Die Duchess seiner Sehnsucht

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„Sie werden niemals allein sein, solange ich noch atme.“ Als David Tanner Smith seine Jugendliebe Faith, die Duchess of Ashedone, vor Räubern rettet, gibt er ihr ein folgenschweres Versprechen. Denn er ist ein einfacher Bürgerlicher – und kann ihr nie mehr als ein Freund sein! Auch wenn er sich heimlich nach ihr verzehrt …


  • Erscheinungstag 18.09.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508490
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Schnellen Schrittes marschierte David Tanner Smith, Parlamentsabgeordneter für den Bezirk Hazelwick, zurück zu seiner Wohnung in Albany. Mit ein paar Kollegen aus seiner Whig-Partei hatte er den Abend bei ein paar Gläsern Wein in Mayfair verbracht. Er wollte den Kopf wieder freibekommen und war gegangen, obwohl seine Freunde ihn gedrängt hatten, noch auf einen Schluck zu bleiben.

Der Tag im Parlament war lang gewesen. Immer wieder hatten es die Gegner des Reformgesetzes geschafft, die Abstimmung zu verzögern. Nun war er müde und wollte nicht mehr über Politik reden.

Er wohnte nun allein in seiner Wohnung. Zwar freute er sich sehr für seinen besten Freund Giles Hadley, der sein Glück mit Lady Margaret gefunden hatte, aber er fühlte sich seither einsamer, als er je gedacht hätte. Seit ihren Studententagen in Oxford hatten sie sich eine Wohnung geteilt.

Die einzige Frau, die er je geliebt hatte, war unerreichbar für ihn, weil er nur der Sohn eines einfachen Bauern war. Darum erwartete er nicht, jemals eheliche Freuden mit der Dame seines Herzens zu erleben. Obwohl er von niederer Geburt war, hatten ein Baronet und ein Marquess sich seiner angenommen und unterstützten ihn. Sozial hing er jedoch in der Luft. Er gehörte nicht der Oberschicht an und war daher nicht akzeptabel für die Spitzen der Gesellschaft. Andererseits konnten sie ihn als aufstrebenden Politiker der Whigs auch nicht völlig außer Acht lassen.

Das hielt ihm ehrgeizige Mütter vom Hals, die auf der Suche nach einer guten Partie für ihre Töchter waren. Sie waren nicht sicher, ob er ihrer Aufmerksamkeit würdig war.

Er lächelte bitter, aber dann verging ihm das Lächeln. Wer käme denn für ihn als Ehefrau überhaupt infrage, wenn ihm irgendwann die Einsamkeit zu viel wurde? Die Tochter eines Bürgerlichen, deren Vater seine politischen Ziele unterstützte? Eine politisch interessierte Aristokratin, die über den Makel seiner Geburt hinwegsah, um selbst an der Macht teilhaben zu können?

Als er in die finstere Oxford Street einbog, drangen ihm laut streitende Stimmen ans Ohr. Langsam ging er weiter und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Er konnte die Schemen zweier Männer und einer elegant gekleideten jungen Frau ausmachen.

„Wenn Sie mich nicht auf der Stelle gehen lassen, rufe ich die Wache!“, rief die Frau mit wütender Stimme.

„Soso, werden Sie das?“, äffte einer der beiden Männer sie mit rauer Stimme nach. Der andere packte sie an der Schulter und sagte drohend: „Das Einzige, was Sie tun werden, ist, uns Ihre Halskette zu geben – und auch das Armband und die Ohrringe, wenn Sie nicht wollen, dass Ihr hübsches Gesicht entstellt wird.“

„Oh ja, so hübsch, dass wir Sie vielleicht hinterher noch in ein Freudenhaus bringen“, fügte der andere Mann hinzu. „Dort bekommen wir für so ’nen Leckerbissen bestimmt eine hübsche Stange Geld.“

„Nehmt die Hände von mir!“, kreischte die junge Frau. Sie trat nach dem einen Mann und wand sich in seinem Griff, während der andere an den Bändern ihres Umhangs zog.

Davie packte seinen Gehstock fester und rannte auf sie zu. „Lasst die Frau los!“, rief er und hob drohend seinen Stock. „Und zwar sofort, weil ich sonst die Wache rufe.“

Beim Anblick seiner stattlichen Gestalt hielten die Männer kurz inne, doch dann ignorierten sie ihn und zerrten weiter an der Frau. Offenbar hatten sie keine Ahnung, was ein kräftiger Mann vom Lande mit einem festen Stock anrichten kann.

Ich habe sie gewarnt, dachte Davie. Den ganzen Tag hatte er sich unter all den Laffen zurückhalten müssen, darum hob die Aussicht darauf, ein paar derbe Schläge auszuteilen, seine Stimmung.

Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf sie. Den ersten Mann erwischte er mit dem Ende des Stocks hinter dem Ohr, sodass der zu Boden ging. Schnell trat er einen Schritt zurück und landete einen Haken auf dem Kinn des zweiten. Ein Knochen brach hörbar, und laut aufheulend ließ der Mann die Frau los. Sie raffte ihre Röcke und ergriff die Flucht.

Keuchend überlegte Davie noch einen Moment. Obwohl er die beiden Schurken am liebsten an den nächsten Konstabler ausgeliefert hätte, war es wohl besser, der Frau zu folgen. Wenn sie um diese Nachtzeit weiter allein unterwegs war, würde sie noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Er ließ also die beiden Männer zurück und rannte ihr nach. „Keine Sorge, ich will Ihnen nichts tun!“, rief er. „Aber allein in den Londoner Straßen ist es gefährlich für Sie. Ich begleite Sie nach Hause.“

Die junge Frau schaute kurz über die Schulter, dann eilte sie weiter. Sie wurde jedoch durch ihre Röcke behindert, und bevor Davie sie einholen konnte, stolperte sie und fiel auf die Knie.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr und bot ihr seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie nahm sie, kam auf die Füße, aber dann zog sie ihre Hand so heftig zurück, dass sie gegen ihn prallte. Sie standen nun ganz dicht beieinander.

Leise fluchend hielt Davie sie fest, aber sie begann sich sofort wieder zu wehren. „Schluss damit!“, sagte er mit scharfer Stimme. „Ich sagte doch, ich werde Ihnen nichts tun!“ Leiser fuhr er fort: „Wir werden die Sache klären, Miss, aber nicht hier. Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo es sicherer ist, und dort können Sie mir erklären, wie ich Sie nach Hause bringen kann.“

Das Mädchen seufzte und hörte auf, sich weiter zu sträuben. „Bitte, Davie“, sagte sie sanft, „warum lassen Sie mich nicht einfach gehen?“

„Faith?“, fragte er ungläubig.

Als er sie im Laternenlicht genauer ansah, erkannte Davie erstaunt, dass er tatsächlich Faith Wellingford Evers, Duchess of Ashedon, in den Armen hielt.

Bevor er noch seine vom Schreck gelähmte Zunge wieder in Gang setzen konnte, entzog sich Faith seinem Griff. „Ja, ich bin es, Faith“, sagte sie. „Ich war auf der Suche nach einer Droschke, um nach Hause zu fahren. Könnten Sie mich nicht einfach gehen lassen?“

Davie unterdrückte einen Fluch, hielt sie am Handgelenk fest und zog sie mit sich. „Nein, Duchess, ich kann Sie nicht …“

„Faith, Davie. Bitte bleiben Sie bei Faith. Kann ich nicht wenigstens für kurze Zeit vergessen, dass ich eine Duchess bin?“

Es wärmte sein Herz, dass sie diese vertrauliche Anrede vorzog, obwohl er seit Jahren nicht mehr zu ihren engsten Freunden zählte. „Ich kann nicht zulassen, dass Sie ganz allein hier herumspazieren. Nirgendwo in London ist es sicher nach Einbruch der Dunkelheit. Und erst recht nicht für eine Frau!“

„Sie waren doch auch allein.“

„Ja, aber ich bin bewaffnet und in der Lage, mich zu verteidigen“, erwiderte er. „Eigentlich wollte ich das junge Mädchen, das ich gerettet habe, zu einer Taverne bringen und herausfinden, wie ich ihr helfen kann, aber mit Ihnen geht das nicht. Man würde uns alle beide erkennen. Lassen Sie mich lieber eine Droschke rufen und Sie nach Hause begleiten.“

Sie wurde langsamer. „Und Sie meinen nicht, dass Sie mich nicht einfach gehen lassen können?“ Er warf ihr einen strengen Blick zu, und sie sagte sanft: „Ich hatte nicht vor, mich leichtfertig in Gefahr zu begeben. Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe.“

Er sah Tränen an ihren langen Wimpern glänzen. Wie sehr es ihn immer noch bekümmerte, sie betrübt zu sehen!

„Das haben Sie nicht. Können Sie sich vorstellen, was für einen Aufruhr es gegeben hätte, wenn Sie wirklich die Wache gerufen hätten und Ihre Identität festgestellt worden wäre? Dann nehmen Sie doch lieber meine Hilfe an und bauen auf meine Diskretion. Sie können sich vielleicht ausmalen, was die Gesellschaft über eine Duchess sagen würde, die nachts allein auf einer Straße in Mayfair herumwandert. Wir bringen Sie jetzt besser so schnell wie möglich nach Ashedon Place zurück, bevor jemand Sie erkennt.“

Zögernd fügte er hinzu: „Sie … Sie wissen doch wohl, dass ich Ihnen niemals etwas antun würde, nicht wahr, Faith?“

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Natürlich vertraue ich Ihnen, Davie. Nun gut, nehmen wir eine Droschke. Und Sie können mich jetzt loslassen, ich laufe nicht mehr weg.“

Ohne weitere Worte schritt sie neben ihm her. Sie ließ Kopf und Schultern hängen und sah bedrückt und müde aus. Ein paar Minuten gingen sie schweigend weiter, bis sie endlich an einem Droschkenstand einen Wagen sahen. Immer noch konnte Davie kaum glauben, dass er seine Faith begleitete – nein, die Dowager Duchess of Ashedon, die nie seine Faith gewesen war. Er half ihr ins Wageninnere, und sie setzten sich.

Als sie losfuhren, blickte Davie sie an. „Geht es Ihnen gut? Sind Sie unverletzt? Wie geht es Ihren Knien?“ Wenn die Räuber ihr etwas angetan hatten, würde er sie finden und in Stücke reißen.

„Alles ist gut. Ich hatte Angst und war sehr wütend. Die haben mir den Arm umgedreht, und ich habe ein paar Beulen. Aber ich glaube, ich habe selbst einige Treffer gelandet.“

„Gott sei Dank dafür! Bevor wir am Berkeley Square ankommen, möchte ich aber noch gern erfahren, wieso Sie um diese Nachtzeit allein auf der Straße unterwegs waren.“

„Können Sie mich nicht einfach heimbringen?“

Er sah sie im Licht der Kutschenlampe von der Seite an. „Ich möchte Sie nicht bedrängen, aber … ich bin beunruhigt. Irgendetwas stimmt nicht, und ich möchte Ihnen gern helfen, wenn ich kann.“

Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Er fühlte sich unbehaglich. „Ach Davie. Sie wollten immer schon die Welt verbessern, nicht wahr? Sie fühlen sich verpflichtet, immer alles in Ordnung zu bringen – die Regierung, das Parlament, die ganze Gesellschaft. Aber bei dieser Sache können Sie nichts tun.“

Sie sah unglücklich aus, und Davie hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Das war allerdings nichts Neues, denn das war schon immer sein innigster Wunsch gewesen, seit er sie vor ungefähr zehn Jahren kennengelernt hatte. Damals war sie die Schwägerin eines Marquess gewesen, und heute, als Witwe eines Dukes, war sie immer noch unerreichbar für ihn.

Leider hatte es ihn nicht davon abgehalten, sich in sie zu verlieben, und all die Jahre hatte er immer nur sie geliebt.

„Was ist denn geschehen?“, fragte er leise. „Was hat Sie dazu gebracht, mitten in der Nacht wegzulaufen?“

Sie blieb noch eine Weile stumm, aber schließlich zuckte sie mit den Schultern. „Warum soll ich es Ihnen nicht erzählen … Es war keine dumme Wette, falls Sie das vermuten.“

„Davon wäre ich auch nicht ausgegangen. Sie waren damals ein lebhaftes und sorgloses Mädchen, aber niemals gedankenlos oder tollkühn.“

„Früher war ich einmal sorglos, aber das ist lange her.“

Sie sprach mit dumpfer Stimme, und seine Besorgnis wuchs. Nach jenem wundervollen Sommer hatten sich ihre Wege getrennt. Er war damals zwanzig Jahre alt gewesen und hatte gerade seine erste Stelle als Sekretär bei Sir Edward Greaves angetreten. Sie war ein sechzehnjähriger goldhaariger Wirbelwind auf Besuch bei Sir Edwards Frau gewesen, ihrer Cousine. Als er Faith kurz nach ihrer Heirat zufällig einmal getroffen hatte, hatte sie immer noch die Wärme und Lebensfreude ausgestrahlt, die ihn vom ersten Augenblick an verzaubert hatten.

„Sie waren sorglos“, bestätigte er. „Das macht die Tatsache, dass Sie heute allein auf der Straße waren, umso beunruhigender. Was hat Sie dazu getrieben?“

„Nach Ashedons Tod hat seine Mutter mich ständig bedrängt. Sie meinte, sie müsse ‚die arme junge Duchess und ihre lieben Kinder‘ unterstützen und dafür sorgen, dass der ‚tragische junge Duke‘ eine angemessene Erziehung erhält. Vor einem Monat hat sie ihre Drohungen wahrgemacht und ist in Ashedon Place eingezogen, wie sie es schon seit Jahren wollte. Ashedon hatte es nicht zugelassen, weil er wusste, dass seine Mutter sich gern in alles einmischt.

Seit ich verwitwet bin, muss ich immerzu die herablassenden Kommentare der Matronen der Gesellschaft über mich ergehen lassen. Wie sehr ich diese langweiligen Gesellschaftsabende inzwischen hasse! Und seit sie bei mir wohnt, muss ich auch noch Tag für Tag ihr Genörgel ertragen. Heute Abend musste ich sie wieder zu einer Party begleiten. Leider war auch ihr jüngerer Sohn eingeladen, mein Schwager Lord Randall. Er lauerte mir auf dem Weg zum Ruheraum auf und versuchte, mich zu küssen. Da reichte es mir. Ich wusste, dass meine Schwiegermutter noch nicht gehen wollte, außerdem würde sie nie etwas Schlechtes über ihren wundervollen Sohn glauben. Ich hatte also keine Chance, sie zu überreden, die Kutsche vorfahren zu lassen. Aber ich wollte auf keinen Fall länger bleiben, darum beschloss ich, zu Fuß zur Oxford Street zu gehen und mir eine Droschke zu besorgen.“

Sie stieß abermals einen herzzerreißenden Seufzer aus. „Ashedons Mätressen waren schon übel genug, und jetzt noch das. Manchmal denke ich, ich halte es nicht länger aus.“

Er war voller Mitgefühl für dieses liebenswürdige Geschöpf, das als junges Mädchen von Liebe und Anerkennung geträumt hatte und dessen Träume allmählich von der Gleichgültigkeit ihres Gatten erstickt worden waren. Sie war gefangen in einem Leben als einsame und vernachlässigte Frau. So wie Davie auch in seinem Leben gefangen war und ihr nicht helfen konnte.

Doch er konnte ihr immer noch ein Freund sein.

Nun sah er, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie versuchte sie mit einer Hand wegzuwischen und wandte sich ab.

Und dann lag sie irgendwie plötzlich in seinen Armen und schmiegte sich an seine Brust. Sie klammerte sich an ihn, und er drückte sie an sich. Er war beinahe bereit, den Halunken zu vergeben, denn ohne diesen Zwischenfall hätte er nie dieses Wunder erlebt. Ihren weichen Körper an seinem zu fühlen … ihren Lavendelduft einzuatmen und ihre seidenweichen Locken unter dem Kinn zu spüren … In diesem Moment hätte er zufrieden sterben können, denn näher würde er dem Himmel nicht mehr kommen.

Erregt verlangte es ihn danach, sie ganz zu besitzen, aber er nahm sich zusammen. Nie hätte er geglaubt, dieses Glück zu erleben, und er erwartete nicht mehr.

Leider und viel zu früh hatte sie sich wieder gefasst und löste sich von ihm.

Sie loszulassen, war das Schwerste, was er jemals getan hatte.

„Es tut mir leid“, sagte sie schroff. „Sonst bin ich nicht so weinerlich.“

„Es muss Ihnen nicht leidtun. Ich bin froh, dass ich hier war, um Ihnen als Ihr Freund beizustehen.“

„Ein Freund – davon habe ich nur so wenige. Ich versichere Ihnen, heute Abend habe ich wirklich versucht, mich vorzusehen. Vermutlich … war ich müde und in Gedanken versunken, denn ich habe die beiden Männer nicht gesehen, bis es zu spät war. Sie müssen mir gefolgt sein, ohne dass ich es merkte.“

Schaudernd schüttelte Davie den Kopf. „Ich bin sehr froh, dass ich zufällig dort war. Ich mag gar nicht daran denken, was man Ihnen hätte antun können.“

Sie nickte. „Sie drohten mir sogar, mich an ein Bordell zu verkaufen. Ist es möglich, eine Frau gegen ihren Willen in ein derartiges Etablissement zu verschleppen, oder wollten die Kerle mir nur Angst einjagen?“

„Ich fürchte, das ist durchaus möglich. Ein wenig Laudanum, und Sie wären in irgendeiner Lasterhöhle wieder aufgewacht“, antwortete er grimmig.

„Wenn meine Söhne nicht wären, wäre es mir möglicherweise sogar egal gewesen. Wie oft habe ich daran gedacht, Ashedon zu verlassen! Aber ich hätte meine Söhne zurücklassen müssen, denn nach dem Gesetz gehörten sie natürlich ihm, und Edward ist der Erbe. Ich habe nie viel Zeit mit ihnen verbringen dürfen, denn der Duke glaubte, dass Kinder von Mutterliebe verzärtelt werden. Seit seinem Ableben versuche ich, das zu ändern, obwohl ich mich deswegen ständig mit meiner Schwiegermutter und dem Hauslehrer der Kinder auseinandersetzen muss. Doch solange ich bei meinen Söhnen sein darf, kann ich es ertragen – vorläufig jedenfalls.“

„Haben Sie mit Ihrer Familie gesprochen, mit Ihren Schwestern? Wissen sie, wie unglücklich Sie sind?“

Sie lächelte traurig. „Ich … stehe ihnen nicht mehr so nahe wie früher. Von Anfang an hat der Duke mich von meiner Familie ferngehalten. Ich war naiv und dachte, dass er mich für sich allein haben wollte. Er duldete niemanden in seiner Nähe, der seine Autorität infrage stellte. Irgendwann gingen meine Schwestern und ich getrennte Wege. So wie Sie und ich damals.“

Er nickte. „Das bedauern ihre Schwestern sicher ebenso wie ich. Könnten Sie nicht die alten Bindungen wieder aufleben lassen?“

„Vermutlich. Aber auch sie können nichts tun, um mir zu helfen.“ Sie lächelte ein wenig bemüht. „Manchmal könnte ich vor Ärger aus der Haut fahren und möchte nur noch weg.“

„Wie heute Abend.“

„Wie heute Abend.“

Stirnrunzelnd schaute er sie an. „Im Augenblick habe ich auch keine klugen Ratschläge für Sie, aber bitte versprechen Sie mir etwas.“

„Was?“, fragte sie, legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an. Sofort fühlte er sich zurückversetzt in die Vergangenheit.

In jenem Sommer hatte sie ihn oft so angesehen, wenn sie über etwas nachdachte. Über so vieles hatten sie diskutiert – Poesie, Politik, Landwirtschaft. Sie hatte alles auf der Welt spannend gefunden und gar nicht genug über die verschiedensten Themen erfahren können.

Zorn erfüllte ihn, wenn er daran dachte, wie viel von dieser Lebensfreude ihr genommen worden war.

Er unterdrückte den Ärger und meinte: „Wenn Sie wieder einmal denken, Sie könnten es keine Minute länger aushalten, dann wandern Sie bitte nicht allein durch die Straßen! Schicken Sie nach mir, und ich treffe Sie, wo auch immer Sie es wünschen, und wir können reden. Sie sind nicht allein, Faith. Sie werden niemals allein sein, solange ich noch atme. Versprochen?“

Sie blickte ihn forschend an. „Meinen Sie das ernst?“

„Natürlich. Ich sage nie etwas, das ich nicht ernst meine.“

Sie nickte und lächelte ein wenig. „Ja. Daran erinnere ich mich. Und daran, dass Sie immer ein loyaler Freund waren. Nun gut, ich verspreche es.“

„Gut.“ Er nickte. Obwohl er sich immer noch Sorgen machte, fühlte er sich etwas besser. „Wir sind gleich am Berkeley Square, und das ist gut so, denn vielleicht hat Ihre Schwiegermutter Ihre Abwesenheit inzwischen bemerkt und ist heimgefahren.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich würde sie jubeln, wenn ich fort wäre. Obwohl sie dann kein Opfer für ihr Genörgel mehr hätte.“

„Sie sind nur müde. Morgen früh, wenn Sie geruht haben, sieht bestimmt alles anders aus.“

„Glauben Sie?“ Sie lächelte. „Vielleicht klappt das bei einem Mann, der auszieht, die Welt zu ändern. Ich habe übrigens von Ihren Leistungen gehört. Sogar im Dschungel der feinen Gesellschaft redet man von Ihnen. Obwohl natürlich niemand direkt mit mir darüber spricht, weil politische Themen für Frauen intellektuell zu anspruchsvoll sind. Nein, wir dürfen nur über Hüte sprechen oder über Dienstboten – oder wir überlegen, welche Tänzerin im Grünen Zimmer wohl die neueste Geliebte von Lord Sowieso ist.“

Er verzog das Gesicht. „Sie wissen sicher, dass mein Freund, Viscount Lyndlington, erst kürzlich Lady Margaret Roberts geheiratet hat. Jahrelang hat sie als Gastgeberin für ihren Vater, Lord Witlow, fungiert. Sie versteht nicht nur sehr viel von Politik, sondern bringt zusammen mit ihrem Vater die klügsten Köpfe aus Regierung, Wissenschaft und Kunst bei ihren ‚Diskussionsabenden‘ an einen Tisch.“

„Das klingt wundervoll – und so viel interessanter als alles, was ich erlebe. Es sei denn …“ Plötzlich strahlte sie. „Haben Sie es wirklich ernst gemeint, dass Sie mir helfen wollen?“

„Das habe ich doch schon gesagt!“

„Dann … Könnten wir uns wohl morgen Nachmittag treffen? Gewöhnlich muss ich dann mit meiner Schwiegermutter zur Paradestunde durch den Hyde Park fahren. So hoffe ich vermeiden zu können, mit Vorwürfen überhäuft zu werden, weil ich dieses elende Fest verlassen habe. Könnten wir uns stattdessen treffen – vielleicht bei Gunter’s? Um diese Zeit dürfte keiner unserer Bekannten dort sein, also wären wir ungestört. Ich würde zu gern mehr über Ihre Arbeit im Parlament erfahren.“

Eigentlich hätte er morgen an einer Sitzung des Komitees teilnehmen müssen, aber als sie ihn bittend ansah, hätte er sogar auf die Abstimmung über die Gesetzesvorlage verzichtet. „Ja, ich werde kommen.“

Die Kutsche hielt an. Er sprang hinaus und streckte Faith die Hand entgegen, um ihr aus dem Wagen zu helfen. „Ich warte noch, bis Sie drinnen sind“, versprach er.

„Sehr gut.“ Sie machte einen Schritt auf die Eingangstür zu, dann blieb sie stehen, drehte sich zu Davie um und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Sein Herz schien einen Purzelbaum zu schlagen und begann wie wild zu rasen.

„Ich danke Ihnen, Davie. Für die Rettung und alles andere. Zum ersten Mal seit langer Zeit freue ich mich auf den nächsten Tag.“

Ebenso wie ich, dachte er, als sie die Stufen hinaufeilte. Er würde wahrscheinlich nicht lange das Privileg haben, ihr Begleiter zu sein, und er wollte jede Sekunde auskosten.

2. KAPITEL

Am folgenden Nachmittag hinterließ Faith ihrer Schwiegermutter, die ihre Räume noch nicht verlassen hatte, eine Nachricht. Leider könne sie nicht im Park mit ihr ausfahren, weil eine andere Verabredung dazwischengekommen sei.

Sie ging zu der Droschke, die der Butler für sie bestellt hatte, und freute sich schon auf die Unterhaltung mit Davie.

Faith hatte die Gesellschaft des jungen Mannes vermisst. Während ihres damaligen Besuchs bei ihrer Cousine hatte sie ihm nähergestanden als ihren Schwestern. Sie hatte den Aufenthalt den ganzen Sommer über immer wieder verlängert. Sein ruhiger Rat, seine geistreichen Ideen und sein Eifer, die Zukunft zu verbessern, hatten sie inspiriert und begeistert. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich sogar ein wenig in ihn verliebt. Doch dann war sie nach Hause zurückgerufen worden, um sich auf ihre erste Saison vorzubereiten.

Sie war sich natürlich stets bewusst gewesen, dass er kein passender Ehekandidat für sie als Tochter einer der ältesten Familien des Landes war, aber dennoch hatte sie gehofft, in London weiterhin mit ihm in Kontakt bleiben zu können. Doch während der Saison war er in Oxford geblieben, und sie glaubte, sich in den vornehmen Duke verliebt zu haben, der ihr mit seinen unablässigen Aufmerksamkeiten geschmeichelt hatte. Jede unverheiratete Frau auf dem Heiratsmarkt hatte sie beneidet, und alle ehrgeizigen Mütter waren alles anderen als erbaut gewesen.

Warum war ihr eigentlich nicht aufgefallen, wie kalt und berechnend Edward sie angesehen hatte? Davies Blicke waren immer so warmherzig und voller Mitgefühl.

Jetzt war es zu spät für Reue.

Seufzend ließ sich Faith von dem Diener in den Wagen helfen. Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf das Haus. Die verschlossenen Fensterläden sahen abweisend aus. Wahrscheinlich würde sie wegen der Absage großen Ärger mit ihrer Schwiegermutter bekommen. Doch das war vermutlich nichts im Vergleich zu den Vorhaltungen, die ihr drohten, wenn die Frau jemals erfuhr, mit wem sie sich traf. Anstatt die Witwe auf ihrer täglichen Ausfahrt durch den Park zu begleiten, traf sie sich mit einem Mann, der gesellschaftlich weit unter ihrem Niveau war. Mindestens einen Monat würde sie dafür büßen müssen.

Doch es war an der Zeit, dass sie das Ganze nicht mehr widerspruchslos hinnahm. Eigentlich hatte die Witwe doch gar keine wirkliche Macht über sie. Außerdem hatte Faith keinen Gatten mehr, der sie davon abhalten konnte, hinauszugehen und sich am Leben zu beteiligen.

Es würde ihr gewiss helfen, mit Davie zu reden. Faiths Vorfreude wuchs, je mehr sie sich dem Ort ihres Rendezvous’ näherte.

Endlich war sie am Ziel. Faith war so ungeduldig, dass sie den Schlag bereits öffnete, bevor der Wagen noch ganz zum Stehen gekommen war. Im Gunter’s erspähte sie Davie sofort. Er saß in einem Alkoven im hinteren Bereich des Raumes. Als sie auf ihn zuging und seinen anerkennenden Blick sah, war sie froh, das neue graue Kleid angezogen zu haben, das ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte und ihrem Teint schmeichelte.

„Duchess, was für eine angenehme Überraschung“, sagte er, als er aufstand und sich vor ihr verbeugte. „Sie sehen entzückend aus!“

„Sie sind sehr freundlich, Mr. Smith“, antwortete sie. „Obwohl ich fürchte, als Mutter von drei Kindern die Blüte meiner Jugend hinter mir zu haben.“

„So ein Unsinn. Dazu bedarf es mehr als ein paar Söhne.“ Er rückte ihren Stuhl zurecht, und sie setzte sich. „Tee? Oder lieber ein Eis?“

„Tee, bitte.“

Er bestellte beim Kellner, dann schaute er sie an.

„Sie sehen erholt aus. Frisch wie ein junges Mädchen und überhaupt nicht wie eine würdevolle Mutter von drei Kindern.“

Sie lachte. „Eigentlich wollte ich noch mehr Kinder haben, aber als die Erbfolge gesichert war, verlor Ashedon … das Interesse.“ Oder hatte ihr Mann die ganze Zeit Mätressen gehabt, und sie war nur zu blauäugig gewesen, es zu merken? „Ich bin mit einem Bruder und mehreren Schwestern aufgewachsen. Früher habe ich mir vorgestellt, dass ich als Mutter meine Kinder immer um mich haben würde. Doch nun verbringe ich meine Zeit meistens in meinen Räumen, und meine Söhne sind in der Kinderstube.“

Davie lachte leise. „Das ist in einer Bauernfamilie ganz anders. Dort sind die Kinder ständig bei ihrer Mama, oder sie helfen ihrem Papa bei der Arbeit. Sie hätten eine einfache Bauersfrau werden sollen.“

„Ja, vielleicht.“

Sie sah ihm in die Augen, an deren freundlichen Blick sie sich von früher gut erinnerte. Plötzlich strahlte ihr eine Glut daraus entgegen, deren Intensität sie fast überwältigte.

Noch mehr erschütterte es sie, dass sich in ihrem Inneren eine ähnliche Hitze ausbreitete. Sie fühlte sich wie gestern Abend, als sie an seiner Brust gelegen hatte und sich trotz Kummer und Erschöpfung intensiv seiner Nähe bewusst gewesen war.

Der schlaksige Junge mit den langen dünnen Armen und Beinen war zu einem großen muskulösen Mann herangewachsen. Momentan galt es bei den Dandys als schick, eine Wespentaille zu haben und besonders dünn zu sein. Davie war das Gegenteil davon – groß, stark und imposant. In seinen Armen fühlte sie sich … geborgen.

Und sie war sicher, starkes Verlangen in seinem Blick erkannt zu haben, bevor er sich wieder im Griff gehabt hatte, und ebenso sicher war sie sich ihrer eigenen körperlichen Reaktion. Die unerwartete Anziehungskraft zwischen ihnen würde die Erneuerung ihrer Freundschaft verkomplizieren, aber trotzdem empfand sie ein wildes Glücksgefühl. Ihr erschüttertes Selbstwertgefühl wurde dadurch gestärkt, und sie fühlte sich seit langer Zeit wieder als begehrenswerte Frau.

Ein wenig aufgeregt räusperte sie sich. Sie freute sich zwar über die erotische Spannung, aber alles war so unerwartet gekommen, und sie hatte keine Übung mehr, wie man sich in so einem Fall verhielt. „Vielen Dank dafür, dass Sie bereit sind, sich mit mir zu treffen“, sagte sie schließlich. „Ich bin so froh, jetzt nicht mit der Witwe durch den Park fahren zu müssen und von allen Seiten angegafft zu werden.“

„Das ist der Preis dafür, eine Duchess zu sein. Sie werden immer im Mittelpunkt stehen, egal wo Sie sind und was Sie tun.“

Sie rümpfte die Nase. „Ja, aber es ist mir unangenehm. Ich habe es noch nie geschätzt, im Mittelpunkt zu stehen.“ Sie seufzte. „Am wenigsten an meiner Ehe mochte ich, dass Ashedon mit seinen Frauengeschichten immer wieder Skandale provozierte und der ton auf meine Reaktion lauerte.“

Sein Gesicht bekam einen finsteren Ausdruck. „Ihr Gatte war ein Narr, wenn ich das sagen darf.“

Sie lächelte traurig. „Das störte mich nicht besonders. Ich vermisste viel mehr, dass er mich nicht geliebt hat.“ Sie riss sich zusammen. „Aber ich bin nicht gekommen, um mich über meine Ehe zu beklagen. Vielmehr möchte ich von Ihnen wirklich Wichtiges erfahren. Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit! Ich hatte damals gehofft, unsere Freundschaft aufrechterhalten zu können, aber dann heiratete ich, und Sie waren in Oxford … Doch ich habe gehört, dass Sie mit Unterstützung Sir Edwards und meiner Cousine Nicky kurz nach Ihrem Hochschulabschluss zum Parlamentsabgeordneten von Hazelwick gewählt wurden. Und ich entsinne mich dunkel an die Teufelsbrut. Warum Teufelsbrut? Was war das?“

Er schmunzelte. „Für mich als einfachen Bürger war es ein glücklicher Zufall, dass ich, schon kurz nach meiner Ankunft in Oxford, Giles Hadley begegnete. Wahrscheinlich wissen Sie, dass er zwar Viscount Lyndlington ist, aber bis vor Kurzem mit seinem Vater, dem Earl, zerstritten war. Er wuchs isoliert in einem einsamen Landhaus auf und hatte keine Freunde in der vornehmen Gesellschaft. Während seiner Schulzeit in Eton freundete er sich mit anderen Außenseitern an – mit Ben Tawny, dem unehelichen Sohn von Viscount Chilford, und Christopher Lattimar, Sohn von Lord Vraux.“

„Dieser Name sagt mir etwas. Ist er einer von den Vraux-Geschwistern, die angeblich alle von verschiedenen Männern gezeugt wurden?“

Davie nickte. „Bei dieser Herkunft ist es nur zu verständlich, dass sie für politische und gesellschaftliche Reformen eintreten. Sie wollen die Macht aus den Händen derer nehmen, deren einzige Qualifikation darin besteht, dass ihre Familien schon immer an der Macht waren.“

„Sie haben damals schon Reformen befürwortet“, warf sie ein, in Gedanken an die lebhaften Diskussionen über Politik und Gesellschaft in jenem lang vergangenen Sommer.

„So ist es. Giles lief mir über den Weg, als ich, in ein Buch vertieft, allein in einem Pub saß. Sofort bezog er mich in seinen Kreis mit ein. Anfangs war es bloße Freundlichkeit gegenüber einem Bürgerlichen, der nie in einen der aristokratischen Zirkel eingeladen würde. Doch dann begannen wir über unsere Ziele zu sprechen und über das, was wir nach Abschluss der Universität zu erreichen hofften. Wir stellten schnell fest, dass wir die gleichen Ziele anstrebten.“

„Und diese Ziele waren in den Augen der Mächtigen genug, um Sie Teufelsbrut zu nennen?“

„Den Spitznamen bekamen wir erst später. Das war, als einige der Professoren und Dozenten – allesamt Männer der Kirche – hinter unsere Absicht kamen, die Sitze des Klerus’ im Oberhaus abzuschaffen. Solche Ideen konnten ihrer Meinung nach nur vom Teufel stammen.“

Sie legte den Kopf schräg und sah ihn an. „War das alles? Oder war es nicht vielmehr so, dass der Name zum Teil auf so skandalöse Taten zurückgeht, dass Sie sie vor meinen unschuldigen Ohren nicht aussprechen möchten?“

War er wirklich ein Mitglied der Teufelsbrut? Fasziniert betrachtete sie ihn. Er war ganz sicher maskulin genug, um ein wahrer Herzensbrecher zu sein. Plötzlich war sie fast eifersüchtig auf jede Frau, die er je mit amourösen Aufmerksamkeiten bedacht hatte.

„Ben hatte bei der Armee in Indien gedient“, fuhr er fort. „Er war eine Art Rebell. Und Christopher war immer schon ein Frauenliebling. Giles und ich hatten aber allein nicht genug Möglichkeiten, um Erfolg zu haben. Das ist einer der Gründe, warum wir unsere Mittel zusammenlegten und schon bald zusammen wohnten. Wir halfen einander, als die Zeit für unsere Kampagnen gekommen war. Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat Ihr Bruder, der Marquess, mich großzügig unterstützt, als ich für den Posten in Hazelwick kandidierte. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

„Wie konnte Nicky oder irgendjemand anders Ihnen zuhören und nicht von Ihren Ansichten überzeugt sein? Mich haben Sie in jenem Sommer auf jeden Fall überzeugt. Und wie nah sind Sie Ihren Zielen inzwischen gekommen?“

„Im Juni ist ein neues Parlament zusammengetreten, das in überwältigender Mehrheit aus Unterstützern der Reform besteht. Wir hegen sehr große Hoffnungen, dass wir endlich am Ende des Sommers unser Gesetz verabschieden.“ Er verzog ironisch das Gesicht. „Es gibt allerdings noch einige Widerspenstige, die uns mit endlosen irrelevanten Diskussionen aufhalten. Manchmal hätte ich Lust, bei den Sitzungen des Komitees ein paar Köpfe zusammenzustoßen – so wie gestern Abend die der Halunken, von denen Sie überfallen wurden.“

„Bei denen hatten Sie jedenfalls durchschlagenden Erfolg!“, erklärte sie und schauderte ein wenig bei dem Gedanken daran, wie schlimm die Sache hätte ausgehen können. „Also wird es eine große Veränderung in der Regierung des Landes geben, zum ersten Mal seit dem Mittelalter?“

„Es ist aufregend zu wissen, dass man die gesamte Staatsführung beeinflussen kann.“

Sie lächelte. „Und ich habe schon Schwierigkeiten, ganz normale alltägliche Dinge in den Griff zu bekommen.“

„Als Duchess? Gewiss nicht!“

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Es war für sie in den vergangenen Jahren oft sehr schwer gewesen, und sie hatte sich aus einem offenen, freimütigen Mädchen in eine Frau verwandelt, die meistens ihre Meinung für sich behielt.

Wie lange schon hatte sie niemandem mehr ihr Herz ausschütten können?

„Ashedons Haushälterin ist schon sehr lange im Hause. Eine sehr tüchtige Frau, aber auch sehr dominant. Da mein Gatte sie in allem unterstützte, hatte ich kaum etwas anderes zu tun, als Blumen zu arrangieren und den Speiseplan abzusegnen.“

„Versucht Ihre Schwiegermutter, Ihnen Ihre Kinder vorzuenthalten?“, fragte er und legte seine Hand wie unbeabsichtigt auf ihre. „Als Mutter müssen Sie dafür sorgen, dass Ihr Wille zählt, nicht der der Großmutter.“

Diese simple Berührung löste starke Emotionen in Faith aus – Dankbarkeit für sein Mitgefühl, Erleichterung über sein Verständnis und eine sinnliche Wahrnehmung seiner Person. Sie schaffte es nicht, ihm ihre Hand zu entziehen.

„Ich versuche es ja“, sagte sie und genoss das angenehm prickelnde Gefühl seiner Hand auf ihrer. „Wie schon gesagt, hielt der Duke es für unangemessen, dass seine Gattin in die Kinderstube ging und die Kinderfrau von ihren Pflichten abhielt. Manchmal schlich ich nachts an der schlafenden Zofe vorbei und setzte mich ans Kinderbett, um die kleinen Gesichter im Dunkeln zu betrachten.

Seit Ashedons Tod verbringe ich mehr Zeit mit ihnen, aber ich muss mich ständig gegen Carlisle durchsetzen. Er ist der Hauslehrer, den Ashedon noch selbst eingestellt hat. Und als die Witwe bei uns einzog und feststellte, wie oft ich mit den Kindern zusammen bin, war es das Erste, was sie kritisierte. Bisher halte ich den beiden noch stand, aber sie unterstützt Carlisle nach Kräften, und das macht es mir immer schwerer.“

„Bravo, halten Sie weiter stand! Nun müssen Sie sich noch eine bessere Methode überlegen, um den Hauslehrer zu umgehen.“

„Ja. Und ich muss die Kinder von ihrem Onkel fernhalten, der ein noch schlechteres Vorbild ist als mein verstorbener Gatte. Es ist nicht nett von mir, das zu sagen, aber leider ist es die Wahrheit.“ Sie schnitt eine Grimasse bei der Erinnerung daran, wie schmerzhaft Lord Randalls Griff gewesen war, als er sie hatte zu einem Kuss zwingen wollen. „Seit seine Mutter bei uns Einzug gehalten hat, glaubt er offenbar, er könne jederzeit bei uns hereinschneien. Gewöhnlich kommt er zum Essen und leiht sich Geld von seiner Mutter. In dieser Hinsicht waren Ashedon und ich uns ausnahmsweise einig, dass nämlich sein Bruder ein Verschwender ist, der so viel wie möglich vom Familienvermögen in die Hände zu bekommen versucht, um es zu verprassen.“

„Dann sollten Sie die Knaben viel häufiger aus dem Haus bringen. Es gibt so viele Orte, an denen sie Spaß haben könnten – das Britische Museum, Ausritte im Park, Astley’s Amphitheater. Sogar das Parlament.“ Er zog eine Braue hoch. „Eines Tages wird der junge Duke seinen Platz im Oberhaus einnehmen.“

„Wollen Sie ihn jetzt schon für Ihre Ideen gewinnen?“, neckte sie ihn.

„Dafür ist es nie zu früh.“ Lächelnd hob er ihre Hand, als wollte er sie küssen.

Er atmete tief ein und schaute auf ihre Hände. Dann sah er Faith in die Augen und drückte ihre Hand etwas stärker. Er hatte ihr mit seiner Geste wahrscheinlich nur Trost spenden wollen, aber plötzlich war da eine andere, ganz ursprüngliche Kraft zwischen ihnen.

In seinen Augen sah sie Leidenschaft, und sie empfand wie er. Hitze strömte durch ihren ganzen Körper. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie umklammerte seine Finger und genoss jede Sekunde des Kontakts mit ihm.

Ganz langsam lockerte er seinen Griff und ließ sie schließlich los. Es schien ihm schwerzufallen, ihre Verbindung zu lösen. Sein sehnsüchtiger Gesichtsausdruck änderte sich allmählich, bis er beinahe besorgt aussah. Sie hatte Angst, er würde sich entschuldigen. Das würde sie nicht aushalten, weil es ihr überhaupt nicht leidtat.

Er öffnete die Lippen und schien nach Worten zu suchen. Sie blickte auf seinen Mund und wurde von der Vorstellung überwältigt, wie es wohl wäre, wenn er sie küssen würde. Auch sie war nicht dazu in der Lage zu sprechen.

Schließlich räusperte er sich. „Vielleicht könnten Sie Ihre Söhne ja zu einem Besuch bei Ihrer Schwester, Lady Englemere, mitnehmen. Sie ist vermutlich wegen der Parlamentssitzungen mit dem Marquess in der Stadt. So könnten die Knaben ihre Cousins besser kennenlernen.“

Dabei schaute er ihre Hände an, als bereute er ebenso wie sie, dass sie einander hatten loslassen müssen.

Sie konzentrierte sich mühsam auf seine Worte und meinte: „Eigentlich kennen sie sich gar nicht. Ich weiß nicht einmal, ob Sarah überhaupt in London wohnt. Sie könnte auf dem Land geblieben sein.“ Faith verzog das Gesicht ein wenig. „Die Glückliche! An meinem Leben als Duchess habe ich schon immer am meisten gehasst, dass ich gezwungen bin, mich in London aufzuhalten. Ich liebe das ‚unmoderne‘ Landleben ebenso sehr, wie Ashedon es verabscheute.“

Davie nickte. „Ich erinnere mich an Ihre Vorliebe dafür, in Hosen zu reiten und auf Bäume zu klettern.“

Sie lächelte versonnen. „Ja. Wir kletterten immer auf die große Ulme im Garten von Cousine Joanna, und ich las Ihnen dort Gedichte vor. Ich erinnere mich auch an einige Wettrennen zu Pferd, bis Joanna es herausfand und mich zwang, in schicklichem Tempo im Damensattel zu reiten.“ Wie sie sich nach dieser sorglosen Zeit zurücksehnte …

„Sie sollten nicht mehr zurückschauen, sondern sich vielmehr eine neue erfreulichere Zukunft aufbauen“, schlug Davie leise vor.

Sie sah ihn an und stellte fest, dass Sympathie die Leidenschaft in seinen Augen ersetzt hatte. „So, wie Sie es für die ganze Nation tun.“

„So, wie Sie es für sich selbst tun können. Faith, Sie sind doch jetzt frei und können Ihre Zukunft gestalten, wie Sie es wünschen.“

Was würde ich denn tun wollen, wenn ich wirklich frei wäre? Und wenn ich sagen würde, dass ich dich will?

„Solange meine Schwiegermutter da ist und ich meine Söhne beschützen muss, werde ich nie von dem Druck befreit sein, eine Duchess zu sein. Niemals frei genug, um wirklich zu tun, was ich will.“

Sie sah ihn mit festem Blick an und wünschte sich, er würde verstehen, was sie nicht aussprechen konnte. Aber vielleicht tat er es doch, denn sein Ausdruck war mit einem Mal verschlossen.

„Dann müssen Sie eben den bestmöglichen Kompromiss aushandeln, so wie man es im Parlament tut, damit alle weiterkommen. Und dabei fällt mir ein, dass ich mich jetzt leider verabschieden muss.“

Autor

Julia Justiss
Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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