, in dein Bett flüchten würde?“ Er sah sie nachdenklich an.

Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. „Sehr witzig“, sagte sie heiser.

Als Rafael aus der Dusche kam, war Tess bereits in der Küche und gab Ben sein Frühstück. Wie immer ließ sich der Kleine viel Zeit, und es war mindestens so viel Haferbrei auf dem Fußboden gelandet wie in seinem Magen. Tess hatte es aufgegeben, Ben zu überreden, noch einen Löffel zu essen, und war stattdessen dabei, in aller Eile die Schränke wieder einzuräumen.

„Guten Morgen, Kumpel.“ Rafael, der mit den gewieftesten Politikern umgehen konnte, war unsicher, wie er eine Unterhaltung mit einem Kleinkind beginnen sollte. Er zwinkerte dem Jungen, der ihn ernst musterte, zu.

Ben grinste ihn auf eine Art und Weise an, die vermuten ließ, dass er nicht nur engelhafte Seiten hatte. „Mann desehen, Mann desehen“, rief er stolz.

„Gesehen, Ben“, korrigierte Tess automatisch. Sie war froh, dass er sich wegen seines begrenzten Wortschatzes nicht ausführlich über das Thema auslassen konnte.

„Desehen“, wiederholte Ben und guckte sie erwartungsvoll an.

„Sehr gut, Darling“, lobte sie ihn. Als sie aufschaute, sah sie, dass Rafael sie mit merkwürdig begehrlichen Blicken verschlang.

„Vermutlich erinnerst du dich nicht an mich, ich bin Rafael“, stellte er sich Ben vor. „Oder sollte ich sagen: Onkel Rafael?“ Er sah Tess fragend an. „Kann er schon sprechen?“

„Ein bisschen, aber du brauchst vielleicht einen Übersetzer. Du und Ben, ihr könnt selbst entscheiden, wie ihr euch anredet. Ich wette, es kommt kompletter Unsinn dabei heraus.“ Den letzten Satz hatte sie leise hinzugefügt.

„Das habe ich gehört.“

„Solltest du auch.“ Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um eine Kasserolle oben auf den Schrank zu tun.

Fasziniert beobachtete Rafael, wie sich dabei ihr ohnehin strammer Po noch etwas anspannte. Obwohl die Kleidung, die sie trug, dafür hätte entworfen sein können, jegliche Körperformen zu verhüllen, konnte er nicht umhin zu bemerken, dass sie eine sehr gute Figur hatte.

Er trat hinter sie, nahm ihr den Topf ab und stellte ihn auf den Schrank. „Weißt du eigentlich, dass die meisten Unfälle im Haushalt passieren?“

„Hör auf, in diesem belehrenden Ton mit mir zu reden.“ Wütend drehte Tess sich um.

Er stand so dicht vor ihr, dass sie sich beinahe berührten. Hastig trat sie zurück und presste sich an das alte Büfett. Mit einem Mal war die Atmosphäre erotisch aufgeladen. Das bin nicht nur ich, dachte sie verwundert, Rafael spürt es auch. Erstaunt sah sie ihn an.

„Fühtück!“, krähte eine hohe Kinderstimme.

Die beiden Erwachs...

Autor

Kate Walker
Kate Walker wurde zwar in Nottinghamshire in England geboren, aber ihre Familie zog nach Yorkshire, als sie 18 Monate alt war, und deshalb sah sie Yorkshire immer als ihre Heimat an. In ihrer Familie waren Bücher immer sehr wichtig, und so lasen sie und ihre vier Schwestern schon als Kind...
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Jessica Hart
<p>Bisher hat die britische Autorin Jessica Hart insgesamt 60 Romances veröffentlicht. Mit ihren romantischen Romanen gewann sie bereits den US-amerikanischen RITA Award sowie in Großbritannien den RoNa Award. Ihren Abschluss in Französisch machte sie an der University of Edinburgh in Schottland. Seitdem reiste sie durch zahlreiche Länder, da sie sich...
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