Die McKettricks aus Texas (3-teilige Serie)

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WEIL DU ES BIST

Tate McKettrick weiß, wohin eine Nacht der Leidenschaft führen kann: ins Unglück und ins Verderben. Nie wieder! hat er sich geschworen. Denn so hat er einst verspielt, was er am meisten begehrt: das Vertrauen seiner großen Liebe Libby. Wird sie ihm jemals wieder ihr Herz öffnen? Im Kampf um das Glück gibt ein Mann wie Tate so schnell nicht auf...

Libby Remington bekommt weiche Knie, wenn Tate in ihrem Coffeeshop vorbeischaut. Doch mehr als ein heißer Flirt? Nie im Leben! Auch wenn Tate schwört, dass Libby die Einzige für ihn ist, kann sie nicht vergessen: Schon einmal hat er ihre Liebe verraten...

SO NAH UND SO FERN

Garrett McKettrick ist zurück! Der erfolgreiche Anwalt hat genug vom turbulenten Großstadtleben. Politische Karriere, schnelle Autos, schöne Frauen - das war gestern. Jetzt will er im idyllischen Blue River zur Ruhe kommen. Doch mit seinem Frieden ist es schnell vorbei, als die temperamentvolle Julie auf der Familienranch einzieht …
Als alleinerziehende Mutter eines vierjährigen Cowboys und Besitzerin eines dreibeinigen Beagles ist Julie Remington Chaos gewohnt. Aber als sie auch noch von heute auf morgen ihr geliebtes Zuhause räumen muss, hat ihr eins gerade noch gefehlt: die aufregende Nähe des Mannes, der sie schon auf der Highschool zur Weißglut trieb! Auch wenn statt Funken der Wut plötzlich Funken der Leidenschaft sprühen ...

ÜBER ALLE GRENZEN

Austin McKettricks wildes Leben als Rodeoreiter ist nach einem schweren Unfall jäh vorbei. Verletzt muss er nach Hause zurückkehren, zu seinen Brüdern, die sofort eine Krankenschwester für ihn engagieren. Paige macht Austin verrückt mit ihrer überbordenden Fürsorge - und erst recht mit ihrem schönen Gesicht, ihrem seidigen schwarzen Haar und ihren verführerischen Kurven!

Paige Remington hat es aufgegeben zu zählen, wie oft Austin sie schon feuern wollte. Aber sie ist fest entschlossen, nirgendwohin zu gehen, ehe sie ihn nicht gesund gepflegt hat! Diesen widerspenstigen, faszinierenden Mann, nach dem ihr Herz sich immer mehr verzehrt...


  • Erscheinungstag 09.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751840
  • Seitenanzahl 1072
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller

Die McKettricks aus Texas (3-teilige Serie)

Cover

PROLOG

Silver Spur Ranch

Blue River, Texas

Das Frühlingsgewitter explodierte regelrecht am Himmel. Es entlud sich so heftig, dass ein einziger Blitz genügt hätte, um das Dach in der Mitte zu spalten und alle Fenster in den drei Etagen zum Bersten zu bringen.

Tate McKettrick fluchte leise vor sich hin, während der Regen wie ein Kugelhagel auf das alte Gemäuer prasselte.

Wahrscheinlich hatte der Fluss die Straße bereits überschwemmt, und Tate würde einen Umweg in die Stadt nehmen müssen. Er war – wieder mal – zu spät dran. Cheryl, seine Exfrau, würde ihn mit den üblichen Vorwürfen bombardieren, das stand fest.

Sie würde ihm vorwerfen, er hätte kein Interesse an den gemeinsamen Zwillingstöchtern, weil er ja lieber Jungs gehabt hätte. Jungs, so wild und verwegen wie er selbst und seine Brüder früher. Das war ihre bevorzugte Spitze gegen ihn. Sie würde nie erfahren, wie sehr diese spezielle Bemerkung ihn immer traf – denn er hatte nicht vor, es sich anmerken zu lassen. Doch sie traf ihn, und zwar mitten ins Herz. Er würde sein Leben für Audrey und Ava geben. Die Zwillinge waren das einzig Positive aus dieser Ehe, die es eigentlich nie hätte geben sollen.

Da Cheryl ein einziger verbaler Treffer nie genügte, würde sie höchstwahrscheinlich weitersticheln. Sie würde sagen, dass er deshalb zu spät zur Tanzaufführung der gemeinsamen Töchter kam, weil er sie, ihre Mutter, damit ärgern wollte. Cheryl würde darauf beharren, dass er seine eigenen Kinder funktionalisierte. Denn er wusste doch, dass sie es hasste, wenn er zu spät kam. Er wusste doch, dass …

Bla, bla, bla.

Tate brauchte die Zwillinge nicht zu „funktionalisieren“, um bei Cheryl irgendetwas durchzusetzen. Das hatte er nach der Scheidung getan – und zwar nicht zu knapp. Damals hatte er seine Exfrau gezwungen, in Blue River zu bleiben, damit sie sich das Sorgerecht teilen konnten. Seither pendelten Audrey und Ava zwischen dem Haus ihrer Mutter in der Stadt und der Ranch hin und her. Bis auf gelegentliche Ausnahmen lebten sie eine Woche hier, eine Woche dort. Sobald Tate die Kinder an den vereinbarten Tagen abholte, traf Cheryl sich mit ihren eleganten Freundinnen, um die Kreditkarten zum Glühen zu bringen.

Mit grimmig vorgeschobenem Kinn setzte Tate sich auf die Kante seines Betts. Frustriert griff er nach seinen Stiefeln, die er poliert hatte, bevor er seine regennassen Arbeitsklamotten ausgezogen und sich schnell geduscht hatte. In seinen steifen, neuen Jeans und dem langärmeligen weißen Westernhemd – der Cowboyversion eines Smokings – hörte er mit halbem Ohr dem Rodeo-Kommentator im Fernsehen zu, dessen monotone Stimme aus den Lautsprechern des großen Flachbildschirms über dem Kamin tönte.

Er wollte gerade nach der Fernbedienung greifen und ausschalten, als er den Namen seines Bruders aufschnappte.

Tates Nackenhaare stellten sich auf. Er spürte, wie sich in seiner Magengrube irgendetwas zusammenballte – nicht unähnlich einer Schlange kurz vor dem Angriff.

„… Austin McKettrick ist der Nächste. Er reitet einen Bullen namens Buzzsaw …“

Abrupt richtete sich Tates Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Tatsächlich, das war sein kleiner Bruder – in High Definition und lebendigen Farben. Er stand auf der Galerie hinter der Startbox. Jetzt ging er kurz auf und ab, blieb wieder stehen und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

Die Einstellung konnte nicht länger als eine, zwei Sekunden gedauert haben. Ein anderer Cowboy hatte seinen Ritt eben beendet, und gleich würde dessen Ergebnis auf dem riesigen Bildschirm angezeigt werden. Doch der kurze Kameraschwenk auf Austin hatte genügt, dass es Tate kalt den Rücken hinunterlief.

Die Punktezahl des anderen Cowboys war gut, das Publikum jubelte, und die Kamera schwenkte zurück zu Austin. Er hatte Kameras immer geliebt, der verdammte Idiot, und diese Liebe hatte stets auf Gegenseitigkeit beruht.

Das Gleiche galt für Frauen, Kinder, Hunde und Pferde. Nun hockte sich Austin in der Galerie auf den Boden, während der Bulle sich unten in seiner Startbox verdächtig ruhig verhielt. Das Tier stierte lediglich zwischen den Gitterstäben in die Arena und wartete, bis seine Zeit gekommen war. Die ruhigen Bullen waren immer die schlimmsten, dachte Tate. Buzzsaw war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch und sammelte gerade all seine Kräfte für die Arena. Dort würde er Platz genug haben, das zu tun, wofür er gezüchtet worden war: auszurasten.

Knochen zu zertrümmern … lebenswichtige Organe zu zerquetschen …

Als ehemaliger Rodeoreiter wusste Tate – obwohl er selbst nur im Bareback Bronc Riding, also dem Reiten von Wildpferden ohne Sattel, aktiv gewesen war – dass dieser Bulle nicht einfach nur aggressiv war; er war eine neunhundert Kilo schwere Katastrophe für jeden Cowboy und bereit, jeden Moment zu explodieren.

Austin musste das alles und noch viel mehr mittlerweile wissen. Er hatte seine Karriere im Alter von drei Jahren als Hammelreiter auf der Dorfkirmes begonnen und war mit rot-goldenen Siegerschleifen geehrt worden. Anschließend war er Little Britches Rodeos speziell für Jugendliche geritten und hatte später bei den National Highschool-Rodeos einige Wettkämpfe gewonnen. Auch während seiner College-Zeit war er ein Star gewesen.

Es war also nicht so, dass er sich mit Bullen nicht auskannte. Austin wirkte eher übermütig als nervös; sein Motto in jeder gefährlichen Situation war: „Packen wir’s an!“

Tate sah zu, wie sein Bruder seinen Hut noch einmal zurechtrückte und sich vom Geländer auf den Rücken des Stiers hinunterließ. Dann schob er seine Hand unter den Ledergurt und schlang sich ihn einmal in einer sogenannten „Selbstmord-Schlinge“ ums Handgelenk, wodurch er sich regelrecht an das Tier fesselte. Einen Augenblick später nickte er den Männern am Gatter zu.

Tate konnte den Blick nicht abwenden. Er hatte ein ungutes Gefühl. Ganz ähnlich wie in jener Nacht, als Mom und Dad gestorben waren. Er war schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte wild um sich geschlagen, um sich aus den eisigen Fängen seines Albtraums zu befreien. Das Krachen hatte so echt in seinem Kopf gedröhnt, als hätte er den Unfall, der weit weg passiert war, selbst mit angesehen.

Er hatte längst gewusst, dass Jim und Sally McKettrick beide tot waren, ehe man es ihm am Telefon mitgeteilt hatte. Und jetzt hatte er die gleiche beklemmende Vorahnung.

Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er brachte nur ein einziges Wort über die Lippen. „Nein.“

Natürlich konnte Austin ihn nicht hören. Und selbst wenn – er hätte es ignoriert.

Der Bulle verharrte in geradezu unheimlicher Reglosigkeit. In seinem Inneren schienen sich seine Urkräfte zu ballen. Dann schwang das Metalltor auf, und das Tier schoss wie eine Rakete aus seiner engen Startbox in die Arena.

Buzzsaw, dessen Kräfte nun entfesselt waren, buckelte, sprang und drehte sich blitzschnell im Kreis.

Austin hielt sich auf ihm und trieb ihn mit den Absätzen seiner Stiefel weiter an. Er hatte die rechte Hand in die Luft gestreckt und wirkte dabei so cool und gelassen, als würde er in dem alten Gummireifen schaukeln, der an einem Ast über der tiefsten Stelle des Schwimmteichs baumelte. Fünf lange Sekunden vergingen, bevor er überhaupt seinen Hut verlor.

Tate hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber die Botschaft schaffte es einfach nicht von seinem Gehirn zu den winzigen Muskeln, die für die Bewegung notwendig waren. Er und sein Bruder hatten immer wieder Meinungsverschiedenheiten – einige davon schwerwiegend –, doch nichts davon war jetzt wichtig.

Die Ziffern der Uhr auf dem Bildschirm schienen sich in Zeitlupe zu bewegen; acht Sekunden konnten, wie jeder Cowboy wusste, eine Ewigkeit sein. Tate sah die ganze Szene Einzelbild für Einzelbild vor sich ablaufen wie in einem leeren, hallenden Raum. So, als hätte man aus allem, was sich abspielte, eine Dimension entfernt.

Schließlich schnellte der Bulle in die Luft, wie eine Forelle, die aus einem Bach springt. Dabei krümmte er sich, als wollte er seinen Bauch zur Decke der Arena drehen. Austin rutschte seitlich vom Stier, fiel aber nicht zu Boden.

Die Pickup-Männer ritten in die Arena, um Austins Hand aus der Schlinge zu schneiden und ihn zu befreien. Doch der Bulle war ein wahrer Hurrikan auf Hufen, der sich im Kreis drehte und wild in alle Richtungen ausschlug.

Auch die Bullfighter – die man früher als Rodeo-Clowns bezeichnet hatte, weil sie das Publikum während der Show auch unterhielten – versuchten einzugreifen. Normalerweise mussten sie nach dem Ritt den Bullen ablenken, damit der Cowboy Zeit hatte, über den Zaun zu klettern und sich in Sicherheit zu bringen.

Unter den gegebenen Umständen allerdings gab es nicht viel, was die Männer tun konnten.

Austin, der immer noch am Gurt des Bullen hing, schleuderte es erst auf die eine Seite des Tiers, dann auf die andere. Sein Körper war schlaff. Vielleicht leblos.

Tate wurde schlecht vor Angst.

Endlich gelang es einem der Pickup-Männer, sich dem Bullen zu nähern, Austin aus dem Gurt zu schneiden und ihn schließlich vom Bullen zu ziehen. Austin bewegte sich nicht, während die Bullfighter und ein paar andere Männer das Tier aus der Arena trieben.

Tates Handy, das in der Tasche seiner durchnässten Jeansjacke steckte, die er heute für die Arbeit mit den Rindern auf der Ranch getragen hatte, läutete. Er ignorierte das schrille, penetrante Klingeln.

Sanitäter warteten mit einer Trage auf Austin. Der Kommentator murmelte irgendetwas, das Tate nicht verstehen konnte, weil das Blut so laut in seinen Ohren rauschte.

Die TV-Kameras schwenkten mit schwindelerregender Geschwindigkeit über die Arena. Auf der Tribüne waren die Fans aufgesprungen. Sie sahen blass und besorgt aus. Die meisten Männer hatten ihre Hüte abgenommen und drückten sie sich an die Brust – so, wie sie es taten, wenn die Nationalhymne gespielt wurde.

Oder wenn irgendwo langsam ein Leichenwagen vorbeifuhr. Hinter den Startboxen standen die anderen Cowboys und schauten gebannt zu, wie Austin abtransportiert wurde. Ein paar hatten die Köpfe gesenkt und beteten leise.

Wie gelähmt stand Tate in der Mitte seines Schlafzimmers. Ihm war übel, und es würgte ihn.

Jetzt klingelten beide Telefone – das Handy und der Nebenanschluss des Festnetzes neben seinem Bett.

Das Durcheinander der Töne war nervenaufreibend, doch Tate machte keine Anstalten abzuheben.

Im Fernsehen wurde die Übertragung des Rodeos abrupt beendet und durch einen Werbespot für Aftershave abgelöst.

Das riss Tate aus seiner Starre; er drehte sich um und hob seine Jacke auf, die er vorhin achtlos auf den Boden geworfen hatte. Dann durchsuchte er die zahlreichen Taschen nach seinem Handy, das mittlerweile verstummt war. Als er es gefunden hatte, klingelte es erneut. Er klappte es auf.

„Tate McKettrick“, sagte er wie ferngesteuert. „Verdammt“, hörte er seinen Bruder Garrett fluchen. „Ich dachte schon, du würdest nie abheben! Hör zu, Austin ist gerade mit einem Bullen aneinandergeraten. Für mich sieht es so aus, als wäre er schwer verletzt …“

„Ich weiß“, fiel ihm Tate ins Wort. Vergeblich versuchte er, sich zu erinnern, in welcher Stadt Austin in dieser Woche an Rodeos teilgenommen hatte. „Ich habe es im Fernsehen gesehen.“

„Wir treffen uns am Flugplatz“, sagte Garrett. „Ich muss ein paar Anrufe erledigen und komme dann so schnell wie möglich hin.“

„Garrett, das Wetter …“

„Zum Teufel mit dem Wetter“, unterbrach Garrett ihn barsch. Er hatte vor nichts Angst – außer, sich an eine Frau zu binden. „Wenn du Waschlappen dich nicht traust, bei diesem lächerlichen Gewitter zu fliegen, dann sag es mir besser jetzt gleich.

Dann kann ich mir die Fahrt sparen, okay? Ich jedenfalls werde herausfinden, wohin sie unseren kleinen Bruder gebracht haben, und dann zu ihm fahren. Egal, wie ich dorthin komme. Und zwar deshalb, weil er vielleicht stirbt, verdammt noch mal. Verstehst du das, Cowboy?“

„Ja, ich verstehe“, erwiderte Tate mühsam beherrscht. „Ich erwarte dich am Flugplatz, Top Gun.“

Garrett, der von einem Festnetztelefon aus angerufen hatte, hatte den Vorteil, beim Auflegen den Hörer auf die Gabel knallen zu können. Tate nahm seine Brieftasche von der Kommode und holte seine lederne Bomberjacke aus dem begehbaren Kleiderschrank. Nachdem er sie angezogen hatte, trat er durch die Flügeltür hinaus in den breiten Korridor.

Generationen von McKettricks hatten, als das Familienvermögen sich stetig vermehrt hatte, immer wieder neue Flügel an das Haus angebaut. Mittlerweile war es mit seinen über tausendsechshundert Quadratmetern geradezu grotesk groß.

Tate ging eine der drei Haupttreppen hinunter, die das Gebäude in drei Teile gliederten. Der handgewebte Treppenläufer verschluckte jedes Geräusch seiner Stiefelabsätze. Vermutlich war er für irgendeinen Sultan angefertigt worden, lange bevor die McKettricks einen Fuß in die Neue Welt gesetzt hatten.

Unten in der Eingangshalle, deren Fußboden aus Marmor war, schaute er rasch auf die antike Standuhr. Tate trug keine Armbanduhr mehr, seit sein Job bei McKettrickCo im Zuge des Börsengangs des Jahrhunderts nicht mehr vonnöten gewesen war. Als er sah, wie spät es war, schüttelte er ungläubig den Kopf.

Halb fünf.

Die Tanzaufführung von Audrey und Ava hatte vor dreißig Minuten begonnen.

Auf dem Weg durch den Glasgang neben dem Swimmingpool – es hatte olympische Maße, ein Schiebedach und eine schwimmende Bar – klappte er sein Handy erneut auf und drückte Cheryls Kurzwahl.

Sie sagte nicht „Hallo“. Sie sagte: „Wo zum Teufel bist du, Tate? Audrey und Ava sind als Nächste mit ihrem großen Auftritt dran. Die beiden gucken ständig zwischen den Bühnenvorhängen ins Publikum, weil sie hoffen, dich zu sehen. Und …“

„Austin hat sich verletzt“, unterbrach Tate sie. Bei der Vorstellung, wie seine Töchter in ihren Paillettentrikots und Tutus nach ihm Ausschau hielten, wurde ihm weh ums Herz. „Ich schaffe es heute Abend nicht.“

„Aber es ist deine Woche, und ich habe einiges vor …“ „Cheryl“, meinte Tate ungeduldig, „hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe? Austin ist verletzt.“

Er konnte sie direkt vor sich sehen, wie sie den Mund verzog und eine perfekt gezupfte schwarze Augenbraue hob.

„Also bitte, Tate, wenn das eine Entschuldigung sein soll, dann …“

„Es ist keine Entschuldigung. Sag den Kindern, dass es einen Notfall gegeben hat und ich sie anrufe, sobald ich kann. Aber erwähne Austin nicht. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen machen.“

„Austin ist verletzt?“ Für eine Anwältin konnte Cheryl manchmal ziemlich schwer von Begriff sein. „Was ist passiert?“

Tate war jetzt in der Küche mit ihren unendlich langen, glänzenden Arbeitsplatten aus Granit und den zahlreichen Kühlschränken mit Glastüren angelangt. Cheryls Frage traf einen wunden Punkt bei ihm. Und das nicht nur, weil er nicht sicher war, ob er Austin jemals wieder lebendig zu Gesicht bekommen würde.

Angenommen, es war schon zu spät für eine Versöhnung? Was, wenn er und Garrett von dort, wo auch immer ihr verrückter Bruder gerade sein mochte, zurück nach Hause flögen, und Austin läge in einer Holzkiste im Frachtraum?

Tates Augen brannten wie Feuer, als er die Tür zur Garage aufstieß, die für zehn Autos konzipiert war.

„Er hat einen üblen Bullen erwischt“, antwortete er schließlich. Er hatte Mühe, die Worte auszusprechen. Sie kratzten wie Stacheldraht in seiner Kehle.

„Oh mein Gott“, flüsterte Cheryl erschrocken. „Er wird doch nicht … sterben?“

„Ich weiß es nicht.“

Austins zerbeulter roter Pick-up, eines der zahlreichen Autos, auf denen sein Name stand, war an seinem üblichen Platz neben dem schwarzen Porsche geparkt, den Garrett fuhr, wenn er zu Hause war. Beim Anblick des Wagens gab es Tate einen Stich ins Herz. Er riss die Tür seines mit Schlamm bespritzten Chevrolet Silverado – die größere Version mit Rückbank und offener Ladefläche – auf und kletterte hinters Steuer. Dann drückte er den Knopf, damit das Garagentor hinter ihm nach oben rollte.

„Ruf an, sobald du etwas weißt“, sagte Cheryl eindringlich. „Ruf auf jeden Fall an.“

Tate steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Dann fuhr er so schnell im Rückwärtsgang hinaus in den Regen, dass er beinahe einen der Ranch-Trucks gerammt hätte, der quer vor der Garage stand.

Der bereits etwas ältere Rancharbeiter, der am Steuer saß, wich zügig aus.

Tate hielt nicht an, um sich zu entschuldigen.

„Ja, ich rufe an“, meinte er zu Cheryl, während er das Lenkrad scharf einschlug. Er nahm es ihr übel, dass sie ihm dieses Versprechen abgenommen hatte. Doch der Weg zu seinen Töchtern führte nun mal immer über seine Exfrau.

Cheryl weinte jetzt. „Okay. Vergiss es nicht.“

Tate klappte sein Handy zu, ohne sich zu verabschieden. Auf dem Flugplatz wartete er fünfundvierzig quälend lange Minuten in seinem Wagen und schaute zu, wie der schwere Regen auf die Windschutzscheibe prasselte. Dabei dachte er an seinen jüngsten Bruder und sah ihn in all seinen Lebensphasen wieder vor sich: Austin als Baby, das er und Garrett schon nach kurzer Zeit am liebsten zur Adoption freigegeben hätten, dann als kleiner Hammelreiter und später als Schwarm aller Mädchen an der Highschool und auf dem College.

Der Mann, von dem Cheryl behauptet hatte, er hätte sie in einer Nacht in Vegas verführt, als sie vor dem Gesetz immer noch Tates Ehefrau gewesen war.

Das Kleinflugzeug, das früher zur Flotte von McKettrickCo gehört hatte, war gelandet. Tate wartete, bis es zum Stillstand kam. Dann stieß er die Tür seines Wagens auf und rannte auf den Jet zu.

Garrett stand in der Tür. Die hydraulische Treppe fuhr mit einem Summen aus.

„Er ist in Houston“, sagte er. „Sie operieren ihn, sobald er einigermaßen stabil ist.“

Tate schob sich an ihm vorbei ins Flugzeug. „Wie ist sein Zustand?“

Garrett fuhr die Treppe wieder ein, drückte die Tür mit der Schulter zu und verriegelte sie. „Kritisch. Nach Einschätzung des Chirurgen, mit dem ich gesprochen habe, stehen seine Chancen nicht allzu gut.“

Tate ging zum Cockpit. Die Zeit, in der er Garrett den Rücken zukehrte, nutzte er, um sich mit Daumen und Zeigefinger seine brennenden Augen zu reiben. „Los, starten wir.“

Wenige Minuten später waren sie in der Luft. Das kleine Flugzeug kämpfte sich durch die stürmischen Luftströmungen Meter um Meter in die Höhe. Ein Blitz durchzuckte den Himmel und schien die Tragflächen, den Bug und das Heck nur um Zentimeter zu verfehlen.

Irgendwann klärte sich der Himmel endlich auf.

Als sie auf einem Privatflughafen außerhalb von Houston landeten, wartete auf dem trockenen, heißen Asphalt bereits ein Geländewagen, den Garrett gemietet und dorthin bestellt hatte. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Garrett setzte sich hinters Steuer, und sie rasten in die Stadt.

Der Weg zur besten Privatklinik in Texas war ihnen nur allzu vertraut. Ihre Eltern waren dort vor zehn Jahren gestorben, nachdem ein Sattelschlepper über die Mittellinie ausgeschert hatte und frontal in ihr Auto gekracht war.

In der Empfangshalle erwarteten Tate und Garrett eine Krankenschwester und zwei Mitarbeiter der Klinikverwaltung. Keiner von ihnen war bereit, ihnen in die Augen zu schauen, geschweige denn, ihre Fragen zu beantworten.

Als sie auf der chirurgischen Abteilung ankamen, sahen sie Austin vor einem hochmodern ausgestatteten Operationssaal auf einer fahrbaren Krankentrage liegen. Er war umringt von Menschen in grünen OP-Kitteln.

Garrett und Tate drängten sich an den Leuten vorbei, bis sie schließlich links und rechts neben ihrem Bruder standen.

Austins Gesicht war derartig geschwollen und mit Blutergüssen übersät, dass sie ihn fast nicht erkannten. Doch dann zog er einen Mundwinkel hoch und grinste sie so schief an, wie nur er es konnte.

„Das war vielleicht ein fieser Bulle“, sagte er.

„Du wirst wieder gesund“, versuchte Garrett ihn zu beruhigen. Er blickte finster drein.

„Verdammt, natürlich werde ich wieder gesund“, krächzte Austin. Seine Augen, die unter den violetten Schwellungen fast verschwanden, suchten Tate. „Falls aber nicht, gibt es da etwas, was du wissen musst, großer Bruder.“ Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Seine Stimme war so leise, dass Tate sich zu ihm hinunterbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Ich habe nie mit deiner Frau geschlafen.“

1. KAPITEL

Drei Monate später.

C heryls verhältnismäßig kleiner Garten war mit Girlanden und Luftballons geschmückt und voll mit schreienden Kindern. Klapptische bogen sich unter dem Gewicht selbst gebackener Kuchen und unter Bergen bunt verpackter Geschenke. Zwei Clowns und eine leicht schäbig wirkende Cinderella mischten sich unter die kleinen Gäste, die allesamt bis oben hin mit Süßigkeiten vollgestopft waren. Bamboozle, das Pony, das Austin schon als Kind besessen hatte, war von der Silver Spur Ranch extra für die Geburtstagsparty hierher gebracht worden. Mit engelsgleicher Gelassenheit ließ es die Kinder auf sich reiten.

Ohne das Pferd aus den Augen zu lassen, betrachtete Tate seine Töchter, die an diesem sonnigen Junimorgen um 7 Uhr 52 sechs Jahre alt geworden waren. Er wusste dieses Glück nach all den Schwierigkeiten, die das Schicksal für ihn bereitgehalten hatte, sehr zu schätzen. Die Mädchen waren fast zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen und hatten zusammen keine drei Kilo gewogen. Es war keineswegs sicher gewesen, dass sie überleben würden. Obwohl die beiden zweieiige Zwillinge waren, sahen sie sich so ähnlich, dass fremde Leute sie meistens für eineiige Zwillinge hielten. Beide hatten die auffallend blauen Augen der McKettricks geerbt. Ihr langes Haar war fast schwarz – genau wie das von ihm und ihrer Mutter Cheryl. Mittlerweile waren seine Mädchen gottlob gesund, dennoch war Tate ständig um sie besorgt. Sie wirkten so zerbrechlich auf ihn, so schmal mit ihren langen, dünnen Beinen. Und Ava trug eine Brille und ein Hörgerät, das alles andere als unsichtbar war.

Cheryl riss Tate aus seinen Gedanken, indem sie ihn mit einem Klemmbrett in die Rippen stieß. Sie hatte ihr hüftlanges Haar heute zu einem Zopf geflochten und im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. „Unterschreib das“, verlangte sie mit gedämpfter Stimme.

Tate hatte sich geschworen, dass er höflich zu seiner Exfrau sein würde. Den Zwillingen zuliebe. Während er Cheryl in ihre grünen Augen schaute – sie war früher Schönheitskönigin gewesen –, fragte er sich, was er an jenem Abend, als sie sich kennengelernt hatten, wohl getrunken hatte.

So toll Cheryl auch aussah – sie war einfach nicht sein Typ und war es nie gewesen.

Er warf einen Blick auf das Blatt Papier auf dem Klemmbrett und runzelte die Stirn. Dann las er sich den in Juristenjargon verfassten Text genauer durch. Es war im Grunde genommen eine Einverständniserklärung, die Audrey und Ava erlaubte, an einer Sache namens „Miss Elfe“ teilzunehmen, einem Schönheitswettbewerb für kleine Mädchen. Er fand zu Schulbeginn im Blue River Country Club statt. Gemäß der Sorgerechtsvereinbarung brauchte Cheryl seine Zustimmung für alle außerschulischen Veranstaltungen, an denen die Kinder teilnahmen. Es hatte ihn seinerzeit viel gekostet, Cheryl so weit zu bringen, diese Vereinbarung zu unterschreiben.

„Nein“, entgegnete er lapidar und steckte sich das Klemmbrett unter den Arm, da Cheryl nicht so aussah, als würde sie es wieder an sich nehmen wollen.

Die ehemalige Mrs McKettrick, die wieder ihren Mädchennamen Darbrey angenommen hatte, verdrehte die Augen und strich sich über ihre elegante Frisur. „Um Himmels willen“, jammerte sie, obwohl man ihr zugutehalten musste, dass sie dabei nicht laut wurde. „Es ist nur eine harmlose kleine Misswahl, bei der Geld für den neuen Tennisplatz im städtischen Freizeitzentrum gesammelt wird …“

Vor seinem geistigen Auge sah Tate die beunruhigenden Szenen aus Fernsehbeiträgen vor sich, in denen Kinder mit falschen Wimpern, Rouge und Lippenstift wie Showgirls in Las Vegas auf irgendeiner Bühne posierten. Er beugte sich zu Cheryl hinüber und sagte mit ebenfalls gesenkter Stimme: „Sie sind sechs, Cheryl. Lass sie Kinder sein, solange sie es noch können.“

Seine ehemalige Frau verschränkte ihre gebräunten, durch Training im Fitnesscenter perfekt modellierten Arme. Sie sah gut aus in ihrem teuren narzissengelben Sommerkleid, doch das böse Funkeln in ihren Augen verdarb den Effekt. „Ich habe ab meinem fünften Lebensjahr an Schönheitswettbewerben teilgenommen“, erwiderte sie kurz angebunden, „und es hat mir nicht geschadet.“ Als sie – zu spät – merkte, dass sie gerade in ein emotionales Fettnäpfchen getreten war, schnaubte sie leise.

„Darüber könnte man streiten“, sagte Tate gedehnt. Da ein paar Mütter und Kindermädchen gerade zu ihnen herübersahen, zwang er sich zu einem Lächeln. Sie hatten auch so schon für genügend Tratsch und Klatsch gesorgt.

Cheryl errötete und spielte mit einem eleganten goldenen Ohrring. „Mistkerl“, zischte sie. „Warum musst du bei solchen Dingen immer so verdammt dickköpfig sein?“

Er lachte und hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans. Dann stemmte er seine Absätze ein wenig in den Boden, um zu demonstrieren, dass er auf seinem Standpunkt zu beharren gedachte. „Wenn andere Leute ihre Mädchen Miss Tausendschön spielen lassen, ist das deren Sache. Vielleicht ist es ja ein harmloser Spaß, aber meine Kinder werden da nicht mitmachen. Zumindest nicht, bis sie alt genug sind, selbstständig zu entscheiden, ob sie es wollen oder nicht. Aber wenn es so weit ist, hoffe ich, dass Audrey und Ava mehr im Kopf haben als nur Make-up-Tipps und die kosmetischen Verwendungsmöglichkeiten von Klebeband.“

Cheryls Augen funkelten. Sie sah so aus, als wollte sie ihn rücklings in den Zierteich mit den Kois stoßen. Oder ihm das Klemmbrett unter seinem Arm wegreißen und ihm damit auf den Kopf schlagen. Sie tat keines von beidem. Cheryl wollte ebenso wenig wie Tate, dass der Streit eskalierte – wenn auch aus anderen Gründen als er. Tate war nur eine einzige Sache wichtig: dass seine Töchter ihre Geburtstagsparty genossen. Cheryl wiederum wusste, dass eine Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit sich noch vor Sonnenuntergang vom Country Club bis zu den Frauen des Wohltätigkeitsvereins herumgesprochen haben würde.

Sie musste an ihr Image denken.

Im Gegensatz zu ihr kümmerte es Tate einen feuchten Dreck, was die Leute – seine Töchter und ein paar enge Freunde ausgenommen – dachten.

Da standen sie nun, er und diese Frau, die er vor Jahren geheiratet hatte, und starrten sich wütend an wie zwei Revolverhelden auf einer staubigen Straße. Und dann kam Ava und stellte sich zwischen sie.

„Nicht streiten, okay?“, bat sie ängstlich. Die heiße texanische Sonne spiegelte sich in den verschmierten Gläsern ihrer Brille. „Es ist unser Geburtstag, schon vergessen?“

Tate spürte ein heißes Kribbeln im Nacken: Scham. So viel zu dem Vorsatz von Mommy und Daddy, ihre Gefechte nicht vor den Kindern auszutragen.

Boshaft lächelte Cheryl und legte Ava eine manikürte Hand auf die Schulter, die bis auf den Spaghettiträger des Kleides nackt war. Das Kind hatte eine Miniaturausgabe des Outfits seiner Mutter an. Audrey trug das gleiche Kleid, nur in Blau.

„Euer Daddy“, sagte Cheryl in süßlichem Ton zu Ava, „will nicht, dass du und Audrey an dem Schönheitswettbewerb teilnehmt. Ich habe gerade versucht, ihn umzustimmen.“

Aber ohne Erfolg, dachte Tate und zwang sich, die angespannten Muskeln seines Kiefers zu lockern. Ava zuliebe versuchte er zu lächeln, doch es wollte nicht recht gelingen.

„Misswahlen sind ohnehin doof“, stellte Ava fest.

Plötzlich tauchte auch Audrey auf. Offenbar fühlte sie sich wie magisch angezogen, wenn es anderer Meinung zu sein galt. „Nein, sind sie nicht!“, protestierte sie gewohnt energisch. „Misswahlen sind eine gute Gelegenheit, Selbstvertrauen zu gewinnen und neue Freundinnen kennenzulernen. Und wenn man gewinnt, kriegt man eine Schleife, einen Pokal und ein Diadem.“

„Wie ich sehe, hast du die beiden schon ganz auf deine Linie gebracht“, wandte Tate sich an Cheryl.

Das Lächeln, mit dem Cheryl ihn bedachte, war ebenso giftig wie blendend. Er hatte ein Vermögen für diese perlweißen Zähne ausgegeben. „Halt die Klappe, Tate“, zischte sie.

Ava, die ein feines Gespür für die Stimmungen ihrer Eltern hatte, begann zu weinen. Das leise Schluchzen zerriss Tate fast das Herz. „Wir werden nur ein einziges Mal sechs“, sagte sie. „Und alle gucken schon her.“

„Gott sei Dank werden wir nur ein Mal sechs“, warf Audrey altklug ein und verschränkte die Arme auf Cheryl-Art. „Ich wäre lieber vierzig.“

Tate bückte sich, nahm Ava in den Arm und zog Audrey mit der freien Hand sanft an ihrem langen Zopf. Als Ava ihr Gesicht an seine Schulter schmiegte, verrutschte ihre Brille. Er spürte, wie ihre Tränen und ein bisschen Schnodder aus ihrem Näschen sein hellblaues Hemd nass machten.

„Vierzig?“, sagte sie mit erstickter Stimme. „So alt ist ja nicht mal Daddy!“

„Du bist so ein Baby“, antwortete Audrey.

„Genug jetzt“, ermahnte Tate die Kinder. Doch es war Cheryl, die er dabei ansah. „Wie lange dauert der Trubel hier eigentlich noch?“

Die Mädchen hatten ihre Geschenke ausgepackt, außer den Torten alles Essbare verschlungen und alle Partyspiele absolviert. Auf dieser Feier hatte es Preise zu gewinnen gegeben, die man eher bei Quizshows im Fernsehen erwarten würde. Was also gab es hier noch zu tun?

„Warum könnt ihr nicht einfach aufhören zu streiten“, platzte es aus Ava heraus.

„Wir streiten nicht, Liebling“, erwiderte Cheryl leise, bevor sie ihre neugierig guckenden Freundinnen und die Kindermädchen mit einem liebenswürdigen Lächeln bedachte. „Und hör auf zu jammern, Ava. Das gehört sich nicht für eine junge Dame.“

Ava ignorierte die Bemerkung ihrer Mutter. „Können wir auf die Ranch mitkommen, Daddy?“, bettelte sie weinerlich. „Dort gefällt es mir besser, weil nie gestritten wird.“

„Mir auch“, stimmte Tate zu. Er war an der Reihe, die Kinder zu nehmen, und er hatte sich schon seit ihrem letzten Besuch darauf gefreut. Schlimm war bloß, sie jedes Mal wieder zurückzugeben.

„Ach, auf der Ranch wird nie gestritten?“, schaltete Audrey sich ein. Sie klang viel zu gelangweilt und zu altklug für eine Sechsjährige. Ja, sie ist tatsächlich wie geschaffen für die Wahl zur „Miss Elfe“, dachte Tate voller Bitterkeit. Her mit der Wimperntusche und so viel Haarspray, dass es für ein neues Loch in der Ozonschicht reichte. Nicht zu vergessen die Federboas und die Netzstrümpfe.

Audrey holte Luft und redete einfach weiter. „Anscheinend erinnerst du dich nicht mehr an den Tag, als Onkel Austin aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen ist. Damals, als dieser Bulle ihn so übel zugerichtet hat. Es war der Tag, bevor er in die Rehaklinik gefahren ist. Hast du schon vergessen, wie er zu Daddy und Onkel Garrett gesagt hat, dass sie seinen Teil des Hauses nicht betreten dürfen? Sonst würden sie eine Ladung Schrot in den Bauch kriegen.“

Triumphierend zog Cheryl eine Augenbraue hoch. Trotz ihrer Ländereien, trotz der Rinder, der Öl-Aktien und des ganzen Geldes waren die McKettricks doch nur ein Haufen ungehobelter texanischer Bauern, fand sie. Sie selbst war als behütetes Einzelkind in einem Wolkenkratzer in der Park Avenue aufgewachsen. Und ihre Mutter war immerhin die Erbin eines sagenhaften, aber rapide dahinschwindenden Vermögens gewesen. Ihr Vater, ein berühmter Schriftsteller, hatte Reiseerzählungen verfasst.

Lieber verschweigen sollte man allerdings, dass die gute alte Mom Koks geschnupft und mit jedem männlichen Wesen geschlafen hatte, das ihr über den Weg gelaufen war. Auch darüber, dass Dad den Rest von Moms Vermögen und dann auch noch sein überraschend geringes Honorar als neuer Ernest Hemingway verjubelt hatte, breitete man besser den Mantel des Schweigens.

Cheryl war nie über die Schande hinweggekommen, dass sie als Kellnerin jobben und einen Studentenkredit aufnehmen musste, um sich das College und ihr Jura-Studium zu finanzieren.

„Ich frage mich, was mein Anwalt wohl sagen würde“, begann Cheryl, „wenn ich ihm sage, dass die Kinder auf der Silver Spur Ranch von Waffen umgeben sind.“ Tate konnte nicht bestreiten, dass es Waffen auf der Ranch gab. Sie waren wegen der Schlangen und der anderen Gefahren der Prärie unverzichtbar. Die Behauptung, die Mädchen wären „von Waffen umgeben“ war jedoch sehr weit hergeholt. Sämtliche Gewehre und Pistolen wurden in einem der Safes im Haus aufbewahrt. Außerdem wurde die Zahlenkombination des Tresors regelmäßig geändert.

„Ich frage mich, was meiner sagen würde“, konterte Tate, der sein falsches Lächeln nur mehr mühsam aufrechterhalten konnte, „wenn er wüsste, was du diese Woche vorhast.“

„Hört auf“, bettelte Ava.

Tate seufzte, gab seiner Tochter einen schnellen Kuss auf die Stirn und stellte sie wieder auf den Boden. „Entschuldige, mein Schatz“, sagte er. „Und jetzt verabschiede dich von deinen Freundinnen und Freunden und vergiss nicht, dich zu bedanken. Die Party ist vorbei.“

„Aber sie haben ja noch nicht einmal das Lied gesungen, das ich mit ihnen einstudiert habe“, protestierte Cheryl.

Ava lehnte sich an Tates Hüfte. „Wir sind ganz schlechte Sängerinnen“, vertraute sie ihm an.

Zu Tates Überraschung war es Audrey, die Unternehmungslustigste der Familie, die sich nun auf dem Absatz ihrer Sandale zur Gästeschar umdrehte und fröhlich verkündete: „Ihr könnt jetzt alle nach Hause gehen. Mein Dad sagt, die Party ist vorbei.“

Cheryl verzog peinlich berührt das Gesicht.

Die Kinder – und das Pony – wirkten erleichtert. Ebenso die Kindermädchen, die laut Cheryl korrekterweise eigentlich „Aupair-Mädchen“ hießen. Die Mütter versuchten, ihr schadenfrohes Grinsen zu verbergen – mit unterschiedlichem Erfolg. Tate kannte viele von ihnen seit dem Kindergarten. Einige hatte er auf der Highschool als Freundinnen gehabt. Und zwar immer dann, wenn er und Libby Remington wieder einmal Schluss gemacht hatten, was sehr oft der Fall gewesen war. Libby, seine große Jugendliebe. Wenn nicht sogar die Liebe seines Lebens.

„Die Mädchen sind müde“, erklärte Cheryl mit gespielter, aber überzeugender Ehrlichkeit. „Die ganze Aufregung …“

„Dürfen wir reiten, wenn wir auf der Ranch sind?“, rief Audrey vom anderen Ende des Gartens herüber. „Dürfen wir im Pool schwimmen?“

Tate versuchte, sich zusammenzureißen, um über diesen Beweis, wie „müde“ seine Töchter waren, nicht zu schmunzeln. Doch es war schwer.

Ava wich nicht von seiner Seite. Sie hatte nun die Hände um seine Taille geschlungen.

„Ihre Koffer“, sagte Cheryl schnippisch, „sind im Flur.“ „Komm, bringen wir Bamboozle in den Anhänger“, meinte Tate zu Ava und befreite sich behutsam aus ihrer Umarmung. „Dann holen wir euer Zeug und fahren auf die Ranch.“

Ava ließ Tate los, ging zum Pony und nahm es am Halfter. Dann wartete sie geduldig, bis sie das in die Jahre gekommene Tier zu dem Pferdeanhänger von Tates Geländewagen führen durfte. Audrey war auf der Suche nach irgendetwas im Haus verschwunden.

Kurz darauf steckte sie ihren Kopf durch die Verandatür, die einen Spalt offen stand. „Können wir auf dem Weg zur Ranch beim Perk Up anhalten, Dad?“, erkundigte sie sich völlig unbeeindruckt davon, dass der Garten voller Gäste war, die gerade hinauskomplimentiert worden waren. „Wegen dieser Orangen-Smoothie-Dinger, die wir letztes Mal gekriegt haben?“

Tate schmunzelte. „Klar.“ Bei dem Gedanken, in Libbys Café einen Zwischenstopp einzulegen, spürte er ein nervöses Flattern im Bauch. Er war letztens nur deshalb dort gewesen, weil er gewusst hatte, dass Libby weggefahren war und ihre Schwester Julie den Laden schmiss.

Was lächerlich war. Sie schafften es seit Jahren, einander aus dem Weg zu gehen. Kein leichtes Unterfangen in einer so kleinen Stadt. Es war sogar ziemlich anstrengend.

„Genau das, was sie brauchen – noch mehr Zucker“, grummelte Cheryl und ging kopfschüttelnd weg, wobei sie die Arme noch ein wenig fester vor der Brust verschränkte.

Tate sagte nichts dazu. Er war nicht derjenige, der den ganzen Nachmittag Kuchen, Eis und Früchtepunsch in rauen Mengen serviert hatte. Cheryl ging weiter.

Tate und Ava führten das Pony in den Pferdeanhänger, der –

samt dem Geländewagen – mindestens drei Parkplätze auf der schattigen Straße vor Cheryls Anwesen beanspruchte. Tate hatte ihr das Haus gekauft und damit einen Teil – einen kleinen Teil – der Scheidungsvereinbarung erfüllt.

„Boozle wird es auf der Fahrt vielleicht langweilig, so ganz allein.“ Ava stand mit sorgenvoller Miene neben dem Pony, das gerade Wasser aus einem Eimer schlabberte. „Vielleicht sollte ich hier bei ihm im Anhänger mitfahren, damit er ein bisschen Gesellschaft hat.“

„Keine Chance“, antwortete Tate freundlich und gab eine Portion Heu in die Futterschüssel, damit das Tier auf der Heimfahrt etwas zu fressen hatte. „Zu gefährlich.“

Ava rückte ihre Brille zurecht. „Audrey möchte wirklich gern an dieser Misswahl teilnehmen“, sagte sie leise. „Sie wird noch ewig meckern, weil du es verboten hast.“

Tate unterdrückte ein Grinsen. „Ich glaube, mit ein bisschen Meckern kann ich schon umgehen“, erwiderte er fröhlich. „Und jetzt holen wir euer Zeug und sehen zu, dass wir von hier wegkommen, meine Kleine.“

„Ich würde wahrscheinlich ohnehin nicht gewinnen“, überlegte Ava laut. Es klang traurig. Tate erstarrte.

„Was gewinnen?“, fragte er.

Ava kicherte, doch es klang gezwungen. „Die Misswahl, Dad.“

Tate hatte einen Kloß im Hals. Er lächelte trotzdem. „Aber natürlich würdest du gewinnen“, widersprach er. „Und das ist einer der Gründe, warum ich euch beide nicht mitmachen lasse. Überleg doch mal, wie sich die anderen kleinen Mädchen dann fühlen würden.“

„Audrey könnte Miss Elfe werden“, sagte Ava nachdenklich. Sie wirkte in dem dunklen Anhänger plötzlich sehr klein und zerbrechlich. „Sie kann den Tambourstab schwingen und alles. Ich lasse meinen Stock immer fallen.“

„Audrey nimmt nicht teil“, erinnerte Tate sie. Bamboozle stand zwischen ihm und seiner Tochter. Er nahm dem Pony den Sattel und die Satteldecke ab und strich ihm mit der Hand über den verschwitzten Rücken. „Sie wird sich einfach damit begnügen müssen, Miss McKettrick zu sein. Zumindest für die absehbare Zukunft.“

Ava kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Glaubst du, dass ich hübsch sein werde, wenn ich groß bin, Dad?“

Tate ging in den hinteren Teil des Anhängers und sprang hinaus. Dann drehte er sich um und breitete die Arme für Ava aus, obwohl sie über die Rampe hätte hinuntergehen können. „Nein“, antwortete er, während sie auf ihn zukam. „Ich glaube, du wirst genau so schön sein, wie du jetzt bist.“

Ava fühlte sich federleicht an, als er sie auffing und dann auf den Boden stellte. Es gab ihm einen Stich ins Herz. War es seine Schuld, dass die Mädchen zu früh auf die Welt gekommen waren? Hätte er irgendetwas tun können, um ihnen all die Schwierigkeiten zu ersparen, die sie als Babys überstehen mussten?

„Das sagst du nur, weil du mein Dad bist.“

„Ich sage es, weil es wahr ist.“

Ava trat ein paar Schritte zurück, als er die Rampe in den Anhänger schob, die Tür zumachte und verriegelte. „Mommy sagt, man kann gar nicht früh genug damit anfangen, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass man irgendwann zur Frau wird“, erklärte sie keck. „Dinge, die wir jetzt tun, könnten sich auf unser gesamtes späteres Leben auswirken, weißt du.“

Tate blieb mit dem Rücken zu seiner Tochter stehen, damit sie nicht sah, wie zornig er war. Dann erwiderte er so gelassen wie möglich: „Konzentrier dich einfach auf das, was jetzt ist, okay? ‚Zur Frau‘ werdet ihr nämlich ganz von selbst.“

War es nicht erst gestern gewesen, dass die Zwillinge Babys gewesen waren und im Gegensatz zu den meisten Neugeborenen nur gepiepst statt gebrüllt und in ihrem Brutkasten im Krankenhaus in Houston an Schläuchen und Drähten gehangen hatten? Und jetzt waren sie plötzlich sechs. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, werde ich sie auf ihrer Hochzeit zum Altar führen, dachte Tate bestürzt.

Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Plötzlich sehnte er sich sehr danach, zurück auf die Ranch zu kommen und ausgebeulte Jeans anzuziehen, die niemals ein Bügeleisen zu Gesicht bekommen hatten. Sehnte sich danach, das schicke Hemd auszuziehen, das so neu und steif war, dass es seine Haut fast wund scheuerte.

Auf der Ranch konnte er atmen. Allerdings hatte er schon ernsthaft überlegt, von dem Herrenhaus hinüber in die alte Baracke zu ziehen oder in einen der Trailer unten an der Flussbiegung.

Mütter und Kindermädchen gingen an ihm vorbei und zogen quengelnde Kinder zu ihren Autos und Minivans. Ein paar Frauen unterhielten sich kurz mit Tate – die meisten von ihnen in herzlichem Ton –, während ein paar andere Ava mit gesenkter Stimme alles Gute zum Geburtstag wünschten und ihn völlig ignorierten.

Tate war es nicht nach Small Talk, aber er blieb einigermaßen freundlich. Wenn jemand das Wort an ihn richtete, antwortete er aus Prinzip.

Er wurde durch ein kratzendes Geräusch abgelenkt. Audrey zerrte ihren Trolley über den Gartenweg. Er ging zu ihr, nahm ihr das Gepäckstück ab und verstaute es auf dem Beifahrersitz, wo früher immer sein Hund Crockett gesessen hatte. Crockett war vor über einem Jahr an Altersschwäche gestorben, doch Tate vergaß manchmal immer noch, dass er nicht mehr da war. Hin und wieder stand er neben der offenen Wagentür und wartete darauf, seinen vierbeinigen Freund ins Auto zu heben.

„Hast du deine Sachen auch gepackt?“, fragte er Ava, als sie gemeinsam mit Audrey auf die Rückbank kletterte. Sie hatten beide Kindersitze mit speziellen Sicherheitsgurten.

Ava schüttelte den Kopf. „Ich habe jede Menge Klamotten auf der Ranch.“ Eine ihrer rosa Haarspangen war ihr aus dem zurückgesteckten Pony gefallen, und ihr Zopf löste sich langsam auf. „Los, fahren wir, bevor Mom uns zurückholt und wir singen müssen.“

Tate lachte, ging um die Motorhaube des Wagens herum und setzte sich hinters Lenkrad.

„Beauty-Shop-Betsy“, sagte Audrey spöttisch. „Was hat sich Jeffreys Mom dabei gedacht, uns Puppenköpfe mit Lockenwicklern zu kaufen?“ Sie hatte schon als Zweijährige wie eine Erwachsene geredet.

„Hey“, ermahnte Tate sie, während er den Motor startete. Dann wartete er, bis sich der Stau, den die wegfahrenden Minivans und Volvos verursachten, einigermaßen aufgelöst hatte. Oh Mann, wann hatte es in Blue River – offizielle Einwohnerzahl: 8.472 – jemals ein derartiges Verkehrschaos gegeben? „Wenn jemand sich die Mühe macht, ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen, solltest du dankbar sein.“

„Mom hat gesagt, dass wir das Zeug, das wir nicht mögen, umtauschen können“, ließ Audrey ihn wissen. Ihr Ton war ein bisschen patzig. „Alle haben den Geschenken die Rechnungen beigelegt.“

Tate fand, dass es allerhöchste Zeit war, das Thema zu wechseln. „Wie wär’s jetzt mit ein paar Orangen-Smoothies?“

Tate McKettrick, dachte Libby Remington, die zusah, wie sein Geländewagen samt Pferdeanhänger vor ihrem Café hielt und Tate zielstrebig zur Tür marschierte.

Es beunruhigte sie, dass ihr Herz nach all der Zeit bei seinem Anblick immer noch flatterte und sie ein nervöses Kribbeln im Bauch spürte. Zum Teufel mit diesem Mann mit den dunklen, etwas zu langen Haaren, den dunkelblauen Augen und diesem selbstbewussten, lässigen Gang. Er bewegte sich so geschmeidig, als hätte er sich die Hüftgelenke geschmiert.

Obwohl Blue River schon fast neuntausend Einwohner hatte, war das Städtchen nun mal keine Metropole. Und das bedeutete, dass sie und Tate sich gelegentlich über den Weg liefen. Jedes Mal, wenn das der Fall war, nickten sie sich kurz zu und gingen dann rasch in verschiedene Richtungen. Absichtlich allerdings begegneten sie einander nie.

Libby war nahe dran, das „Geöffnet“-Schild an der Tür umzudrehen. In der Hoffnung, dass er vielleicht nur eine Art Fata Morgana war, ein Produkt ihrer allzu lebhaften Fantasie, schloss sie einen Moment die Augen.

Er war natürlich keine Fata Morgana.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand er schon vor der Glastür und guckte grinsend durch das Loch im „P“ des Schriftzugs Perk Up herein.

Als ein McKettrick, dessen Familie für hiesige Verhältnisse einen beachtlichen Stammbaum vorweisen konnte, war Tate daran gewöhnt zu bekommen, was er wollte. Inklusive Bedienung an einem Samstagnachmittag, wenn das Café früh schloss.

Libby seufzte. Dann schob sie den Riegel, mit dem sie die Tür bereits abgeschlossen hatte, wieder auf und öffnete.

„Zwei Orangen-Smoothies“, sagte er ohne Einleitung. „Zum Mitnehmen.“

Libby guckte an ihm vorbei zu seinem coolen Geländewagen und sah seine Zwillingstöchter auf der Rückbank. Ein alter Schmerz meldete sich. Einer, den zum Verstummen zu bringen ein hartes Stück Arbeit gewesen war. Seit sie sich in der zweiten Klasse in Tate verguckt hatte, hatte sie geplant, ihn zu heiraten, sobald sie beide erwachsen waren. Und sie war sich total sicher gewesen, dass sie diejenige sein würde, die seine Kinder zur Welt brachte.

„Wo ist Crockett?“, fragte sie automatisch.

Tates geradezu unerhört blaue Augen wirkten plötzlich traurig. „Ich musste ihn vor einer Weile einschläfern lassen“, antwortete er. „Er war ziemlich alt und zum Schluss auch krank.“

„Das tut mir leid.“ Libby tat es wirklich leid. Um den Hund. „Danke.“

Sie trat – wider besseren Wissens – einen Schritt zurück, damit Tate eintreten konnte. „Ich habe gerade zwei Mischlingshunde zur Pflege, weil das Tierheim voll ist. Möchtest du einen? Oder noch besser alle beide?“

Tate schüttelte den Kopf. Ein Sonnenstrahl fiel auf sein tiefschwarzes Haar, das frisch gekämmt aussah. „Nur zwei Smoothies. Orange. Mit wenig Zucker, wenn es geht.“

Libby ging hinter die Theke. Sie tat es weniger deshalb, um die Drinks zu mixen, die er bestellt hatte, sondern eher, weil sie eine feste Barriere zwischen sich und Tate haben wollte. Ihr Blick wanderte wieder zu den Kindern, die im Wagen warteten. Sie sahen beide aus wie ihr Vater. „Sonst noch etwas?“

„Nein.“ Tate holte seine zerbeulte Brieftasche heraus. „Wie viel?“

Libby nannte ihm die Summe für zwei Orangen-Smoothies, und er legte das Geld auf die Theke. Am Stadtrand gab es mindestens drei Restaurants, wo man mit dem Auto bequem stehen bleiben konnte; Tate war auf dem Weg von und zur Silver Spur Ranch oft genug am Perk Up vorbeigekommen. Warum also war er heute vor ihrem Café stehen geblieben? Hier, an der schmalen Hauptstraße von Blue River – mit einem Pferdeanhänger an seinem Wagen, diesem riesigen Phallussymbol?

„Bist du sicher, dass du für dich selbst nichts möchtest?“, fragte sie wie nebenbei. Sofort wünschte sie, sie hätte die Klappe gehalten.

Tate lächelte schief. Er roch nach an der Sonne getrockneter Wäsche, nach Aftershave und nach Mann. Seine Augen blitzten frech.

Seine Antwort allerdings war völlig unzweideutig. „Sie haben Geburtstag“, erklärte er und zuckte mit den Schultern. Sein blaues Hemd stand am Hals offen, und Libby konnte zu viel – und doch wieder nicht genug – von seiner Brust sehen.

Libby füllte das Getränk aus einem Krug in biologisch abbaubare Becher, verschloss sie mit zwei Deckeln und stellte sie neben die Kasse. „Dann könntest du ihnen ja einen Hund schenken. Oder zwei“, sagte sie mit gespielter Gelassenheit. Tate so nahe zu sein brachte sie ganz durcheinander. Aber vielleicht merkte er es ja nicht. „Da sie ja Geburtstag haben.“

„Ihre Mutter würde einen Anfall kriegen.“ Er griff nach den Bechern. Seine Hände waren kräftig und schwielig von der Rancharbeit. Trotz all des Geldes, das die McKettricks hatten, scheute Tate sich nicht, in ein Schlammloch zu waten, um eine Kuh zu befreien, Zaunpfosten in den Boden zu schlagen oder Ställe auszumisten.

Das war einer von vielen Gründen, warum ihn die Leute hier so gern mochten und bereitwillig über die mittlerweile stillgelegten Ölquellen, das lächerlich große Haus und über viertausend Hektar erstklassiges Weideland hinwegsahen. Weideland mit Quellen, Bächen und sogar einem Fluss.

Tate war einer von ihnen.

Aber die Leute in Blue River, die ihn so mochten, waren ja auch nicht von ihm verlassen worden, als er nur ein paar Monate vor Beginn seines Jurastudiums eine andere Frau geschwängert hatte.

Nein, das war ihr passiert.

Sie merkte, dass er auf ihre Antwort auf seine Bemerkung über seine Exfrau wartete. Ihre Mutter würde einen Anfall kriegen.

Und das wollen wir doch nicht, dachte Libby und presste die Lippen aufeinander.

„Das Eis in den Smoothies schmilzt“, sagte sie schließlich. Übersetzung: Verschwinde. Es tut weh, dich anzusehen. Es tut weh, mich daran zu erinnern, wie es früher zwischen uns war, bevor du eine andere abgeschleppt hast. Eine, die du nicht mal geliebt hast.

Wieder schmunzelte Tate. Aber sein Blick wirkte traurig. Dann drehte er sich zum Gehen um. „Vielleicht kommen wir ja bei dir zu Hause vorbei und schauen uns die Hunde mal an. Würde dir morgen passen?“

Er war nach der Geburt der Zwillinge weniger als ein Jahr bei Anwältin Cheryl geblieben. Sobald es den Babys gesundheitlich besser gegangen war und sie sich gut entwickelt hatten, hatte er für Cheryl und seine zwei Töchter die zweistöckige Kolonialvilla in der Oak Street gekauft.

Monatelang hatten sich die Leute darüber das Maul zerrissen.

„Das passt gut“, stimmte Libby zu, die gerade ganz in Gedanken versunken gewesen war. Tate McKettrick mochte ihr zwar das Herz gebrochen haben, doch er hatte seinen alten, arthritischen Hund Davy Crockett geliebt. Und sie musste ein gutes Plätzchen für die beiden Welpen finden.

Hildie, ihre schwarze Labradorhündin, war normalerweise die Liebenswürdigkeit in Person. Gegen die zwei tierischen Mitbewohner allerdings hatte sie eine Abneigung. Sie knurrte, wenn sie sich ihrer Futterschüssel näherten, und sie fletschte die Zähne, wenn die beiden sich nachts zu ihr auf die flauschige Decke am Fußende von Libbys Bett kuscheln wollten. Die beiden Kleinen – keiner von beiden älter als ein Jahr – schienen von Hildies wenig erfreuter Reaktion jedes Mal von Neuem verblüfft. Sie wedelten bei jedem Konflikt mit der Hündin unsicher mit dem Schwanz, um sich gleich darauf neuen Ärger mit ihr einzuhandeln.

Auf der Silver Spur Ranch, wo sie jede Menge Platz zum Herumtollen hätten, würden sie glücklich sein, dachte Libby.

Der Hoffnungsschimmer, der eben aufgeblitzt war, trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen.

„Um sechs?“, fragte sie.

Tate hatte sich gerade einen Becher unter den Arm geklemmt, damit er die Tür öffnen konnte. Er drehte sich um und sah sie erstaunt an. Fast so, als hätte er das Gespräch über die Hunde – wenn nicht sogar Libby selbst – schon vergessen.

„Ich schließe um sechs.“ Libby fächelte sich mit der Preisliste Luft zu, obwohl die gebraucht gekaufte Klimaanlage im hinteren Teil des Cafés heute ausnahmsweise einmal funktionierte. „Das Café“, fügte sie hinzu. „Ich schließe das Café morgen um sechs. Du kannst dann bei mir zu Hause vorbeikommen und dir die Hunde anschauen.“

Tate sah einen Moment lang so aus, als bereute er seinen Vorschlag bereits, seine potenziellen neuen Schützlinge zu treffen. Aber dann lächelte er sein typisches Lächeln, bei dem Libby jedes Mal weiche Knie bekam. „Okay. Wir sehen uns also morgen kurz nach sechs.“

Libby schluckte. Dann nickte sie.

Er ging.

Sie schloss rasch wieder ab, drehte das Türschild um, sodass von draußen „Geschlossen“ zu sehen war, und sah Tate nach, wie er zu seinem Wagen ging. Er war so breitschultrig, so stark und selbstbewusst.

Wie ist es wohl, überlegte Libby, so zu leben, als würde einem die ganze Welt gehören?

Sie drehte sich rasch um. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass Tate sich noch einmal nach ihr umsah, nachdem er den Mädchen die Becher durchs Autofenster gereicht hatte.

Sie nahm die Tageseinnahmen aus der Kasse und steckte die Scheine und Schecks in eine Banktasche. Sie würde sie zu Hause an dem üblichen Platz verstecken und morgen Vormittag während einer der immer häufiger werdenden Geschäftsflauten zur First Cattleman’s Bank bringen.

Das Haus, in dem sie schon ihr ganzes Leben wohnte, befand sich nicht weit entfernt auf der anderen Straßenseite. Hildie und die zwei Hündchen waren im Hof, als Libby zum Gartentor kam. Hildie lag im Schatten des einzigen Baumes, und die Pflegehunde spielten Tauziehen mit Libbys Lieblingsbluse. Das Kleidungsstück musste von der Wäscheleine gefallen oder von ihnen heruntergezogen worden sein.

Als die zwei kleinen Hunde Libby bemerkten, ließen sie die Bluse ins Gras fallen – der Rasen musste wieder einmal dringend gemäht werden – und begrüßten sie begeistert. Libby brachte es nicht übers Herz, mit ihnen zu schimpfen. Außerdem hätten die beiden es ohnehin nicht verstanden.

Während sie sich seufzend bückte, um die Bluse aufzuheben, tätschelte sie den beiden Rabauken den Kopf. „Ihr zwei“, sagte sie liebevoll, „seid sehr, sehr böse Hunde.“

Die zwei Kleinen waren außer sich vor Freude über Libbys Bemerkung. Beide stammten aus demselben Wurf und hatten goldblondes Fell, Schlappohren und große Pfoten. Während Hildie die Szene unbeeindruckt beobachtete, kläfften sie vor Begeisterung, tobten ungestüm durch den Garten und stießen dabei die Wertstofftonne um.

Endlich erhob sich Hildie von ihrem lauschigen Plätzchen unter der Eiche, streckte sich und schlenderte langsam zu ihrem Frauchen.

Libby beugte sich zu ihr hinunter, kraulte sie hinter den Ohren und flüsterte: „Halt durch, mein Mädchen. Mit ein bisschen Glück werden sich die zwei schon morgen Abend auf der Silver Spur Ranch austoben können.“

Hildie wedelte mit dem Schwanz. Ihre Augen glänzten vor Bewunderung und Liebe, als sie zu Libby aufsah.

„Zeit fürs Abendessen“, verkündete Libby ihrer Rasselbande und richtete sich wieder auf. Sie ging zur Hintertür. Die Hunde folgten im Gänsemarsch, wobei Hildie die kleine Kolonne anführte.

Die Bluse war, wie sich nun herausstellte, nicht mehr zu retten. Libby verzog das Gesicht und stopfte sie in einen Müllsack. Der blaue Stoff hatte die Farbe ihrer Augen vorteilhaft zur Geltung gebracht und gut zu ihrem goldbraunen Haar gepasst.

Nimm’s leicht, es gibt Schlimmeres, versuchte sie sich zu trösten. Es stimmte. Ihr Leben war nie ein Zuckerschlecken gewesen – und war es auch zurzeit nicht.

Sie hatte fünfzig Dollar für diese Bluse gezahlt, im Ausverkauf. Die wirtschaftliche Lage hatte sich drastisch verschlechtert, und Libby bekam die Auswirkungen der Krise auch in ihrem Café zu spüren.

Marva war zurück und wurde mit jedem Tag fordernder.

Und als wäre das alles noch nicht genug, gab es da auch noch die zwei Hunde, für die Libby dringend ein gutes Plätzchen finden musste. Sie konnte es sich schlicht und einfach nicht mehr leisten, sie zu behalten. Und sie hatte die beiden schon fast jedem passenden Kandidaten in Blue River angepriesen. Allerdings ohne Erfolg. Nur Jimmy-Roy Holter war ganz scharf darauf gewesen, die beiden zu sich zu nehmen. Doch er hatte vor, sie Killer und Ripper zu nennen. Dazu kam, dass er in einem Wohnwagen hinter dem Haus seiner Mutter inmitten von Schrottautos hauste. Außerdem hatte er Pitbull-Terrier gezüchtet und sie an einer viel befahrenen Landstraße direkt von der Ladefläche seines Pick-ups aus verscherbelt. Und zwar so lange, bis eine Tierschutzorganisation aus Austin ihm das Handwerk gelegt hatte.

Libby wusch sich in der Spüle die Hände, denen man ansah, dass sie viel arbeitete, und wischte sie an ihren Jeans ab. Die Küchenrolle war alle, und sämtliche Geschirrtücher befanden sich in der Wäsche.

Was ein schönes Heim für die Hunde betraf, war Tate McKettrick also ihre einzige Hoffnung. Was bedeutete, dass sie sich mit ihm herumschlagen musste.

Warum hatte sie eigentlich immer so verdammt viel Pech?

2. KAPITEL

Als sie auf der Ranch ankamen, hatten Audrey und Ava sich ausgiebig mit ihren Orangen-Smoothies bekleckert und sich auf der Fahrt auf eine Art und Weise gezankt, die Tate unangenehm an ihre Mutter erinnerte. Sobald er mit dem Geländewagen neben der Scheune stehen geblieben war, hatten sie sich aus den Gurten ihrer Kindersitze befreit und waren aus dem Wagen gesprungen. Es sah so aus, als wollten sie ihren Streit direkt hier auf dem staubigen Boden fortsetzen.

Tate stellte sich zwischen die beiden, bevor die Fäustchen zu fliegen begannen, und räusperte sich geräuschvoll. Als Ältester von drei Brüdern hatte er einige Erfahrung im Schlichten von Streit – obwohl er hin und wieder auch selbst der Anstifter gewesen war. „Ein Schlag“, warnte er seine Töchter, „nur ein einziger, und keine von euch darf reiten oder im Pool schwimmen, solange ihr hier seid.“

„Wie ist es mit treten?“ Audrey stemmte die Hände in die nicht vorhandenen Hüften. „Ist treten erlaubt?“

Tate verkniff sich ein Grinsen. „Treten ist genauso schlimm wie schlagen“, antwortete er. „Die Strafe ist die gleiche.“

Beide Mädchen wirkten enttäuscht. Er nahm an, dass sie – wie alle McKettricks – prinzipiell einem gepflegten Handgemenge nicht abgeneigt waren. Wenn man es ihnen nicht an ihrem Gesicht, der Augen- und der Haarfarbe angesehen hätte, hätte Tate es allein an ihrem Temperament erkannt.

„Los, bringen wir Bamboozle in den Stall und sehen nach, ob die anderen Pferde gut versorgt sind“, schlug er vor, da keine seiner Töchter ein Wort sagte. „Dann könnt ihr duschen – in Badezimmern, die möglichst weit entfernt voneinander sind –, und anschließend springen wir in den Pool.“

„Ich würde lieber Ava vermöbeln“, sagte Audrey.

Ava wurde sofort wieder wütend und stürzte sich auf ihre Schwester. Tate ging erneut gekonnt dazwischen. Wie viele Male hatte er Garrett und Austin auf die gleiche Weise voneinander getrennt, als sie alle noch Kinder gewesen waren?

„Du erwischst mich sowieso nicht.“ Audrey zeigte Ava die Zunge, und der Streit entbrannte von Neuem. Die Mädchen liefen um Tate herum und gingen aufeinander los wie zwei halb verhungerte Katzen, die beide den dicken Kanarienvogel haben wollten.

Tate hatte das Gefühl, als würde er versuchen, einen Schwarm Bienen zurück in den Bienenstock zu scheuchen. Gut möglich, dass es ihm nicht gelungen wäre, die Mädchen voneinander zu trennen, bevor sie einander wehtaten, wenn Garrett nicht aus der Scheune gelaufen und ihm zu Hilfe gekommen wäre.

Er packte Audrey von hinten an der Taille und hob sie hoch. Tate machte das Gleiche mit Ava. Beide Brüder bekamen jede Menge Tritte gegen ihre Knie, Schienbeine und Oberschenkel ab, bevor die Zwillinge endlich Ruhe gaben.

Garretts Augen, die so blau wie die von Tate, Audrey und Ava waren, funkelten amüsiert, als er seinen Bruder über die Köpfe seiner Nichten hinweg ansah. „Na“, sagte er, während die Zwillinge vor Freude, ihn zu sehen, aufkreischten, „das nenne ich aber eine nette Begrüßung. Und das, nachdem ich den ganzen weiten Weg von Austin hierhergekommen bin. Vielleicht sollte ich eure Geburtstagsgeschenke gleich wieder an Neiman Marcus zurückschicken und so tun, als wäre heute ein ganz normaler Tag.“

Tate und Garrett stellten die beiden Mädchen wieder auf ihre sandalenbeschuhten Füße.

Audrey strich sich über ihr zerknittertes Sommerkleid und übers Haar – weibliche Wesen jeden Alters neigten in Garretts Gegenwart zu einer gewissen Eitelkeit – und fragte: „Was hast du uns gekauft, Onkel Garrett?“

Tate fielen die Geschenke des letzten Jahrs ein, und die Muskeln seiner Kinnpartie spannten sich sofort an. Es waren lebensgroße Porzellanpuppen gewesen, die extra von irgendeinem Künstler in Österreich als maßgetreue Nachbildungen der Zwillinge angefertigt worden waren. Tate war froh, dass die Puppen bei Cheryl waren, denn er selbst fand die Dinger, die starr vor sich hin glotzten, gruselig. Er hätte schwören können, dass er sie atmen gesehen hatte.

„Warum geht ihr nicht einfach auf die Veranda hinter der Küche und findet es heraus?“, schlug Garrett geheimnisvoll vor. „Dann wisst ihr, ob es sich auszahlt, euch anständig zu benehmen oder nicht.“

Die Mädchen, die zumindest für den Moment alle Feindseligkeiten vergessen hatten, rannten kreischend zu dem breiten Weg, der um das gigantisch große Haus herumführte.

Was auch immer Garrett für Audrey und Ava gekauft hatte, es würde Tates Geschenk – ein Gartenkrocket-Set von Wal-Mart – vergleichsweise mickrig und wenig originell aussehen lassen.

Nicht, dass er von Vergleichen viel hielt.

„Ich dachte, du wärst in der Hauptstadt und rund um die Uhr damit beschäftigt, es dem Senator recht zu machen.“ Tate sah seinen Bruder von der Seite an.

Garrett lachte leise und schlug ihm ein bisschen zu fest auf die Schulter. „Tut mir leid, dass ich es nicht auf die Party in der Stadt geschafft habe“, sagte er, ohne auf die Bemerkung über seinen Arbeitgeber einzugehen. „Aber immerhin habe ich es hierher geschafft. Trotz Besprechungen, einer Pressekonferenz und mindestens eines drohenden Skandals, den ich geschickt abgewendet habe. Das ist ziemlich gut.“

Tate holte tief Luft und atmete langsam aus. Garrett war trotz allem insgesamt ein großzügiger Onkel und ein guter Bruder, doch für einen McKettrick aus Texas lebte er das falsche Leben. Und es schien ihm nicht einmal bewusst zu sein. „Ich weiß nicht, was mit den beiden los ist.“ Tate fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er fühlte sich selbst von oben bis unten klebrig, obwohl er auf der Fahrt nach Hause seines Wissens nicht in die Nähe der Smoothies gekommen war.

Von der Veranda drüben klangen Freudenschreie herüber, und man hörte, wie Esperanza, die Haushälterin, die seit der Hochzeit von Tates Eltern auf der Ranch arbeitete, sich fröhlich auf Spanisch mit den Zwillingen unterhielt.

„Wird schon werden“, sagte Garrett gelassen. Leicht gesagt für einen Onkel. Für einen Vater hingegen war die Sache nicht so einfach.

„Was zum Teufel hast du ihnen diesmal gekauft?“, fragte Tate und ging in die Richtung, aus der die Begeisterungsschreie kamen. Seine Stimmung verdüsterte sich wieder. Er dachte die ganze Zeit an das verdammte Krocket-Set. „Reinrassige Rennpferde?“

Garrett ging schmunzelnd neben ihm her. Normalerweise fand er es amüsant, wenn Tate sauer war. Aber nur dann, wenn er selbst der Anlass war. Er war kein Fan von Cheryl, das stand fest. „Hm, warum ist mir das bloß nicht eingefallen?“

„Garrett“, warnte Tate, „es ist mein Ernst. Audrey und Ava sind sechs Jahre alt. Sie haben ohnehin schon viel zu viel Spielzeug, und ich versuche, sie nicht wie reiche Erbinnen zu erziehen. Außerdem …“

„Aber sie sind reiche Erbinnen“, erwiderte Garrett, genau wie Tate es – eine Sekunde zu spät – geahnt hatte. „Sie werden alles erben. Ganz abgesehen von ihren Treuhandfonds.“

„Das bedeutet nicht, dass man sie verwöhnen darf, Garrett.“ „Du nimmst alles viel zu ernst“, entgegnete Garrett.

Genau in diesem Moment lief Ava ihnen entgegen. Ihre Brille war verrutscht und ihr schmutziges Gesicht ganz rot vor Aufregung. „Wir haben ein eigenes Schloss gekriegt“, rief sie. „Esperanza hat gesagt, ein paar Männer haben es auf einem Pritschenwagen gebracht und den ganzen Tag gebraucht, um es zusammenzubauen.“

„Himmel“, murmelte Tate.

„Irgendwann nächste Woche kommen noch ein paar Jungs und heben den Burggraben aus“, erklärte Garrett Ava. So, wie er es sagte, klang es, als hätte er ihr ein Puppenkleid versprochen.

„Den Burggraben?“, knurrte Tate. „Das ist doch wohl ein Witz, oder?“

Garrett lachte. Wenn Tate nicht ausgewichen wäre, hätte er ihm wieder kräftig auf die Schulter geschlagen. „Was ist schon ein Schloss ohne Burggraben?“

Ava hüpfte auf ihren dünnen Beinchen vor Begeisterung auf und ab. „Es hat richtige Türme, Dad. Und auf jedem Turm weht eine Fahne. Auf einer steht ‚Audrey‘ und auf der anderen ‚Ava‘! Es gibt Treppen und Zimmer und sogar einen offenen Kamin aus Plastik, der leuchtet, wenn man einen versteckten Schalter umlegt …“

Oh Mann, dachte Tate grimmig. Das Krocket-Set würde der Flop des Jahrhunderts sein. Nie mehr würde er irgendetwas kaufen. Ins Nobelkaufhaus Neiman Marcus hatte er keinen Fuß mehr gesetzt, seit er sechzehn gewesen war. Damals hatte seine Mutter ihn hingeschleppt, um ihm einen Anzug für die Abschlussfeier an der Junior High zu kaufen.

Er hatte es nur über sich ergehen lassen, weil Libby Remington sein Date war und er sie beeindrucken wollte.

Tate zwang sich, seiner Tochter zuzulächeln. Doch der schnelle Blick, mit dem er Garrett bedachte, war ungefähr so freundlich wie eine Ladung Batteriesäure. „Ein Schloss mit Türmen, Flaggen und einem Burggraben“, sagte er gedehnt. „Jedes Kind in Amerika sollte so was haben.“

„Du glaubst, ich habe es übertrieben?“, neckte Garrett ihn. „Austin hat irgendwo einen pensionierten Zirkuselefanten aufgetrieben. Unser Bruder langweilt sich in der Rehaklinik zu Tode und surft die ganze Zeit mit seinem Laptop im Internet. Ich konnte ihm den Elefanten gerade noch ausreden. Glaub mir, es hätte dir viel Schlimmeres passieren können als ein Schloss, großer Bruder.“

Tate hoffte, dass das Ding sich als nicht größer als ein durchschnittliches Puppenhaus entpuppen würde. Er hoffte es bis zuletzt. Bis sie um die letzte Ecke des Hauses gebogen waren und zur Veranda hinter der Küche und zu der viertausend Quadratmeter großen angrenzenden Rasenfläche kamen.

Pech gehabt. Neben dem Schloss sah der Geräteschuppen, in dem Tate den normalen Traktor, mehrere Aufsitzrasenmäher, ein paar Pferdeanhänger und vier Reserve-Pick-ups stehen hatte, plötzlich winzig aus. Das Schloss stand auf Steinplatten und bestand aus plastikähnlichem Material, das wie gemeißelter Stein wirkte. Es war so groß, dass es einen Teil des Himmels verdeckte.

Audrey, die einen spitzen Prinzessinnenhut mit Glitzersternchen, Monden und einer goldenen Troddel aufhatte, winkte fröhlich aus einem der oberen Fenster.

Tate zog eine Augenbraue hoch und drehte sich zu Garrett. „Was? Keine Zugbrücke?“

„Das wäre denn doch zu viel des Guten“, antwortete Garrett mit gespielter Bescheidenheit.

„Meinst du?“, spottete Tate.

Esperanza, die vor Freude strahlte, ging um das monströse Ding herum und begutachtete es von allen Seiten. Mit ihrer flatternden Schürze sah sie dabei aus wie ein dicklicher Vogel mit nur einem Flügel.

Tate wartete, bis Prinzessin Audrey, dicht gefolgt von Ava, aus dem Turm herunterkam und sich Garrett vor lauter Dankbarkeit in die Arme warf. Dann klopfte er ein Mal mit der flachen rechten Hand fest gegen eine Wand des Schlosses.

Das Ding schien stabil zu sein. Doch sicherheitshalber würde er später außen und innen jeden Zentimeter unter die Lupe nehmen.

„Bin ich der Einzige, der das lächerlich findet?“, fragte er. „Ist es nicht ein geradezu obszönes Symbol für übertriebenen Luxus?“

„Das Plastik ist zur Gänze recycelt“, erklärte Garrett stolz. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich selbst auf die Schulter geklopft.

Tate verdrehte die Augen, ließ Garrett, Esperanza und die Mädchen weiter Schloss McKettrick bewundern und ging zum Pferdeanhänger zurück. Nachdem er den braven alten Bamboozle in seine Box gebracht und ihm Heu und etwas Hafer gegeben hatte, ging er hinaus auf die Koppel. Vom Zaun aus betrachtete er die Pferde und Rinder, die auf ihren getrennten Weiden grasten.

Einen Trost gibt es wenigstens, dachte er; Austin hatte den Elefanten nicht geschickt.

Dann hörte er das Brummen eines Motors und drehte sich zur Straße um, die zur Ranch führte. Es war ein Truck, der einen nagelneuen Anhänger hinter sich herzog.

Tates Schläfen begannen, schmerzhaft zu pochen. Vielleicht hatte er die Möglichkeit eines Dickhäuters als Geschenk zu früh als absurd verworfen.

Audrey und Ava, die den Truck ebenfalls gehört hatten, kamen um die Ecke gestürmt. Ihre Troddeln schimmerten im Licht der einbrechenden Dämmerung. Beide Mädchen waren über und über mit dem Glitzerstaub ihrer spitzen Hüte übersät.

Tate und seine Töchter stießen genau in dem Moment zusammen, als der Fahrer aus der Kabine des Trucks kletterte. Der etwas beleibte ältere Mann mit beginnender Glatze grinste breit und nahm mit einer feierlichen, fast schon theatralischen Geste sein Klemmbrett zur Hand.

„Ich suche Miss Audrey und Miss Ava McKettrick“, verkündete er. Tate hätte es nicht gewundert, wenn der Mann nun eine mittelalterliche Schriftrolle entrollt oder in ein langes Horn geblasen hätte, an dem eine Fahne aus Samt baumelte.

Tate war bereits auf dem Weg zu dem Anhänger. Seine Kopfschmerzen wurden zusehends schlimmer.

Irgendwie hatte der Fahrer es trotz seiner stämmigen Statur geschafft, vor Tate beim Anhänger zu sein und sich ihm in den Weg zu stellen. Tate hatte keine Chance, die Tür zu öffnen und einen Blick hineinzuwerfen.

Grundgütiger, dachte er, wenn Austin den Kindern einen Elefanten geschickt hat, dann …

„Entschuldigen Sie, Mr …?“, sagte der Fahrer. Der aufgestickte Schriftzug auf seinem kakifarbenen Hemd verriet, dass er George hieß.

„McKettrick“, antwortete Tate mit zusammengebissenen Zähnen.

„Auf dem Auftrag steht ausdrücklich, dass ich den Inhalt dieses Anhängers nur an die Empfänger liefern darf. Und an niemanden sonst.“

Tate fluchte leise. Dann trat er zurück und bedeutete George mit einer schwungvollen Armbewegung, seines Amtes zu walten.

„Darf man fragen, wer der Auftraggeber ist?“, erkundigte sich Tate mit übertriebener Höflichkeit. „Oder ist diese Information vertraulich?“

George ließ eine Rampe herunter, die er dann hinaufkletterte, um die Rolltür zu öffnen.

Kein Elefant war zu sehen.

Die Spannung stieg. Audrey und Ava hatten sich an Tate geschmiegt und starrten fasziniert auf den Anhänger, während George erneut einen Blick auf sein Klemmbrett warf.

„Hier steht, der Auftraggeber ist ein gewisser A. McKettrick. Es handelt sich um eine Internetbestellung. Das kommt bei uns nicht häufig vor – in Anbetracht der Art der, äh, der Ware.“

Die Zwillinge zappelten vor Aufregung. Esperanza und Garrett hatten sich ebenfalls eingefunden, um dem Spektakel beizuwohnen.

George verschwand im Dunkel des Anhängers. Dann löste ein wohlbekanntes klapperndes Geräusch das Rätsel, ehe zwei Palominoponys auftauchten, deren Fell wie goldene Flammen leuchteten. Ihre Mähnen und Schweife waren cremefarben und so sorgfältig gestriegelt worden, dass sie glänzten. Jedes Tier war gesattelt und gezäumt sowie mit einer pinkfarbenen Schleife von der Größe eines Basketballs geschmückt.

„Verdammt“, murmelte Garrett. „Der Mistkerl hat mich ausgestochen.“

„Ach?“, sagte Tate, nachdem er die Mädchen weggezogen hatte, damit George die Traumpferde ausladen konnte. „Warte, bis du siehst, was ich für sie habe.“

Libby hatte zu Abend gegessen – Salat und Suppe –, sich die Abendnachrichten angesehen und ihre E-Mails gecheckt, die Zeitung aus ihrem Plastikbriefkasten am Gartentor geholt und zwei Ladungen Wäsche gewaschen, als das Telefon klingelte.

Verdammt. Libby hoffte, dass es nicht der Verwalter von Polar Bend war, der einzigen Anlage mit Eigentumswohnungen, die es in der Stadt gab. Wenn er es war, würde er sich darüber beschweren, dass Marva ihre CDs wieder mit voller Lautstärke gespielt und sich geweigert hatte, die Musik leiser zu drehen.

Vor sechs Monaten war ihre Mutter plötzlich in einer Limousine mit Chauffeur in Blue River aufgetaucht und hatte sich in Polar Bend eine Wohnung in bester Lage genommen. Seither hatten Libby und ihre zwei jüngeren Schwestern Julie und Paige jede Menge negative Rückmeldungen über Marvas Verhalten bekommen.

Keine der Schwestern wusste, was genau man in Sachen Marva tun sollte.

Libby hob das Telefon ab und hätte beinahe in den Hörer geschrien, was sie gerade dachte: „Diese Woche bin nicht ich dran, auf sie aufzupassen. Rufen Sie Julie oder Paige an.“ Doch ehe sie Gelegenheit hatte, auch nur „Hallo“ zu sagen, fing Tate schon zu sprechen an.

„Ich brauche die Hunde“, sagte er. Es klang beinahe verschwörerisch. „Heute Abend.“

Keine andere Stimme ging ihr dermaßen durch und durch wie seine.

Libby blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Ich brauche die Hunde“, wiederholte Tate. Dann fügte er nach einer langen Pause hinzu: „Bitte.“ Das Wort hatte ihn vermutlich einiges an Überwindung gekostet.

„Tate, was um alles in der Welt …? Weißt du, wie spät es ist?“ Sie warf vom Flur aus einen schnellen Blick auf die Küchenuhr, doch es war zu finster, um etwas zu erkennen. Nachdem sie vorhin mit einem Korb Handtücher frisch aus dem Wäschetrockner durch die Küche gegangen war, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, das Licht einzuschalten.

„Acht?“

„Oh“, sagte Libby etwas verlegen. Seit sie aus dem Perk Up nach Hause gekommen war, hatten sich die Stunden dermaßen dahingezogen, dass es ihr vorkam, als müsse es nach elf sein.

„Du weißt, dass sie bei mir ein gutes Plätzchen haben“, fuhr Tate fort. „Die Hunde, meine ich.“

Libby unterdrückte ein Seufzen. Die Kleinen lagen aneinandergekuschelt auf dem Flickenteppich im Wohnzimmer und schliefen tief und fest. Bei dem Gedanken, die beiden wirklich wegzugeben, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sie vermissen würde.

„Ja“, antwortete sie, „Ich weiß. Du kannst sie morgen jederzeit abholen. Komm einfach im Café vorbei, dann …“

„Es muss heute Abend sein. Und ideal wäre, wenn du sie … nun ja, wenn du sie herbringen könntest.“

„Ich soll sie zu euch bringen?“

„Hör zu, ich weiß, es ist viel verlangt“, räumte Tate ein. „Aber ich kann es dir im Moment nicht näher erklären. Und von hier weg kann ich auch nicht. Garrett und Esperanza sind zwar beide hier, aber es ist der Geburtstag der Mädchen, und deshalb …“

„Und du willst ihnen die Hunde jetzt doch noch schenken?“

„So ähnlich, ja. Lib, ich weiß, meine Bitte ist eine Zumutung.

Aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du sie jetzt sofort herbringen könntest.“

„Aber du hast sie dir ja noch nicht einmal angesehen …“

„Hunde sind Hunde“, unterbrach Tate sie. „Sie sind alle toll. Und ich nehme an, du hättest sie mir nicht angeboten, wenn sie nicht lieb zu Kindern wären.“

„Normalerweise ist es ja nicht gerade die beste Idee, Tiere zu verschenken, Tate. Der ganze Wirbel und die Aufregung tun weder einem Tier noch dem Kind gut.“ Was redete sie da?

Sie war doch diejenige gewesen, die ihm ursprünglich vorgeschlagen hatte, die Hunde zu nehmen. Und das aus gutem Grund. Die armen Kleinen brauchten genau so ein Zuhause, wie Tate es ihnen geben konnte. Bei ihm hätten sie von allem das Beste. Und was noch wichtiger war: Tate war tierlieb. Das hatte er bei Crockett und vielen anderen Tieren bewiesen.

„Wir reden hier nicht von gefärbten Küken und Häschen zu Ostern, Lib.“ Jetzt war seine Stimme fast schon ein Flüstern.

„Was ist mit Futter und … nun ja, mit allem, was ein Hund so braucht?“

„Wir füttern sie bis morgen mit Rinderhack durch. Dann besorge ich Hundefutter aus dem Laden“, erklärte Tate. „Ich sitze in der Klemme, Lib. Ich brauche deine Hilfe.“

Die Hunde hatten sich vom Flickenteppich erhoben und standen nun Schulter an Schulter in der Tür. Beide hatten die Ohren gespitzt und wedelten mit dem Schwanz. Bei ihrem Anblick wurde Libby weh ums Herz.

„Okay“, hörte sie sich sagen. „Wir sind gleich da. Ich muss sie nur ins Auto verfrachten, dann fahren wir los.“

Tate stieß einen tiefen Seufzer aus. „Großartig. Ich schulde dir einen Gefallen. Einen großen.“

Das kannst du laut sagen, Freundchen, dachte Libby. Wie wär’s, wenn du mir ein neues Herz besorgst. Das Herz, das ich habe, hast du mir ja gebrochen.

Das Telefonat war beendet.

„Ihr werdet jetzt McKettrick-Hunde“, wandte Libby sich an die Kleinen. Dabei schniefte sie ein bisschen. „Das Beste vom Besten. Ihr habt möglicherweise getrennte Schlafzimmer und jeder eine eigene Nanny.“

Die beiden wedelten noch heftiger mit dem Schwanz. Natürlich war es nicht möglich, aber Libby hätte schwören können, dass die beiden wussten, dass sie endlich an einen Ort kommen würden, wo sie zu Hause sein durften.

„Und, hey!“, fügte sie hinzu. „Ihr bekommt sogar Namen.“ Noch heftigeres Schwanzwedeln.

Libby fand ihre Handtasche und – nach wesentlich längerer Suche – auch ihre Autoschlüssel. Da sie gegenüber ihres Cafés wohnte und außer zum Supermarkt überallhin zu Fuß ging, verlegte sie gern mal die Schlüssel.

Falls nun ihr in die Jahre gekommener Chevrolet Impala mit den vielen lackierten Rostflecken ansprang, konnte es losgehen.

„Möchtest du mitkommen?“, fragte sie Hildie, die auf ihrem eigenen Flickenteppich vor der Couch lag.

Hildie gähnte, streckte sich und schlief wieder ein.

„Ich schätze, das ist ein Nein“, stellte Libby fest.

Den zwei Kleinen konnte es nie schnell genug gehen, wenn sie die Autoschlüssel klimpern hörten. Libby wäre auf dem Weg durch die Küche zur Hintertür zweimal fast über sie gestolpert.

Sie verfrachtete ihre zwei „Pflegekinder“ auf die Rückbank ihrer Rostlaube, die in ihrer kleinen Kipptor-Garage im Garten stand. Dann setzte sie sich hinters Steuer, schloss die Augen und schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass der Motor anspringen möge. Schließlich steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn.

Der Motor des Chevrolets heulte beleidigt auf. Der Auspuff spuckte Rauch.

Libby fuhr langsam im Rückwärtsgang auf die Straße, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. So fuhr sie weiter, bis sie am Haus von Polizeichef Brent „The Chief“ Brogan am Ende des Häuserblocks vorbei war. Der Chief hatte sie bereits ein Mal in warnendem Ton auf die Abgasnorm aufmerksam gemacht. Libby wusste, dass ihr Wagen eindeutig nicht besagter Norm entsprach, und hatte deshalb schon zwei Mal einen Termin in der Werkstätte vereinbart. Das Problem war nur, dass sie gezwungen gewesen war, beide Termine abzusagen. Einmal, weil Marva verrückt gespielt hatte und weder Julie noch Paige irgendwo zu finden gewesen waren. Und das andere Mal, weil es im Café einen Wasserrohrbruch gegeben hatte und sie einen Klempner rufen musste. Die Kosten dafür hatten ihr Budget gesprengt.

Ein Strafzettel war das Letzte, was sie brauchen konnte.

Sie erhaschte im Vorbeifahren durch das Wohnzimmerfenster einen Blick auf den Polizeichef. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, und es sah so aus, als spielte er mit seinen Kindern Karten oder ein Brettspiel.

Libby schaltete die Scheinwerfer trotzdem erst ein, als sie zur Hauptstraße kam. Und sie gab erst richtig Gas, als sie die Stadtgrenze passiert hatte. Auch dann warf sie hin und wieder einen Blick in den Rückspiegel. Brent nahm seinen Job ernst.

Aber er war auch einer von Tate McKettricks besten Freunden. Falls er sie zufällig doch in eine illegale Abgaswolke gehüllt wegfahren gesehen hatte, würde sie ihm einfach erklären, dass sie diese beiden Hunde zur Silber Spur Ranch brachte. Und zwar deshalb, weil Tate sie heute Abend wollte.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Tate hatte gesagt, dass er ihr einen Gefallen schuldete. Einen großen. Tja, dann könnte er ihr ja die Probleme mit Brent vom Hals schaffen. Wenn sie denn welche bekäme.

Doch Libby schaffte es ohne etwaige Vorkommnisse bis zur Ranch. Tate musste schon nach ihr Ausschau gehalten haben, denn als sie zum Haus einbog, stand er bereits auf der großen kreisförmigen Auffahrt mit dem riesigen Springbrunnen.

Die Hunde auf der Rückbank gerieten außer Rand und Band, kratzten an der Tür und am Rückfenster und hatten es eilig, ins Freie zu kommen.

Tates Lächeln strahlte in der Dunkelheit.

Er kam zum Auto, öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite und begrüßte die Hunde mit einem Ohrenkraulen und dem Versprechen von Rinderfilet zum Frühstück.

Die Hunde sprangen außer sich vor Begeisterung aus dem Wagen und gebärdeten sich wie zwei Groupies bei einem Rockkonzert, die in den Backstage-Bereich dürfen.

Libby hatte, ehrlich gesagt, zum Abschied mit etwas mehr Pathos gerechnet. Immerhin hatte sie sich mehr als zwei Monate um die beiden Bengel gekümmert. Doch offenbar war sie die Einzige, der die Situation zu schaffen machte.

„Hey, Lib“, sagte Tate genau in dem Moment, als sie vermutete, er würde sie absichtlich ignorieren. „Du hast mir das Leben gerettet. Möchtest du auf ein Stück Geburtstagtorte reinkommen?“

Lib. Es war heute nicht das erste Mal, dass er sie mit ihrem alten Spitznamen anredete. Er hatte sie schon vorhin am Telefon so genannt, als er sie bequatscht hatte, noch heute Abend die Hunde auf die Ranch zu bringen. Ihn allerdings jetzt persönlich und nicht nur am Telefon „Lib“ sagen zu hören, machte sie tieftraurig. Es war ein Gefühl, als hätte sie den letzten Zug, den letzten Bus oder Flug ihres Lebens verpasst und würde nun ihr Dasein allein und verlassen irgendwo in der Wildnis fristen müssen.

„Besser nicht“, sagte sie.

Tate hockte sich hin und widmete den Hunden die Aufmerksamkeit, die sie unaufhörlich einforderten. Sein Gesicht hatte er jedoch Libby zugewandt, die immer noch in ihrer rostigen alten Kiste von Auto saß. Von dem gigantisch hohen Säulenvorbau über der Eingangstür fiel das Licht auf sein Haar. „Warum nicht?“, wollte er wissen.

„Es ist spät, und Hildie ist allein zu Hause.“

„Hildie?“

„Meine Hündin“, erklärte sie.

„Ist sie krank?“

Libby schüttelte den Kopf.

„Alt?“

Erneutes Kopfschütteln.

Sein schiefes Grinsen war so umwerfend, dass man es eigentlich – so wie bei Feuerwaffen üblich – irgendwo registrieren lassen müsste. „Wird sie in deiner Abwesenheit die Vorhänge auffressen? Sich Pizza bestellen oder Zigarren rauchen? Sich im Internet nicht jugendfreie Webseiten angucken?“

Libby lachte. „Nein“, gab sie zu. Früher einmal hatten sie sich so nahegestanden, Tate und sie. Sie hatte seinen Hund Crockett so gut gekannt, dass sie darüber, ihn nicht mehr zu sehen, fast so unglücklich gewesen war wie über die Trennung von seinem Herrchen. Es kam ihr plötzlich merkwürdig und irgendwie falsch vor, dass Tate Hildie nie kennengelernt hatte. „Sie ist ein braver Hund. Sie wird nichts anstellen.“

„Dann komm herein und iss ein Stück Torte.“

Libby sah zur Front des riesigen Hauses hinauf und erinnerte sich an die heimlichen Nachmittage in Tates Bett, besonders an jene im Sommer nach der Highschool. Dann fiel ihr ein, wie – noch viel früher – einmal seine Eltern früher als erwartet von einem Wochenendausflug zurückgekommen waren und sie und Tate nackt im Pool erwischt hatten.

Mrs McKettrick hatte Libby ganz ruhig ein Handtuch gereicht, sie in einen rosa Bademantel aus Frottee gehüllt und sie nach Hause gefahren. Libby hatte während der ganzen Fahrt gezittert, obwohl das Wetter damals sehr heiß gewesen war.

Als Tates Mom mit Libby wegfuhr, hatte Mr McKettrick Tate in sein Arbeitszimmer gerufen. „Wir beide müssen uns unterhalten, mein Sohn“, hatte der Rancher gesagt.

Seither hatte sich so viel verändert.

Tates Mom und sein Dad waren tot.

Ihr eigener Vater war mittlerweile ebenfalls – nach langem Leiden – gestorben.

Tate hatte Cheryl geheiratet, und die beiden hatten Zwillinge bekommen.

Einerseits wäre Libby wirklich gern ins Haus gegangen und hätte mitgefeiert.

Andererseits war ihr klar, dass da drin viel zu viele Erinnerungen lauerten. Größtenteils ganz einfache, banale Erinnerungen. Wie Tate und sie zusammen Hausaufgaben erledigt, im Wohnzimmer Billard gespielt oder sich Popcorn essend Filme angesehen hatten. Aber es waren, wie Libby seit dem Tod ihres Vaters wusste, diese banalen Dinge, die sich am stärksten einprägten und am schmerzhaftesten in Erinnerung blieben.

Eingedenk all ihrer anderen Probleme beschloss Libby, dass sie im Moment nicht noch mehr Schmerz ertragen konnte.

„Heute nicht“, sagte sie leise und legte den Rückwärtsgang ein.

„Du musst diesen Auspuff reparieren lassen“, stellte Tate fest. Das Lächeln war verschwunden; er wirkte ernst. Noch vor wenigen Augenblicken war sie überzeugt gewesen, dass er sie nur aus Höflichkeit eingeladen hatte. Dass er sich revanchieren wollte, weil sie ihm die Hunde so kurzfristig vorbeigebracht hatte. Jetzt fragte sie sich, ob es ihm nicht vielleicht wichtig war, dass sie seine Einladung annahm. War es möglich, dass er enttäuscht war, weil sie abgelehnt hatte?

Sie nickte. „Ist schon geplant. Gute Nacht, Tate.“

Er sah zu den Hunden hinunter, die immer noch so aufgeregt um ihn herumsprangen, als befände sich in den zwei Taschen seiner Jeans je ein rohes T-Bone-Steak. „Wie heißen sie?“

„Sie haben noch keine Namen“, antwortete Libby. „Ich nenne sie ‚die Hunde‘.“

Tate lachte leise. „Das ist originell.“ Er hatte sich halb umgedreht, als würden das Haus und die Leute darin ihn zurückziehen. Libby nahm an, dass es wirklich so war. Garrett und Austin waren, jeder auf seine Art, rastlos und draufgängerisch. Tate hingegen war, genau wie sein Vater, der geborene Familienmensch. „Bist du sicher, dass du nicht hineinkommen möchtest?“

„Sicher.“

Eine der großen Eingangstüren ging auf, und die Zwillinge kamen herausgestürmt. Sie trugen identische rosa Baumwollpyjamas.

Beim Anblick der beiden zog es Libby das Herz zusammen. Sie stellte die Automatik-Schaltung des Impala wieder auf „Parken“.

„Hündchen!“, riefen sie wie aus einem Mund.

Libby lehnte sich zurück und beobachtete, wie die Mädchen und die beiden Vierbeiner sich begeistert begrüßten. Während sie zusah, war ihr die ganze Zeit bewusst, dass sie besser schnell heimfahren sollte.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Tate zu seinen Töchtern. In seiner Stimme lag eine Zärtlichkeit, die Libby noch nie bei ihm gehört hatte. Er drehte sich zu ihr um und formte mit den Lippen lautlos das Wort „Danke.“

Libby stiegen Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie rasch weg und wollte gerade im Rückwärtsgang die bombastische Auffahrt hinaus und nach Hause fahren, wo sie hingehörte, als eines der Kinder zu ihrem Auto kam und hineinsah. Es war das Mädchen mit der Brille.

„Hi“, sagte die Kleine. „Wir haben ein Schloss. Möchtest du es dir angucken?“

Libby warf einen Blick auf das Haus. „Nicht heute, Liebes. Aber danke für das Angebot.“

„Ich heiße Ava. Und du bist Libby Remington, stimmt’s? Dir gehört das Perk Up.“

Libby konnte sich zwar nicht erinnern, die Mädchen jemals kennengelernt zu haben, doch Blue River war nicht groß. Jeder kannte praktisch jeden. „Ja, ich bin Libby. Ich hoffe, ihr habt einen tollen Geburtstag.“

„Und ob!“, sagte das Kind. „Onkel Garrett hat bei Neiman Marcus für uns ein Schloss gekauft. Und Onkel Austin hat Ponys geschickt. Aber Dad hat uns geschenkt, was wir wirklich wollten – zwei süße Hunde!“

„Bringt die kleinen Bengel ins Haus und gebt ihnen Wasser“, wandte Tate sich an seine Töchter. Er sah den „Bengeln“ nach, die ihnen – ohne sich auch nur ein Mal nach Libby umzudrehen – brav ins Haus folgten.

Libby hatte einen Kloß im Hals. Zum einen deshalb, weil dies der Abschied von den Hunden war. Zum anderen, weil die Mädchen sichtlich überglücklich waren. Und aus einem dritten Grund, den sie beim besten Willen nicht benennen konnte.

„Eigentlich hatte ich ein Krocket-Set für sie gekauft“, vertraute Tate ihr an.

Libby runzelte die Stirn. Sie, Julie und Paige hatten früher oft mit ihrem Dad im Garten Krocket gespielt, und Libby erinnerte sich sehr gern daran. Sie war damals stolz darauf gewesen, dass ihr Dad im Gegensatz zu anderen Vätern, die mit Freunden oder Geschäftspartnern Golf spielten, seine Zeit lieber seinen Töchtern widmete. „Und was ist daran schlecht?“

Er seufzte, verschränkte die Arme und legte den Kopf in den Nacken. Er hatte es immer geliebt, die Sterne zu betrachten. Das war, wie er erklärt hatte, einer der Gründe, warum er nie in einer großen Stadt glücklich sein würde. „Nichts“, antwortete er. „Aber angesichts des Schlosses und der Ponys habe ich die Nerven verloren. Die Sache hat wohl an meinem männlichen Ego gekratzt.“

„Aber du überlegst es dir mit den Hunden nicht anders, oder?“, fragte Libby besorgt.

Tate legte eine Hand auf die Kante ihres offenen Autofensters und beugte sich hinunter, um sie anzusehen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Für einen schrecklichen, wunderbaren und unglaublich verwirrenden Moment dachte sie, er würde sie küssen.

Tat er aber nicht.

„Ich überlege es mir nicht anders, Lib“, sagte er. „Die zwei Hunde werden immer ein Zuhause haben, solange ich selbst eines habe.“

„Du würdest sie doch nicht in die Stadt schicken und bei deiner Frau unterbringen?“

„Exfrau“, korrigierte Tate. „Nein. Cheryl mag keine Hunde. Die beiden bleiben hier bei uns auf der Ranch – genauso wie die Ponys.“

„Okay.“ Lilly hatte plötzlich den dringenden Wunsch, von hier wegzukommen.

Und merkwürdigerweise den genauso dringenden Wunsch zu bleiben.

Tate richtete sich auf und lächelte zu ihr hinunter. Dann drehte er sich halb zum Haus um. Dem Haus, wo seine Töchter und die Hunde waren, die bereits geliebt wurden und bald einen Namen haben würden. Dem Haus, wo sein Bruder Garrett und Esperanza, die Haushälterin, waren.

Doch dann drehte er sich wieder zu ihr.

„Du hättest wahrscheinlich keine Lust, mit mir irgendwann mal Abend zu essen, oder?“ Er klang genauso schüchtern wie an jenem Tag vor langer Zeit, als er sie zur Abschlussfeier an der Junior High eingeladen hatte. „Bald?“

3. KAPITEL

„Ich kann dich nicht bezahlen“, warnte Libby ihre Schwester am nächsten Morgen. Julie war samt ihrem vierjährigen Sohn Calvin im Schlepptau im Café erschienen, um Scones und Chocolate Chip Cookies zu backen. Libbys Lieblingsneffe – und einziger Neffe – trug eine Badehose, Flip-Flops und um den Bauch einen Schwimmreifen. Er war offenbar fest entschlossen, das erste Gewässer zum Baden zu nützen, das ihm unterkam.

Er rückte seine Hornbrille zurecht, deren Brücke mit nicht ganz sauberem Klebeband zusammengehalten wurde, und kletterte auf einen der drei Barhocker an der kurzen Theke.

Libby wuschelte ihm durchs Haar. „Hey, Kumpel. Möchtest du einen Orangen-Smoothie?“

„Nein, danke“, antwortete Calvin mürrisch.

Julie trug Jeans und ein königsblaues langärmeliges T-Shirt. Sie war neunundzwanzig, hatte langes, von Natur aus kastanienbraunes Haar, das ihr in – ebenfalls von Natur aus wunderschönen – Korkenzieherlocken bis fast zur Taille fiel. Ihre eigentlich haselnussbraunen Augen, die dazu neigten, die Farbe ihrer Kleidung zu spiegeln, wirkten durch das T-Shirt fast so azurblau wie ein klarer Frühlingshimmel. Sie grinste Libby an und steuerte zielstrebig auf die winzige Küche im hinteren Teil des Ladens zu.

„Du könntest meine Woche als Marvas Aufpasserin übernehmen“, flötete sie. „Statt mich für die Arbeit zu bezahlen, meine ich.“

„Keine Chance“, entgegnete Libby. Doch das Abschlagen des „Angebots“ war nur eine leere Phrase, und Julie wusste das genauso gut wie Libby selbst. Die drei Schwestern wechselten sich Woche für Woche mit der Betreuung ihrer Mutter ab. Dazu gehörte, sie regelmäßig zu besuchen und die Probleme mit den Nachbarn aus der Welt zu schaffen, die Marva regelmäßig verursachte. Außerdem mussten die Schwestern hin und wieder Suchaktionen starten, wenn Marva beschloss, einen ihrer Spaziergänge in der Umgebung zu unternehmen, und sich verirrte. Marva hielt ihre Töchter ganz schön auf Trab.

„Mom hat ohnehin nichts Besseres zu tun“, vertraute Calvin Libby mit ernsthafter Miene an. Er war seinem Alter weit voraus und konnte schon seit einem Jahr lesen. Julie, die an der Highschool Englisch und Schauspiel unterrichtete, hatte wie immer im Sommer frei. Normalerweise arbeitete sie in den Ferien bei einer Versicherungsagentur, doch der Job war diesmal aus nicht näher erläuterten Gründen nicht zustande gekommen. „Du kannst sie also ruhig Scones backen lassen.“

Libby kicherte und konnte nicht widerstehen, Calvin einen knallenden Kuss auf die Wange zu geben. „Das städtische Schwimmbad ist diese Woche wegen Reparaturarbeiten geschlossen“, erinnerte sie ihn. „Warum also die Badehose und der Schwimmreifen?“

Calvins Augen waren kristallblau. Genau wie die seines Vaters, der längst von der Bildfläche verschwunden war und den Julie nach dem College während ihrer Zeit als Referendarin in Galveston kennengelernt hatte. Obwohl Libby und Julie sich sehr nahestanden, wusste Libby sehr wenig über Gordon Pruett – außer, dass er ein Fischerboot besaß und viel besser im Weggehen als im Zurückkommen war. Er war gerade mal so lange präsent gewesen, um seine einzigartige Augenfarbe seinem Sohn zu vererben und ihn nach seinem Lieblingsonkel Calvin zu nennen. Doch sehr bald hatte er den Drang verspürt, das Weite zu suchen.

Gordon kam zwar nie auf Besuch, war aber kein absoluter Nichtsnutz. Er dachte an Geburtstage und schickte seinem Sohn zu Weihnachten immer ein Paket mit ungeschickt eingewickelten Geschenken. Außerdem bekam Julie jeden Monat Unterhaltszahlungen in der Höhe von ein paar Hundert Dollar.

Meistens ließen sich die Schecks sogar einlösen.

Calvin schob seine Alltagsbrille – er besaß eine schönere für besondere Anlässe – hoch, die ihm von der Nase gerutscht war. „Ich weiß, dass das Schwimmbad wegen Reparaturen geschlossen hat, Tante Libby“, sagte er. „Aber der Junge – Justin? –, der neben uns wohnt … Seine Mom und sein Dad haben ihm einen kleinen Pool gekauft. So einen, den man mit der Fahrradpumpe aufpumpt. Sein Dad hat ihn heute Morgen mit dem Gartenschlauch befüllt. Aber Justins Mom meint, wir könnten erst schwimmen gehen, wenn die Sonne das Wasser aufgewärmt hat. Ich möchte einfach bereit sein, wenn es so weit ist.“

Julie, die gerade aus der Küche kam, kicherte. Sie hatte es bereits geschafft, ihre frische Schürze vorne über und über mit Mehl zu bestäuben. „Hey, Mark Spitz“, wandte sie sich an ihren Sohn. „Hast du Lust, mir drüben bei Almsted’s zwei Kilo Zucker zu holen? Ich gebe dir fünf Cent.“

Almsted’s war einer der wahrscheinlich letzten familienbetriebenen Lebensmittelläden in diesem Teil von Texas und galt – halb Museum, halb Geschäft – in Blue River als eine Art Institution.

„Für fünf Cent kann man nichts kaufen“, grummelte Calvin. Nichtsdestotrotz kletterte er von seinem Hocker und streckte dienstbeflissen die offene Hand aus.

Libby gab ihm für den Zucker ein paar Dollar aus der Kasse, und Calvin marschierte schnurstracks über den Gehweg zum Laden nebenan.

„Wir haben doch jede Menge Zucker“, sagte Libby.

„Ich weiß.“ Julie sah zu, wie ihr Sohn durch die grün gestrichene Ladentür aus Holz und Glas im Almsted’s verschwand. „Ich muss dir etwas sagen und möchte nicht, dass Calvin es hört.“

Libby, die gerade dabei war, alles für den morgendlichen Ansturm der Caffè-Latte-Kundschaft vorzubereiten, erstarrte. „Ist etwas passiert?“

„Gordon hat mir eine E-Mail geschickt“, sagte Libby, ohne den Eingang von Almsted’s aus den Augen zu lassen. „Er ist verheiratet und kommt mit seiner Frau auf der Fahrt nach Tulsa, wo seine Eltern leben, öfter durch die Stadt. Und jetzt würden Gordon und seine kleine Frau gern einmal vorbeikommen und Calvin kennenlernen.“

„Das klingt harmlos“, stellte Libby fest, obwohl ihr angesichts der Neuigkeit etwas unbehaglich zumute war.

„Es gefällt mir nicht“, antwortete Julie mit fester Stimme. Sie lächelte, was bedeutete, dass Calvin samt der Tüte Zucker aus dem Laden kam. Rasch trat sie einen Schritt zurück, damit er sie nicht sah. „Was ist, wenn Gordon jetzt, da er verheiratet ist, gern Vater spielen möchte?“

„Julie, er ist Calvins Vater …“

Julie bedeutete ihr mit einer Handbewegung, still zu sein, denn Calvin zwängte sich gerade durch die halb offene Tür. Sein kleiner Schwimmreifen mit dem Kopf eines stieläugigen Frosches vorne drauf verhinderte, dass er eingequetscht wurde.

„Hier.“ Er streckte seiner Mutter die Tüte entgegen. „Wo sind meine fünf Cent?“

Julie gab ihm die Münze. Dabei warf sie Libby einen warnenden Blick zu. Kein Wort mehr über Gordon Pruetts bevorstehenden Besuch in Calvins Anwesenheit!

„Mir ist langweilig“, teilte Calvin kurz darauf mit. „Ich möchte in den Kindergarten im Freizeitzentrum.“

„Daran hättest du denken sollen, als du unbedingt deine Badehose anziehen und das Gummiding mit dem Frosch mitnehmen wolltest.“ Julie ging mit der überflüssigen Tüte Zucker zurück in die Küche. „Du bist für den Kindergarten nicht richtig angezogen, mein Kleiner.“

„Gibt es denn Kleidervorschriften?“, fragte Libby. Bei Meinungsverschiedenheiten ergriff sie normalerweise immer Partei für Calvin.

„Nö“, antwortete Julie fröhlich. „Aber ich wette, dass kein anderes Kind eine Badehose trägt.“

Zwei Sekretärinnen kamen herein, um sich ihren doppelten Caffè Latte – fettarm – zu holen. Nach ihnen betrat Jubal Tabor das Café, der als Leitungsmonteur beim örtlichen Elektrizitätswerk arbeitete. Er war Mitte vierzig, etwas anstrengend im Umgang, hatte eine beginnende Glatze und bestellte immer eine „Rakete“ – ein stark koffeinhaltiges Gebräu mit Ginseng und viel Zucker. Das half ihm, wie er sagte, den Vormittag zu überstehen.

„Rechnest du mit einer Flutwelle, Knirps?“, fragte er Calvin, der wieder auf seinem Barhocker lümmelte. Der Froschkopf war leicht verrutscht.

Calvin verdrehte die Augen.

Libby verkniff sich ein Lächeln, gab den Sekretärinnen ihre Kaffeebecher, kassierte und bedankte sich.

Julie blieb die ganze Zeit über in der Küche. Jubal lud sie fast jedes Mal, wenn sich ihre Wege kreuzten, ins Kino ein. Sogar jetzt hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt und versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, während der Espresso für seine „Rakete“ aus der Stahldüse dampfte.

„So übel ist er gar nicht“, hatte Libby einmal gesagt, als Julie Jubal wieder einmal mit einer sensibel formulierten Absage weggeschickt hatte.

„Julie und Jubal?“, hatte ihre Schwester erwidert. Ihre Augen waren an diesem Tag grün gewesen, weil sie eine mintfarbene Bluse getragen hatte. „Allein unsere Namen sind Grund genug, die Finger davon zu lassen. Wir würden wie die Cousins zweiten Grades der Bobbsey-Zwillinge klingen. Außerdem ist er zu alt für mich. Und er trägt weiße Socken und nennt Calvin immer ‚Knirps‘.“

Über den zugegebenermaßen komischen Klang der beiden Namen, Jubals Alter und die weißen Socken hätte man Libbys Meinung nach vielleicht hinwegsehen können. Doch die ruppige Art, wie er jedes Mal „Knirps“ sagte, wenn er mit Calvin redete, nervte sie ebenfalls. Also verzichtete sie darauf, ihre Schwester daran zu erinnern, dass Heiratskandidaten in Blue River Mangelware waren.

„Die Scones sind noch nicht fertig, oder?“ Jubal warf einen missbilligenden Blick auf die leere Plastikvitrine neben der Kasse. „Drüben bei Starbuck’s haben sie immer Scones.“

Libby verkniff sich, Jubal darauf hinzuweisen, dass er ohnehin nie Scones kaufte – egal, wie reich die Auswahl auch sein mochte. Stattdessen stellte sie seinen Kaffee auf die Theke und fragte ihn scherzhaft: „Gehst du etwa fremd und kaufst deine Energiespritze bei der Konkurrenz, Jubal?“

Jubal guckte sie entgeistert an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. „Möchtest du heute Abend mit mir ins Kino gehen?“

Calvin murrte etwas Freches vor sich hin, das Jubal entweder nicht verstand oder geflissentlich überhörte.

„Tut mir leid“, antwortete Libby bedauernd, „aber ich habe Tate McKettrick versprochen, mit ihm zu Abend zu essen.“

Aus der Küche war ein lautes Scheppern zu hören. Julie hatte offensichtlich etwas fallen lassen. Libby sah aus dem Augenwinkel, dass Calvin sie mit neu erwachtem Interesse beobachtete. Da er lange nach ihrer Trennung von Tate auf die Welt gekommen war, konnte er nicht wissen, was die Bemerkung seiner Tante bedeutete. Doch bei diesem in Blue River wohlbekannten Vornamen klingelte es, wie es schien, offenbar sogar bei den Vierjährigen.

„Tja“, grummelte Jubal, „mit einem McKettrick kann ich natürlich nicht konkurrieren.“

Libby lächelte. „Danke für deinen Besuch, Jubal. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Jubal zahlte, nahm seine „Rakete“ und ging.

In der Sekunde, als sein Kleintransporter losfuhr, steckte Julie ihren Kopf aus der Küche. „Habe ich richtig gehört? Du gehst mit Tate essen?“

„Er hat mich gestern Abend gefragt“, antwortete sie und versuchte, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. „Meine Antwort war ‚Vielleicht‘.“

„Da hast du Mr Tabor aber etwas anderes gesagt“, meldete sich Calvin zu Wort. „Du hast gelogen.“

„Ich habe nicht gelogen“, log Libby. Erst hatte sie leichtsinnig die Umwelt zerstört, indem sie mit ihrem Auspuff durch die Gegend gefahren war, und nun das. Plötzlich meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie war wirklich kein gutes Vorbild für ihren Neffen.

„Doch, hast du“, beharrte Calvin.

„Manchmal“, schaltete Julie sich nun ein und legte Calvin eine Hand auf seine schmale nackte Schulter, „sagen wir Dinge, die nicht zur Gänze der Wahrheit entsprechen, um andere Leute nicht zu verletzen.“

Calvin gab nicht nach. „Wenn es nicht die Wahrheit ist, ist es eine Lüge. Das sagst du mir doch immer, Mom.“

Libby seufzte. „Wenn Tate mich noch einmal einlädt“, wandte sie sich an Calvin, „Sage ich Ja. Dann habe ich niemanden angeschwindelt.“

„Ich kann nicht fassen, dass du nicht gleich Ja gesagt hast“, staunte Julie. „Elisabeth Remington, bist du verrückt?“

Libby räusperte sich und schielte in Calvins Richtung, um ihre Schwester darauf aufmerksam zu machen, dass diese Unterhaltung warten musste.

„Kann ich in den Kindergarten, wenn ich richtige Klamotten anziehe?“ Calvin sah so traurig aus, dass Julie ihm durchs Haar fuhr und aus ihrer mehlbestäubten Schürze schlüpfte.

„Klar. Wir laufen schnell nach Hause, damit du dich umziehen kannst.“ Julie wandte sich an Libby. „Ich habe das erste Blech mit Scones vor ein paar Minuten in den Ofen geschoben. Nimm sie raus, wenn du den Timer klingeln hörst.“

„Kommst du wieder?“, fragte Libby. Sie hatte vor einem „Nein“ genau so viel Angst wie vor einem „Ja.“ Sobald sie und ihre Schwester allein im Café waren, würde Julie sie über Tate ausfragen. Wenn Julie nicht zurückkam, würde sich das erste Blech Scones im Nu verkaufen und für den Rest des Tages keinen Nachschub mehr haben. Denn Libby selbst verbrannte immer alles, was sie buk. Egal, wie sehr sie auch aufpasste.

„Nur, wenn du versprichst, dass du meine Schicht als Marvas Babysitter übernimmst, damit ich …“ Julie brach ab und räusperte sich „… ein paar Tage wegfahren kann.“

„Wir fahren weg?“, fragte Calvin sichtlich aufgeregt. Mit dem Lehrergehalt seiner Mom und den Unterhaltszahlungen, die direkt auf ein Sparbuch fürs College gingen, war Urlaub normalerweise nicht drin.

„Ja“, antwortete Julie und sah ihre Schwester spitzbübisch an. „Natürlich nur, wenn deine Tante Libby sich einverstanden erklärt, auf Grandma aufzupassen, während wir weg sind.“

Calvin ließ enttäuscht die Schultern hängen. „Niemand möchte mit Grandma mehr Zeit verbringen, als es sein muss.“

„Calvin Remington“, sagte Julie vorwurfsvoll. Es klang wenig überzeugend. „Was du da sagst, ist schrecklich.“

„Du sagst es doch auch ständig.“

„Es ist trotzdem schrecklich, verstanden?“ Julie wandte sich an Libby. „Na, was sagst du?“

Sich auf den Deal einzulassen würde bedeuten, zwei Wochen hintereinander Marvas Babysitter spielen zu müssen. Doch wenn Libby nicht alle ihre Kunden an Starbuck’s verlieren wollte, brauchte sie Julies Scones. „Abgemacht“, seufzte sie resigniert.

Julie grinste. „Großartig. Wir sehen uns in zwanzig Minuten.“

„Mist“, murmelte Libby, als ihre Schwester und ihr Neffe das Café verlassen hatten und außer Hörweite waren.

Julie brauchte eine halbe Stunde, bis sie wieder da war, nicht zwanzig Minuten. In der Zwischenzeit gab es einen wahren Ansturm auf Eiskaffee, sodass Libby beinahe das Klingeln des Backofen-Timers überhört hätte. Sie rettete die Scones in letzter Sekunde und hatten gerade das letzte Exemplar verkauft, als Julie in den Laden spaziert kam. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.

„Du gehst mit ihm aus, oder?“, fragte sie, sobald der Kunde samt Muffin gegangen war. „Wenn Tate dich wieder zum Essen einlädt, sagst du doch ‚Ja‘, nicht ‚Vielleicht‘, oder?“

„Vielleicht“, brummte Libby. „Und danke für die Extra-Woche mit Marva. Ich bin schon letzten Monat für dich eingesprungen, als du mit deiner Schauspielklasse einen Ausflug nach Dallas gemacht hast.“

„Die Kinder haben dabei so viel über Shakespeare gelernt“, sagte Julie.

„Und mir haben sich endlich die Motive für Muttermord erschlossen.“ Libby wischte die Düsen der Espressomaschine mit einem Stück Küchenrolle ab. „Hast du ernsthaft vor wegzufahren, damit du Gordon und seine frischgebackene Ehefrau nicht treffen musst?“

„Ja“, antwortete Julie. „In seiner E-Mail stand, dass er sein Boot verkauft hat. Oder es gesunken ist und geborgen werden musste. Oder beides. Ich habe es vergessen. Das bedeutet, der gute alte Gordon hat vor, sich häuslich niederzulassen. Und ich will nicht, dass er mich nur deshalb um das gemeinsame Sorgerecht oder Ähnliches bittet, weil er jetzt eine Frau hat.“

„Ich verstehe, was du meinst, Julie.“ Libby wählte ihre Worte mit Bedacht. „Aber du kannst dich nicht immer vor Gordon verstecken. Wenn er wirklich an Calvins Leben Anteil nehmen will, wird er einen Weg finden. Und er hat das Recht, den kleinen Kerl wenigstens hin und wieder zu sehen.“

„Gordon Pruett ist der unzuverlässigste Mann der Welt“, erinnerte Julie ihre Schwester. Ihre Augen glänzten verdächtig, und ihre Stimme zitterte leicht. „Ich kann ihm Calvin nicht jedes zweite Wochenende überlassen. Oder den ganzen Sommer oder in den Ferien. Das geht schon wegen seines Asthmas nicht.“

Beide schwiegen.

Libby hatte zwar in letzter Zeit keinen von Calvins Asthmaanfällen miterlebt, doch sie wusste, dass sie jedes Mal schrecklich waren. Einmal, als er noch Windeln getragen hatte, hatte er während eines Thanksgiving-Dinners bei den Nachbarn fast keine Luft mehr bekommen. Libbys jüngste Schwester Paige, eine Krankenschwester, war aufgesprungen und hatte ihn vor dem Ersticken bewahrt. Sie hatte ihn blitzschnell aus seinem Hochstuhl gehoben und geschrien, dass jemand den Notarzt rufen sollte. Dann hatte sie das bereits blau angelaufene Baby so lange unter die eiskalte Dusche gehalten, bis seine Lungen wieder arbeiteten. Paige selbst war dabei ebenfalls von Kopf bis Fuß nass geworden.

Libby hatte Calvins empörtes, verschrecktes Brüllen noch im Ohr. Sie sah ihn vor sich, wie er – nass und strampelnd – die Arme nach seiner Mutter ausstreckte, die ihn rasch in ein Handtuch wickelte und an sich drückte. Julie redete leise auf ihn ein und sang, um ihn zu beruhigen.

Paige drehte in der Dusche das heiße Wasser auf, damit sich das Bad mit Dampf füllte. Julie saß mit dem wimmernden Calvin im Arm auf dem Toilettendeckel und wiegte ihn hin und her, bis der Notarzt kam.

Calvin verbrachte anschließend fast eine Woche auf der Kinderstation in einem Krankenhaus in San Antonio. Julie saß rund um die Uhr an seinem Bett. Es dauerte Monate, bis der Kleine wieder Vertrauen zu Paige fasste. Er war damals einfach zu klein gewesen, um zu verstehen, dass sie ihm das Leben gerettet hatte.

Jetzt besaß er einen Inhalator, und Julie bewahrte in ihrem Häuschen, das zwei Blocks von der Highschool entfernt war, ein Sauerstoffgerät auf. Paige wohnte gegenüber in einem der Apartments eines alten, umgebauten Herrenhauses und war rund um die Uhr erreichbar, falls Calvin notintubiert werden musste. Außerdem hatte sie anhand einer geborgten Puppe versucht, sowohl Julie als auch Libby beizubringen, wie man intubierte. Denn Paige selbst arbeitete normalerweise Zehn-Stunden-Schichten in einer Privatklinik achtzig Kilometer außerhalb von Blue River, und die Rettungssanitäter der örtlichen Feuerwehr waren nur Freiwillige mit wenig medizinischer Ausbildung.

Obwohl Libby vermutete, dass sie Calvin intubieren könnte, falls sein Leben akut in Gefahr war, war sie alles andere als sicher. Julie ging es ebenso.

Frustriert hatte Paige schließlich mit einem der Rettungskräfte in Blue River, einem früheren Sanitäter der US-Marine namens Dennis Evans, gesprochen. Er hatte sich bereit erklärt zu kommen, wenn Calvin einen schweren Asthmaanfall hatte und Paige nicht zur Stelle sein konnte.

Julie hatte Dennis’ Telefonnummer in Form von sieben knallroten, fünfzehn Zentimeter großen Plastikzahlen mit Magneten an ihrer Kühlschranktür befestigt und seither immer vor Augen.

Bis jetzt hatten die Medikamente Calvins Asthma unter Kontrolle gehalten. Doch Libby verstand Julies Sorge nur allzu gut. Immer, wenn es Calvin nicht gut ging, konnte Julie nicht schlafen und hatte dunkle Schatten unter den Augen.

„So …“ Julie kam aus der Küche ins Café. Sie hatte inzwischen ein zweites Blech Scones gebacken, das ihnen die Kunden förmlich aus der Hand gerissen hatten, ehe sie überhaupt abkühlen konnten. „So, jetzt reden wir über Tate.“

„Lieber nicht“, antwortete Libby. Es war dumm von ihr gewesen, auch nur in Erwägung zu ziehen, die Einladung zu einem Date anzunehmen. Denn Tate hatte sie vermutlich sofort vergessen, als sie damals nach Hause zurückkehren und bei der Pflege ihres kranken Vaters hatte helfen müssen. Immerhin hatte sie damals möglichst viele Kurse am Blue River Junior College besucht, das eigentlich nur eine Außenstelle eines anderen Colleges in San Antonio und mittlerweile wegen fehlender Subventionen geschlossen war. Doch sie hatte sich mit den Kursen eigentlich nur die Zeit vertrieben. Das war ihr bewusst.

„Du hast ihn wirklich geliebt, Lib“, sagte Julie liebevoll, setzte sich auf Calvins Hocker an der Theke und betrachtete Libby nachdenklich.

„Darum geht es ja. Ich habe Tate McKettrick geliebt. Er hingegen hat es geliebt, das Leben in vollen Zügen zu genießen.“ Libby seufzte. Sie hasste Selbstmitleid, und wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich gleich darin verlieren. Also versuchte sie, zu lächeln. Es gelang ihr mehr schlecht als recht. „Ich schätze, es war nur logisch, dass er sich zu jemand wie Cheryl hingezogen gefühlt hat. Sie ist Anwältin und stammt aus ähnlichen Familienverhältnissen wie Tate und seine Brüder – mit allen nur möglichen Vorteilen. Ich habe nicht einmal einen Collegeabschluss. Tate und ich haben letztlich nicht viele Gemeinsamkeiten.“

Julie runzelte die Stirn, stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und legte das Kinn in die Handflächen. Ihre Augen wurden stahlblau, fast grau. „Ich hoffe wirklich, dass du damit nicht sagen willst, du wärst nicht gut genug für Tate oder einen anderen Mann. Denn wenn du das tust, raste ich gleich aus.“

Libby kicherte. „Julie Remington macht eine Szene“, witzelte sie. „Das kann ich mir ja überhaupt nicht vorstellen.“

Julie schmunzelte, hob mit beiden Händen ihr Haar hoch, um ihren Nacken zu kühlen, und ließ es wieder fallen. „Gut, an der Highschool und am College war ich vielleicht manchmal eine kleine Drama-Queen“, gab sie zu. „Aber du versuchst doch nur davon abzulenken, dass ich recht habe. Du glaubst allen Ernstes, Tate hat dich wegen Cheryl verlassen, weil sie besser in seine Welt passt als du.“

Libby hob fragend eine Augenbraue. „Ist nicht genau das passiert?“

„Was passiert ist? Tja, Cheryl hat Tate verführt. Ölquellen und eine riesige texanische Ranch können ein wahres Aphrodisiakum sein, weißt du. Vielleicht hatte sie es von Anfang an darauf angelegt, schwanger zu werden und draußen auf Silver Spur wie eine Ewing zu leben.“

„Ich bitte dich“, protestierte Libby. „Ich bin zwar kein großer Fan dieser Frau, aber es ist nicht fair, ihr die ganze Schuld zu geben. Und das weißt du verdammt gut, Julie. Es ist ja nicht so, dass sie Tate eine Liebesdroge verabreicht und ihn vernascht hat, während er bewusstlos war. Er hätte die ganze Sache beenden können, wenn er gewollt hätte. Aber das hat er offensichtlich nicht.“

„Das ist lange her, Lib“, sagte Libby sanft und inspizierte ihre manikürten Fingernägel.

„Na gut, dann war er eben jung“, antwortete Libby. „Aber er war alt genug, um es besser zu wissen.“

Die Eingangstür des Cafés schwang auf, und Chief Brogan schlenderte herein. Seine sonst makellos saubere und gebügelte braune Uniform war verschwitzt. Er nickte erst Julie zu und fixierte dann mit seinen dunkelbraunen Augen Libby.

„Rieche ich hier Scones?“, fragte er.

„Mit Blaubeeren“, bestätigte Julie lächelnd.

Brent Brogan, seit relativ kurzer Zeit Witwer, war über eins achtzig groß, Afroamerikaner, hatte breite, kräftige Schultern und schmale Hüften. Tate hatte ihm vor langer Zeit den Spitznamen „Denzel“ verpasst, da er dem jungen Denzel Washington ziemlich ähnlich sah.

Er sah Julie, dann wieder Libby an. „Das Übliche. Bitte.“

„Kommt sofort, Chief“, antwortete Libby mit einem nervösen Lachen und begann den dreifachen Espresso zuzubereiten, den Brent Brogan jeden Tag um ungefähr die gleiche Zeit bestellte.

Brent kam näher, stützte sich mit seinen großen Händen auf die Theke und sah Libby mit nervenzerfetzend prüfendem Blick bei der Arbeit zu. „Ich könnte schwören, dass ich Ihren Impala gestern Abend in unserer Gasse gesehen habe“, sagte er freundlich. „Ohne Scheinwerfer. Haben Sie den Auspuff schon richten lassen?“

„Das war mein Auto“, beeilte Julie sich zu sagen.

Gut, dass Calvin nicht da war. Er hätte sofort darauf aufmerksam gemacht, dass dies eine faustdicke Lüge war. Julies Wagen war ein rosa Cadillac, den Mitte der Achtziger einmal jemand bei einem Mary-Kay-Preisausschreiben gewonnen hatte. Auch in einer dunklen Gasse konnte niemand – und schon gar nicht Brent Brogans geschultes Auge – ihn mit einem Impala verwechseln.

Libby sah ihre Schwester vielsagend an. Dann seufzte sie und wischte sich die plötzlich schweißnassen Hände an ihren Jeans ab. „Ich hatte einen Termin in der Werkstätte“, erklärte sie Brent, „aber dann gab es in der Küche einen Wasserrohrbruch, und ich musste den Klempner rufen. Und, tja, Sie wissen ja, was Klempner kosten.“

Brent warf Julie einen scharfen Blick zu, deren sommersprossiges Gesicht so rot wurde, wie es nur bei echt Rothaarigen der Fall war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Libby. „Also waren Sie es doch?“

„Ja.“ Libby straffte ihre Schultern. „Und wenn Sie mir einen Strafzettel verpassen, werde ich mir die Autoreparatur noch einen Monat nicht leisten können.“

Der Timer am Herd klingelte.

Julie stürzte in die Küche, um das letzte Blech Scones aus dem Ofen zu holen.

„Ich werde Sie ein letztes Mal verwarnen, Libby“, sagte Brent leise und mit erhobenem Zeigefinger. „Ein Mal noch. Wenn ich sie wieder mit dieser Umweltkatastrophe auf vier Rädern und ohne eine Plakette erwische, die beweist, dass die Werte dem gesetzlichen Standard entsprechen, können Sie etwas erleben. Haben Sie mich verstanden?“

Libby stellte seinen Kaffeebecher energisch auf die Theke. „Ja, Sir“, sagte sie mit gepresster Stimme. „Verstanden. Sie reckte das Kinn ein ganz klein wenig empor. „Und wie soll ich das Auto in die Werkstätte bringen, wenn ich nicht damit fahren darf?“

Brent schmunzelte. „Ich denke, in diesem Fall kann ich eine Ausnahme machen.“

Libby beschloss, mit der Reparatur ihre Kreditkarte zu belasten, deren Minus sie erst kürzlich ausgeglichen hatte. Das würde sie finanziell zwar wieder zurückwerfen, aber es blieb ihr kaum etwas anderes übrig.

Julie sah auf die Straße hinaus, lächelte und tat so, als würde sie einen Blick auf ihre nicht vorhandene Armbanduhr werfen. „Sieh mal einer an! Höchste Zeit, Calvin vom Kindergarten abzuholen.“

Libby spürte ein Flattern in der Magengrube. Sie folgte dem Blick ihrer Schwester und sah Tate auf das Café zukommen. In den verschlissenen Jeans, seinen abgewetzten Stiefeln und dem weißen T-Shirt, das seinen Bizeps und die gebräunten Unterarme vorzüglich zur Geltung brachte, sah er unerhört gut aus.

Libby suchte die Straße nach seinem Geländewagen ab, den er manchmal fuhr. Weder der Wagen noch die Zwillinge waren irgendwo zu sehen.

Sie hatte plötzlich das Gefühl, auf einer durchhängenden Klaviersaite zu balancieren, die über die Niagarafälle gespannt war. Es war noch nicht mal Mittag! Und Tate hatte sie doch zum Abendessen eingeladen, oder?

Wie auch immer, sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie hatte ohnehin nur „Vielleicht“ gesagt, nicht „Ja.“

Tate öffnete die Tür und kam herein. Sein Lächeln war so strahlend weiß wie sein T-Shirt. Sogar von ihrem Platz hinter der Kasse konnte Libby sehen, dass er frisch gekämmt war.

„Hi, Denzel.“ Er salutierte augenzwinkernd.

Brent lächelte. „Packen Sie mir die Blaubeer-Scones in eine Tüte“, sagte er, wobei nicht klar war, ob er Julie oder Libby meinte, denn er sah Tate an. „Ich kaufe besser alle, bevor McKettrick sie mir vor der Nase wegschnappt.“

Tate sah Libby an. Heute blitzten seine blauen Augen, doch Libby wusste aus Erfahrung, dass aus Feuer im Handumdrehen Eis werden konnte.

„Hattest du noch Probleme mit diesen Viehdieben?“, erkundigte sich Brent.

Libby wollte in die Küche flüchten. Beinahe hätte sie einen geschwisterlichen Zusammenprall verursacht, denn Julie kam ihr gerade entgegen.

„Viehdiebe?“, fragte Libby beunruhigt.

„In letzter Zeit nicht“, sagte Tate zu Brent. Dann sah er Libby an und fügte hinzu: „Wir haben nur ab und zu mit Viehdieben zu tun. Die ganze Sache ist nicht so gefährlich, wie es in den alten Filmen aussieht.“

Julie drängte sich an Libby vorbei durch die Tür. Sie hatte es eilig, weil sie Calvin im Freizeitzentrum abholen wollte.

„Wenn du nicht unverzüglich zurückkommst“, warnte Libby ihre Schwester leise, „übernehme ich Marva nur die halbe nächste Woche.“

„Entspann dich.“ Julie drehte sich um und holte eine Papiertüte und eine Kuchenzange, um die Scones für den Chief einzupacken. „Ich backe den ganzen Nachmittag und bringe dir morgen früh ein großes Blech mit Scones und Donuts. Mein Backofen ist besser als dieser hier, und ich muss Calvin jetzt wirklich dringend abholen.“

Libby versperrte Julie den Weg aus der Küche und beugte sich dicht zu ihr. „Was soll ich bloß tun, wenn Brent geht und Tate dann immer noch da ist?“

Julie zog beide Augenbrauen hoch. „Mit ihm reden? Ihm vielleicht einen Kaffee anbieten? Oder einen Quickie in der Abstellkammer?“ Sie grinste frech. „Das ist so ziemlich das Einzige, was ich an Gordon Pruett vermisse. Sex im Stehen mit einer dreiunddreißigprozentigen Chance, erwischt zu werden.“

Libby errötete. Dann musste sie lachen. „Ich werde Tate McKettrick auf keinen Fall einen Quickie in der Abstellkammer anbieten!“

„Oh, das ist aber verdammt schade“, sagte Tate.

Libby fuhr herum. Er stand mit verschränkten Armen in dem schmalen Korridor zwischen Café und Küche, lehnte sich mit einer muskulösen Schulter an die Holzwand und grinste frech. Libby schoss die Röte so heiß ins Gesicht, dass ihre Wangen brannten.

Julie trat kichernd mit der Tüte Scones in der Hand die Flucht an. Tate musste zur Seite treten, um ihr Platz zu machen. Nachdem sie an ihm vorbeigehuscht war, nahm er sofort wieder seine sexy Pose ein.

„Tja“, begann er, nachdem er einen vielsagenden Seufzer ausgestoßen hatte. „Da die Mädchen gerade mit Ambrose und Buford beim Tierarzt drüben sind, dachte ich, ich komme vorbei und lade dich noch einmal zum Essen ein. Aber wenn du lieber Sex in einer Abstellkammer oder sonst irgendwo möchtest, Lib, bin ich sofort dabei.“

„Ambrose und Buford?“, fragte Libby wie betäubt.

„Die Hunde.“ Tates Augen funkelten. „Sie werden untersucht – Gesundheitstest heißt das heutzutage – und geimpft.“

„Oh“, sagte Libby verlegen.

„Können wir wieder zum Thema Sex zurückkommen?“, neckte Tate sie.

„Nein.“ Sie musste schmunzeln. „Das können wir ganz sicher nicht.“

Er richtete sich auf, ging lässig und breitbeinig wie immer zu ihr und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sie liebte die Art, wie er sie berührte; liebte es, wie sanft diese kräftigen, von der Arbeit schwieligen Hände sein konnten.

Er hatte die Hände eines Ranchers.

„Abendessen?“, fragte er.

„Hast du vor, mich zu küssen?“

Er lächelte. „Kommt auf deine Antwort an.“

„Was passiert, wenn ich Nein sage?“

„So etwas wahnsinnig Dummes würdest doch nie tun, oder?“

Sein Ton war honigsüß. Obwohl er sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, blieben seine Hände dort, wo sie waren. „Dir ein Gratisessen und eine Führung durch ein Plastikschloss entgehen lassen? Die Chance verpassen, dich persönlich davon zu überzeugen, wie gut Ambrose und Buford sich auf der Ranch eingewöhnt haben?“

Aha, mit der Einladung zum Abendessen war ein Essen bei ihm zu Hause gemeint. Die Erkenntnis war für Libby sowohl eine Erleichterung als auch ein neuer Grund, in Panik zu geraten.

„Werden Audrey und Ava auch da sein?“

„Ja.“

„Garrett?“

„Nein, leider nicht. Er musste zurück nach Austin.“

„Dringende politische Geschäfte?“

Tate lachte leise. „Wahrscheinlich ein heißes Date. Außerdem hat er Angst, dass ich ihn im Schlaf umbringe, weil er meinen Kindern ein verdammtes Schloss zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hat.“

„Hm.“ Libby überlegte.

„Ja?“

„Ich habe eine Frage.“

„Und die wäre?“

„Warum jetzt? Warum willst du dich jetzt mit mir verabreden, Tate? Nach so langer Zeit?“

Er sah nachdenklich aus, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete. „Ich vermute, es hat so lange gedauert, bis ich den Mut dazu hatte“, sagte er leise. Dann schluckte er und sah ihr in die Augen. „Niemand würde es dir verübeln, wenn du mich zum Teufel schickst, Libby. Nicht nach dem, was ich getan habe.“

Sie brauchte einen Moment, um seine Worte zu verdauen. „Okay“, sagte sie schließlich.

„Heißt dieses ‚Okay‘ Ja? Oder heißt es, ‚Okay, und jetzt verzieh dich‘?“

Libby musste schmunzeln. „Ich schätze, es bedeutet ‚Okay, ein einziges Abendessen ist keine große Sache‘“, antwortete sie. „Wir reden doch immer noch über ein Essen, oder?“

Tate lachte. Gott, er roch so gut. Wie saubere, klare Luft und frisch gemähtes Gras. Und sie hatte es vermisst, sich mit ihm so zu kabbeln, wie sie es jetzt taten. „Ja, wir reden immer noch über ein Essen.“

„Dann Ja.“ Libby war schwindlig. Immerhin hatte sie Calvin versprochen, ihre Lüge gewissermaßen ungeschehen zu machen, und das hatte sie nun getan.

„Richtige Antwort“, murmelte Tate. Und dann küsste er sie.

Die Erde, vielleicht sogar das ganze Universum, bebte, und Libby verlor den Boden unter den Füßen. Alles um sie herum schien sich aufzulösen. Sie war nicht mehr in ihrer schäbigen kleinen Küche, sondern schwebte wie auf Wolken.

Tate küsste sie leidenschaftlicher, tiefer. Oh, er war ein Experte auf diesem Gebiet. Ein weiteres Detail, das sie vergessen hatte – oder zu vergessen versucht hatte.

Libby stöhnte leise und geriet ins Schwanken.

Tate löste sich von ihr. Er nahm seine Hände von ihren Wangen und legte sie ihr auf die Schultern, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor.

„Ich hole dich um sechs ab?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Doch das war Libby ganz egal. Sie ging gerade ein furchtbar großes Risiko ein, und auch das war ihr egal.

„Um sechs.“ Sie nickte. „Was soll ich anziehen?“

Er grinste. „Die Zwillinge werden in Shorts, Tops und spitzen Prinzessinnenhüten mit Glitzersternchen und Troddeln dinieren“, antwortete er. „Den Hut kannst du ruhig weglassen, wenn du möchtest.“

„Bleiben also Shorts und Tops, nehme ich an. Was bedeutet, dass du mich besser um halb sieben abholst, weil ich meine Beine rasieren muss.“

In Gedanken schlug Libby sich eine Hand vor den Mund. Sie hatte diesem heißen Typen gerade Anlass gegeben, sich vorzustellen, wie sie einen Rasierer über ihre behaarten Beine zog!

„Soll ich dich hier abholen oder bei dir zu Hause?“, fragte Tate, offenbar völlig unbeeindruckt von der Vorstellung.

„Bei mir zu Hause. Ich würde ja selber zur Ranch fahren, aber dein Freund, der Polizeichef, nimmt mich fest, wenn ich mein Auto auch nur einen Millimeter in Bewegung setze.“

„Dazu gibt es sicher eine Geschichte. Eine, die ich furchtbar gern hören möchte. Später.“

„Später“, wiederholte Libby und sah ihm nach, wie er durch die Tür ging.

Sein Kuss pulsierte noch auf ihren Lippen und bebte in ihr nach, als Tate längst verschwunden war.

4. KAPITEL

Libby schloss das Café an diesem Tag um fünf. Es war kein großes Opfer, da sie nach Mittag nur einen einzigen Kunden gehabt hatte – einen Kreditberater der First Cattlemen’s Bank. Er war missmutig wieder abgezogen, ohne etwas zu kaufen, als er erfahren hatte, dass es keine von Julies Scones mehr gab.

Nachdem Libby die vielen Maschinen geputzt, die bescheidenen Tageseinnahmen in ihrer Banktasche verstaut und schließlich abgeschlossen hatte, ging sie – bemüht, sich nicht zu beeilen – über die Straße und ließ eine dankbare Hildie in den Garten.

Das Haus wirkte ohne die einst namenlosen Hunde ein bisschen verlassen. Aber Libby würde sie ja heute Abend bei Tate wiedersehen. Eingedenk des wenig rührseligen Abschieds gestern Abend auf Silver Spur hielt Libby es für durchaus möglich, dass die beiden sie völlig ignorieren würden.

„Jetzt werd bloß nicht albern“, ermahnte sie sich, füllte in der Küche frisches Wasser in Hildies Schüssel, spülte ihren Fressnapf aus und gab Trockenfutter hinein.

Während Hildie ihr Fressen hinunterschlang, nahm Libby eine Dusche und rasierte sich sorgfältig die Beine. Statt der „vorgeschriebenen“ Shorts und dem Top entschied sie sich allerdings für ein rosa Sommerkleid mit Spaghettiträgern und gesmoktem Oberteil. Sie lackierte sich die Zehennägel ebenfalls rosa, besprühte sich mit Eau de Toilette und föhnte sich ihre frisch gewaschenen schulterlangen Haare.

Libby besaß genau zwei Kosmetikprodukte: Wimperntusche und Lipgloss. Beides trug sie mit ein bisschen mehr Sorgfalt auf als sonst.

Das Telefon klingelte um fünf vor sechs. Libby war sich sofort sicher, dass Tate es sich anders überlegt hatte und die Einladung zum Abendessen auf Silver Spur absagen wollte. Die Welle der Enttäuschung, die sie überkam, war der Situation völlig unangemessen.

Doch es war, wie sich herausstellte, nicht Tate mit irgendeiner lahmen Entschuldigung.

Es war Gerbera Jackson, die drei Mal in der Woche drüben bei Marva in Polar Bend die Wohnung putzte.

„Libby? Sind Sie’s?“

„Hallo, Gerbera.“

„Ich weiß, dass Sie diese Woche nicht dran sind“, begann Gerbera in entschuldigendem Ton, „aber ich konnte Miss Paige nicht erreichen. Und Miss Julia auch nicht.“

Gerbera – Afroamerikanerin, Mitte sechzig und ein bisschen altmodisch – beharrte immer noch auf der glücklicherweise überholten Gepflogenheit, ihre weißen Geschlechtsgenossinnen mit „Miss“ anzureden.

„Schon okay.“ Libby ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Ein Problem mit Marva bedeutete, dass der Abend auf Silver Spur als Ereignis in die Geschichte eingehen würde, das nie stattgefunden hatte. „Was gibt’s?“

„Tja, es geht natürlich um Ihre Mama“, antwortete Gerbera traurig.

Um wen sonst? dachte Libby genervt.

„Ich mache mir Sorgen um sie“, fuhr die weichherzige Gerbera fort. „Ich habe wie immer ihre Geschichten für sie aufgenommen. Die Sachen laufen ja immer dann, wenn sie ihre langen Spaziergänge unternimmt. Aber heute Abend will Miss Marva sie sich nicht anschauen. Sie hat mir auch gesagt, ich brauche ihren Hähncheneintopf nicht in den Ofen zu schieben, bevor ich gehe. Das ist eines ihrer Lieblingsessen, wissen Sie.“

Libby schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Marvas „Geschichten“ waren Fernsehserien. Seit 1972 hatte sie, so behauptete sie zumindest, keine Folge von „As the World Turns“ versäumt. Damals hatte sie wegen eines verstauchten Knöchels viel Zeit auf der Couch verbracht und war der Serie verfallen.

„Das klingt nicht gut“, räumte Libby ein. Wenn Marva keine Lust auf Seifenopern und Hähncheneintopf hatte, war sie deprimiert. Und wenn Marva deprimiert war, passierten üble Dinge.

„Seit sie aus dem Bingosaal geworfen wurde, weil sie sich eine Zigarette angezündet hat, ist sie nicht mehr sie selbst“, fügte Gerbera hinzu.

Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Tate war da, sah wahrscheinlich cowboymäßig sexy aus, und Libby würde ihm jetzt sagen müssen, dass sie nicht zum Abendessen auf die Ranch mitkommen konnte.

„Ich belästige Sie nur ungern damit.“ Gerbera klang, als meinte sie es wirklich so. Doch sie hörte sich auch erleichtert an. Wenn sie einen Fehler hatte, dann den, dass ihr die vielen Frauen, für die sie putzte und kochte, zu sehr am Herzen lagen. Und zwar unabhängig davon, ob diese Frauen ein sauertöpfisches oder ein liebenswürdiges Naturell hatten. Bevor ihr Neffe Brent Brogan nach dem Tod seiner Frau mit seinen Kindern wieder nach Blue River gezogen war, hatte Gerbera hauptberuflich in Polar Bend gearbeitet und auch dort gewohnt.

Jetzt verbrachte sie mehr Zeit mit ihrer Familie, nähte und kochte und machte sich nützlich, wo sie nur konnte. Brent behauptete, er hätte allein wegen ihres Hähnchens mit Klößen mittlerweile fast fünf Kilo mehr auf den Rippen.

„Sie belästigen mich doch nicht.“ Libby bemühte sich, einen heiteren Ton anzuschlagen, und dehnte das Kabel des Küchentelefons so weit, dass sie Tate sehen konnte, der vor der Tür stand. Sie winkte ihn herein. „Sie ist meine Mutter.“

Und was für eine Mutter Marva war … Sie hatte vor vielen Jahren unter großem Trara ihren Mann und drei kleine, verstörte Kinder verlassen und war mehr als zwei Jahrzehnte später plötzlich wieder in Blue River aufgetaucht. Der Auslöser für die Rückkehr war, wie sie erklärt hatte, eine Art Erleuchtung gewesen. Und nun forderte sie regelmäßige Besuche ihrer Töchter ein.

Aus unerfindlichen Gründen hatte sie beschlossen, dass es Zeit für familiäre Nähe wäre.

Besser spät als nie – das schien ihre Devise zu sein.

Marva hatte Geld, so viel war klar. Und sie war es gewohnt, Befehle zu erteilen. Doch jeder Versuch, ihre lange Abwesenheit anzusprechen, wurde mit den Worten „Das war früher, und jetzt ist jetzt“ abgeschmettert.

Libby und ihre Schwestern wussten nicht, wo Marva gewesen war. Sie hätte all die Jahre genauso gut auf einem anderen Planeten oder in einem Paralleluniversum leben können.

Libby wollte Marva lieben; sie wollte es wirklich. Aber das war eingedenk der Tatsache, wie unglücklich ihr Dad über die Trennung von seiner Frau gewesen war, schwierig. Marva war mit einem Mann abgehauen, der ein Motorrad fuhr und sich seinen Lebensunterhalt recht und schlecht als Tattoo-Künstler verdiente.

Der Tattoo-Mann war seit Langem von der Bildfläche verschwunden. Daran bestand kein Zweifel.

Ihrem Vater zuliebe wechselten Libby, Julie und Paige sich ab, Marva zu besuchen und die Probleme, die sie verursachte, wieder auszubügeln. Sie machten Besorgungen, erledigten Einkäufe und kümmerten sich um alles Mögliche, doch Marva zeigte keinerlei Dankbarkeit. „Ich bin eure Mutter“, hatte sie zu Libby während eines ihrer launischen Stimmungstiefs gesagt, und ich verdiene euren Respekt.“

„Auf Respekt“, hatte Libby empört erwidert, weil sie sich beim besten Willen nicht mehr beherrschen konnte, „hat niemand ein Anrecht. Respekt ist etwas, das man sich verdienen muss.“

Tate kam herein, und Hildie begrüßte ihn so begeistert, als wäre er eine Art Cowboy-Messias.

„Danke, Gerbera.“ Libby merkte, dass sie den Rest des Gesprächs gar nicht mitbekommen hatte. „Ich komme gleich vorbei und sehe nach dem Rechten.“

Gerbera entschuldigte sich noch einmal und verabschiedete sich.

Libby legte den Hörer in der Küche auf und ging zurück zur Tür, um ihren atemberaubend attraktiven Gast zu begrüßen.

„Probleme?“, erkundigte sich Tate. Er füllte beinahe Libbys kleines Wohnzimmer aus. Der Raum wirkte plötzlich winzig, doch gleichzeitig unendlich sicher.

„Meine Mutter“, erklärte Libby. „Ich muss nach ihr sehen.“

„Okay. Dann lass uns fahren.“

„Du verstehst die Situation nicht. Es könnte Stunden dauern, wenn sie eine ihrer … ihrer Launen hat.“

Tate zuckte gleichgültig die Achseln. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“

Libby konnte nicht zulassen, dass er seinen Abend opferte, nur weil ihr eigener ruiniert war. „Du solltest einfach nach Hause fahren. Vergiss das Abendessen.“ Sie schluckte. „Ich meine, vergiss, dass ich daran teilnehmen sollte.“

Er hatte sich inzwischen hingehockt und streichelte Hildie, die ihn regelrecht anbetete. Vermutlich wollte sie zu ihm nach Hause mitkommen und sein Hund sein. Libby? Ach ja, an diesen Namen erinnere ich mich dunkel.

„Nein.“ Er richtete sich auf. „Du und ich und … Wie heißt der Hund noch mal?“

„Hildie“, antwortete Libby. Sie hatte einen Kloß im Hals.

„Du, Hildie und ich werden wie geplant auf Silver Spur Abend essen. Ich rufe einfach Esperanza an und bitte sie, die Mädchen schon einmal essen zu lassen.“

„Aber …“

Tate betrachtete Libbys Sommerkleid, ihre Riemchensandaletten und ihre frisch geföhnten Haare. „Du siehst mehr als fantastisch aus“, stellte er fest. Dann nahm er Libby am Arm und zog sie zur Tür. Hildie trottete frohgemut hinterher.

Sein Geländewagen stand am Straßenrand. Tate ließ Hildie zuerst auf die Rückbank springen, dann hielt er Libby die Beifahrertür auf. Er half ihr, auf das Trittbrett zu steigen, von dem aus sie sich mit einer zumindest halbwegs eleganten Bewegung auf den Ledersitz schwingen konnte.

„Du musst das wirklich nicht tun“, sagte sie.

Tate antwortete erst, nachdem er um die Motorhaube des Wagens herumgegangen und hinters Steuer geklettert war. „Außer Sterben und Steuern zahlen muss ich gar nichts“, meinte er schmunzelnd. „Ich bin hier, weil ich es möchte, Libby. Und aus keinem anderen Grund.“

Fünf Minuten später stellten sie den Wagen auf einem der Parkplätze hinter Gebäude B von Polar Bend ab. Marva wohnte etwas abseits des Hauptinnenhofs. Als sie Libby und Tate sah, trat sie fröhlich lächelnd auf ihre kleine Veranda. Sie trug weiße Leinenhosen, eine dazu passende Hemdbluse, Sandalen sowie elegante Ohrringe und hielt ein Glas Weißwein in der Hand.

Libby starrte sie fassungslos an.

„Na, das ist aber eine nette Überraschung.“ Marva musterte Tate McKettrick ausgiebig, ehe sie wieder ihre Tochter ansah. „Was verschafft mir das Vergnügen?“

„Gerbera Jackson hat mich angerufen.“ Libby bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Sie war sehr besorgt, weil du weder deine Seifenopern gucken noch etwas essen wolltest.“

Marva seufzte nachsichtig und schüttelte den Kopf. „Ich war nur ein bisschen down, das ist alles.“ Sie hob das Weinglas, dessen Inhalt in der späten Nachmittagssonne schimmerte. „Lust auf einen Drink?“

Libby kochte innerlich vor Wut. Gerbera war eine vernünftige Frau, und wenn sie sich Sorgen gemacht hatte, musste Marva ihr einen guten Grund geliefert haben.

Dabei hatte Marva, wie es aussah, nur beschlossen, dass sie ein bisschen Aufmerksamkeit wollte. Statt es einfach zu sagen, hatte sie Gerbera dazu gebracht, völlig überflüssigerweise Alarm zu schlagen.

„Nein, danke.“ Tate nickte Marva liebenswürdig zu. „Brauchen Sie irgendetwas, Ma’am?“

Libby hätte ihn am liebsten mit dem Ellbogen angerempelt, doch es ging nicht. Marva hätte es gemerkt.

„Nun ja …“ Marva schnurrte beinahe. „Da ist diese Lampe in der Küche. Die Glühbirne ist seit Wochen kaputt, und ich habe Angst, dass ich mir das Genick breche, wenn ich mit einer neuen Birne auf eine Leiter steige.“

Tate krempelte die Ärmel hoch. „Freut mich, wenn ich helfen kann.“

Libby zwang sich zu einem Lächeln; sie konnte nur hoffen, dass es weniger aufgesetzt wirkte, als es war.

Tate wechselte die Glühbirne in Marvas Küche aus.

„Es ist schön, einen Mann im Haus zu haben“, sagte Marva.

Libby hätte fast die Augen verdreht. Du hattest einen, dachte sie. Du hattest Dad. Aber er war dir ja nicht aufregend genug.

„Ich glaube, Libby und ich müssen jetzt gehen“, wandte Tate sich an Marva. „Esperanza wartet mit dem Essen auf uns.“

Marva tätschelte seinen Arm und zwinkerte Libby – vermutlich wegen Tates kräftigem Bizeps – vielsagend zu. „Geht nur, Kinder. Macht euch einen schönen Abend.“ Sie stellte ihr mittlerweile leeres Weinglas ab und winkte die beiden zur Tür. „Schön zu wissen, dass du ein Date hast, Libby“, fügte sie in heiterem Ton hinzu. „Du und deine Schwestern solltet euch viel öfter amüsieren.“

Libbys Wangen brannten.

Tate fasste sie am Ellbogen, nickte Marva zum Abschied zu – und weg waren sie.

Als sie wieder beim Auto waren, hob Tate Libby kurzerhand auf den Beifahrersitz und tätschelte anschließend Hildie beruhigend den Kopf. Dann lief er zur Fahrertür und sprang in den Wagen.

Als er den Schlüssel umdrehte, schaltete sich sofort die Klimaanlage ein und kühlte sowohl Libbys heiße Wangen als auch ihre Wut.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Bei Marva vorbeizuschauen war, wie sich herausgestellt hatte, keine große Sache gewesen. Außerdem hatte es Tate bestimmt nichts ausgemacht, die Glühbirne auszuwechseln.

Doch all das war nicht die Wurzel des Problems, oder?

Die aufwühlenden Gefühle rührten alle daher, dass Marva sie vor so vielen Jahren verlassen hatte.

Es ging um sie selbst, um Julie und Paige und nicht zuletzt um ihren Dad. Sie alle hatten Marva furchtbar vermisst.

Marva war damals mit großem Trara abgehauen. Und jetzt, da sie wieder da war, erwartete sie, dass man sie wie jede andere normale Mutter behandelte.

Schwer möglich, oder?

„Ich schätze, die Sache mit deiner Mutter geht dir immer noch unter die Haut“, sagte Tate leise, nachdem sie losgefahren waren.

Libby drehte sich zu ihm und sah ihn an. „Ja“, gab sie zu. Er kannte ihre Geschichte. Alle hier in Blue River kannten sie. Früher, als sie jünger gewesen waren, hatte er sie oft im Arm gehalten, wenn sie wegen Marva geweint hatte.

Tate schwieg eine Weile. Er schien in Gedanken versunken. „Wahrscheinlich bemüht sie sich nach Kräften und versucht, alles richtig zu machen“, sagte er schließlich, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und die Landstraße entlangfuhren. „So wie wir alle.“

Libby nickte. Marvas „Bemühungen“ entpuppten sich leider als nicht sonderlich gelungen. Doch Libby wollte nicht, dass das Thema Mutter ihnen den Abend verdarb. Sie zuckte die Achseln und konzentrierte sich auf die vorüberziehende Landschaft. „Wahrscheinlich.“

Das einträchtige Schweigen, das folgte, war angenehm. Friedlich.

Irgendwann steckte Hildie plötzlich ihren Kopf zwischen die beiden Vordersitze und schleckte Tate spontan das Ohr ab.

Er lachte. Libby musste ebenfalls grinsen.

„Hast du jemals daran gedacht, wieder einen Hund zu dir zu nehmen?“, fragte sie, da sie gerade an Crockett denken musste. Er war früher Tates ständiger Begleiter gewesen. Tate hatte ihn sogar aufs College mitgenommen.

„Ich habe ja zwei“, erinnerte er Libby grinsend.

„Ich meine einen eigenen.“

Tate schluckte und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass ich eigentlich bereit dafür bin“, antwortete er, ohne den Blick von der Straße zu wenden. „Aber es hat sich noch nichts ergeben. Crockett und ich, wir zwei waren ziemlich dicke Freunde.“

Libby betrachtete bewundernd seine markanten Züge und die selbstbewusste Art, seinen Kopf hoch zu tragen. Dieser Ausdruck dezenter Würde war ganz typisch für die McKettricks.

„Deine Eltern waren immer so nett“, sagte sie zu Tate.

Er lächelte. „Stimmt, das waren sie.“

Sie fuhren Kilometer um Kilometer an grünem Weideland mit Rindern und Pferden vorbei, das zur Silver Spur Ranch gehörte. Früher hatte es hier auch Bohrtürme gegeben, die vierzig Jahre oder noch länger tagein, tagaus Öl gefördert hatten. Doch Tates Vater hatte sie schon vor vielen Jahren stillgelegt.

Ein paar rostige Relikte waren noch zu sehen. Die unförmigen, oben abgerundeten Teile der Türme erinnerten Libby im dunkelroten Licht der beginnenden Abenddämmerung an Dinosaurier, unter deren Schritten der Boden vor Urzeiten erbebt war und neben denen die riesigen Bäume winzig ausgesehen hatten.

„Du bist in Gedanken ganz schön weit weg“, stellte Tate fest, als sie vor dem hohen schmiedeeisernen Tor anhielten, über dem der Schriftzug McKettrick prangte. Gestern Abend war dieses Tor offen gewesen; Libby war – erleichtert, nicht anhalten und sich über die Sprechanlage ankündigen zu müssen – einfach durchgefahren. „Woran denkst du, Lib?“

Sie lächelte. „An Bohrtürme und Dinosaurier.“

Tate drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett, und das Tor schwang weit auf. Nachdem sie durchgefahren waren, schloss es sich fast lautlos. Hildie, die während der Fahrt die meiste Zeit ruhig gewesen war, wurde nervös und lief auf der Rückbank hin und her.

Libby hoffte inständig, dass ihre Hündin nicht tatsächlich vorhatte, bei Tate einzuziehen und sie völlig zu vergessen, so wie Ambrose und Buford es offensichtlich getan hatten.

„Bohrtürme und Dinosaurier“, wiederholte Tate.

„Man könnte sagen, dass es eine vage Verbindung gibt.“ Tate stöhnte über die absurde Erklärung, doch dann lachte er. Als sie zum Haus kamen, stellte Tate den Wagen weder in der Garage noch unter dem Vordach ab, sondern fuhr um das Gebäude herum. Libby verschlug es beinahe den Atem, als sie das Schloss sah.

Es war zauberhaft. Märchenhaft.

„Wow“, staunte sie.

Tate stellte den Motor ab und warf einen betrübten Blick auf die verschnörkelte Fassade des Schlosses. Dann stieg er aus, um Hildie aus dem Wagen zu helfen.

Erleichtert über ihre wiedergewonnene Freiheit lief Hildie wie ein junger Hund aufgeregt im Kreis herum. Und als dann auch noch Ambrose und Buford aus dem Schloss liefen und auf sie zustürmten, war jeder Groll vergessen. Schwanzwedelnd begrüßte sie die beiden wie zwei Freunde, die sie ewig nicht mehr gesehen hatte.

Die Zwillinge winkten aus zwei verschiedenen Fenstern des Schlosses – ein Mädchen war im Erdgeschoss, das andere in einem Turm.

„So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Libby schirmte ihre Augen mit einer Hand vor der Abendsonne ab, während sie das überdimensionale Spielhaus bewunderte.

„Ich auch nicht.“

„Wohlan, so tretet ein!“, rief eine der kleinen Schlossherrinnen aus dem Turmfenster.

Libby lachte. Tate schüttelte den Kopf und schmunzelte.

Dann nahm er Libby an der Hand, trat mit eingezogenem Kopf über die Schwelle und zog Libby hinter sich her. Die drei Hunde trotteten ihnen einträchtig nach. Jetzt, da sie nicht mehr zusammenwohnten, waren sie dicke Freunde.

Von innen entpuppte sich das Schlösschen sogar als noch spektakulärer als von außen. Es gab einen Kamin, Deckenbalken und eine Treppe, die in das obere Stockwerk führte.

Libby fragte sich, was Calvin wohl zu dem Riesending sagen würde.

„Es ist so … groß“, sagte sie.

Ava nickte begeistert. „Dad sagt, Audrey und ich sollen darüber nachdenken, ob wir es nicht dem Freizeitzentrum schenken wollen. Damit andere Kinder auch damit spielen können.“

Libby guckte Tate verstohlen an und merkte, dass er schnell wegsah.

„Das ist eine sehr schöne Idee. Sehr großzügig.“ Libby war beeindruckt.

„Wir haben uns aber noch nicht entschieden“, schaltete Audrey sich nun ein, die gerade über die Treppe kam. „Dad hat ja nur gesagt, wir sollen darüber nachdenken. Er hat nicht gesagt, dass wir es wirklich tun müssen.“

Tate deutete mit einer galanten Handbewegung auf die Tür. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Abendessen mittlerweile fertig ist, Ladys. Wollen wir?“

Audrey und Ava machten einen übertrieben eleganten Knicks. Dabei zogen sie die Hosenbeine ihrer Baumwollshorts zur Seite, als würden sie einen imaginären Rock heben.

„Sehr wohl, Mylord“, sagte Ava.

Tate lachte. „Macht, dass ihr rauskommt!“

Beide Mädchen stürmten ins Freie. Das Hunde-Trio stürzte ihnen laut bellend hinterher.

„Sehr wohl, Mylord?“, neckte Libby Tate grinsend, als der Lärm verebbt war. „Hm, wo haben zwei Sechsjährige wohl eine dermaßen altmodische Formulierung aufgeschnappt?“

„Wahrscheinlich hat Garrett sie ihnen beigebracht“, antwortete Tate. „Er versucht, mich zu ärgern, wo immer er nur kann.“

Esperanza stand auf der Veranda, scheuchte lachend die Hunde unter dem Esstisch hervor und schickte die Mädchen ins Haus, damit sie sich die Hände und das Gesicht wuschen.

Ambrose und Buford folgten ihnen. Hildie allerdings blieb stehen, drehte sich um und sah sich suchend im Garten um. Als sie Libby entdeckte, trottete sie sichtlich erleichtert zu ihr.

Libby tätschelte ihr gerührt den Kopf.

Esperanza hatte sich mit dem Abendessen selbst übertroffen. Es gab Tacos und Enchiladas, Kräuter-Knoblauch-Reis und Salat.

Libby genoss das Essen fast so sehr wie die Gesellschaft. Es tat ihr leid, als es vorbei war und Esperanza mit den Zwillingen ins Haus ging, um die beiden in die Badewanne zu stecken.

Am Himmel glitzerten die ersten Sterne wie Diamanten auf dunkelblauem Samt. Der Mond, ein schmaler Streifen aus hellem Licht, sah so aus, als würde er sich auf dem Scheunendach ausruhen.

Libby spürte eine tiefe Zufriedenheit, mit Tate an ihrer Seite und Hildie, die zu ihren Füßen lag und die Wärme der Terrassensteine zu genießen schien, einfach so dazusitzen.

Tate drückte ihre Hand. Sie drückte seine.

Und dann ließen sie einander los.

Libby stand auf und stapelte das Geschirr.

Tate stand ebenfalls auf und half ihr.

Libby hatte vergessen, wie groß die Küche war. Während sie und Tate einen von mehreren Geschirrspülern einräumten, musste sie sich sehr zusammennehmen, um sich nicht ständig staunend umzusehen. Durch eine dicke Glaswand sah man zum türkis schimmernden Pool hinaus. Unwillkürlich musste Libby daran denken, wie sie damals beim Nacktbaden erwischt worden waren.

Sie lächelte. Sie und Tate waren so unschuldig gewesen.

So jung.

Und so leidenschaftlich.

Tate nahm sie sanft am Ellbogen und drehte sie zu sich. Dann gab er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Danke, dass du Ja zu diesem Abend gesagt hast, Lib. Es ist schön, dich wieder hier zu haben.“

Libby hatte einen Kloß im Hals. Ihre Gefühle überwältigten sie.

Tate fasst sie am Kinn und hob ihren Kopf, damit sie ihn ansah. „Was ist?“, fragte er sehr, sehr sanft.

Sie schüttelte den Kopf.

Er zog sie an sich, hielt sie fest im Arm und legte sein Kinn auf ihren Kopf.

So standen sie minutenlang da, ohne ein einziges Wort zu wechseln, bis Esperanza in die Küche kam. Ihr Kleid war vorne nass, ihr glänzendes, grau meliertes Haar hatte sich aus dem hochgesteckten Knoten gelöst. Aus der Ferne hörte man Hundegebell und das Lachen der Mädchen.

„Die Hunde …“, wandte Esperanza sich ein bisschen außer Atem an Tate. „Die Hunde sind bei den Kindern in der Badewanne.“

Tate seufzte mit gespielter Verzweiflung und ließ Libby los. „Ich bin in ein paar Minuten wieder da.“ Als er an Esperanza vorbeiging, legte er ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie.

„Diese Kinder“, jammerte Esperanza. „Ich bin zu alt …“

Libby eilte zu ihr und half ihr, sich auf einen Stuhl am Küchentisch zu setzen. Dann brachte sie ihr ein Glas Wasser.

„Alles in Ordnung?“

Esperanza schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern begannen zu zucken.

Libby brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass die Frau nicht weinte, sondern lachte.

Erleichtert stimmte Libby mit ein.

Auf Esperanzas weichen braunen Wangen schimmerten Lachtränen. Sie wischte sie mit dem Zipfel ihrer Schürze weg.

Dann bekreuzigte sie sich. „Es ist genauso wie früher, als die Jungs klein waren. Immer zu einer Schandtat bereit, alle drei.“

Tate, der wieder zurück war, blieb in der Tür stehen. Ihm war – wie den meisten Männern – wohl ein bisschen unbehaglich zumute, wenn Frauen ihren Emotionen freien Lauf ließen.

Libby sah ihn an.

Tate McKettrick, mittlerweile sehr erwachsen, war immer noch jederzeit zu einer Schandtat bereit.

Jener Art von Schandtat, die unwiderstehlich war.

5. KAPITEL

Am nächsten Morgen war Libby früh auf den Beinen. Obwohl sie nur ein paar Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Nachdem Tate sie gestern Abend nach Hause gefahren und – ganz der Gentleman, der er manchmal war – zur Tür begleitet hatte, hatte er sie wieder geküsst. Die zarte, zögerliche Berührung prickelte immer noch auf ihren Lippen.

Die Sonne lugte gerade über den Horizont, als sie mit Hildie zum ersten Spaziergang seit Wochen aufbrach. In letzter Zeit war die arme Hündin wegen Ambrose und Buford nicht in den Genuss dieser Unternehmung gekommen. Es tat gut, die gemeinsame Tradition wieder aufzunehmen.

In Libbys ruhiger, links und rechts von Bäumen gesäumter Straße schalteten sich die Rasensprenger ein. Unter beruhigendem Zacka-zack sprühten sie Diamanten über die smaragdgrünen Wiesen. Hildie blieb hin und wieder stehen, um einen Zaun, einen Laternenpfahl oder ein Büschel Unkraut zu beschnüffeln. Julie, die mit Calvin zusammen einen erstaunlich aktiven dreibeinigen Beagle namens Harry besaß, hätte gesagt, dass Hildie ihre Pie-Mails las.

In dem Moment, in dem Libby und Hildie an Brent Brogans Heim, einem kleinen Terrassenhaus mit vielen Blumen im Garten und einem Lattenzaun, vorbeikamen, trat Gerbera vor die Tür. Gehüllt in einen sommerlichen, blau gemusterten Morgenmantel ging sie gerade die Zeitung holen.

Als Gerbera Libby sah, blieb sie stehen und lächelte breit. „Na, wen haben wir denn da?!“, sagte sie, „Ich dachte schon, Sie hätten es aufgegeben, mit dem alten Hund Gassi zu gehen. Es ist lange her, dass ich euch zwei vorbeispazieren gesehen habe.“

Libby, die Hildie locker an der Leine führte, blieb stehen. „Ich hatte zwei junge Hunde in Pflege“, erklärte sie. „Mit allen dreien zugleich spazieren zu gehen war mir zu viel. Allerdings habe ich es geschafft, dass die kleinen Kerle jetzt stubenrein sind.“

Gerbera deutete mit einem Daumen auf das Haus mit den weißen Dachschindeln hinter ihr. „Ich liege meinem Neffen ständig in den Ohren, seinen Kindern doch ein Haustier aus dem Tierheim zu holen. Dann lernen sie, Verantwortung zu übernehmen, und nehmen zumindest hin und wieder diese Kopfhörer aus den Ohren. Aber Brent meint, dass es entweder an mir oder ihm hängen bliebe, sich um die Katze oder den Hund zu kümmern, sobald die Kinder das Interesse verlieren.“

„Tja, falls es Ihnen gelingt, ihn umzustimmen …“, sagte Libby, der es immer ein Anliegen war, ein Haustier an ein verlässlich gutes Plätzchen zu vermitteln, „… die Tierheime sind normalerweise überfüllt.“

Gerbera nahm die zusammengerollte Zeitung aus dem Briefkasten am Zaun und klemmte sie sich unter den Arm. „Möchten Sie auf einen Kaffee hereinkommen? Wir wären ganz ungestört. Kenda und V.J. schlafen noch, wie das Kinder in den Sommerferien nun mal so tun, und Brent war fast die ganze Nacht weg. Deshalb habe ich auch hier übernachtet.“

Es war eine Ironie des Schicksals, dass Libby als Besitzerin des Perk Up zwar mit Koffein ihr Geld verdiente, selbst jedoch nur sehr selten Kaffee trank. Er putschte sie viel zu sehr auf. „Wir müssen unseren Spaziergang fortsetzen“, erklärte sie und deutete mit dem Kopf auf die Labradorhündin. „Hildie und ich brauchen beide so viel Bewegung, wie wir nur kriegen können. Ein andermal?“

Gerbera lächelte. „Gerne. Ihre Mama hat mich übrigens gestern Abend angerufen und mit mir geschimpft, weil ich Ihnen Anlass zur Sorge gegeben habe. Aber ich habe gemerkt, dass sie sich sehr über Ihren Besuch – und den eines gut aussehenden McKettrick – gefreut hat.“

Libby hätte sich vielleicht geärgert, wenn jemand anderer so etwas zu ihr gesagt hätte. Doch Gerbera hatte nie böse Absichten. Hildie begann, ungeduldig an der Leine zu zerren. Sie wollte die Strecke weitergehen, die sie immer zurücklegten: durch ein paar Seitenstraßen, dann eine Runde durch den Stadtpark mit seinem hübschen Holzpavillon und dann vorbei am alten Kino und dem Freizeitzentrum zurück nach Hause. „Ich denke, es war der gut aussehende McKettrick, der ihre Stimmung aufgeheitert hat, nicht ich.“

Plötzlich veränderte sich Gerberas Gesichtsausdruck. Das Funkeln in ihren Augen erlosch, ihr Lächeln erstarb. „Grundgütiger! Ich fürchte, ich werde von Tag zu Tag vergesslicher!“ Sie zögerte und atmete tief durch. Ihr Blick war besorgt. „Sie wissen es nicht, oder? Und woher sollten sie es auch wissen?“

„Wissen? Was denn?“ Libby wurde plötzlich nervös. Sie nahm die Leine fester in die Hand, da Hildie bereits vor ihr um die Ecke des Gartenzauns der Brogans bog.

„Brent war fast die ganze Nacht draußen auf Silver Spur“, sagte Gerbera langsam. „Er hat versucht zu helfen, so gut er kann. Libby, Pablo Ruiz ist tot.“

Libby verschlug es den Atem. Pablo war ein Freund, eine Institution in Blue River. Er konnte nicht tot sein. „Was ist passiert?“, schaffte sie zu fragen.

„Es hat einen Unfall gegeben.“ Gerbera legte ihre Hand auf Libbys Oberarm. „Das ist alles, was ich weiß.“

Ein Unfall … Libby nickte wie betäubt. Sie musste an Pablos Frau Isabel denken, an ihre Kinder Nico und Mercedes und an die zwei Neffen, die sie vor einigen Jahren in die Vereinigten Staaten geholt hatten. Damals war Isabels jüngere Schwester Maria einer Krankheit erlegen – einer Bauchfellentzündung, wie sich später herausstellte.

Ricardo und Juan waren mittlerweile Teenager – zwei überdurchschnittlich gute Schüler mit ausgezeichneten Manieren, die sich nie Ärger einhandelten. Sie waren jene Art von Jugendlichen, auf die die Bewohner von Blue River stolz waren.

Nico, ein enger Freund von Tate, hatte Libby einmal anvertraut, dass er und Pablo sofort nach Mexiko gefahren waren, als sie vom Tod seiner Tante erfahren hatten. Sie waren davon ausgegangen, dass die beiden Jungs in dem Dörfchen irgendwo bei Marias Nachbarn oder eventuell bei der Familie ihres verstorbenen Vaters untergekommen waren.

Stattdessen erfuhren sie, dass Ricardo und Juan kurz nach Marias Tod verschwunden waren und niemand sie seither gesehen hatte.

Nico hatte erzählt, dass sie noch ein paarmal nach Mexiko gefahren waren. Jedes Mal ohne Erfolg. Irgendwann spürten er und sein Vater die Kinder dann auf einer Mülldeponie auf. Beide Jungs waren verwahrlost und halb verhungert. Sie suchten im Müll nach Essensresten, stahlen und schliefen überall, wo es auch nur einigermaßen ungefährlich war.

Mit großer Unterstützung von Tates Cousine Meg, die damals bei McKettrickCo in leitender Position gearbeitet hatte, war es Pablo schließlich gelungen, Ricardo und Juan legal ins Land zu holen.

Anfangs waren sie regelrecht verwildert gewesen und hatten ständig Angst gehabt. Als Pablo sie an ihrem ersten Abend in den Vereinigten Staaten unter Aufbietung all seiner Kräfte in eine Badewanne steckte und von Kopf bis Fuß abschrubbte, fluchten sie und wehrten sich nach Kräften. Irgendwann gewannen Pablo und Isabel dann doch ihr Vertrauen – und ihre Liebe.

Was würde jetzt bloß aus ihnen werden? Was würde aus Isabel werden?

Libby zog sich der Magen zusammen. „Oh, Gerbera“, flüsterte sie. „Das ist ja entsetzlich.“

Gerbera nickte traurig. „Ich nehme an, dass sie sich gut um ihre Leute kümmern werden. Die McKettricks, meine ich. Und alle, die für sie arbeiten.“

Der Gedanke beruhigte Libby ein wenig. Es stimmte. Tate und seine Brüder würden dafür sorgen, dass es Isabel und den Jungs an nichts fehlte. So waren die McKettricks immer schon gewesen. Auch die langjährigen Mitarbeiter waren wie eine große Familie.

Libby kannte den Großteil der Männer – es waren ungefähr ein Dutzend –, die das ganze Jahr auf Silver Spur arbeiteten. Jeder kannte sie. Die verheirateten Männer lebten mit ihren Frauen und Kindern in gut ausgestatteten Wohnwagen am Flussufer. Die Junggesellen wiederum wohnten ganz in der Nähe in einer gemütlichen Baracke. Alle Männer holten ihre Post in Blue River ab, erledigten dort ihre Einkäufe oder ließen sich beim Friseur oder in Valdeens Haus der Schönheit die Haare schneiden. An stürmischen Wintertagen kamen sie ins Perk Up auf einen Becher heißen, starken Kaffee.

Gerbera schüttelte den Kopf. Sie wirkte nun sehr ernst. „Ich weiß nicht, was Isabel ohne diesen Mann tun wird. Für die Kinder gilt das Gleiche. Und ich wünschte, ich wäre nicht diejenige, die es Ihnen erzählt hat, Libby. Brent hat mich ausdrücklich gebeten, es, wie er meinte, ‚nicht an die große Glocke‘ zu hängen, bevor man davon ausgehen kann, dass die ganze Familie informiert wurde.“

Libby lächelte, um Gerbera zu beschwichtigen. „Hier in der Stadt hört fast jeder Polizeifunk. Wenn Brent auch nur ein einziges Mal sein Funkgerät verwendet hat, dürfte die Sache bereits bekannt sein.“ Libby war nun ein bisschen abwesend, während sie sich mit Gerbera unterhielt. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zur Silver Spur Ranch. Sie musste daran denken, wie Tate, die Kinder und Esperanza die Nachricht wohl aufgenommen haben mochten. Andererseits war sie durch Hildie abgelenkt, die die Vorderpfoten in den Boden stemmte und mit vollem Gewicht an der Leine zog, damit ihr Frauchen sich endlich in Bewegung setzte.

„Sie sollten jetzt besser gehen. Und ich sollte mich besser für die Arbeit fertig machen“, sagte Gerbera mit einem traurigen Lächeln, als sie Hildies Bemühungen sah.

Libby nickte. Dann gingen sie und Hildie weiter.

Als sie ihren Spaziergang nach fast einer Stunde beendet hatten, hatten drei verschiedene Leute in ihren Morgenmänteln Libby vom Gartentor aus gefragt, ob sie schon von der Sache mit Pablo Ruiz gehört hatte. Sie alle hatten es über Polizeifunk mitgehört, genau, wie Libby geahnt hatte.

Niemand kannte die genaue Todesursache; Chief Brogan hatte sich darüber bedeckt gehalten, als er den Bestatter nach Silver Spur bestellt hatte. Bekannt war nur, dass es auf der Ranch einen Unfall gegeben hatte. Mit tödlichem Ausgang.

Höchstwahrscheinlich hatte der Chief alle weiteren Gespräche, deren Inhalt nicht das halbe Land mithören sollte, über sein Handy erledigt.

Als Libby wieder zu Hause war, duschte sie rasch, zog Jeans und ein Baumwolltop an und band ihre Haare zu dem üblichen praktischen Pferdeschwanz zusammen. Auf Wimperntusche und Lipgloss verzichtete sie ebenso wie auf ein ausgiebiges Frühstück. Sie hatte keinen rechten Appetit und brachte außer einer halben Banane nichts hinunter.

Während Hildie sich auf ein sonniges Fleckchen auf dem Küchenboden legte, um ein Nickerchen zu halten, verließ Libby das Haus durch die Hintertür und ging durch den Garten und über die Straße zum Perk Up. Sie sperrte den Hintereingang des Cafés auf und hätte beinahe losgekreischt, als Calvin plötzlich hinter einem Karton Kaffeebecherdeckel hervorsprang und „Buh!“ schrie.

Einen Moment war sie starr vor Schreck. Ihr Herz raste.

Julie steckte den Kopf aus der Küche. Sie trug eine Schürze und hatte sich eine Rührschüssel unter den Arm geklemmt. In der anderen Hand hielt sie einen Löffel, an dem Teig klebte. „Meine Güte, Calvin“, schimpfte sie fröhlich, „wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du alten Leuten keinen Schreck einjagen sollst?“

Wahnsinnig witzig.“ Libbys spitze Bemerkung galt ihrer Schwester. Ihr freundliches Lächeln ihrem Neffen.

Calvin hatte heute seine Badehose und den Frosch-Reifen zu Hause gelassen und sah in seinen Kakihosen und dem karierten kurzärmeligen Hemd sehr chic aus. Er trug sogar seine gute Brille. Die ohne Klebeband.

„Ist heute ein besonderer Tag im Kindergarten?“ Libby stellte ihre Handtasche in ein Regal und schnappte sich eine Schürze.

Calvin nickte begeistert. „Wir kriegen ein Schloss!“, krähte er. „Mit Türmen und allem Drum und Dran!“

Aha, dachte Libby. Tates Töchter hatten sich tatsächlich entschlossen, ihr Geburtstagsgeschenk dem Freizeitzentrum zu schenken. Das ging ja schnell.

„Ihr bekommt heute ein Schloss?“ Libby überlegte, ob Tate nicht vielleicht schon von Anfang an vorgehabt hatte, das Riesenspielzeug zu spenden; vielleicht hatte er sogar schon alles dafür in die Wege geleitet, kurz nachdem das Ding nach Silver Spur geliefert worden war.

„Nein“, erklärte Calvin mit wichtiger Miene. „Justins Mom ist eine Freundin meiner Kindergartentante Mrs Oakland. Und Mrs Oakland hat Justins Mom erzählt, dass es ein Riesenaufwand ist, das Ding zu übersiedeln.“

Libby, die das Schloss gesehen hatte, konnte dem nur zustimmen. „Und warum bist du dann so chic angezogen?“, wollte sie wissen.

Calvin seufzte demonstrativ. Erwachsene konnten erstaunlich schwer von Begriff sein, fand er. „Weil wir in der Pause ein Treffen haben und einen König wählen“, sagte er betont langsam, damit sein altes Tantchen ihm folgen konnte. „Ich bin im Komitee.“

Libby und Julie sahen sich an. Julie lächelte und zuckte die Achseln, als wollte sie „Auf eine dumme Frage bekommt man eine dumme Antwort!“ sagen. Doch ihre Augen – heute wegen ihres violetten T-Shirts fast veilchenblau – wirkten ernst. Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Ja“, antwortete Libby, eine Expertin in Telepathie unter Schwestern. „Ich habe es gehört.“

„Was gehört?“ Calvin ging Libby in den vorderen Teil des Ladens hinterher, wo sie die diversen Geräte einschaltete und das Türschild von „Geschlossen“ auf „Offen“ umdrehte.

„Dass du für das Amt des Königs kandidierst“, schwindelte Libby. „Hast du deine Rede schon vorbereitet? Hast du Ansteckbuttons und Autoaufkleber, die du an das Wahlvolk verteilen kannst?“

„Wenn sonst niemand darauf hinweist, dass Könige nicht gewählt werden“, schaltete Julie, die immer noch den Teig rührte, sich ein, „dann tue ich es hiermit.“

Calvin wirkte beunruhigt. „Ansteckbuttons und Autoaufkleber?“

Libby schmolz dahin. Sie beugte sich zu ihrem blonden Neffen und küsste ihn aufs Haar. „Ich mache doch nur Spaß, mein Großer. Aber deine Mutter hat recht. Soviel ich weiß, hat es noch nie einen König von Texas gegeben.“

Calvin strahlte. „Dann könnte ich ja der erste sein“, rief er hocherfreut. Da er noch nicht einmal in die Vorschule ging, aber schon in Komitees saß, hielt Libby es gar nicht für ausgeschlossen, dass er es schaffte.

Sie lächelte wieder, sperrte die Kasse auf und sah nach, ob genug Wechselgeld vorhanden war.

„Calvin.“ Julie deutete auf einen Tisch in der Ecke. „Setz dich bitte da hin und behalte den Eingang im Auge. Wenn du einen Kunden kommen siehst, rufst du uns.“

Calvin gehorchte bereitwillig. Er setzte sich aufrecht hin und nahm die Tür so wachsam ins Visier, dass Libby ganz warm ums Herz wurde.

Julie schob sie schnurstracks in die Küche, wo sie sich wenigstens halbwegs ungestört unterhalten konnten.

„Gordons E-Mail war nicht das Letzte, was ich von ihm gehört habe. Jetzt hat er auch noch angerufen“, flüsterte sie. Es klang fast verzweifelt. „Er ist einverstanden, die Sache langsam anzugehen. Aber er will Calvin unbedingt kennenlernen.“

„Okay“, sagte Libby. „Was wirst du tun?“

„Mich verstecken. Calvin, Harry und ich werden von hier verschwinden. Wir bleiben so lange weg, wie es nötig ist, und …“

Libby hob abwehrend beide Hände. „Julie“, fiel sie ihrer Schwester ins Wort. „Hörst du dir eigentlich selber zu? Das ist doch nichts, wovor du davonlaufen kannst. Außerdem hast du hier ein Haus, einen Job, Freunde und …“ Sie brach ab und räusperte sich. „… und deine Familie. Solltest du dir nicht wenigstens anhören, was Gordon zu sagen hat?“

„Hat Gordon sich angehört, was ich zu sagen hatte, als ich schwanger wurde?“, begehrte Julie auf, wobei sie aufpasste, nicht laut zu werden, damit Calvin sie nicht hörte.

Libby wusste, dass es keinen Sinn hatte zu streiten. Julie ließ ohnehin nur Dampf ab. „Hast du gehört, was Pablo Ruiz zugestoßen ist?“

Julie sah sie erstaunt an. „Nein. Was …“

„Er ist tot, Jules. Es hat auf Silver Spur gestern Abend oder nachts einen Unfall gegeben, und …“

„Oh nein. Nicht Pablo!“ Julie legte erschrocken eine Hand aufs Herz.

Libby nickte traurig. „Er war so stolz auf Mercedes“, flüsterte sie. Die einzige Tochter von Pablo und Isabel würde in ein paar Wochen ihr Medizinstudium in Boston abschließen. Sie hatte bereits eine Zusage als Assistenzärztin an der Johns-Hopkins-Klinik. Mercedes wollte Chirurgin werden.

Julie nickte und wischte sich mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen. Das Mehl hinterließ weiße, klebrige Flecken auf ihrer Wange. „Weißt du noch, wie Pablo jede Woche unseren Rasen gemäht hat, als Dad schon zu krank war, um das Haus zu verlassen?“

Natürlich erinnerte sich Libby daran. Und wenn nicht gerade in diesem Moment Calvin „Ich sehe einen! Ich sehe einen Kunden!“ gerufen hätte, wäre sie in Tränen ausgebrochen.

Libby sah Pablos lächelndes Gesicht noch vor sich. Einmal hatte sie versucht, ihm Geld dafür zu geben, dass er sich um den Garten kümmerte. Er hatte es mit einem Kopfschütteln abgelehnt und nur leise und mit starkem Akzent gesagt: „Freunde helfen sich gegenseitig. Mr Remington hat mit unserer Mercedes so oft für die Schule gelernt. Und mit Nico auch, als er sich für ein Stipendium beworben hat. Es ist mir eine Ehre, mich wenigsten ein bisschen erkenntlich zeigen zu können.“

„Die Scones!“, kreischte Julie plötzlich und stürzte zum Herd. Es war höchste Zeit, das Backblech aus dem Ofen zu nehmen.

Die Trauer war beinahe überwältigend. Und doch, die Arbeit wartete. Libby straffte die Schultern und ging zurück zur Espressomaschine.

Der Kunde, den Calvin angekündigt hatte, entpuppte sich als Tate McKettrick. Er sah, wie manche älteren Leute sich ausdrücken, so aus, als hätte man ihn durch den Wolf gedreht.

„Es tut mir sehr leid wegen Pablo“, sagte Libby. Am liebsten wäre sie zu Tate gegangen und hätte ihn umarmt. Doch sie war unsicher, wie er reagieren würde. Zwischen ihnen knisterte es wie früher, daran bestand kein Zweifel – doch sie und Tate waren jetzt älter, und die Dinge hatten sich verändert. Sie waren erwachsen und trugen Verantwortung – Libby für das Café, Tate für die Kinder.

Er war blass und unrasiert – was ihn Libbys Meinung nach nur noch attraktiver machte – und trug die gleichen, mittlerweile arg zerknitterten Klamotten wie gestern beim Abendessen. Was machte er so früh hier im Perk Up, wo er doch gerade einen guten Freund und langjährigen Mitarbeiter verloren hatte?

Er bedankte sich mit einem Nicken für die Beileidsbekundung. Dann fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. „Ich brauche jetzt entweder einen starken Kaffee oder eine ganze Flasche Jack Daniels. Ich schätze, Kaffee ist die bessere Wahl.“

„Nimm Platz.“ Libby deutete auf die Barhocker. „Wo sind die Mädchen, Tate?“

Er setzte sich und legte die Unterarme auf die Theke. „Bei Esperanza. Ich habe ihnen noch nicht erzählt, was mit Pablo geschehen ist. Aber sie merken natürlich, dass etwas nicht stimmt …“

Calvin lief zu ihm. „Wir kriegen im städtischen Freizeitzentrum ein Schloss, Mr McKettrick“, verkündete er aufgeregt. „Und ich kandidiere als König.“

„Ich habe von dem Schloss gehört.“ Tate lächelte matt. Einen Moment lang sahen er und Libby sich tief in die Augen. „Allerdings habe ich nicht gewusst, dass in Blue River schon wieder eine Wahl ansteht.“

„Es dürfen nur Kinder wählen“, erklärte Calvin ihm mit wichtiger Miene. „Kleine Kinder, die in den Kindergarten gehen. Die Großen wissen nicht mal, dass wir einen König wählen.“

„Ah“, sagte Tate. „Ein Putsch also. Ich bin beeindruckt.“

„Was ist ein Pusch?“, fragte Calvin prompt.

Tate seufzte.

„Lass gut sein, Calvin“, schaltete Libby sich freundlich ein. „Geh wieder an deinen Tisch und halt nach Kunden Ausschau.“

„Warum?“ Er zeigte auf Tate. „Wir haben ja schon einen.“

Tate lachte leise. Doch es war nicht zu überhören, wie mitgenommen und traurig er war. Libby spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Calvin …“ Libbys Ton war liebevoll, aber bestimmt. „Ich sagte, lass es gut sein.“

„Oh Mann …“ Calvin breitete resigniert die Arme aus und ließ sie wieder fallen. „Alle reden mit mir, als wäre ich ein Baby. Dabei bin ich vier Jahre alt.“

„Das ist ja unerhört.“ Tate schmunzelte.

Libby stellte eine Tasse schwarzen Kaffee vor ihn hin. Calvin nahm wieder seinen Wachposten am Tisch ein. Er war sichtlich empört und dachte vermutlich immer noch darüber nach, was ein Putsch – oder Pusch – war.

„Dieser Knirps“, stellte Tate fest, nachdem er genüsslich einen Schluck Kaffee getrunken hatte, „ist viel zu schlau. Ist er wirklich erst vier? Oder ist er vierzig – und einfach nur klein für sein Alter?“

Libby fiel auf, dass zwischen der Art und Weise, wie Tate und Jubal Tabor „Knirps“ sagten, ein Unterschied von hundertachtzig Grad lag. Warum bloß?

„Tja, wem sagst du das …“, schaltete Julie sich ein, ehe Libby antworten konnte. Sie kam gerade aus der Küche und stellte einen Teller frisch gebackener Scones und eine kleine Schüssel mit portionierten Butterstückchen in Folie vor Tate hin. Irgendwann hatte sie sich offenbar das Mehl aus dem Gesicht gewischt, und obwohl ihre sonst so rosigen Wangen bleich waren, sah sie strahlend und hübsch aus. „Iss das, McKettrick. Du siehst aus wie verdaut und wieder ausgekotzt. Zwei Mal.“

„Du hast dich immer schon unglaublich gewählt ausgedrückt, Jules“, erwiderte er. Doch er öffnete zwei Butterpäckchen, schnitt einen von Julies dampfenden Scones in der Mitte durch und bestrich ihn dick. Seine kräftigen Hände zitterten fast unmerklich. „Und backen kannst du auch.“

Libby spürte plötzlich eine heftige, irrationale Eifersucht in sich hochsteigen. Glücklicherweise verschwand das Gefühl so schnell, wie es gekommen war. Egal, wie viele neue Rezepte sie ausprobierte, ihre Kochkünste würden immer mehr als bescheiden bleiben. Selbst die unzähligen Kochsendungen, die sie sich im Fernsehen ansah und bei denen sie fleißig mitschrieb, änderten nichts daran.

Sie war, nahm sie an, in allem leider nur Durchschnitt.

Julie war die schillernde, vielseitig begabte Schwester. Backen war nur eines ihrer Talente. Sie konnte Singen, Tanzen und Theater spielen. Ihre Scones lockten schon jetzt zahlreiche Kunden an, und wenn sie jemals ihre Plätzchen machte, die auf der Zunge zergingen, würden die Leute ihnen die Tür einrennen. Außerdem konnte sie gut mit Kindern umgehen. Mit allen Kindern – angefangen bei Calvin bis zu ihren Schülern.

Obendrein war Julie mit jener Art von Aussehen gesegnet, bei dem die Männer stehen blieben und sie anstarrten. Sogar die, die Julie schon ewig kannten.

Paige, das Baby der Familie, war die Kluge, Vernünftige, praktisch Veranlagte. Und sie war genauso schön wie Julie, allerdings auf andere Art und Weise.

Libby biss sich auf die Unterlippe. Was sie selbst betraf … Tja, sie war einfach die Älteste.

Sie sah durchaus hübsch aus. Aber sie konnte nicht gut singen – geschweige denn in Musicals wie „Cats“, „Das Phantom der Oper“ oder „Kiss me, Kate“ brillieren, wie Julie es während ihrer Collegezeit immer wieder getan hatte.

Sie meisterte lebensbedrohliche Situationen nicht so souverän wie Paige.

Aber warum machte sie sich überhaupt solche Gedanken, wenn Pablo Ruiz, ein Mann, den sie gemocht und sehr geschätzt hatte, gerade gestorben war? Und das viel zu früh.

„Kein einziger Kunde in Sicht!“, meldete Calvin laut. Seine Stimme gellte regelrecht durch den Laden.

„Behalt die Straße trotzdem im Auge“, riet Julie ihm. „Irgendwo da draußen muss doch einer sein.“

Libby beobachtete Tate immer noch. Seine Haare waren zerzaust, weil er sie sich vermutlich die ganze Nacht gerauft hatte, als er das Ausmaß der Katastrophe erfasst hatte. Sogar erschöpft und ausgelaugt und mit dem dunklen Bartschatten war sein Anblick für sie immer noch atemberaubend und ließ ihr Herz schneller schlagen.

Das ist es, womit ich berühmt geworden bin, dachte sie bedrückt.

Tate McKettrick hatte sie sitzen gelassen.

Sechs Wochen nach der Trennung hatten ihr die Leute immer noch Karten und kleine Briefchen geschickt, die sie aufmuntern sollten. Die meisten hatten es nett gemeint, und nur ein paar hatten sich insgeheim an ihrem Unglück ergötzt. Bei ihrem Vater war damals Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden – das langsame Dahinsterben war erst später gekommen –, doch niemand hatte ihren Dad in den Karten und persönlich je erwähnt. Die Leute hatten ihr beispielsweise geschrieben „Irgendwann findest du einen anderen“, „Es hat nicht sollen sein“ oder „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“.

All das war Libby kein großer Trost gewesen. Denn Tates Verrat hatte sie wie aus heiterem Himmel getroffen und ihr den Boden regelrecht unter den Füßen weggerissen.

Trotzdem war sie gerade dabei, ihn wieder in ihr Leben zu lassen. Und das, obwohl sie wusste – wusste –, was er ihr antun konnte.

Während Libby sich gedanklich mit dieser Tatsache auseinandersetzte, holte Julie ihre Handtasche und klimperte mit den Autoschlüsseln, um Calvins Aufmerksamkeit zu erregen. „Zeit für den Kindergarten, Kumpel.“ Im Vorbeigehen drückte sie Tates Schulter und versprach Libby, im Nu wieder zurück zu sein. Falls Libbys Kunden Scones wollten – falls sie Scones wollten? –, gäbe es vier Dutzend davon in der Küche; Julie hatte sie wie versprochen gestern Abend gebacken.

Sobald Julie und Calvin gegangen waren, stand Tate von seinem Hocker auf und ging zur Tür. Er drehte das „Offen“-Schild um und schob den Riegel vor.

Libby sagte kein Wort dazu. Nachdem er wieder an die Theke zurückgekehrt war, setzte sie sich auf den Hocker neben ihn, sodass sein und ihr Oberarm sich ganz leicht berührten.

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