Die Nacht vor der Hochzeit

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Panik erfasst die schöne Gabriella in der Nacht vor ihrer Hochzeit. Sie kann Stephen einfach nicht heiraten! Deshalb packt sie ihre Sachen und fährt an den Comer See - ihr Verlobter folgt ihr dorthin. Seine Augen funkeln vor Wut! Aber spricht aus ihnen nicht noch etwas anderes? Kann Stephen ihr noch einmal verzeihen und ihrer Liebe eine neue Chance geben?


  • Erscheinungstag 20.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775278
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es war ein kühler Maimorgen, der Morgen ihrer geplanten Hochzeit, als Gabriella die Flucht ergriff.

Die ganze Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden, war ruhelos in ihrer Wohnung in Islington von einem Zimmer ins andere gewandert. Jedes Mal, wenn sie dabei an einem Spiegel vorbeikam, sah sie die Panik in ihren blauen Augen. Sie erkannte sich kaum wieder. Ihr Gesicht schimmerte bleich gegen ihr langes, glattes schwarzes Haar, ihre Lippen waren blass und zitterten.

In einer Ecke ihres Schlafzimmers hing auf einem Bügel in einer durchsichtigen Schutzhülle das lange weiße Kleid.

„Es sieht aus wie ein Schmetterling im Kokon“, hatte Lara gesagt, als sie zwei Tage zuvor bei Gabriella vorbeigeschaut hatte. Dann hatte sie ihre Cousine nachdenklich angesehen. „Fühlst du dich vielleicht so, Gabi? Als würdest du nur darauf warten, in ein ganz neues Leben aufzubrechen? Ich erinnere mich, dass es bei mir so war. Die Heirat ist vermutlich die größte Veränderung im Leben einer Frau. Nichts wird mehr wie früher sein.“ Nach einem weiteren durchdringenden Blick hatte Lara ein wenig besorgt hinzugefügt: „Ist alles in Ordnung? Du siehst irgendwie nicht wie eine glückliche Braut aus … Bekommst du vielleicht kalte Füße? Weißt du, das geht uns allen so.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei dir so war!“ Gabriella war wirklich verblüfft gewesen. Sie hätte nie erwartet, dass Lara sich durch irgendetwas nervös machen ließe. Ihre Cousine war eine tüchtige, selbstbewusste, zielstrebige Frau, genau, wie es ihre Mutter gewesen war. Kaum zu glauben, dass Lara und Gabriella Cousinen ersten Grades waren, denn sie unterschieden sich wie Tag und Nacht.

Doch Lara hatte amüsiert genickt. „Mach nicht so ein überraschtes Gesicht. Ich bin auch nur ein Mensch! Ich weiß noch genau, dass ich so nervös war, dass ich Tage vor der Hochzeit nichts mehr essen konnte. In den Flitterwochen war ich dann halb verhungert und konnte nicht mehr aufhören zu essen. Bob glaubte schon fast, er habe eine Fresssüchtige geheiratet!“ Gabriella hatte bei Laras Erzählung gelacht. Aber jetzt, am frühen Morgen ihrer bevorstehenden Hochzeit, lachte sie nicht mehr, als sie ihr Hochzeitskleid betrachtete. Sie hatte es in einem Brautladen in London gekauft. Es war ihr sofort ins Auge gefallen, weil es so romantisch wirkte: weißer Satin und weiße Spitze im viktorianischen Stil mit einem tiefen Dekolleté, einer schmalen Taille und einem weiten Reifrock, auf dem hier und da Rosenknospen aus zartrosa Satin schimmerten.

Zwei Anproben waren nötig gewesen, um kleinere Veränderungen vorzunehmen, bis es perfekt passte. Dennoch konnte Gabriella sich jetzt nicht mehr erinnern, wie sie in dem Kleid ausgesehen hatte. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an diese Angst, die sie am Abend zuvor richtig überfallen hatte und im Lauf der Nacht nur noch größer geworden war.

Stephen hatte es natürlich bemerkt. Es gab kaum etwas, das seinen scharfsichtigen grauen Augen entging, und Gabriella hatte weder ihre Furcht noch ihren Widerwillen vor seinem Blick verbergen können. Doch er hatte nur gesagt: „Schlaf dich gut aus, Gabriella. Morgen wird es ein langer Tag. Aber danach können wir mehrere Wochen Sonne und Ruhe genießen … nur wir beide allein.“

Als er sich herabbeugte, um sie erneut zu küssen, erstarrte sie unwillkürlich, während seine Worte wie eine Drohung in ihren Ohren widerklangen: „Nur wir beide allein … allein … allein …“ Glücklicherweise war es nur ein kurzer, zarter Abschiedskuss gewesen. Gabriella hatte es danach nicht gewagt, Stephen ins Gesicht zu sehen, denn sie fürchtete seinen Scharfblick.

Im Gegensatz zu Gabriella, die kaum einen Meter sechzig maß, war Stephen ein großer Mann von weit über einem Meter achtzig, und auch die exklusiven, maßgeschneiderten Anzüge, die er zumeist trug, konnten nicht über seine beeindruckend athletische, breitschultrige Figur hinwegtäuschen. Dazu besaß er eine unglaubliche Energie. Gabriella hatte natürlich gewusst, dass er ein dynamischer Mann war, was schon allein seine atemberaubende geschäftliche Karriere bewies, doch bei ihr war er immer anders gewesen. Sie hatte sich von seiner betont beherrschten Art im Umgang mit ihr täuschen lassen und den Eindruck gewonnen, Stephen sei kein gefühlsbetonter, leidenschaftlicher Mann und schon gar nicht in sexueller Hinsicht fordernd.

Wie hatte sie nur so blind sein können?

Gabriella wandte sich rasch von dem Brautkleid ab und stolperte fast über die teuren Lederkoffer, die schon fertig gepackt neben der Tür standen. Gabriella betrachtete sie unverwandt.

Alles war perfekt geplant. Die Koffer sollten später in den Wagen geladen werden, mit dem sie zum Flughafen fahren würden. Stephens Sekretärin, eine tüchtige Frau im mittleren Alter, die schon seit Jahren für ihn arbeitete, hatte den Ablauf bis ins Detail organisiert.

Gabriellas Pass befand sich in ihrer Handtasche. Geld, so hatte Stephen ihr gesagt, brauche sie nicht mitzunehmen. Doch das hatte ihr Unabhängigkeitsgefühl gestört. Sie und Stephen waren sich noch nicht einig, ob sie nach der Heirat weiter arbeiten sollte. Stephen war dagegen, aber Gabriella wollte sich eine gewisse Selbstständigkeit und ein eigenes Leben außerhalb von Ehe und Heim bewahren.

Deshalb hatte sie sich auch geweigert, bevor sie verheiratet waren, Geld von ihm anzunehmen. In ihrer Handtasche befand sich also ein Umschlag mit amerikanischen Dollars, die sie von ihrem eigenen Konto abgehoben hatte. Zwar besaß sie nun kaum noch Rücklagen, aber dieses Geld gehörte zumindest ihr, und sie konnte es jetzt ohne Gewissensbisse mitnehmen.

Sie brauchte nur die Koffer zu nehmen und zu gehen. Sie musste nicht heiraten. Sie konnte einfach verschwinden.

Aber wohin? Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Sie konnte sich ins Flugzeug setzen und nach … Nein, wenn sie flog, würde sie sich später einen Wagen mieten müssen, und es würde für Stephen ein Leichtes sein, ihren Namen auf den Passagierlisten am Flughafen und dann bei den Mietwagenfirmen aufzuspüren.

Würde er aber überhaupt nach ihr suchen?

Gabriella jagte ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hatte einmal erlebt, wie Stephen die Beherrschung verloren hatte, weil seine Sekretärin ein überaus wichtiges Fax verlegt hatte. Nein, sie wollte nicht, dass sich dieser Zorn gegen sie richtete, zumal das, was sie vorhatte, viel schlimmer war als eine Unachtsamkeit im Büro. Stephen würde in aller Öffentlichkeit sein Gesicht verlieren und sich tief gedemütigt fühlen … dem Gespött der Leute preisgegeben.

Vermutlich würde er sie nie wiedersehen, ja, nicht einmal mehr ihren Namen hören wollen …

Nein! Wem wollte sie etwas vormachen? So gut kannte sie Stephen doch inzwischen. Er würde alles daransetzen, sie zu finden … Er wird mich umbringen! durchzuckte es sie in Panik.

Denk nach! ermahnte sie sich verzweifelt. Sie hatte ihren Wagen und konnte einfach aus London heraus an einen abgelegenen, ruhigen Ort fahren. Nach Cumberland? Oder ganz in den Westen von Cornwall? Großbritannien war voller friedlicher, abgeschiedener Orte ohne Bahnhöfe, Hotels oder Einkaufszentren … kleine Dörfer irgendwo weit draußen auf dem Land, in die sich nur selten ein Fremder verirrte.

Aber wohin sie auch in Großbritannien gehen würde, es würde dort Zeitungen geben. Stephen war eine wohlhabende und bekannte Persönlichkeit. Wenn irgendein Reporter Wind von der Sache bekam, würden auch Fotos von Gabriella in der Zeitung erscheinen. Man würde sie erkennen, und vermutlich würde irgendjemand ihren Aufenthaltsort gegen Geld an die Presse verraten.

Nein, sie musste ins Ausland fliehen, so weit weg wie möglich. Ausländische Zeitungen würden sich für ihre Geschichte kaum interessieren. Am naheliegendsten war Frankreich, ein großes Land, in dem man gut untertauchen konnte. Doch Gabriella sprach kaum Französisch und das wenige mit so starkem Akzent, dass sie sofort als Engländerin auffallen würde.

Überdies hatte sie nicht genug Geld, um lange davon leben zu können. Sie würde sich einen Job suchen müssen, und dazu musste sie die Landessprache sprechen. Als ausgezeichnete Köchin mit einer erstklassigen Ausbildung würde sie bestimmt in einem Hotel oder Restaurant Arbeit finden. Wenn sie ihr Können unter Beweis stellte, würde man nicht nach Referenzen fragen … aber sie musste die Sprache beherrschen.

Dann blieb nur Italien, auch wenn Stephen sicher genau das von ihr erwarten würde. Wenn sie es klug anfing, würde sich bestimmt auch in Italien ein Versteck für sie finden. Sie würde mit dem Auto nach Dover fahren und das Ticket für die Kanalfähre dort bar bezahlen. Auf diese Weise war ihre Spur schwerer zu verfolgen, als wenn sie die Überfahrt telefonisch im Voraus gebucht hätte. Sobald sie in Frankreich war, würde sie auf möglichst direktem Weg nach Italien weiterfahren. Wenn sie sofort aufbrach, würde sie in Frankreich sein, ehe Stephen ihre Flucht überhaupt bemerkte.

Ihre Mutter war Italienerin gewesen. Gabriella war in Italien geboren und hatte bis zum Alter von elf Jahren, als ihre Mutter gestorben war, auch dort gelebt. Sie besaß die doppelte Staatsangehörigkeit und sprach fließend Italienisch. Deshalb würde sie in Italien nicht auffallen, sondern problemlos als Einheimische durchgehen.

Sie durfte sich nur nicht in die Nähe von Brindisi begeben, woher ihre Mutter stammte. Zwar lebten dort nur noch ein paar entfernte Verwandte, aber Stephen wusste von ihnen und würde dort natürlich zuerst suchen. Besser war es, in Norditalien Zuflucht zu suchen, so weit weg von Brindisi wie möglich.

Ihr Entschluss stand fest. Gabriella eilte ins Bad, zog ihr Nachthemd aus und duschte, was ihr half, einen klaren Kopf zu bekommen. Ein paar Minuten später trocknete sie sich ab und zog sich über einen zarten schwarzen Spitzenslip und einen passenden BH eine alte Bluejeans und einen schlichten blauen Baumwollsweater. In dieser Kleidung würde sie nicht auffallen, und sie war überdies bequem für die Reise.

Ihr langes schwarzes Haar frisierte sie zu einem Knoten im Nacken und verzichtete auf jegliches Make-up. Eine dunkle Sonnenbrille würde ihr zusätzlich Tarnung verleihen. Auf keinen Fall durfte sie das Risiko eingehen, irgendwo auf der Fahrt erkannt zu werden, denn Stephen würde ihr dicht auf den Fersen sein, und allein der Gedanke an ihn jagte ihr eine Heidenangst ein.

Mein Gott, warum habe ich es mir nicht schon viel früher klargemacht? dachte sie verzweifelt.

Was würde Stephen tun, falls er sie aufspürte? Gestern Abend hatte sie den wirklichen Stephen gesehen, die Seite seines Wesens, die er all die Monate vor ihr verborgen hatte. Sie hatte ihre Scheuklappen verloren und wusste, dass sie von Stephen keine Gnade erwarten konnte.

Trotzdem musste sie ihm eine Nachricht zukommen lassen. Sie konnte nicht einfach davonlaufen und ihn unwissend vor dem Altar warten lassen. Also setzte sie sich hin und kritzelte rasch einen kurzen Abschiedsbrief. Es war keine Zeit mehr, die Worte sorgfältig zu wählen und ihm die Nachricht schonend und taktvoll beizubringen. Gabriella schrieb ihm einfach, dass es ihr sehr leidtäte und er ihr hoffentlich verzeihen würde, dass sie ihn aber nicht heiraten könnte und fortgehen würde.

Sie wollte den Zettel schon zusammenfalten, als sie kurz entschlossen noch ein paar Zeilen hinzufügte:

„Bitte, gib allen Nachricht, und entschuldige Dich in meinem Namen. Versuch, mich zu verstehen, Stephen … Es tut mir leid, doch ich kann Dich einfach nicht heiraten. Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann es doch nicht. Verzeih, aber ich kann es Dir nicht erklären.“

Gabriella unterschrieb mit ihrem Namen, las das Geschriebene noch einmal durch und stöhnte. Es war ein unzusammenhängendes Gestammel. Stephen würde meinen, sie sei betrunken gewesen. Aber sie hatte keine Nerven und keine Zeit, es noch einmal umzuschreiben.

Sie würde an dem Apartmenthaus, in dem Stephen wohnte, vorbeifahren und ihm den Brief in den Briefkasten werfen. Der Portier brachte ihm jedem Tag pünktlich um acht die Post. Die Trauung war für halb zwölf angesetzt, sodass Stephen genügend Zeit blieb, die Messe und den Empfang vor Eintreffen der Gäste abzusagen. In seinen Büros stand ihm ein tüchtiges Sekretariatsteam zur Verfügung, das ihm die Anrufe abnehmen würde. Dennoch wagte Gabriella nicht, sich vorzustellen, welches Chaos an Absagen, Abbestellungen und Entschuldigungen ihr Entschluss nach sich ziehen würde.

Für Stephen würde das alles höchst peinlich und demütigend sein. Beschämt blickte Gabriella auf den Umschlag, auf den sie gerade seinen Namen geschrieben hatte. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte. Dann aber wallte erneut Panik in ihr auf. Nein, sie konnte es nicht tun, Punktum. Wie immer die Folgen aussehen würden, sie konnte Stephen nicht heiraten.

Um sich zu beruhigen, konzentrierte sie sich bewusst auf die nötigen Einzelheiten. Sie ging den Inhalt ihrer Handtasche noch einmal durch, um sich zu vergewissern, dass alles da war, was sie brauchte. Dann zog sie eine leichte schwarz-weiß gestreifte Sommerjacke über und nahm die Autoschlüssel. Im Hinausgehen fiel ihr Blick auf einige Briefe, die auf einer Kommode in der Diele lagen. Sie hatte sie tags zuvor geschrieben und vergessen, zur Post zu bringen. Ganz automatisch nahm sie die Umschläge und wollte sie in ihre Handtasche stecken, als ihr Blick auf die Adresse des obersten fiel.

Und plötzlich kam ihr die rettende Idee. Paolo! In seinem Brief hatte er ihr geschrieben, dass er augenblicklich in einer Villa am Lago di Como wohne und den ganzen Sommer bis September dort bleiben würde. Wie er schrieb, arbeitete er an einer Reihe von Fresken an den Wänden eines kleinen Privattheaters in der Villa, die einem weltberühmten Opernregisseur gehörte, der dort in Zukunft neue Inszenierungen ausprobieren wollte.

Das ist es, dachte Gabriella. Ich fahre an die italienischen Seen. Sie liegen Hunderte von Meilen nördlich von Brindisi. Stephen wird nicht auf den Gedanken kommen, dort nach mir zu suchen. Warum auch? Ich habe ihm nie erzählt, wie viel mir Paolo bedeutet.

Sie steckte die Briefe in ihre Handtasche und verließ ihre kleine Wohnung im Erdgeschoss eines alten viktorianischen Hauses. Ihr Auto parkte in dem ehemaligen Vorgarten, der zu Stellplätzen umfunktioniert worden war, nachdem man das Haus in Mietwohnungen unterteilt hatte.

Es war halb sechs in der Frühe. London lag noch still in der grauen Morgendämmerung. In den Straßen waren erst wenige Autos und noch weniger Menschen unterwegs. Gabriella hielt am nächsten Briefkasten und warf alle Briefe bis auf den einen an Paolo ein.

Bei dem schwachen Verkehr brauchte sie nur zehn Minuten bis zu dem Apartmenthochhaus mit Blick auf den Hydepark. Es war eins von Stephens lukrativsten Projekten gewesen, vor fünf Jahren mitten im Herzen von Londons teuerster und vornehmster Gegend erbaut mit einer herrlichen Aussicht. Selbst die kleinsten Apartments dort kosteten ein Vermögen.

Stephen war gleich nach der Fertigstellung in das Penthouse des Wolkenkratzers eingezogen. Das hatte er von Anfang an vorgehabt und die Wohnung zusammen mit dem Architekten nach seinen Vorstellungen und seinem Geschmack planen und ausführen lassen. Der elegant eingerichtete Salon führte auf einen großen Dachgarten hinaus, der mit blühenden Blumen, Büschen und sogar einigen kleineren Bäumen in Kübeln üppig bepflanzt war. Gabriella war gern abends dort hinausgegangen, um London von oben zu betrachten, das weit unten mit all seinen Lichtern und dem gedämpften Verkehrslärm seltsam unwirklich wirkte.

Die unmittelbare Nachbarschaft zum Hydepark bot einen zusätzlichen Reiz. Man hatte fast das Gefühl, mitten in London auf dem Land zu wohnen. An heißen Tagen konnte man im Schatten der alte Bäume entspannen und picknicken oder auf der Serpentine rudern. Stephen ritt an den Wochenenden regelmäßig auf seinem schwarzen Araberhengst aus, den er in einem nahegelegenen Stall eingestellt hatte, und früh morgens joggte er durch den Park, um sich fit zu halten.

Gabriella parkte jetzt im Halteverbot vor dem Hochhaus. Um diese frühe Stunde brauchte sie kaum einen Polizisten zu fürchten. Sie eilte zum Eingang des Hauses und warf den Brief in den chromglänzenden Briefkasten neben der Eingangstür aus Sicherheitsglas. Der Portier, der hinter seinem Empfangstresen saß, schaute auf, erkannte sie überrascht und wollte im nächsten Moment mit einem freundlichen Lächeln den Türöffner betätigen. Doch Gabriella schüttelte rasch den Kopf und drehte sich wieder um.

Sie hatte es im Gefühl, dass der Portier sofort aufstand und auf die Tür zuging, um den Brief, den sie für Stephen eingeworfen hatte, aus dem Kasten zu holen. Hoffentlich bringt er ihn nicht gleich nach oben! dachte sie, wobei ihr Herz pochte.

Aber warum sollte der Portier das tun? Es war noch viel zu früh! Sicher würde er den Brief beiseitelegen und um acht zusammen mit Stephens übriger Post nach oben tragen.

Gabriella stieg wieder in ihren Wagen ein, schloss erleichtert die Tür und schnallte sich an. Dann erst wagte sie einen vorsichtigen Blick hinauf zum vierzigsten Stock des atemberaubenden Wolkenkratzers. Sie hatte erwartet, dass die großen Panoramafenster des Penthouses dunkel sein würden, stattdessen waren sie hell erleuchtet. Gabriella bemerkte es mit Entsetzen. Stephen musste wach sein. Konnte er auch nicht schlafen? Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass er auch nervös und von plötzlichen Zweifeln und Unsicherheiten befallen sein könnte.

Hinter einem der Fenster sah sie einen Schatten, der sich bewegte. Gabriella schluckte angstvoll. War es Stephen? Oder bildete sie es sich nur ein? Schaute er vielleicht hinaus? Nach unten? Was, wenn er sie entdeckte? Wenn er ihren Wagen erkannte? Beobachtete er sie vielleicht sogar und fragte sich, was sie um diese Zeit hier draußen machte und ob sie zu ihm hochkommen würde? Würde er vielleicht nach unten fahren, um festzustellen, ob sie eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte?

Ihr Hand zitterte, als sie den Motor startete. Rasch gab sie Gas und fuhr davon, als wäre der Teufel hinter ihr her.

In ihrer Angst fuhr sie viel zu schnell, aber um diese frühe Stunde war keine Polizei in der Nähe, und die Straßen waren noch verhältnismäßig leer. Bald hatte sie die Themse erreicht, die träge im ersten Licht des Morgens dahinfloss, überquerte die Westminster Bridge und fuhr in die südliche Vorstadt, die so früh am Morgen ungewöhnlich still und verschlafen dalag.

Ich werde Paolo nicht aus England anrufen, sondern erst zum Lago di Como fahren, dachte Gabriella. Ich werde mir dort ein Hotelzimmer nehmen und mich erst dann bei Paolo melden. So ist es sicherer.

Sie hatte ihm natürlich von ihrer bevorstehenden Hochzeit geschrieben und ihn eingeladen, aber er hatte ihr zurückgeschrieben, dass er es leider nicht schaffen würde zu kommen, ihr aber alles Glück der Welt wünsche. Als Geschenk hatte er ihr ein ausgesuchtes Stück venezianischer Glaskunst geschickt, einen kunstvoll verzierten Kerzenleuchter. Gabriella hatte ihn erst gestern erhalten und Stephen noch nichts davon erzählt.

Soweit sie sich erinnerte, hatte sie noch nie mit ihm über Paolo gesprochen, aber sein Name stand natürlich mit seiner römischen Heimatadresse auf der Gästeliste für die Hochzeit. Wenn Stephen ihn überhaupt bemerkt hatte, dann hatte er zweifellos angenommen, er sei einer ihrer italienischen Verwandten, was in gewisser Hinsicht sogar zutraf. Paolo bedeutete ihr mehr als irgendein anderer Mensch auf der Welt.

Als Gabriella in Dover eintraf, blieb ihr noch eine halbe Stunde Wartezeit, ehe sie auf die Fähre fahren konnte. Auf der Fahrt von London hatte sie Zeit zum Nachdenken gehabt. Deshalb suchte sie sich, nachdem sie das Ticket gekauft hatte, eine Telefonzelle und rief Lara an.

Es läutete endlos, bis endlich jemand den Hörer abnahm und sich am anderen Ende der Leitung eine verschlafene Stimme meldete: „Hallo?“

„Ich bin’s, Lara. Gabriella“, sagte sie, und Lara stöhnte empört auf.

„Das darf nicht wahr sein! Gabi, was, zum Teufel, fällt dir ein, mich um diese Zeit … Wo ist die verdammte Uhr …? Du meine Güte, es ist erst halb acht! Weißt du, dass ich erst vor fünf Minuten wieder ins Bett gekommen bin? Tommy hat sich entschieden, heute Nacht einen neuen Zahn zu bekommen, und er hat die halbe Nacht geweint und geschrien. Als er endlich einschlief, wurde es schon hell! Egal, wie groß die Krise auch ist, du musst also ohne mich damit fertig werden! Ich brauche unbedingt etwas Schlaf, bevor ich auch nur daran denken kann, mich für deine Hochzeit zurechtzumachen.“

Ehe Lara auflegen konnte, sagte Gabriella rasch: „Ich werde heute nicht heiraten, Lara.“

Betretenes Schweigen. Dann: „Wie bitte?“

Gabriella redete sehr schnell, damit ihre Cousine keine Chance hatte, sie zu unterbrechen: „Ich gehe fort. Ich habe Stephen einen Brief geschrieben. Es tut mir leid. Ich kann es dir nicht erklären … Ich muss jetzt Schluss machen. Würdest du es bitte den anderen sagen? Sag ihnen, es tut mir wirklich sehr leid, aber ich kann es einfach nicht tun.“

Bevor sie auflegte, hörte sie Lara noch ausrufen: „Aber wohin gehst du denn? Was …?“

Gabriella betrachtete ihr Gesicht, das sich im Plexiglasgehäuse des Telefons spiegelte. Mit dem glatt zurückfrisierten Haar und ohne Make-up sah sie noch jünger aus. Ihre blauen Augen verrieten einen Aufruhr von Gefühlen, die sie viele Jahre unterdrückt hatte und denen zu stellen sie sich immer noch scheute.

Ich muss mein Haar schneiden lassen, dachte sie plötzlich. Es ist viel zu lang. So bald wie möglich werde ich es abschneiden!

Sie kaufte sich an einem Imbissstand einen Becher mit heißem schwarzen Kaffee, setzte sich damit in ihren Wagen und trank ihn in kleinen Schlucken, während sie auf die Schlangen von wartenden Autos vor ihr blickte. Endlich setzten sich die Autos in Bewegung. Gabriella fuhr langsam hinterher bis auf die Fähre, ließ sich auf dem Parkdeck einweisen und ging dann hinauf ins Schiff.

Da sie viel zu nervös war, um etwas essen zu können, setzte sie sich an Deck und beobachtete, wie die weißen Felsen von Dover und die grünen Hügel Englands allmählich in der Ferne verschwanden. Es war eine kurze Überfahrt. Nur eineinhalb Stunden später fuhr Gabriella in Calais wieder von Bord und folgte der Beschilderung, die den Verkehr in einem Ring um die alte Stadt herumführte. Es war erstaunlich, wie rasch man aus Calais heraus und auf die Autobahn nach Paris gelangte.

Gegen halb zwölf, dem Zeitpunkt, da sie eigentlich an Stephens Seite vor den Altar hätte treten sollen, war sie nicht mehr allzu weit von Paris entfernt. Nachdem sie sich noch einmal die Karte angesehen hatte, entschied sie, dass sie für die Fahrt über die Berge, durch die Schweiz über den Simplonpass, zu wenig Erfahrung besaß. Also wählte sie lieber die Autoroute du Sud nach Menton, um dort die Grenze nach Italien zu überqueren. Das bedeutete zwar einen großen Umweg, aber die Strecke war weniger riskant zu befahren.

2. KAPITEL

Gabriella konnte diese Fahrt von ungefähr siebenhundert Meilen nicht an einem Tag schaffen. Sie fuhr, bis sie restlos erschöpft war, und nahm sich dann in einem Autobahnhotel ein Zimmer für die Nacht. Da war sie schon ein gutes Stück hinter Lyon.

Nach einem leichten Abendessen im Hotelrestaurant ging sie zu Bett. Das Hotelzimmer war spärlich möbliert, aber es war sauber und besaß ein eigenes Bad, und Gabriella war so müde, dass sie sogar auf dem Fußboden eingeschlafen wäre.

Dennoch schreckte sie mehrmals aus Albträumen hoch. Das Einzige, woran sie sich dann erinnerte, war Stephens Gesicht. Als sie das letzte Mal aufwachte, war es schon halb sechs. Kurz entschlossen duschte sie, zog sich an und ging ins Restaurant, um zu frühstücken. Nach einigen Tassen schwarzen Kaffees, einem Glas Orangensaft und einem Croissant mit Marmelade fühlte sie sich stark genug, die Reise fortzusetzen. Sie bezahlte das Hotelzimmer mit ihrer Kreditkarte, denn von hier würde es einige Zeit brauchen, bis die Abbuchung in England erfolgte. Dann setzte sie sich wieder in ihr Auto und fuhr weiter in Richtung Süden in einen strahlenden, sonnigen Morgen.

Je weiter südlich sie gelangte, desto wärmer wurde es. Die Landschaft veränderte sich rasch, wechselte von den Laubwäldern und grünen Feldern im Herzen Frankreichs zu den typischen Zypressen, Olivenhainen und den würzig duftenden Sträuchern der Provence. Schließlich führte die Autobahn in einem Bogen auf die Côte d’Azur zu. Der Himmel strahlte jetzt in tiefem Blau, hier und da erhaschte Gabriella zur Rechten schon einen Blick auf das Meer, das in der Sonne funkelte. Sie fuhr durch die grünen Ausläufer der Meeralpen, vorbei an weiß getünchten Villen mit roten Ziegeldächern, die die Hänge bis hinunter zur Küste bedeckten.

Es war ein so malerischer Anblick, dass Gabriella fast versucht war, ein, zwei Nächte zu bleiben. Sie war schon wieder lange unterwegs und hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen, um sich auszuweinen, aber sie zwang sich, weiterzufahren. Am späten Nachmittag überquerte sie bei Menton die Grenze nach Italien und bog wieder nach Norden ab, weg von der italienischen Riviera, in Richtung Mailand und der italienischen Seen.

Solange sie auf der Autobahn fuhr, wo nur wenig Verkehr herrschte, kam sie gut voran. Schwieriger wurde es, als sie auf die schmalen, gewundenen und dicht befahrenen Straßen abbog, die rund um den Lago di Como führten, der wie ein funkelnder blauer Spiegel eingebettet in die zerklüfteten Berge dalag. Zu dem Zeitpunkt war Gabriella schon so erschöpft, dass sie rein mechanisch weiterfuhr und kaum noch etwas von der Gegend wahrnahm. Ich muss anhalten und mir ein Hotel suchen, ehe ich einen Unfall baue, dachte sie dumpf.

Einen Augenblick später fuhr sie an einem Hotelschild vorbei. Ohne zu überlegen, bog sie einfach ab und fuhr durch die alten schmiedeeisernen Tore auf den Hotelparkplatz, gefolgt von einem heftigen Hupkonzert, mit dem die nachfolgenden Fahrer ihr haarsträubendes Abbiegemanöver quittierten.

Es handelte sich offensichtlich um ein altes Grandhotel mit Blick auf den See. Kristalllüster und Marmorböden zeugten vom inzwischen etwas verblassten Glanz früherer Zeiten. Die kleine Parkanlage, die das Hotel umgab, war jedoch gut gepflegt, und seitlich durch die Bäume sah Gabriella das Wasser des Lago di Como schimmern. Sie stellte ihr Auto neben den anderen Wagen, die seitlich der kiesbedeckten Auffahrt parkten, ab und ging erst einmal ohne Gepäck hundemüde zum Empfang, um sich nach einem Zimmer zu erkundigen.

Der Angestellte an der Rezeption schaute höflich auf und ließ seinen Blick abschätzig über ihren schlichten Baumwollsweater und die alten Jeans schweifen. Sofort wurde seine Miene merklich kühler.

„Si, Signorina?“ Offenbar hatte er sogar bemerkt, dass sie keinen Ehering trug.

Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete sie in fließendem Italienisch. Sie hatte die Sprache ihrer Mutter nicht vergessen! Gabriella erklärte dem Hotelangestellten, sie sei auf der Durchreise, suche für ein oder zwei Nächte ein Zimmer und ihr Gepäck sei draußen im Wagen.

Sichtlich skeptisch legte er ihr die Preisliste des Hotels vor, vielleicht in der Erwartung, dass die recht hohen Preise sie abschrecken würden. Doch Gabriella nickte nach einem flüchtigen Blick auf die Liste. Es war ihr egal, wie viel ein Zimmer kosten würde. Sie musste unbedingt etwas schlafen und war glücklicherweise noch nicht knapp bei Kasse.

„Haben Sie ein Zimmer mit Blick auf den See?“

„Ein Einzelzimmer?“

„Ja, bitte.“

„Wie wollen Sie zahlen, Signorina?“, fragte der Angestellte vorsichtig.

„Bar und im Voraus.“ Gabriella zog ihre Brieftasche hervor und legte den Betrag, den das Zimmer für eine Nacht kosten würde, auf die glänzende Mahagonitheke der Rezeption.

Autor

Charlotte Lamb

Die britische Autorin Charlotte Lamb begeisterte zahlreiche Fans, ihr richtiger Name war Sheila Holland. Ebenfalls veröffentlichte sie Romane unter den Pseudonymen Sheila Coates, Sheila Lancaster, Victoria Woolf, Laura Hardy sowie unter ihrem richtigen Namen. Insgesamt schrieb sie über 160 Romane, und zwar hauptsächlich Romances, romantische Thriller sowie historische Romane. Weltweit...

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