Die perfekte Familie (4-teilige Serie)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

BEI JEDEM KUSS VON DIR

Ein skrupelloser Herzensbrecher soll Saul Crighton sein. Tullah ist entschlossen, seinem leidenschaftlichen Werben zu widerstehen. Leichter gesagt als getan: Denn sie arbeitet nicht nur für den charmanten Unternehmer, sondern begehrt ihn wie keinen Mann je zuvor ...

IST DAS LIEBE?

Brennendheiß erwacht die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit in Bobbie Miller. Doch die junge Anwältin hat ihr Herz an den Falschen verloren. Zwar ist Luke Crighton atemberaubend attraktiv - aber auch ein Feind ihrer Familie …

AUF DEN ERSTEN BLICK

Liebe auf den ersten Blick? Ein Märchen, glaubt die schöne Chrissie. Aber dann betritt der Antiquitätenhändler Guy Cooke ihr Cottage, und im nächsten Moment liegt sie in seinen Armen. Doch ein dunkles Geheimnis wirft Schatten auf ihr Glück …

DIR GEHÖRT MEIN HERZ

Ausgerechnet der unwiderstehliche Gareth Simmonds ist Louises neuer Chef in Brüssel. Der Traummann, an den sie einst ihr Herz verlor - und ihre Unschuld. Aber der Schuft stahl sich aus ihrem Bett, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Nicht noch einmal, schwört sich Louise …


  • Erscheinungstag 18.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506335
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Jordan

Die perfekte Familie (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Bei jedem Kuss von dir erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© by Penny Jordan
Originaltitel: „The Perfect Seduction“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA GOLD
Band 1 - 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769642

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

Joss war gerade auf dem Heimweg von einem Besuch bei seiner Großtante Ruth, als er die Frau erblickte. Sie stand auf dem alten Dorffriedhof und las interessiert eine der verwitterten Inschriften. Eine Fülle von glänzenden, blonden Locken verhüllte ihr Gesicht. Als ein kleiner Zweig unter seinen Füßen knackte, blickte sie auf, und er starrte sie mit unverhohlener Bewunderung an.

Sie war groß. Viel größer als er. Mindestens einen Meter achtzig, schätzte er.

„Und noch ein paar Zentimeter mehr“, verkündete sie belustigt, als ihr bewusst wurde, dass er ihre Größe einzuschätzen versuchte. „Viel zu groß für eine Frau.“

„Ich finde dich nicht zu groß“, entgegnete Joss galant. Er straffte mannhaft die kindlich schmalen Schultern und blickte ihr in die Augen.

Ihre Augen waren bestimmt von dem dunkelsten Blau, das es überhaupt gab. Nie zuvor hatte er solche Augen gesehen. Nie zuvor hatte er eine Frau wie sie gesehen.

Sie musterte ihn ernst, bevor sie den Mund zu einem bezaubernden Lächeln verzog. „Das ist sehr nett von dir, aber ich weiß, was du wirklich denkst … dass es für eine so große Frau wie mich schwer ist, einen Mann zu finden, zu dem ich aufblicken kann. Tja, nun, da hast du völlig recht, und falls du zufällig einen kennst …“

„Ich kenne sogar mehr als einen“, warf er hastig ein. Schon wollte er sie beschützen. Schon hatte er entschieden, dass niemand sie kritisieren oder anders als makellos betrachten durfte, nicht einmal sie selbst.

Sie zögerte. Sie wollte ihn nicht verletzen, doch gleichzeitig fürchtete sie, dass jegliche Bekanntschaft sie von dem Zweck ihres Aufenthaltes ablenken könnte. Als relativ unbekanntes Städtchen wurde Haslewich im Gegensatz zu Chester zwar nicht in offiziellen Reiseführern erwähnt, aber sie war trotzdem entschlossen, es zu besichtigen. Bisher hatte sie weder die Burg noch das Salzbergwerk gesehen, das kürzlich als Touristenattraktion eröffnet worden war, geschweige denn die übrigen historischen Bauten der Stadt. Eigentlich hatte sie bisher nur den Friedhof besichtigt.

„Ich habe zwei Cousins“, erklärte Joss. „Na ja, eigentlich sind sie keine richtigen Cousins. Sie sind Cousins zweiten oder vielleicht sogar dritten Grades. Tante Ruth weiß es bestimmt. Jedenfalls ist James einsneunzig, und Luke ist sogar noch größer. Und dann sind da noch Alistair und Niall und Kit und Saul, aber der ist schon ziemlich alt …“

„Du meine Güte! Ich bin sehr beeindruckt“, unterbrach sie ihn sanft.

„Ich kann sie dir ja vorstellen“, bot Joss eifrig an. „Das heißt, wenn du noch ein bisschen hier bleibst …?“

„Nun ja, das hängt davon ab … Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Bobby. Das ist die Kurzform für Roberta“, teilte sie ihm mit, während sie sich widerstrebend eingestand, dass sie eigentlich gar keine Zeit für derartige Bekanntschaften hatte. Doch er war so reizend und bestimmt nicht älter als elf. In zehn oder fünfzehn Jahren würde er einen überwältigenden Charme entwickelt haben. Zerstreut fragte sie sich, wie seine Cousins wohl sein mochten.

„Bobby … Das gefällt mir“, versicherte er.

Sie verbarg ein Lächeln über seine eifrige Miene, die ihr verriet, dass er auf jeden anderen Namen ebenso begeistert reagiert hätte.

„Ich bin Joss“, fügte er hinzu. „Joss Crighton.“

Joss Crighton. Nun, das änderte die Situation völlig. Sie senkte die Lider, um das abrupt gesteigerte Interesse in ihren Augen zu verbergen. „Nun dann, Joss Crighton, ich schlage vor, dass wir uns eine Gaststätte suchen und uns ein bisschen besser kennen lernen. Und du kannst mir mehr über deine Cousins erzählen. Sind sie auch Crightons?“, fragte sie nebenhin.

„Ja, aber … na ja, das ist eine lange Geschichte.“

„Ich kann es kaum erwarten, sie zu hören. Lange Geschichten mag ich am liebsten“, versicherte sie ihm feierlich.

Als sie sich in Bewegung setzten und er sich bemühte, mit ihrem langbeinigen, graziösen Gang Schritt zu halten, konnte er nicht umhin, ihr verstohlen bewundernde Seitenblicke zu schenken.

Sie trug einen kamelhaarfarbenen Mantel über einer cremefarbenen Hose und einer Bluse in demselben Farbton. Das üppige, blonde Haar fiel ihr in dichten Locken über die Schultern. Voller Stolz blickte er um sich, als er sie über den Marktplatz und dann in eine der hübschen, schmalen Straßen geleitete.

„Du meine Güte! Ist das wirklich echt?“, fragte sie, als sie an einer Reihe von Fachwerkhäusern vorbeikamen, die sich gegenseitig stützten.

„Ja. Sie wurden zur Zeit von Elizabeth I. gebaut“, erläuterte Joss wichtigtuerisch. „Das Gerüst ist aus Holzbalken gemacht, und die Zwischenräume sind mit Flechtwerk ausgefüllt“, erläuterte er eifrig.

„Aha. Das ist ja interessant“, murmelte Bobby und verschwieg, dass sie britische Geschichte studiert hatte, bevor sie ihre Talente auf eine modernere und finanziell einträglichere Branche gerichtet hatte.

„Wir haben hier eigentlich kein richtiges Restaurant“, teilte Joss ihr mit. „Aber es gibt ein … ein Lokal gleich um die Ecke.“

Bobby verbarg ihre Belustigung. Bestimmt wollte er sie zu McDonald’s führen. Doch kurz darauf stellte sie fest, dass sie sich geirrt hatte. Sie zögerte, als er ihre Aufmerksamkeit auf eine sehr gepflegt wirkende Weinstube lenkte. Nachdenklich blickte sie zu dem Schild über der Tür, welches darauf hinwies, dass kein Alkohol an Personen unter achtzehn Jahren ausgeschenkt wurde. Dann musterte sie sein eindeutig minderjähriges Gesicht. Sie wollte seine Würde nicht verletzen, aber ebenso wenig das Risiko eingehen, hinausgeworfen zu werden, weil er sich nicht in Begleitung eines Erziehungsberechtigten befand.

„Ich darf da rein, wenn ich keinen Alkohol trinke. Ich kenne die Besitzer“, erklärte er, während er die Tür für sie öffnete. Gleichzeitig rechnete er insgeheim nach, was er von seinem restlichen Taschengeld erstehen konnte und hoffte, dass ihm Minnie Kredit gewähren würde.

Minnies Bruder Guy betrieb zusammen mit Joss’ Mutter ein Antiquitätengeschäft. Sie erkannte ihn sofort, als er die Weinstube betrat, und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als sie seine Begleiterin erblickte. „Ja, Joss, was kann ich für dich tun?“

„Ich … wir möchten beide etwas zu trinken und zu essen“, teilte er ihr entschieden mit, fügte dann aber etwas unsicher hinzu: „Kann ich gleich mal kurz mit dir sprechen?“

Minnie Cooke durchschaute die Situation sofort und lächelte. „Sucht euch doch einen Tisch. Ich schicke gleich jemanden zu euch wegen der Bestellung.“ Dann, als Bobby zu einem Tisch ging, flüsterte sie Joss zu: „Über die Rechnung können wir später reden.“

Wer immer diese Amerikanerin in Joss’ Begleitung auch sein mag, dachte Minnie, sie ist eine auffallend schöne Frau. Vermutlich handelte es sich um einen Gast der Familie und eine entfernte Verwandte. Olivia, Joss’ Cousine, war nämlich mit einem Amerikaner verheiratet.

„Jade, bediene bitte Tisch vier“, trug sie einer ihrer vielen Nichten auf.

„Ich nehme ein Soda mit Zitrone und Eis“, verkündete Bobby, als die Kellnerin die Bestellung aufnahm. „Zu essen möchte ich nichts.“

Joss strahlte sie über den Tisch hinweg an. „Ich nehme dasselbe.“

„Also, und jetzt zu deinen Cousins“, hakte sie nach, sobald die Getränke serviert waren. Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch, lehnte das Kinn in die Hand und lächelte ihn an.

Er war offenbar völlig fasziniert. Schuldbewusst nagte Bobby an der Unterlippe. Joss war noch so jung und verletzlich, und sie hätte die Bekanntschaft mit ihm nicht ausnutzen sollen. Doch sie war mit einem bestimmten Ziel nach Haslewich gekommen, und sie durfte sich nicht davon abbringen lassen.

Entschieden verdrängte sie ihre unliebsamen Gedanken und scherzte: „Wenn deine Cousins so groß sind, dann sind sie bestimmt Sportskanonen.“

„Nein“, entgegnete Joss ernsthaft.

Er vermochte den Blick nicht von ihr zu lösen. Noch nie hatte er jemanden wie sie gesehen. Bestimmt gab es sonst niemanden wie sie. Sie war einzigartig, wundervoll, vollkommen und ganz anders als seine Schwestern oder die anderen Mädchen, die er kannte. Natürlich war sie um einiges älter. Um wie viel, vermochte er nicht zu schätzen, aber bestimmt war sie schon über zwanzig.

„Luke und James sind beide Anwälte“, teilte er ihr mit.

„Mir wäre es lieber, wenn sie Sportskanonen wären“, gestand sie ein und rümpfte die Nase.

„Na ja, das sind sie irgendwie auch“, versicherte Joss. „James hat Rugby in der Schulmannschaft gespielt, und Luke auch, und er war außerdem ein Oxford Blue. Das ist eine Rudermannschaft.“

Bobby verbarg ein Lächeln. „Und du bist sicher, dass sie wirklich so groß sind, wie du gesagt hast?“, hakte sie mit gespieltem Ernst nach.

Joss nickte eifrig.

„Und sie sind wirklich deine Cousins?“

„Dritten Grades, glaube ich.“

„Dritten Grades. Aha. Du solltest mir lieber erklären, was das bedeutet“, hakte Bobby nach.

„Ich weiß nicht genau, was es bedeutet. Aber am Anfang war da Urgroßvater Josiah. Er ist mit seiner Frau aus Chester gekommen und hat hier in Haslewich eine neue Kanzlei eröffnet, weil er in Chester Streit mit seinem Vater und seinen Brüdern hatte. Deswegen sind die Crightons hier in Haslewich getrennt von den Crightons in Chester, aber wir sind trotzdem verwandt. Luke und James und ihre Schwestern Alison und Rachel und auch Alistair und Niall und Kit gehören alle zum Chester-Zweig. Lukes Vater Henry und sein Bruder Laurence sind auch Anwälte. Jedenfalls waren sie das. Jetzt sind sie beide im Ruhestand. Luke ist ein Queen’s Council, das heißt Kronanwalt. Gramps will, dass Max es auch wird, aber ich glaube nicht …“

„Moment mal.“ Bobby lachte. „Wer sind Gramps und Max?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist alles viel zu verwirrend für mich.“

„Das wäre es nicht, wenn du sie kennen lernen würdest“, versicherte er ihr.

„Sie kennen lernen?“ Bobbys tiefblaue Augen weiteten sich vor Neugier. „Na ja, das wäre vielleicht eine gute Idee, aber …“

„Wir … meine Schwestern geben dieses Wochenende eine Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Sie sind nämlich Zwillinge“, verkündete er eifrig. „Sie findet im Grosvenor statt. Das ist ein Hotel in Chester. Du kannst ja kommen und sie alle kennen lernen.“

Bobby runzelte die Stirn. „Tja, Joss, das ist zwar sehr nett von dir, aber ich glaube nicht …“

„Du kannst ja als meine Freundin kommen. Ich darf Freunde mitbringen.“

Sie bezweifelte, dass seine Eltern bei Erteilung dieser Erlaubnis an eine sechsundzwanzig Jahre alte Frau gedacht hatten, die sie nicht kannten. Doch Joss blickte sie erwartungsvoll an, mit einer Mischung aus Flehen und Hoffnung in den Augen, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu enttäuschen.

Sie gab vor, seinen Vorschlag abzuwägen. „Und du meinst, ich würde dort deine großen Cousins kennen lernen?“

Er nickte.

„Und glaubst du auch, dass er mich mögen würde, dieser Luke? Das ist doch der größere von den beiden, oder?“

„Na ja, er …“ Joss errötete und wandte den Blick ab.

„Was ist? Mag er keine Blondinen?“

„Oh, doch“, versicherte Joss hastig.

„Aha. Er mag Blondinen, aber keine großen Blondinen, stimmt’s? Er mag nur winzige Frauen, die zu der Größe seines Gehirns passen. Der Ärmste! Er kann wohl nichts dafür, dass er einen so schlechten Geschmack hat. Dann werde ich mich wohl auf James konzentrieren müssen, oder?“ Sie lächelte. „Schon gut. Wenn man so groß ist wie ich, lernt man, nicht wählerisch zu sein.“

„James ist sehr nett“, versicherte Joss.

„Aber Luke ist die Nummer eins, stimmt’s?“

Joss zögerte einen Moment, bevor er erklärte: „James ist irgendwie lässiger. Luke merkt immer alles, selbst wenn man glaubt, dass es nicht so ist, und dann …“

„Lässt er es dich wissen, stimmt’s?“, vermutete Bobby. „Ich nehme an, er ist ein dominierender Typ, der immer das Sagen haben will.“ Sie runzelte die zierliche Nase, und ein leicht zynisches Lächeln spielte um ihre Lippen. „Ich glaube, von den beiden würde ich immer James vorziehen.“

„Nein, das würdest du nicht. Die Mädchen mögen Luke“, erklärte er und fügte hinzu: „Olivia, das ist meine richtige Cousine, und sie ist mit einem Amerikaner verheiratet. Jedenfalls sagt sie, dass Luke ein ganz toller Hecht ist und dass es bei seiner Ausstrahlung kein Wunder ist, dass er sich die Frauen aussuchen kann. Aber wenn du mit mir zu der Geburtstagsparty kommst, kannst du beide kennen lernen“, verkündete er dann.

Bobby zögerte. Ihre angeborene Güte und Aufrichtigkeit kämpften gegen die Entschlossenheit, die sie Tausende von Meilen hierher geführt hatte. Eigentlich war es unfair, Joss zu benutzen, der so selbstlos und unschuldig war, und möglicherweise eine sehr verzwickte Situation hervorzurufen. Doch seine Einladung bot ihr auf einmal ganz unverhoffte Möglichkeiten. Es war wie ein sehr großzügiges Geschenk des Schicksals, das sie nicht ignorieren konnte.

„Du kommst doch, oder?“, drängte er.

„Na ja, ich würde gern, aber bist du sicher, dass deine Eltern …“

„Mum hat gesagt, dass ich jemanden mitbringen darf, und es gibt ein Büfett und deshalb genug zu essen und …“

Joss plapperte aufgeregt weiter, während Bobby aufmerksam lauschte und dabei ein Lächeln verbarg. Er war wirklich noch sehr kindlich.

„Und diese Party findet in einem Hotel in Chester statt?“

„Ja, im Grosvenor. So gegen acht Uhr. Und es gefällt dir bestimmt“, versicherte Joss.

„Gut. Ich weiß, wo das ist.“ Sie sah keinen Grund, ihm zu verraten, dass sie in eben diesem Hotel abgestiegen war, auch wenn die kleine Täuschung ihrem Naturell widersprach und Gewissensbisse auslöste.

Beide hatten ihre Gläser geleert. Joss suchte verstohlen in seinen Taschen. Mit etwas Glück hatte er gerade genug Geld bei sich, um die Getränke zu bezahlen.

„Bis Samstag also“, sagte Bobby, als sie sich vor der Weinstube verabschiedeten.

„Bis Samstag.“ Besorgt hakte er nach: „Du kommst doch wirklich, oder?“

„Darauf kannst du wetten“, versprach sie.

Nachdenklich spazierte Bobby zurück zu ihrem Leihwagen. Das Schicksal schien ihr hold zu sein. Sie beschleunigte den Schritt, während sie zur Uhr blickte und ausrechnete, wie spät es wohl zu Hause war. Sie hatte noch einen Anruf zu tätigen.

„James, hast du einen Moment Zeit für mich?“

James blickte von seinem Schreibtisch auf und sah seinen älteren Bruder das Büro betreten. In der Begleitung jedes anderen hätte er die verstohlene Aufmerksamkeit und Bewunderung der Frauen erregt, die ihn erblickten. Er war gut ein Meter achtzig groß und besaß den athletischen, breitschultrigen Körper eines Rugby-Spielers. Dichtes braunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und ein warmherziges Lächeln unterstrichen sein jungenhaftes gutes Aussehen. Er wirkte jünger als seine zweiunddreißig Jahre. Er war der Typ Mann, von dem die Frauen instinktiv ahnten, dass er gut zu Tieren, Kindern und alten Damen war, und unausweichlich wollten sie ihn bemuttern.

Keine Frau, die bei Verstand und unter vierzig war – und einige derjenigen, die älter waren – verspürte hingegen den geringsten Drang, Luke zu bemuttern.

„Warum kommt mir wohl als Erstes, wenn ich an Luke denke, das Wort Lust in den Sinn?“, hatte Olivia sich einmal bei James erkundigt.

Er hatte nur den Kopf geschüttelt.

Luke maß über einen Meter neunzig, besaß ungewöhnlich breite Schultern und das klassische Profil der Crightons mit der ausgeprägten Nase und dem markanten Kinn, welches James irgendwie vorenthalten geblieben war. Dazu gesellten sich dunkelbraune, fast schwarze Haare und rauchgraue Augen. Somit übte er auf Frauen eine Wirkung aus, die nur mit dem Verzehr von unverhofft starkem Alkohol zu vergleichen war. Zuerst kam der Schock über die unerwartet starke Wirkung auf das Nervensystem, gefolgt von einer Mischung aus Schwindelgefühl und Hochstimmung, gepaart mit einer gefährlichen Abnahme des logischen Denkens und der Selbstbeherrschung.

Und der Jammer daran war, dass Luke seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht genau wie die betroffenen Frauen verächtlich abtat, anstatt sich daran zu freuen.

„Ich möchte mit dir über den Fall Marshall reden, bevor ich nach Brüssel fahre“, verkündete er.

„Du hast doch nicht vergessen, dass wir dieses Wochenende die Feier im Grosvenor haben, oder?“, hakte James nach.

Luke schüttelte den Kopf und hockte sich auf die Schreibtischkante. Beide waren qualifizierte Anwälte und arbeiteten in denselben Amtszimmern wie zuvor ihr Vater und Onkel. Doch Luke war höher gestellt und im vergangenen Jahr als einer der Jüngsten im Lande zum Kronanwalt ernannt worden. Sein Vater hatte keine Zeit verloren, mit dieser Tatsache gegenüber seinem Cousin Ben Crighton aus Haslewich zu prahlen.

Henry und Ben waren eine Generation entfernt von dem ursprünglichen Streit, der die Familie Crighton gespalten hatte. Trotzdem setzten sie die Rivalität innerhalb der Familie fort, die ihre Väter begonnen hatten – sehr zu Lukes Missbehagen.

Er hatte sich um Wichtigeres zu kümmern, als seinen Cousin Max zu übertreffen. Außerdem verspürte er keinerlei Drang, den Konkurrenzkampf fortzuführen,

„Nein, das habe ich nicht vergessen“, erwiderte er, „obwohl ich nicht gerade sagen kann, dass ich mich darauf freue.“

„Tja, nun … es wird bestimmt nicht langweilig“, bemerkte James. „Max kommt mit seiner Frau aus London.“

„Hm.“

„Er ist in jeder Hinsicht recht erfolgreich“, fuhr James fort. „Allerdings hat er sich auch eine gute Ausgangsposition verschafft. Es wäre schwer, bessere Amtsräume zu finden …“

„Er hat sie sich verschafft?“, unterbrach Luke trocken. „Ich dachte, er hätte seinen plötzlichen Aufstieg in die höheren Ränge und die angesehenste Kanzlei von London eher seinem Schwiegervater zu verdanken.“

„Du hast ihn nie richtig gemocht, oder?“

„Nein, allerdings nicht“, gestand Luke ein. „Es fällt mir schwer, ihn mir als Jons Sohn vorzustellen. Wenn David sein Vater wäre …“

„Das ist eine seltsame Sache, stimmt’s?“, warf James ein. „Dass David nach seinem Herzanfall einfach verschwunden ist.“

„Ich wage zu behaupten, dass er seine Gründe hatte.“ Luke hatte gewisse Gerüchte gehört, die allerdings nie bestätigt worden waren. Doch er vermutete, dass Jon trotz der mühsamen, ausgiebigen Suche nach seinem Zwillingsbruder beinahe erleichtert war, ihn nicht gefunden zu haben.

Luke hielt Jon für den besseren Menschen, auch wenn deren Vater stets eine deutliche Vorliebe für David zeigte. Und nun wurden Jons und Jennys Töchter achtzehn.

Es erweckte in ihm das Gefühl, alt zu sein. Er war praktisch doppelt so alt. Wie seine Großtante Alice ihm bei ihrer letzten Begegnung streitsüchtig mitgeteilt hatte, näherte er sich einem Alter, in dem er Gefahr lief, nicht mehr als begehrenswerter Junggeselle, sondern als unangenehmer Menschenfeind betrachtet zu werden.

Er wusste, dass er allgemein als reserviert und geringschätzig galt, dass er in dem Ruf stand, zu arrogant, zu selbstsicher und zu abweisend gegenüber den Frauen zu sein, die ihm nachstellten, dass er unfähig war, sich zu verlieben.

Doch dem war nicht so. Er hatte sich einmal verliebt, und zwar sehr heftig. Doch die Frau war mit einem anderen die Ehe eingegangen, was sie angeblich bitter bereute. Das hatte sie ihm anvertraut, als sie ihn vor kurzem aufgesucht und mit Tränen in den Augen gebeten hatte, ihr einen guten Scheidungsanwalt zu besorgen.

„Hast du dir auch gut überlegt, was du damit aufgibst?“, hatte er gefragt.

„Natürlich habe ich das. Glaubst du etwa, dass sein Reichtum, sein Titel mir irgendetwas bedeutet, wenn ich so unglücklich bin?“

„Du hast ihn schließlich geheiratet“ entgegnete er.

„Ja. Mit achtzehn habe ich geglaubt, ihn zu lieben. Mit achtzehn kann man sich alles einreden. Er war so …“

„So reich.“

Sie warf ihm einen verletzten Blick zu. „Ich habe nicht nachgedacht. Er hat mir den Kopf verdreht. Du hättest mich nicht gehen lassen sollen, Luke.“

„Wenn ich mich recht erinnere, blieb mir kaum eine andere Wahl. Du hast mir gesagt, dass du ihn liebst und mich nicht.“

„Das war gelogen. Ich habe dich geliebt, sehr sogar, aber …“

„Aber ihn hast du mehr geliebt“, warf er zynisch ein.

„Ja“, gestand sie ihm unter Tränen. „Zumindest habe ich es damals geglaubt. Bitte, hilf mir. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.“

„Geh zu diesem Mann hier. Er ist ein erstklassiger Scheidungsanwalt.“ Luke hatte einen Namen und eine Adresse auf einen Zettel gekritzelt und ihn ihr gereicht, ohne sie anzublicken.

Das lag nun sechs Wochen zurück. Er hatte seitdem nichts von ihr gehört, aber er dachte unablässig an sie, erinnerte sich an damals …

Sie war achtzehn und ganz Frau gewesen. Sie hatte ihn geneckt, gereizt, verführt. Es war seine erste Erfahrung mit der Intensität emotioneller und körperlicher Liebe. Und auch seine letzte. Nie wieder wollte er einer Frau gestatten, ihm anzutun, was er ihretwegen erlitten hatte. Der Kummer, die Selbstverachtung, die intensiven Gefühle, die zur Verletzung seines Stolzes und zur Demütigung geführt hatten, als sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Keine Frau war es wert, dass er so etwas noch einmal durchmachte.

Er hatte den Ausdruck in Fenellas Augen gesehen und erraten, was in ihr vorging. Ihr Mann stellte trotz seines Titels und seines Reichtums, oder vielleicht gerade deshalb, nicht den Mann dar, den eine Frau sich zum Liebhaber wünschte. Er war übergewichtig, langweilig, von sich selbst eingenommen, ein Traditionalist, der offen aussprach, dass eine Frau seiner Meinung nach ins Haus gehörte. Außerdem ging er inzwischen auf die Fünfzig zu.

Es ist wohl nicht verwunderlich, dachte Luke zynisch, dass Fenella ihm eine großzügige Abfindung und die Chance vorzieht, sich einen reizvolleren Mann zu suchen. Doch dieser Mann war ganz gewiss nicht er.

„Es ist ein perfekter Zugang zu der Familie, Sam“, sagte Bobby in den Hörer. Sie hatte den Anruf bei ihrer Zwillingsschwester bewusst auf einen Zeitpunkt verlegt, zu dem niemand sonst in der Nähe war und sie belauschen konnte. „Ich konnte es kaum glauben, als er sich mir als Joss Crighton vorgestellt hat.“

„Und wie alt ist das Kind?“, wollte Samantha wissen.

„Ich weiß nicht genau. Zehn oder vielleicht elf, schätze ich. Er ist sehr niedlich, mit großen, braunen Augen und dichten, dunklen Haaren.“

„Klingt großartig.“

Bobby lachte. „Oh ja, das ist er.“

„Und er hat dich tatsächlich zu der Geburtstagsparty seiner Schwestern eingeladen?“

„Hm.“

„Was hast du sonst noch herausgefunden? Hast du ihn ausgehorcht?“

„Nein, noch nicht“, unterbrach Bobby hastig. „Der Ort war zu öffentlich, um ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Wir hätten belauscht werden können, und ich will nicht, dass jemand Verdacht schöpft.“

„Kreuzverhör. Das gefällt mir“, bemerkte Samantha grimmig.

„Wie stehen die Dinge zu Hause?“, fragte Bobby in angespanntem, besorgtem Ton. „Wie geht es Mom?“

„Sie hat keine Ahnung“, versicherte Samantha. „Ich muss selbst zugeben, dass ich dir gute Schützenhilfe leiste. Die ersten Tage, nachdem du weg warst, wurde sie fast verrückt. Sie hat mich ständig gefragt, ob ich wüsste, wo du bist und ob ein Mann dahintersteckt. Die Ärmste wünscht sich so verzweifelt, dass wenigstens eine von uns beiden heiratet.“

„Was hast du ihr erzählt?“

„Dass du erwähnt hättest, du müsstest eine Weile weg, da du dich jetzt nicht mehr mit Nat triffst.“

„Oh, vielen Dank. Jetzt glaubt sie, dass ich an gebrochenem Herzen leide“, entgegnete Bobby entrüstet.

„Das ist immer noch besser, als dass sie die Wahrheit errät. Wann findet die Party eigentlich statt? Uns bleibt nicht viel Zeit.“

„Ja, ich weiß. Sie ist am Samstag, im Grosvenor in Chester, wo ich zum Glück ein Zimmer habe. Es ist die perfekte Gelegenheit, so viel wie möglich von Joss zu erfahren und die Familie im Allgemeinen zu erforschen.“

„Glaubst du, dass die gewisse Person da sein wird?“, fragte Samantha, und ihre Stimme klang plötzlich spröde vor Feindseligkeit und Zorn.

„Ich weiß es nicht.“

„Wenn ich daran denke, was sie getan haben, wie viel Leid sie verursacht haben …“

„Ich weiß, ich weiß. Ich muss jetzt auflegen, Sam. Ich rufe dich nach der Party wieder an und berichte dir, was ich herausgefunden habe.“

Bobby wollte gerade den Hörer auflegen, als ihr noch etwas einfiel. „Beinahe hätte ich es vergessen“, sagte sie hastig. „Du errätst nie, was …“ Lachend berichtete sie, was Joss ihr über seine Cousins erzählt hatte.

„Cousin Luke scheint ein richtiger Affe zu sein“, bemerkte Samantha spontan. „Der Typ, der auf hübsche, hirnlose Blondinen steht, mit denen er von seinen Mitleid erregenden Unzulänglichkeiten ablenken kann. Ich persönlich ziehe es vor, einen Mann nach der Größe und der Wärme seines Herzens zu beurteilen, nicht nach …“

„Also wirklich, Sam!“, warf Bobby lachend ein.

„Was denn? Oh! Woran du immer gleich denkst …“, begann Samantha empört. Dann brach sie ab und kicherte. „Wie auch immer, viel Glück mit Cousin Luke. Er scheint perfekt zu dir zu passen und all das zu verkörpern, was du dir von einem Mann wünschst.“

„Ja, nicht wahr?“, stimmte Bobby voller Ironie zu.

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, trat sie ans Fenster und starrte durch die Scheibe. Es war keine Laune und kein oberflächlicher Impuls, der sie hierher nach England, nach Chester und Haslewich geführt hatte. Es war vielmehr eine Mission, von der sie und ihre Zwillingsschwester besessen waren, seit sie alt genug waren, die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu verstehen.

Trübsinnig ging sie zurück zum Bett. Sie musste sich etwas Passendes für die Party besorgen. Es hatte sich als schwierig genug erwiesen, sich unbemerkt von ihrer Mutter zu Hause wegzuschleichen, dabei hatte sie keine formelle Abendkleidung mitnehmen können. Und bei ihrer Größe war es nicht immer möglich, von der Stange zu kaufen.

In der Kleinstadt in New England, in der Bobby und ihre Schwester aufgewachsen waren, hatten sich die Leute an ihre Größe gewöhnt. Schließlich handelte es sich um ein Familienmerkmal. Ihr Vater, Stephen Miller, maß fast zwei Meter, und auch seine Eltern waren sehr groß, ebenso wie die gesamte Verwandtschaft väterlicherseits, die in der Umgebung verstreut lebte.

Der Familienstammbaum konnte zurückverfolgt werden bis zu einem der Pilgerväter. Es war für ihre Mutter nicht leicht gewesen, in der angesehenen Familie akzeptiert zu werden … angesichts ihrer eigenen Herkunft und der damaligen Umstände.

Entschieden verdrängte Bobby ihr Unbehagen und ihre Gewissensbisse. Sam hatte recht. Es war höchste Zeit, dass Gerechtigkeit geübt und der Spieß umgedreht wurde und dass eine gewisse Person am eigenen Leib erfuhr, was sie durch ihren Stolz und ihre Grausamkeit angerichtet hatte.

2. KAPITEL

„Jenny, Liebes, es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, ich kann am Samstag doch nicht kommen.“

„Ach, Tante Ruth“, protestierte Jenny in den Telefonhörer. „Was hast du denn?“

„Ich habe gar nichts“, versicherte Ruth ihrer angeheirateten Nichte. „Ich habe mich nur angeboten, auf Amelia aufzupassen, da der Babysitter unverhofft abgesagt hat. Ich glaube nicht, dass Olivia und Caspar in den acht Monaten seit der Geburt auch nur einmal ausgegangen sind.“

„Nein, das sind sie auch nicht“, bestätigte Jenny. „Jon hat versucht, Olivia zu überreden, nicht gleich wieder zur Arbeit zu gehen, aber sie hat darauf bestanden. Du weißt ja, wie gewissenhaft sie ist. Während der Sommerferien war Caspar wenigstens zu Hause.“

„Ich weiß, dass sie sich allmählich Sorgen macht, weil sie immer noch kein geeignetes Kindermädchen finden konnten.“

„Die Ärmste! Es muss schwer für sie sein. Ich weiß, wie sehr sie ihre Arbeit liebt. Aber mir hätte es nicht gefallen, die Kinder von jemand anderem aufziehen zu lassen … vor allem nicht, solange sie noch klein waren. Wenn man all diese Geschichten über Mütter liest, die ihre Babys vernachlässigen, frage ich mich … Ich könnte es nie über mich bringen. Ruth, bist du noch da?“

„Ja, ich bin noch da“, bestätigte Ruth schroff. „Was du sagst, klingt alles ganz schön, Jenny, aber manche Frauen haben einfach keine andere Wahl.“

Jenny entging nicht der kritisierende Unterton. „Das ist mir schon klar“, versicherte sie hastig. Als sie den Hörer auflegte, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass sie großes Glück hatte mit ihrer Familie und ihrem Ehemann.

„Du siehst sehr nachdenklich aus“, bemerkte Jon, als er das Schlafzimmer betrat, in dem Jenny gerade die Reisetaschen für die Übernachtung in Chester packte. „Gibt es schon wieder ein Problem?“

„Nicht direkt. Ruth hat gerade angerufen. Sie kann nicht kommen. Sie hat Olivia und Caspar angeboten, auf Amelia aufzupassen. Der eigentliche Babysitter hat offensichtlich abgesagt. Ich fürchte, ich habe Ruth verärgert.“

„Du?“ Jon blickte sie liebevoll an und schloss sie in die Arme. „Das bezweifle ich, Liebes. Du bist viel zu gutmütig, um jemanden zu ärgern.“

„Aber ich habe eine ziemlich radikale Verallgemeinerung von mir gegeben“, entgegnete Jenny und berichtete ihm von dem Streitgespräch.

„Tja, du weißt doch, wie sehr Ruth sich für die Gründung dieses neuen Heimes für Mutter und Kind einsetzt.“

„Ja, es ist eine sehr innovative Idee. Es soll etwas ganz anderes werden als die alten Heime für ledige Mütter, in die schwangere Mädchen in Ungnade verbannt wurden, und wo das Personal sie zu überreden versuchte, ihre Babys zur Adoption freizugeben.“

„Der Fairness halber muss man bedenken, dass man in jener Zeit allgemein davon ausging, solche Kinder seien bei Adoptiveltern wirklich besser aufgehoben“, meinte Jon.

„Das ist mir klar.“

„Du hast doch übrigens gesagt, dass du früh im Grosvenor eintreffen möchtest“, rief Jon ihr in Erinnerung. „Soll ich die Taschen schon hinuntertragen?“

Unsicher blickte sie zum Telefon. „Ich habe heute noch nicht bei deinem Vater auf Queensmead angerufen.“

„Dad geht es bestimmt gut. Denk daran, dass Max und Madeleine bei ihm sind. Madeleine wird sich schon gut um Dad kümmern. Du weißt doch, wie sehr sie ihn mag.“

„Und er mag sie. Ist es nicht irgendwie paradox, dass die einzige Frau, die er wirklich schätzt, nicht blutsverwandt mit ihm ist?“

„Das liegt daran, dass Madeleine genau Dads Idealbild von einer Frau entspricht“, bemerkte Jon trocken.

„Sie ist eine wundervolle Person“, konterte Jenny. „Nett, sanft, großzügig und …“

„Verletzlich?“, schlug er vor.

Sie blickten einander schweigend an.

„Ich muss zugeben, dass ich sehr überrascht war, als Max sie uns als seine Zukünftige vorgestellt hat.“

„Hm, ich auch. Ich frage mich, ob er so erpicht darauf gewesen wäre, sie zu heiraten, wenn ihr Vater nicht derjenige wäre, der er ist“, sinnierte Jon zynisch.

„Ach, Jon, sag doch so etwas nicht. Sie liebt ihn sehr.“

„Vielleicht zu sehr?“

„Sie wirkt sehr glücklich.“

„Sie ist glücklich, weil Max glücklich ist, und Max ist glücklich, weil er im Moment bekommt, was er will. Ob er weiterhin glücklich sein wird, ist eine andere Frage.“

Erneut tauschten sie einen stummen Blick. Max war zwar ihr Sohn, aber seinem Charakter und seinen Ansichten nach stand er seinem Onkel David näher als ihnen. Auch wenn es wehtat, es einzugestehen, so wussten sie doch, dass Max selbstsüchtig und ichbezogen und rücksichtslos entschlossen in seinem Verhalten war.

Bobby blickte zur Uhr. Halb sieben. Sie hatte sich in einer schattigen Ecke des Foyers versteckt, so dass sie jeden sehen konnte, der das Hotel betrat, ohne selbst bemerkt zu werden – kein leichtes Unterfangen angesichts ihrer Größe und dem leuchtenden Glanz ihrer Haare.

Sie hatte Joss bereits eintreffen sehen, zusammen mit einem etwas älteren Jungen und einem Paar, bei dem es sich vermutlich um seine Eltern handelte. Sein Haar war wie bei einem Erwachsenen aus dem Gesicht gekämmt. Doch der formelle Anzug, den er trug, ließ ihn jünger statt älter wirken. Sie hatte unwillkürlich lächeln müssen.

Allmählich versammelten sich die Frühankömmlinge unter den Partygästen im Foyer. Es war ein fröhliches, unbeschwertes Völkchen verschiedener Generationen, das sich, den herzlichen Begrüßungen nach zu urteilen, untereinander gut kannte.

Joss’ Eltern erschienen wieder in der Halle. Seine Mutter sah sehr elegant aus. Bobbys fachkundigem Urteil nach stammte das Kleid von Armani. Hübsch, sehr hübsch, gestand sie sich ein, als sie beobachtete, wie der fließende, cremefarbene Crêpe sich um die schlanke Gestalt schmiegte.

Die Diamanten in den Ohren und um den Hals waren offensichtlich echt. Und dem vornehmen Auftreten der Gäste sowie dem Austragungsort nach zu urteilen, der für die Geburtsfeier gewählt worden war, zählte finanzielle Not nicht zu den Problemen der Crightons.

Aber das wusste Bobby schon längst. Sie wusste alles über deren Stolz und Arroganz und deren Ansicht, irgendwie besser zu sein als alle anderen, und ganz eindeutig besser als …

Sie runzelte die Stirn, als weitere Gäste eintrafen. Seltsamerweise war es nicht die beachtliche Körpergröße des Mannes, der soeben zielstrebig ins Foyer schritt, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Vielmehr war es die Aura der beherrschten Energie und Ungeduld, die er ausstrahlte.

„Luke!“, hörte sie Joss’ Vater rufen. Er trat vor, um den Neuankömmling mit einem Lächeln und einem Händedruck zu begrüßen. „Und James“, fügte er herzlich hinzu, als er sich an den folgenden Mann wandte.

Ich habe auf Anhieb gewusst, wer er ist, dachte Bobby. Doch nicht bewusst wurde ihr die beunruhigende Tatsache, dass sie sich lediglich mit Luke statt mit beiden Männern beschäftigte.

Er war tatsächlich so groß, wie Joss behauptet hatte. Zudem sah er äußerst männlich und beeindruckend aus und besaß einen faszinierenden Charme. Doch sie entdeckte eine gewisse Härte und Überheblichkeit an ihm – eine Kälte, die ihrer Ansicht nach den Reiz seines allzu guten Aussehens aufwog. Es gab schließlich für alles ein Übermaß. Wie ein zu starkes Parfüm wirkte sein Äußeres zu überwältigend, um attraktiv zu sein. Eher abstoßend als anziehend, dachte sie verächtlich.

Die zierliche, zerbrechlich wirkende Blondine, die an seinem Arm hing, schien jedoch anders zu denken. Sie blickte bewundernd und extrem besitzergreifend zu ihm auf, als er sie Joss’ Eltern vorstellte. Bei näherer Betrachtung wirkte sie nicht mehr so jung, wie der mädchenhafte Schnitt ihres Seidenkleides weismachen sollte. Sie war eher Anfang dreißig als Anfang zwanzig und vermochte offensichtlich ihre Zartheit sehr geschickt einzusetzen, um einen jugendlichen Eindruck zu erwecken.

Natürlich fliegt er auf diesen Typ, dachte Bobby, und ihre Verachtung ihm gegenüber wuchs.

Luke fiel es sehr schwer, seinen Zorn auf Fenella zu verbergen. Er war immer noch sehr ungehalten über die Art, auf die sie sich in die Party eingeschlichen hatte. Ohne sein Wissen hatte sie James gebeten, sie in seinem Auto mitzunehmen, und dabei vorgegeben, Luke hätte sie zu der Feier eingeladen. Das war natürlich keineswegs der Fall.

In diesem Moment ärgerte Luke sich maßlos, dass sie wie eine Klette an ihm hing. Doch seine Kinderstube und die Abneigung gegen öffentliche Szenen verboten es ihm, ihr seinen Arm zu entziehen und sie stehen zu lassen.

„Fenella …“, überlegte Jon, als sie mit Luke zur Garderobe ging. „Ist das nicht diejenige, mit der Luke …“

„Ich glaube ja“, bestätigte Jenny.

„Ich dachte, sie wäre mit Sir Peter Longton verheiratet.“

„Das ist sie auch. Oder sie war es. Anscheinend wollen sie sich scheiden lassen.“

„Ich bezweifle, dass es Luke gefällt.“

Jenny warf ihm einen fragenden Blick zu. „Wieso nicht? Sie sind immerhin zusammen hier.“

„Sie sind zwar beide hier, aber Lukes Körpersprache verrät, dass sie ganz entschieden nicht zusammen sind“, entgegnete Jon. „Und wenn sie glaubt, dass Luke als Mann immer noch so gefügig ist, wie er es als Junge war, dann steht ihr eine Enttäuschung bevor.“

Als Jenny und Jon ihre Gäste zu der Suite führten, die sie für die Party reserviert hatten, blickte Joss sich besorgt im Foyer um. Es war acht Uhr.

„Joss!“, rief Jenny, als sie ihn am Eingang herumlungern sah.

„Ich komme sofort.“ Seine Aufregung wich Enttäuschung, als er das Foyer erneut nach seiner neuen Freundin absuchte.

„Komm schon, Mum“, drängte Louise.

Jenny zögerte. Dann fiel ihr wieder ein, dass Joss ihr erzählt hatte, dass er einen Freund einladen wollte. Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. Er war schließlich erst zehn Jahre alt. Doch das Foyer des Grosvenor war gewiss ein sicherer Ort, so dass sie ihn ein paar Minuten allein lassen konnte, während sie sich in der Suite um die Gäste kümmerte.

Bobby wartete, bis Jenny und Louise verschwunden waren, bevor sie aufstand und zu Joss hinüberging. Er starrte beunruhigt zum Haupteingang. Sie berührte ihn sanft am Arm.

Er zuckte zusammen und drehte sich um. Die Enttäuschung auf seinem Gesicht wich strahlender Freude, als er sie erblickte. „Du bist doch da! Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.“

„Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt“, versicherte sie.

Er war so nett und offen, so jung und verletzlich. Die Lektionen, die das Leben ihm nun erteilte, würden sich unauslöschlich auf seine Persönlichkeit auswirken. Konnte sie ihr weiteres Vorgehen wirklich mit ihrem Gewissen vereinbaren?

„Komm mit“, drängte Joss. „Hier entlang.“

Es ist nicht deine Aufgabe, die Verantwortung für sein Seelenheil zu übernehmen, ermahnte sie sich streng, während sie ihm folgte. Sie war aus einem anderen Grund hier, aus einem völlig anderen Grund.

Als Joss die Doppeltür öffnete und beiseite trat, um ihr Zugang in den großen Raum zu gewähren, drehte sie sich zu ihm um und bemerkte: „Du meine Güte, das sind aber viele Leute! Bestimmt ist deine ganze Familie hier.“

„Fast.“ Seine Miene verfinsterte sich ein wenig. „Großtante Ruth ist nicht hier.“

„Aha, Großtante Ruth“, murmelte Bobby nach kurzem Zögern. Sie hielt den Blick auf den Raum geheftet, der mit eindrucksvollen und kunstvollen Gestecken und Girlanden aus echten Ranken und Blüten verziert war. „Sie ist wohl sehr streng und mag keine Partys.“

„Sie wollte eigentlich kommen“, entgegnete Joss. „Aber sie muss für Olivia und Caspar auf das Baby aufpassen. Das sind die da drüben.“ Er deutete zu einem Paar, das sich gerade mit seinen Eltern unterhielt.

Die Frau mochte Mitte bis Ende zwanzig sein und der Mann ein wenig älter. Sie war stilvoll gekleidet und trug das Haar zu einem makellosen Bubikopf frisiert.

„Es ist so schade, dass Tante Ruth nicht da ist“, sagte Joss. „Ich wollte, dass du sie kennen lernst.“

Wiederum fiel es ihr leichter, die Umgebung zu mustern, als Joss in die Augen zu blicken. „Ich würde sie auch gern kennen lernen“, entgegnete sie leichthin. „Vielleicht lässt es sich noch einrichten, bevor ich wieder abreise.“

Ein Mann, der lässig an der gegenüberliegenden Wand lehnte, erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Das Wort gut aussehend wurde ihm nicht gerecht. Wenn es einen Mann gab, der als schön bezeichnet werden konnte und dennoch eine äußerst männliche Anziehungskraft besaß, dann war er es.

Von seinem glänzenden, gepflegten dunklen Haar bis hinab zu den eleganten Schuhen verkörperte er Männlichkeit und Schönheit. Er hätte einen perfekten Filmstar abgegeben, dachte Bobby. Einen Herzensbrecher im wahren, altmodischen Sinne des Wortes.

Sie wandte sich an Joss. „Wer ist das?“

„Das ist Max“, teilte Joss ihr seltsam tonlos mit und fügte widerstrebend hinzu: „Er ist mein Bruder.“

Erstaunt musterte sie seine verschlossene Miene und seinen düsteren Blick, bevor sie wieder zu dem gut aussehenden Mann blickte, der so lax an der Wand lehnte. „Warum hast du ihn nicht erwähnt, als du mir die Männer in deiner Familie aufgelistet hast, die zu haben sind?“

„Weil er nicht zu haben ist“, erwiderte Joss ebenso tonlos. „Er ist verheiratet.“

„Aha, ich verstehe.“ Vergeblich suchte sie im Raum nach einer Frau, die ein Mann wie er auserkoren hätte. Ein weibliches Gegenstück seiner selbst. Faszinierend, beinahe theatralisch schön und mit derselben überwältigenden, charismatischen Ausstrahlung, die er im Überfluss besaß.

Joss erriet offensichtlich, wonach sie suchte. „Da drüben, das ist Madeleine, seine Frau.“ Dann, als Bobby die Frau musterte, auf die er deutete, fügte er hastig und verteidigend hinzu: „Sie ist sehr nett. Ich mag sie.“

„Das glaube ich dir“, versicherte sie in ernstem Ton. Während sie Madeleines unscheinbares Gesicht und die pummelige Figur betrachtete, kamen ihr zwei Möglichkeiten in den Sinn. Entweder war Max bis über beide Ohren in Madeleines offenbar liebenswertes, sanftmütiges Wesen verliebt, oder aber er hatte sie aus einem anderen, nicht minder zwingenden Grund geheiratet. Sie glaubte zu wissen, welches von beidem zutraf. Bobby blickte zu Joss. „Wo sind deine Schwestern?“, fragte sie nebenhin.

„Da drüben.“ Er deutete zu einem Zwillingspaar, das offenbar mit einer großen Gruppe von Freunden plauderte. Sie trugen völlig verschiedene Kleider und Frisuren, wie Bobby erfreut feststellte, aber die Ähnlichkeit der Gesichtszüge war unverkennbar.

„Du meine Güte, wer ist denn das da bei Joss?“, fragte Jenny, die nun erst bemerkte, dass ihr jüngster Sprössling den Raum betreten hatte.

„Jedenfalls ist sie niemand, den man übersehen könnte, oder?“ Olivia lachte, während sie ebenfalls das seltsam gewinnende Paar musterte, das der kleine Joss und die auffällige junge Frau an seiner Seite bildeten.

„Sie erinnert mich an eine Löwin“, murmelte Jenny. „Stolz, elegant und kraftvoll. Wo mag Joss sie nur kennen gelernt haben?“

„Ich glaube, ich weiß es“, warf Jon ein, der sich umgedreht hatte und Jennys Blick gefolgt war. „Minnie Cooke hat erwähnt, dass Joss neulich mit einer großen blonden Amerikanerin in der Weinstube war.“

„Aha, eine Amerikanerin. Ich glaube, ich sollte zu ihr gehen und sie begrüßen. Schließlich ist sie eine Landsmännin“, verkündete Caspar.

„Caspar!“, warnte Olivia. „Wir gehen beide zu ihr.“

Diese Familie möchte offenbar unbedingt den Eindruck erwecken, dass sie wie Pech und Schwefel zusammenhält, dachte Bobby zynisch, als ihr das Interesse bewusst wurde, das gewisse erwachsene Mitglieder ihr zuteil werden ließen.

Max hatte sich bereits von der Wand, gegen die er sich gelehnt hatte, gelöst und Bobby von Kopf bis Fuß gemustert. Auch Luke hatte über den Kopf seiner Begleiterin hinweg einen finsteren, prüfenden Blick in ihre Richtung gesandt. Jenny wirkte eindeutig verblüfft, und nun näherte sich Olivia mit Caspar im Schlepptau.

Bobby hielt den Atem an und zählte im Stillen bis zehn, bevor sie in ihre auserwählte Rolle schlüpfte.

„Hallo.“ Olivia lächelte herzlich und streckte eine Hand aus. „Sie müssen Joss’ Freundin sein.“

„Das hoffe ich“, erwiderte Bobby ebenso herzlich und schüttelte Olivia die Hand. „Bobby Miller. Bobby ist die Kurzform für Roberta.“

„Ich bin Olivia Johnson, Joss’ Cousine, und das ist Caspar, mein Mann.“

Während Caspar auf Olivias Geheiß Getränke holen ging, entlockte sie Bobby etliche Informationen zu ihrer Person.

„Ich habe gerade mein Studium beendet und gönne mir ein bisschen Urlaub, um Europa kennen zu lernen, bevor ich in die Anwaltskanzlei meines Vaters eintrete“, erklärte Bobby.

„Ihr Vater ist also Anwalt. So ein Zufall! In unserer Familie, den Crightons, beschäftigen sich fast alle in irgendeiner Form mit Jura.“

„Dad war Anwalt“, entgegnete Bobby. „Momentan ist er im Kongress tätig.“

„Und was hat Sie nach Haslewich geführt?“, erkundigte sich Caspar und reichte Bobby einen Drink. „Es ist nicht gerade eine Touristenattraktion.“

„Das stimmt allerdings. Mein Interesse wurde erst geweckt, als ich in Chester jemanden darüber sprechen hörte. Also dachte ich mir, dass ich einen kleinen Abstecher hierhin mache und mich etwas umsehe. So habe ich Joss kennen gelernt.“

„Sie war auf dem Friedhof“, warf er ein.

„Es ist ein seltsames Gefühl, diese uralten Grabsteine zu sehen“, verkündete Bobby. „Ich nehme an, Ihre Familie lebt schon seit Jahrhunderten in dieser Stadt.“

„Nein“, entgegnete Olivia. „Die Crightons stammen ursprünglich aus Chester, erst Anfang des Jahrhunderts hat sich der Haslewich-Zweig herausgebildet. Wir sind hier also sozusagen Neuankömmlinge.“ Dann erkundigte sie sich im Plauderton: „Haben Sie vor, länger in dieser Gegend zu bleiben?“

„Eigentlich nicht. Aber ich habe mich hier im Grosvenor einquartiert und erst zu spät gemerkt, wie teuer es ist. Jetzt muss ich mich wohl nach einer vorübergehenden Arbeit umsehen und etwas Geld verdienen, bevor ich weiterfahren kann.“

Olivia wurde nachdenklich, als sie Bobbys klägliche Miene sah. Dann runzelte sie die Stirn, blickte zur Uhr und sagte: „Ich müsste jetzt bald Tante Ruth anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Sie ist für unseren Babysitter eingesprungen, der unerwartet abgesagt hat. Und unser Kindermädchen hat uns kürzlich verlassen, weil ihre Mutter erkrankt ist. Da ich wieder in der Familienkanzlei arbeite und Caspar nächste Woche wieder zur Universität geht, suchen wir verzweifelt einen Ersatz. Sie kennen sich nicht zufällig mit Kinderpflege aus, oder?“, fragte sie halb im Scherz.

Bobby holte tief Luft. „Na ja, zufällig doch. Ich habe während des letzten Schuljahres und in allen Semesterferien in einem Kinderhort ausgeholfen.“

„Wirklich? Wenn Sie ernsthaft einen Job suchen, könnten wir uns vielleicht einmal treffen und darüber reden.“

„Sicher.“

„Ich melde mich bei Ihnen“, versprach Olivia und eilte dann davon, um das Telefonat zu führen.

„Es wäre toll, wenn du bleibst“, verkündete Joss enthusiastisch.

„Die Entscheidung liegt bei Olivia“, warnte Bobby. „Ich bin kein qualifiziertes Kindermädchen.“

„Aber ich weiß, dass sie dich wirklich mag, und Caspar auch.“

„Nun, ich mag sie auch“, versicherte Bobby aufrichtig, doch ihr Gewissen regte sich.

Zu Hause in Amerika war ihr der Plan, den sie mit Samantha geschmiedet hatte, völlig logisch erschienen. Doch nun … Sie runzelte die Stirn, als sie Joss’ finstere Miene bemerkte. Ein Blick durch den Raum verriet ihr den Grund.

Max näherte sich ihnen mit zielstrebigem Schritt. „Na, du Knirps, wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte er Joss auf äußerst herablassende Art.

Bobby sah, wie Joss rote Ohren bekam und fühlte mit ihm. „Hi, ich bin Bobby“, erwiderte sie gelassen.

Max zog die Augenbrauen hoch. „Eine Amerikanerin … Oje, Joss, du machst dich noch bei dem alten Herrn unbeliebt. Ich fürchte, unser Großvater hat eine Abneigung gegen Amerikaner.“

„Das macht nichts“, entgegnete sie leichthin. „Mein Großvater empfindet ebenso für die Briten.“

Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Hoffentlich ist das kein Fehler, den Sie geerbt haben.“

„Wer sagt denn, dass es ein Fehler ist?“, konterte sie. Mit Genugtuung beobachtete sie, wie die außerordentliche Wirkung seines verblüffend guten Aussehens durch einen unerfreulichen Ausdruck in seinen Augen gedämpft wurde. Kein Wunder, dass Joss sich derart vor ihm hütete.

„Ach, Max, da bist du ja! Ich …“

Er drehte sich zu seiner Frau um und herrschte sie gereizt an: „Herrje, Maddie, musst du mir ständig nachschleichen wie ein dummer Schäferhund?“

Madeleines Wangen erglühten, und Joss kaute verlegen an der Unterlippe.

Bobby musste den Drang unterdrücken, Max in aller Deutlichkeit zu sagen, was sie von seiner Arroganz und Grausamkeit hielt. „Ihr Mann und ich haben gerade über unsere Großväter gesprochen“, teilte sie Madeleine mit einem warmherzigen Lächeln mit.

„Oh, ich verstehe.“ Madeleine sprach mit schüchterner, zögernder Stimme und wirkte sehr unsicher. „Es ist sehr schade, dass Ben heute nicht kommen kann. Er ist vor einigen Jahren gestürzt und hat seitdem ein sehr schmerzhaftes Hüftleiden, das nach Ansicht der Ärzte operiert werden müsste.“

Die Ärmste lebt offensichtlich in ständiger Angst, ihren Mann zu verlieren, dachte Bobby. Ihrer Ansicht nach bestand kein Grund dazu. Max war wie eine kunstvolle Glasur auf einer ansonsten widerlichen Torte. Außer seinem guten Aussehen hatte er nichts zu bieten.

Doch sie wollte es sich nicht völlig mit ihm verderben. Womöglich konnte er sich noch als wertvolle Informationsquelle erweisen.

Sein Großvater hatte also eine Abneigung gegen Amerikaner. Nun, sie wusste, dass er nicht das einzige Mitglied der Familie Crighton war, das so empfand.

3. KAPITEL

Zwei Stunden später stellte Bobby schuldbewusst fest, dass sie Joss seit über einer halben Stunde nicht mehr gesehen hatte und dass sie sich prächtig amüsierte. Bereits seit zwanzig Minuten plauderte sie sehr angeregt mit Saul, den Olivia ihr vorgestellt hatte.

Bobby glaubte, dass sie sich in einer verzwickten Lage befand. Hier bot sich ihr die Gelegenheit, die Familie kennen zu lernen und zu erforschen. Doch aus Angst, dass man ihr auf die Schliche kommen könnte, schreckte sie davor zurück, die Fragen zu stellen, die ihr so wichtig waren. „Ich sollte mich jetzt wirklich nach Joss umsehen“, verkündete sie.

„Vorhin habe ich ihn mit Luke sprechen sehen.“ Saul musterte sie erstaunt, als sich ihre Miene verfinsterte. „Sie mögen Luke nicht? Da sind Sie in der Minderheit. Die meisten Frauen finden ihn äußerst attraktiv.“

„Ich bin nicht wie die meisten Frauen.“

„Nein, das sind Sie allerdings nicht“, bestätigte er sanft. Mit einem Lächeln schüttelte Bobby den Kopf und wandte sich ab. Sie hatte Joss am anderen Ende des Raumes entdeckt. Er redete in der Tat mit Luke.

Lukes Laune hatte sich im Laufe des Abends keineswegs gebessert. Fenella erwies sich als ebenso anhänglich, wie er befürchtet hatte. Darüber hinaus war es ihr gelungen, bei seiner Familie den Eindruck zu erwecken, sie seien in irgendeiner Form ein Paar. Vorläufig war es ihm unmöglich, ihre Andeutungen zu widerlegen, ohne eine Szene hervorzurufen.

Er hatte jedoch nicht die Absicht, es ihr durchgehen zu lassen. Bevor er sich an diesem Abend von ihr verabschiedete, wollte er ihr deutlich zu verstehen geben, dass er mit der Vergangenheit endgültig abgeschlossen hatte und dass es für sie weder Platz in seiner Gegenwart noch in seiner Zukunft gab.

„Ich übernachte im Grosvenor“, sagte sie gerade zu einer seiner Tanten. Mit einem bewundernden Blick zu ihm gestand sie ein: „Luke hielt es unter den gegebenen Umständen für besser. Schließlich bin ich offiziell noch verheiratet.“

Luke ignorierte Fenella, wandte sich an Joss und scherzte: „Wo in aller Welt hast du diesen Quarterback aufgetrieben, Joss?“

Bobby, die gerade in Hörweite gekommen war, biss in stiller Wut die Zähne zusammen. Sie war natürlich an hänselnde Bemerkungen über ihre Größe gewöhnt, aber sie wirkte nicht im Entferntesten stämmig oder unweiblich – ganz im Gegenteil.

Luke verfluchte sich im Stillen, als er den finsteren Ausdruck auf Joss’ Gesicht sah. Es war nicht fair von ihm, seinen Zorn über Fenellas Verhalten an dem Kind auszulassen. Doch die beinahe königliche Schönheit der unbekannten Frau, die der Junge in ihre Mitte gebracht hatte, ließ ihm einen Schauer über den Rücken rieseln. Vielleicht lag es an der Fülle ihrer glänzenden, honigblonden Haare oder vielleicht an der Art, in der sie ihre eindrucksvolle Größe und ihre noch eindrucksvolleren Rundungen bewegte. Vielleicht lag es an ihrem Auftreten, vielleicht war es aber auch in seinem eigenen emotionellen Bewusstsein begründet.

Bobby mochte zwar nicht der Typ sein, der Streit suchte, aber diesmal wollte sie einer Konfrontation nicht aus dem Weg gehen. Sie ignorierte die Versuchung, sich einfach abzuwenden, so als hätte sie Lukes spöttische Bemerkung nicht gehört. Stattdessen steuerte sie geradewegs auf ihn zu und schaute ihm in die Augen. Es wirkte seltsam beunruhigend, dass sie den Kopf heben musste, um seinem kalten Blick begegnen zu können.

„Sie müssen Luke sein“, verkündete sie.

„Muss ich das?“, konterte er trocken. „Ich frage mich, warum Sie das annehmen.“

„Oh, das ist keine Annahme. Ich habe Sie nach Joss’ Beschreibung erkannt … oder vielmehr nach der Beschreibung Ihrer Vorliebe für einen bestimmten Typ weiblicher Begleitung. Ich würde mich deswegen nicht allzu sehr sorgen“, teilte sie ihm in freundlichem Ton mit. „Angeblich ist es eine Phase, die die meisten Männer überwinden, sobald sie heranreifen.“

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Joss beunruhigt von ihr zu Luke blickte. Es ist nicht fair, ihn mit hineinzuziehen, gestand sie sich ein.

„Komm, Joss“, forderte sie ihn schelmisch auf. „Es sieht so aus, als ob das Büfett serviert würde, und ein Mädchen meiner Größe braucht unheimlich viel zu essen.“

Joss wirkte erleichtert über den humorvollen Klang ihrer Stimme. Doch Lukes Gesicht verriet, dass er nicht beabsichtigte, ihre Bemerkung über seine Freundin zu ignorieren oder durchgehen zu lassen.

„Tja, ich glaube, wir können Luke von unserer Liste streichen“, bemerkte sie, während sie mit Joss zum Büfett ging.

„Fenella ist gar nicht seine Freundin“, teilte er ihr eifrig mit. „Ich habe gehört, wie James zu Dad gesagt hat, dass sie ihn durch einen Trick dazu gebracht hat, sie mitzubringen, und dass Luke deswegen sauer ist. Sie ist vor langer Zeit mal mit Luke gegangen, aber jetzt ist sie mit einem anderen verheiratet. Aber James sagt, dass sie sich scheiden lassen will.“

Was erklärte, warum Luke so sehr darauf bedacht war, sich in der Öffentlichkeit von einer intimen Beziehung mit ihr zu distanzieren. Zumindest so lange, bis die Scheidung ausgesprochen ist, dachte Bobby. Ein Mann in seiner Position wollte seinen Ruf natürlich nicht durch einen Skandal beeinträchtigt wissen.

Sie hatte auf Anhieb erkannt, dass Luke diese besondere Art von stolzer Arroganz besaß, die sie als abstoßend empfand. Für dominierende Angeber hatte sie noch nie etwas übriggehabt. Sie zog Männer vor, deren Stärke in der Fähigkeit lag, freundlich und mitfühlend zu sein.

Runde Tische für jeweils acht Personen standen formlos um das Büfett gruppiert, und es war keine Sitzordnung vorgegeben. Joss und Bobby hatten gerade ihre Teller mit köstlichen Speisen gefüllt und an einem dieser Tische Platz genommen, als Olivia und Caspar sich zu ihnen gesellten.

Bobby lächelte sie herzlich an. Im Gegensatz zu Luke waren ihr die beiden wirklich sympathisch.

„Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass wir uns zu Ihnen setzen“, bemerkte Olivia. „Aber Caspar hat Heimweh bekommen, als er Ihre Stimme gehört hat.“

„Das ist gar nicht wahr“, widersprach er und fügte an Bobby gewandt hinzu: „Obwohl es schön ist, zur Abwechslung einen vertrauten amerikanischen Akzent zu hören.“

Olivia verzog das Gesicht. „Er ist ein typischer Anwalt aus Philadelphia.“

Caspar schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Anwalt mehr, sondern Dozent.“

„Streng genommen vielleicht, aber du hast Jura studiert und unterrichtest auf diesem Gebiet“, erinnerte ihn Olivia. „Da ich aus einer Familie stamme, die praktisch besessen von Jura ist, hätte ich eigentlich dagegen rebellieren und mir einen Mann suchen sollen, der sich mit etwas anderem beschäftigt“, beklagte sie sich im Scherz bei Bobby. „Na ja, der gemeinsame Beruf liefert uns wenigstens Gesprächsstoff. Im Gegensatz zu vielen anderen Ehepaaren können wir uns nie darüber beklagen, dass uns der Beruf des anderen langweilt.“

Caspar lachte und zog sie sanft an den seidigen Haaren. Dann wandte er sich an Bobby. „Ihrem Akzent nach vermute ich, dass Sie aus New England stammen.“

„Da vermuten Sie richtig. Ich bin in einer Kleinstadt nördlich von Boston geboren und aufgewachsen. Aber da mein Vater in die Politik eingestiegen ist, verbringen meine Eltern einen Großteil ihres Lebens in Washington.“

„Stammen Sie aus einer großen Familie?“, erkundigte sich Olivia.

„Ziemlich. Auf Dads Seite …“

„Dürfen wir uns zu euch setzen?“

Bobby versteifte sich, als sie aufblickte und Luke mit Fenella am Tisch stehen sah.

Seiner Frage folgte eine Pause, die sich unangenehm lange ausdehnte. „Ja, natürlich“, erwiderte Olivia schließlich.

Bewusst mied Bobby jeden Blickkontakt zu Luke und wandte sich an Joss. „Das Büfett ist sehr lecker.“ Dann sagte sie zu Olivia: „Dieser Lachs ist einfach köstlich.“

„Lachs …“ Fenella schüttelte sich. „Der ist schrecklich fett. Ich esse nur weißen Fisch, und natürlich nur gedünstet. Manche Leute haben ja keine Ahnung, wie viele Kalorien sie dem Essen durch falsche Zubereitung hinzufügen. Du hast in letzter Zeit reichlich zugenommen, Olivia.“ Mit einem abschätzigen Blick fügte sie hinzu: „Bestimmt trägst du jetzt mindestens Größe vierzig.“

„Meinst du wirklich? Ich muss zugeben, dass ich es nicht weiß“, entgegnete Olivia ungerührt. „Seit Amelias Geburt denke ich an alles andere als an mein Gewicht, obwohl ich vor der Schwangerschaft ein bisschen zu dünn für meinen Geschmack war. Ich muss eingestehen, dass ich die Tatsache voll ausnütze, dass mir das Stillen erlaubt, gut zu essen.“

„Stillen?“ Fenellas Stimme hob sich, und die Augen fielen ihr beinahe aus dem Kopf. „Aber …“ Viel sagend senkte sie den Blick auf Olivias weiche, weibliche Rundungen. „Als ich Crispin bekam, habe ich mich standhaft geweigert, ihn zu stillen. Ich fürchte, ich bin einfach nicht der ammenhafte Typ.“ Sie stieß ein helles Lachen aus, und der Ausdruck in ihren Augen erweckte in Bobby Mitleid mit dem ihr unbekannten Crispin.

Die angenehme, herzliche Atmosphäre am Tisch war durch Lukes und Fenellas Auftauchen gedämpft worden. Die Atmosphäre war nun angespannt. Bobby blickte in die Runde und stellte fest, dass sie nicht als Einzige so empfand.

Caspars Lippen waren bei Fenellas Bemerkungen dünn geworden. Olivia sah aus, als hätte sie zunächst heftiger reagieren wollen und sich dann mühsam beherrscht.

„Ach Luke, ich habe doch gesagt, dass ich keinen Wein möchte“, protestierte Fenella. Dennoch nahm sie einen Schluck aus dem Glas. Sie schenkte ihm einen koketten Blick unter gesenkten Lidern hervor und fragte spröde: „Du willst mich doch wohl nicht beschwipst machen, oder?“

Bobby verschluckte sich beinahe an ihrem Essen, als sie Caspar leise murren hörte: „Nicht, wenn er einen Funken Verstand hat.“

„Es ist so schade, dass Tante Ruth nicht da ist“, jammerte Joss, dem die Spannung zwischen den Erwachsenen völlig entging. „Sie mag auch so gern Lachs.“

„Sie müssen Ruth unbedingt kennen lernen, bevor Sie wieder abreisen“, warf Olivia ein. „Wenn Sie mehr über die Familie erfahren möchten, dann ist sie die richtige Ansprechpartnerin.“

„Gibt es einen besonderen Grund, weswegen Sie sich für unsere Familie interessieren?“, fragte Luke.

„Nein“, entgegnete Bobby ruhig. „Gibt es einen besonderen Grund, warum ich es nicht tun sollte?“

Fenella war offensichtlich nicht gewillt, Lukes Aufmerksamkeit mit irgendjemandem zu teilen. Sie warf Bobby einen giftigen Blick zu, beugte sich zu ihm und legte ihm besitzergreifend eine Hand auf den Arm. „Lass uns tanzen, Luke. Wir haben immer so gut zusammen getanzt“, murmelte sie rau.

„Wirklich?“ Er zog eine Grimasse. „Ich muss zugeben, dass ich mich nicht daran erinnere.“

Olivia schob ihren Stuhl zurück und warf hastig ein: „Darling, wir sollten jetzt wirklich ein paar Worte mit Saul und seinen Eltern wechseln.“

„Ich muss bald gehen“, sagte Bobby zu Joss. „Aber vorher möchte ich mich noch bei deinen Eltern bedanken.“ Sie erhob sich ebenfalls, um der Szene zwischen Luke und Fenella zu entgehen, die sie kommen ahnte.

„Der arme Luke“, bemerkte Olivia, als sie alle außer Hörweite waren.

Bobby konnte nicht widerstehen, kühl zu entgegnen: „Offensichtlich muss er sie irgendwann einmal attraktiv gefunden haben.“

„Nun, ja, aber damals war er noch sehr, sehr jung, erst zweiundzwanzig. Und ich glaube, er hat seine Illusionen ziemlich schnell verloren.“ Mit der typischen Direktheit einer Anwältin stellte Olivia fest: „Sie mögen ihn nicht besonders.“

„Nicht besonders“, gab Bobby zu.

Nachdem sie sich von Olivia und Caspar verabschiedet hatte, verkündete Joss: „Es tut mir leid, dass Luke dich Quarterback genannt hat.“

„Na ja, irgendwie war es wohl ein Kompliment. Ich nehme an, ein Quarterback in der Oberliga verdient eine Menge mehr Geld, als ich jemals verdienen werde“, entgegnete sie sarkastisch. Dann lenkte sie seine Aufmerksamkeit zwischen den Tanzpaaren hindurch auf das andere Ende des Raumes. „Schau, da drüben sind deine Eltern.“

„Schade, dass du schon gehen musst“, klagte Joss, als sie sich einen Weg zu Jenny und Jon bahnten. „Aber du bleibst doch noch hier in dieser Gegend, oder?“

„Eine Weile“, bestätigte sie ausweichend.

Sie hatte wichtige Dinge zu erledigen und Informationen einzuholen. All das gelang ihr besser, wenn es nicht unter seinen wachsamen Augen geschah.

„Danke, dass ich mich bei Ihrer Party einschmuggeln durfte“, sagte sie, als sie seine Eltern erreichten.

„Du hast dich nicht eingeschmuggelt“, widersprach Joss empört. „Ich habe dich eingeladen.“

Jenny lachte. „Sie sind uns sehr willkommen“, versicherte sie herzlich. Liebevoll zauste sie ihm das Haar. „Ich hoffe nur, dass Joss Ihnen nicht zur Last gefallen ist.“

„Keineswegs. Ich habe es sehr genossen, mich mit ihm zu unterhalten.“

Im Hotelzimmer setzte sich Bobby ans Telefon, wählte eine Nummer und wartete, bis sie die vertraute Stimme hörte, die ihrer so sehr ähnelte. „Können wir reden? Ich konnte nicht bis Sonntag abwarten.“

„Ja, sie sind gerade aus dem Zimmer gegangen. Okay, schieß los. Was hast du herausgefunden?“

„Hör mal, Sam, ich bin mir nicht sicher, ob das, was wir vorhaben, eine gute Idee ist. Als ich heute mit Olivia und Caspar gesprochen habe …“

„Olivia und Caspar? Wer zum Teufel ist das?“

„Joss’ Cousine und ihr Ehemann. Er ist Amerikaner, aus Philly, und …“

„He, hast du eine Ahnung, wie teuer dieses Gespräch ist?“, unterbrach Samantha erneut. „Ich hätte selbst hinfahren sollen. Leider bist du so verdammt weichherzig und sentimental, dass du sogar für den Teufel persönlich Entschuldigungen findest. Bobby, du weißt doch genau, was letztes Jahr passiert ist und was der Arzt gesagt hat. Uns bleibt vielleicht nicht viel Zeit.“

„Dr. Fraser hat gesagt, dass sie zu hundert Prozent genesen ist“, protestierte Bobby. Doch sie wusste, dass ihre Stimme Angst und Besorgnis verriet.

„Ja, ich weiß. Aber wir müssen es durchziehen. Wir müssen einfach. Wenn ich doch nur drüben sein könnte!“

„Du kannst nicht, wenn du dein Examen schaffen willst, und du wirst es schaffen.“

„Ich weiß. Also, schieß los. Was hast du herausgefunden?“

„Nicht viel. Olivia meint, dass Tante Ruth die geeignete Person ist, wenn man über die Familienchronik informiert werden möchte.“

„Aha, Tante Ruth?“ Eine lange Pause folgte, und dann fragte Samantha mit schwächerer, rauer Stimme: „Und? Willst du mit ihr reden?“

„Ich weiß es nicht, Sam.“ Bobbys Stimme klang beunruhigt. „Ehrlich gesagt, bin ich nicht überzeugt, dass sie die richtige Person ist.“

„Da hast du vermutlich recht.“

Nachdem Bobby das Gespräch beendet hatte, schenkte sie sich ein Glas Soda aus der Minibar ein und trat barfuß ans Fenster. Der Bademantel des Hotels, den sie trug, war zu ihrer Überraschung ein wenig zu lang und viel zu weit. Offensichtlich hatte ein scharfsinniges Zimmermädchen ihre überdurchschnittliche Größe bemerkt und ihn besorgt. Es gefiel ihr, etwas zu Großes zu tragen. Sie fühlte sich dadurch zart und zerbrechlich.

Bobby runzelte die Stirn, als es an der Tür klopfte. Sie durchquerte den Raum, öffnete und erblickte zu ihrer Verblüffung Luke Crighton mit ihrem Umhang in der Hand.

„Den haben Sie unten liegen lassen“, teilte er ihr mit.

„Ja, das stimmt.“ Sie bedachte ihn mit einem frostigen Blick. „Aber Sie hätten sich nicht die Mühe zu machen brauchen, ihn mir zu bringen. Ich hätte ihn morgen Früh holen können.“

„Sicherlich. Aber Jenny ist daran gelegen, dass Sie ihn zurückbekommen.“

Er stand ein Stück von der Tür entfernt – so weit, dass sie den Umhang nicht erreichen konnte. Daher sah sie sich gezwungen, in den Korridor zu treten. Zum Glück war niemand sonst zu sehen. Sie streckte eine Hand aus. „Mein Umhang“, verlangte sie schroff.

Doch anstatt ihn ihr zu reichen, näherte er sich ihr. Völlig unvermutet, ehe sie es sich versah, nahm er mit einem Arm geschickt ihre Hände hinter ihrem Rücken gefangen. Den anderen Arm schlang er um ihre Taille wie in der Parodie einer intimen Umarmung.

Instinktiv versuchte Bobby, sich von seinem muskulösen Körper und seinem festen Griff um ihre Handgelenke zu befreien. Sie wand sich heftig und versuchte gleichzeitig, ein Knie zum empfindlichsten Teil seines Körpers hochschnellen zu lassen.

Es funktionierte nicht. Im Gegenteil. Er nutzte ihre Bewegungen aus, um ihr Bein zwischen seinen gefangen zu nehmen, während er sie zurück an die Wand drängte und den Kopf senkte.

„Wagen Sie es ja nicht!“, rief sie empört.

Seine Augen funkelten belustigt. „Nein?“, flüsterte er spöttisch. „Wie wollen Sie mich denn davon abhalten?“

„So!“, stieß sie hervor und bleckte die Zähne, um in die Lippen zu beißen, die ihren so gefährlich nahe waren. Statt der erwarteten Abscheu sah sie erneut Belustigung in seinen Augen.

Sie setzte zu einer entrüsteten Tirade an, doch es kam nur ein erstaunter Laut heraus, als er eine Hand zu ihrem Gesicht hob. Mit dem Daumen streichelte er ihre geöffneten Lippen, bevor er einen Finger zwischen ihre Zähne schob, bis er ihre Zunge berührte.

Seine Haut schmeckte ein wenig salzig und sehr männlich. Sie erschauerte einmal vor Empörung und dann ein zweites Mal vor … Vor was? fragte sie sich verwirrt.

„Luke!“

Bobby glaubte, die schrille, weibliche Stimme zu erkennen. Als sie den Kopf zum Korridor umdrehen wollte, versperrte Luke ihr die Sicht, indem er die Lippen auf ihre senkte.

„Luke!“

Die Stimme klang nun näher und schärfer. Es war eindeutig Fenella. Erneut versuchte Bobby, sich zu befreien.

Küssen kann er gut, schoss es ihr durch den Kopf. Seit ihrem ersten Schwarm auf der Highschool hatte sie nicht mehr so spontan und heftig auf einen bloßen Kuss reagiert. Und vielleicht nicht einmal damals, gestand sie sich ein.

„Luke, wie kannst du mir das antun?“, schrie Fenella, anscheinend dicht neben Bobbys Ohr. „Du weißt genau, wie sehr ich dich liebe!“

„Ich weiß nichts dergleichen“, entgegnete er ungerührt, nachdem er endlich den Mund von Bobbys entfernt und seine Aufmerksamkeit auf Fenella gerichtet hatte.

Er hielt Bobby jedoch noch immer umschlungen, und sie musste sich eingestehen, dass sie sich lieber nicht von ihm befreien sollte. Denn ihre Knie waren beunruhigend weich geworden.

„Du kannst sie mir unmöglich vorziehen!“, protestierte Fenella zornig.

„Ich kann nicht nur, ich tue es sogar“, entgegnete er. Dann wandte er sich wieder an Bobby und verkündete in belustigtem Ton: „Ich weiß ja, dass du davon träumst, es irgendwo in der Öffentlichkeit zu treiben. Aber ich glaube wirklich, dass wir es in deinem Zimmer bequemer hätten.“

Und bevor sie ihn zurückhalten konnte, schob er sie hinein und schloss entschieden die Tür hinter sich.

Bobby rang nach Atem. Sie war so zornig, dass sie kaum Worte fand. „Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein?“, verlangte sie zu wissen, während sie sich aus seinen Armen befreite. Sie hoffte, dass er das sichtbare Zittern ihres Körpers auf ihren Zorn und nicht auf die Nachwirkung seines Kusses schob.

„Ist das nicht offensichtlich?“, entgegnete er nüchtern.

„Sie haben mich benutzt, um Ihre Freundin loszuwerden“, empörte sie sich und warf mit einer heftigen Kopfbewegung das Haar zurück. „Warum sagen Sie ihr nicht einfach, dass Sie kein Interesse an ihr haben? Mein Gott, was sind Sie bloß für ein Mensch, dass Sie vorsätzlich hierher kommen und mich benutzen, mich manipulieren und planen …“

„Ich habe gar nichts vorsätzlich geplant“, unterbrach Luke sie sanft. „Ich habe einfach die Gelegenheit ergriffen und den Augenblick genutzt, als ich Fenella auf uns zukommen sah.“

„Sie haben nicht nur die Gelegenheit ergriffen, Sie haben auch nach mir gegriffen und so getan, als würden wir uns leidenschaftlich umklammern“, schalt sie verärgert. „Wenn Sie sich einbilden …“

„Beruhigen Sie sich“, riet er.

„Ich soll mich beruhigen? Sie fassen mich an, überwältigen mich, drängen sich in mein Zimmer und dann …“

„Sie sind völlig sicher vor mir“, unterbrach er sie ungerührt. „Denn Sie sind überhaupt nicht mein Typ.“

Bobbys Augen sprühten förmlich Funken. „Das freut mich zu hören“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „denn Sie sind ganz gewiss nicht meiner.“

„Sie reagieren übertrieben“, konterte er.

„Sie haben mich geküsst!“, fauchte sie.

Zu ihrem Verdruss lachte er. „Ach, kommen Sie“, murmelte er dann, „ich war bestimmt nicht der Erste, der das getan hat.“

„Nein“, stimmte sie schroff zu. Seine Arroganz raubte ihr beinahe den Atem. „Aber Sie sind der Erste, der es gegen meinen Willen getan hat“, erklärte sie nachdrücklich. Und als Vergeltung für sein Lachen fügte sie hinzu: „Es gefällt mir nicht, von einem Mann geküsst zu werden, den ich nicht mag.“

Einen Moment lang glaubte sie, die Oberhand gewonnen zu haben. Doch dann entgegnete er gelassen: „Ach nein? Ich hatte da einen anderen Eindruck. Aber wen hätten Sie denn lieber geküsst? Soll ich raten? Ich habe gesehen, wie Sie Max beobachtet haben. Er ist verheiratet, müssen Sie wissen.“

„Ja, ich weiß, vielen Dank.“ Bobby sparte sich die Mühe, auf seine Unterstellung jetzt einzugehen. „Ich frage mich, warum jeder so sehr darauf bedacht ist, mich darauf hinzuweisen.“

„Das wissen Sie sehr gut. Max ist ein ausgesprochener Schürzenjäger und mit einer Frau verheiratet, die ihn langweilt und die er ganz offensichtlich nicht geheiratet hat, weil sie ihn besonders reizt. Sie hingegen besitzen diese eigenartige Beschaffenheit, die in ihm den Wunsch erweckt, mit Ihnen zu schlafen. Aber das ist auch alles, was er von Ihnen will. Es sei denn, Sie haben in Ihrer Ahnentafel einen Haufen hoher Richter, einen Angehörigen des Hochadels sowie ein paar Millionäre.“

„Nein, hab ich nicht“, entgegnete sie knapp. Zumindest steht der Hochadel nicht in meiner Ahnentafel vermerkt, fügte sie im Stillen hinzu. Doch sie widerstand der Versuchung, es auszusprechen. „Ich möchte, dass Sie gehen“, verkündete sie mit einem bedeutungsvollen Blick zur Tür.

„Noch nicht.“

„Ich könnte die Rezeption anrufen und darum bitten, Sie entfernen zu lassen. Gewaltsam, falls nötig.“

Luke lachte erneut. „Ich glaube, dass in dieser Stadt und diesem Hotel mein Ansehen mehr zählt als Ihres. Was weiß man schließlich schon von Ihnen? Außer dass Sie eine sehr seltsame Freundschaft mit Joss geschlossen haben.“

„Fenella muss verrückt sein, wenn sie sich mit Ihnen einlassen will“, bemerkte Bobby. „Und wenn sie so verzweifelt darauf aus ist, Sie zu angeln, wird sie sich nicht davon abbringen lassen, nur weil Sie mich geküsst haben.“

„Allerdings nicht“, stimmte er sanft zu. „Aber hoffentlich dann, wenn sie erfährt, dass ich die Nacht mit Ihnen verbracht habe.“

Bobby öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schluckte schwer und starrte ihn mit einer Mischung aus Zorn und Faszination an.

Er hielt ihrem Blick stand und zog spöttisch eine Augenbraue hoch, so als wartete, als hoffte er förmlich auf ihren Widerspruch. Nun, er sollte nicht enttäuscht werden.

„Sie werden die Nacht aber nicht in diesem Zimmer verbringen“, erklärte sie laut und deutlich.

Er zuckte gelangweilt die Schultern. „Nein? Dann werfen Sie mich doch hinaus.“

Sie verglich nicht nur seine Körpergröße, sondern auch seine Muskelkraft mit ihrer eigenen und erkannte, dass jeder Versuch, ihn gewaltsam aus dem Zimmer zu entfernen, in einem demütigenden Fehlschlag ihrerseits enden musste.

„Nun gut“, entgegnete sie frostig. „Wenn Sie nicht gehen wollen, dann nehme ich mir eben ein anderes Zimmer.“

„Ich fürchte, das ist unmöglich. Das Hotel ist komplett ausgebucht. Ich habe es erfahren, als Fenella mir mitgeteilt hat, dass sie für uns ein Doppelzimmer gebucht hat. Aber wenn Sie es trotzdem versuchen wollen …“

Bobby überlegte fieberhaft. Sie war sich durchaus bewusst, welches Interesse es hervorrufen würde, wenn sie das Zimmer zu wechseln versuchte, während Luke sich in ihrem derzeitigen aufhielt.

„Das ist doch lächerlich“, fauchte sie schließlich. „Fenella lässt sich offensichtlich nicht abschrecken, obwohl Sie mich geküsst haben. Warum sollte sie es dann tun, nur weil Sie die Nacht mit mir verbringen? Wenn sie bereit ist, einen Mann zu nehmen, der eine andere Frau in der Öffentlichkeit küsst, wird sie wahrscheinlich auch noch bereit dazu sein, selbst wenn er … intim mit ihr wird.“

Es ärgerte sie, dass sie davor zurückschreckte, das Wort „Sex“ zu benutzen statt des spröden, beschönigenden Ausdrucks „intim“.

„Sie mag zwar dazu bereit sein, aber sie weiß dann ganz genau, dass ich es nicht bin.“ Als Bobby ihn verwirrt anblickte, erklärte er sachlich: „Ich schlafe nicht mit jeder. Fenella weiß, dass ich nie mit einer Frau ‚intim‘ werde, mit der ich nicht bereits eine ernste Beziehung habe oder einzugehen gedenke“, führte er mit spöttischer Betonung ihrer Ausdrucksweise aus. „Mit anderen Worten, meine amerikanische Freundin, Fenella weiß genau, dass ich Sie zu einem ernsthaften und dauerhaften Bestandteil meines Lebens machen will, falls ich die Nacht mit Ihnen verbringe.“

Bobby schluckte schwer. Es geschah nicht oft, dass ein Mann sie aus der Fassung brachte. Warum musste ausgerechnet Luke der Erste sein, der ihre Ansichten über die Bedeutsamkeit sexueller Intimität teilte? Vielleicht wollte er sich nur lustig über sie machen. Doch ein prüfender Blick in sein Gesicht verriet, dass es ihm sehr ernst war.

„Hoffentlich erwarten Sie nicht auch noch, dass ich Sie morgen Früh zu einem ehrbaren Mann mache, nur weil Sie Ihre Absicht erklärt haben, die Nacht mit mir zu verbringen“, bemerkte sie schnippisch, um ihre Gefühle zu verbergen.

„Wie auch immer, Sie können nicht hier schlafen.“

Luke warf einen geringschätzigen Blick auf das schmale Hotelbett. „Nein, das kann ich wohl nicht“, stimmte er überraschend zu, „und Sie wahrscheinlich auch nicht. Wenn ich in diesem Minibett schlafen müsste, würde ich mit Krämpfen und Rückenschmerzen aufwachen.“

Bobby wusste genau, was er meinte. Zu Hause hatten sie vernünftige Betten, die breit und lang waren, auf denen man sich genüsslich ausstrecken konnte und dennoch Platz für …

Ein erschrockener Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als plötzlich aus dem Nichts ein gefährliches, geistiges Bild vor ihr auftauchte: zwei liebevoll verschlungene Körper auf einem großen Bett, von feinen Baumwolllaken bedeckt, ihr Körper an die größere, kräftigere Gestalt des Mannes gekuschelt, der halb über ihr lag, ein Bein besitzergreifend über ihre Hüften drapiert, ein Arm beschützend um sie geschlungen. Seine Gesichtszüge waren nicht zu erkennen, aber sie sah deutlich seinen gebräunten, muskulösen Rücken, sein dunkles Haar, und sie wusste natürlich, wie sein Gesicht aussah. Und ebenso wusste sie, wie er sich anfühlte, wie er roch, wie er schmeckte …

Ich bin eindeutig krank, dachte Bobby, als es ihr schließlich gelang, die erschreckend realistische Vision zu verscheuchen. Warum sonst sollte sie sich eine Bettszene mit Luke Crighton ausmalen? Und nicht nur in irgendeinem, sondern ausgerechnet in ihrem eigenen Bett in dem kleinen, hübschen Haus, das an einer ruhigen Straße der Kleinstadt in New England lag.

„Sie können nicht hier bleiben“, verkündete sie noch einmal, und ihre Stimme klang rau.

„Nein, ich glaube nicht“, stimmte Luke zu. Auch in seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton. Er ging zur Tür. Doch bevor er sie öffnete, drehte er sich zu Bobby um und fragte: „Wie haben Sie Joss eigentlich kennen gelernt?“

„Ich bin ihm zufällig in Haslewich begegnet.“

„Hm, das hat er auch gesagt. Auf dem Friedhof. Sie haben sich anscheinend die Grabsteine angesehen?“

Ihr Herz begann zu pochen. „Ja, das stimmt.“

„Haben Sie nach einem bestimmten gesucht?“

„Ich habe mich nur umgesehen. Als Amerikanerin ist es für mich etwas völlig Neues, so alte Grabsteine zu sehen.“

„Laut Joss haben Sie sich im neuen Teil aufgehalten, als er Sie sah.“

„Ach ja? Schon möglich. Ich kann mich nicht genau erinnern“, behauptete sie wegwerfend. Dann fragte sie in zuckersüßem Ton: „Haben Sie Ihr Kreuzverhör beendet? Ich möchte jetzt nämlich gern schlafen gehen.“

„Damit ich Grund hätte, Sie ins Kreuzverhör zu nehmen, müssten Sie entweder eines Verbrechens schuldig oder Zeugin geworden sein“, teilte er ihr in seidigem Ton mit. „Ich frage mich, was davon auf Sie zutrifft.“

„Nichts“, entgegnete Bobby heftig, als er zur Tür hinausging. Doch trotz des Nachdrucks, den sie der Leugnung verlieh, hegte sie das unbehagliche Gefühl, dass er ihr nicht glaubte.

4. KAPITEL

Früh am nächsten Morgen betrat Bobby in einer Hose und einem seidigen Stricktop das Foyer. Mit zielstrebigem Schritt ging sie zur Rezeption und erkundigte sich, ob irgendwelche Nachrichten für sie da waren.

Lächelnd reichte ihr der Portier zwei Briefumschläge. Sie runzelte erstaunt die Stirn, da sie die Handschriften auf ihnen nicht kannte. Sie öffnete den obersten und las:

Danke für die vergangene Nacht. Du warst wundervoll. Ich kann es kaum bis heute Abend erwarten. Luke

Sie ließ den Zettel auf das Pult fallen, so als hätte sie sich die Finger daran verbrannt. Der Portier hob ihn auf und reichte ihn ihr diskret zurück. Nun war sie nicht die Einzige, die diese unverschämte Nachricht gesehen hatte.

Verärgert stopfte sie den Zettel in die Tasche und las die zweite Nachricht, die von Olivia unterzeichnet war und wie folgt lautete:

Nach unserem Gespräch gestern Abend möchte ich gern etwas mit Ihnen besprechen. Hätten Sie vielleicht Zeit, heute mit mir zu lunchen? Wenn ja, können wir uns dann um ein Uhr hier im Restaurant treffen?

Nachdenklich nagte Bobby an der Unterlippe. Sie wusste natürlich, worum sich die gewünschte Besprechung drehte. Sie wusste außerdem, dass sie sich Sams Zorn zuziehen würde, wenn sie eine derart günstige Gelegenheit ausschlug. Der Arbeitsplatz, der ihr angeboten werden sollte, bot eine ausgezeichnete Chance, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Aber Olivia und ihr Mann waren ihr so sympathisch, dass sie davor zurückschreckte, ihren Respekt und ihre aufkeimende Freundschaft auszunutzen.

Du hast nichts zu verlieren, wenn du mit ihr redest, ermahnte sie sich streng, und möglicherweise eine Menge zu gewinnen.

„Werden Sie zum Lunch hier sein?“, erkundigte sich der Portier, als sie ihm ihren Zimmerschlüssel reichte.

„Ich … ja, ich esse um ein Uhr mit … einer Freundin im Restaurant“, erwiderte sie kurz entschlossen.

Als sie aus dem Hotel in den strahlenden Sonnenschein trat, fragte sie sich, ob Joss mit seiner Familie bereits auf dem Rückweg nach Haslewich war.

Eine Stunde lang spazierte sie durch die Stadt. Hin und wieder blieb sie stehen, um den Touristenführer zu konsultieren und die historischen Gebäude zu bewundern. Bei der Burg hielt sie sich etwas länger als an den anderen Bauwerken auf. Noch länger verweilte sie vor dem Gebäude am Fluss, das auf einem diskreten Messingschild neben der Tür die Inschrift „Crighton, Crighton und Crighton“ trug.

Eine flüchtige Bewegung an einem der oberen Fenster erweckte ein unangenehmes Gefühl in ihr und veranlasste sie weiterzugehen.

Eine halbe Stunde später, nachdem sie scheinbar ziellos auf einer vorher festgelegten Route durch schmale Straßen gewandert war, erreichte sie ihr eigentliches Ziel. Die Kathedrale von Chester hatte ursprünglich als Kloster fungiert und war erst später in eine Kirche umfunktioniert worden. Doch so faszinierend die Geschichte des Gebäudes auch sein mochte, hatte Bobby keine Zeit, den anderen Touristen in die unterirdischen Gewölbe zu folgen. Stattdessen eilte sie zum Friedhof.

Es dauerte nicht lange, bis sie fand, wonach sie suchte. In Chester waren die Crightons schon seit vielen Generationen vermögende Männer des Gesetzes, wie das große Mausoleum bezeugte, in dem sie ihre Toten beigesetzt hatten.

Bobby musterte es mit gemischten Gefühlen. Einige der Namen auf der Gedenktafel aus Marmor waren stark verblichen und kaum noch zu entziffern. Andere waren neueren Datums und leichter lesbar. Mit unsicherer Hand strich sie über einen der Namen.

„Er war mein Urgroßvater“, verkündete eine vertraute, unwillkommene Stimme hinter ihr.

Ich weiß, wollte Bobby sagen, und sein Missfallen über die Heirat seines jüngsten Sohnes hat dazu geführt, dass dieser von zu Hause fortging und mit seiner Frau den Haslewich-Zweig der Familie gründete.

Aber natürlich sprach sie es nicht aus. Sie drehte sich nicht einmal um. Stattdessen fragte sie so gelassen wie nur möglich: „Was tun Sie denn hier, Luke?“

„Ich halte es für angemessener, wenn ich Ihnen diese Frage stellte“, entgegnete er trocken. „Für eine so junge Frau wie Sie entwickeln Sie eine ziemlich morbide Neigung zu Besuchen auf Friedhöfen. Zuerst in Haslewich und nun hier in Chester.“

„Es ist ein interessanter Weg, mehr über die Familien zu erfahren, die in der Gegend gelebt haben“, erwiderte sie sachlich. Herausfordernd fügte sie dann hinzu: „Und es ist kein Verbrechen.“

„Nein, das ist es nicht. Es sei denn, Sie beabsichtigen, eine der Leichen zu exhumieren.“ Er trat an ihre Seite, doch sie blickte ihn immer noch nicht an. „Dann ist es also das Interesse an der lokalen Geschichte, das Sie hierhergeführt hat. Lokale Geschichte im Allgemeinen oder die einer bestimmten Familie im Besonderen?“, fragte er nachdrücklich.

„Ich habe mir die Kathedrale angesehen und bin dabei irgendwie hier gelandet. Dieses Mausoleum ist mir ins Auge gefallen. Ich bin gekommen, um es mir anzusehen, und …“

„Und rein zufällig haben Sie entdeckt, dass es den Crightons gehört“, fuhr er für sie fort. „Sie lügen“, beschuldigte er sie, und bevor sie etwas entgegnen konnte, setzte er hinzu: „Sparen Sie sich die Mühe, es zu leugnen. Ich habe Sie beobachtet. Ich habe Sie vor dem Büro stehen sehen. Sie sind nicht zufällig hier.“

„Sie haben mich beobachtet? Sie meinen wohl, Sie sind mir gefolgt und haben mir nachspioniert!“, rief Bobby erzürnt. „Bei uns zu Hause gibt es ein Gesetz gegen diese Art von Belästigung.“

„Tja, nun, wir haben alle unsere eigenen Ansichten darüber, was als Verletzung der Privatsphäre gilt und was nicht. Ich weiß nicht, was Sie im Schilde führen, aber glauben Sie mir, ich habe die Absicht, es herauszufinden“, warnte er grimmig. „Und dann …“

„Was dann? Benutzen Sie dann Ihre juristische Gewalt, um mich ins Gefängnis zu werfen? Das glaube ich kaum. Statt mich zu verfolgen, sollten Sie lieber in Ihrem Stammbaum nach einer Vorgeschichte von Paranoia forschen. Denn Sie scheinen sehr extrem daran zu leiden“, entgegnete sie vernichtend. Sie hoffte, dass er ihre geröteten Wangen und offensichtliche Aufregung für Zorn hielt und nicht auf das beängstigende Gefühl von Schuld und Furcht zurückführte, das sie beschlichen hatte.

„Wie ich sehe, sind Sie begeisterte Anhängerin des Kults, der Angriff für die beste Verteidigung hält“, entgegnete er trocken. „Ich bin kein kleiner Junge wie Joss, der sich von blonden Haaren und blauen Augen blenden lässt, müssen Sie wissen.“

„Zumindest nicht, wenn es nicht mit einem gezierten Lächeln und zierlichem Wuchs einhergeht“, stimmte sie in ätzendem Ton zu.

Seine Miene verfinsterte sich. „Wir kommen vom Thema ab“, entgegnete er schroff. „Sie haben mir immer noch nicht erklärt, warum ausgerechnet unser Mausoleum Ihre Aufmerksamkeit erregt hat.“

„Das lag einfach daran, dass ich den Familiennamen erkannt habe“, schwindelte sie. „Er ist mir aufgefallen, und ich bin hergekommen und …“

„Sie mussten an vier anderen Familiengräbern vorbeigehen“, wandte er zynisch ein. „Irgendetwas Bestimmtes muss Sie veranlasst haben, unseres auszusuchen.“

„Ich bin eine Frau“, erwiderte sie sanft. „Ich tue nie das Naheliegendste.“ Sie blickte zur Uhr. Halb eins. „Ich muss jetzt gehen. Ich bin zum Lunch verabredet.“

„Mit Max?“, hakte er stirnrunzelnd nach.

„Finden Sie es selbst heraus, Herr Anwalt“, neckte sie erleichtert, weil es ihr gelungen war, ihn von ihrem Interesse an dem Mausoleum abzulenken.

Sie wandte sich ab und ging davon. In der Überzeugung, dass er ihr folgen und sie aufhalten würde, drehte sie sich um, als sie den Ausgang erreichte.

Er stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Familiengrab. Dann kniete er sich nieder und begann, das Blumenbeet um das Grab herum zu jäten. Er vertiefte sich derart in die Aufgabe, als ob Bobby gar nicht existierte.

Abrupt wandte sie sich ab und eilte in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Zehn Minuten vor der Verabredung erreichte sie das Grosvenor. Sie ging hinauf in ihr Zimmer, um sich zu waschen und zu kämmen. Als sie zurückkehrte, wartete Olivia bereits im Foyer.

„Oh, prima!“, rief sie. „Ich dachte schon, Sie würden nicht kommen.“

„Ich habe den Vormittag über die Kathedrale besichtigt“, erklärte Bobby, „und bin ein bisschen später als geplant zurückgekommen. Sie möchten etwas mit mir besprechen?“

„Ja“, bestätigte Olivia, während sie zum Restaurant gingen.

Offensichtlich war es an Sonntagen ein beliebter Ort, denn es war gut besucht. Der Ober begrüßte sie freundlich und führte sie zu ihrem Tisch.

„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten“, eröffnete Olivia, sobald sie sich gesetzt und die Speisekarte erhalten hatten. „Ich habe gestern Abend ja schon erwähnt, dass Caspar und ich Probleme haben, ein Kindermädchen für Amelia zu finden. Und Sie haben gesagt, dass Sie Erfahrung im Umgang mit Kindern haben.“

„Ja, gewissermaßen“, entgegnete Bobby ausweichend. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, spielt Caspar während der Semesterferien den Hausmann.“

„Das stimmt. Aber jetzt fängt das neue Semester bald an, und er muss sich auf seine Vorlesung vorbereiten. Ruth hilft uns aus, wo sie nur kann, aber wir können nicht mehr von ihr verlangen, als dass sie gelegentlich den Babysitter spielt.“

„Das kann ich mir denken. In ihrem Alter …“

„Oh nein, es hat nichts mit ihrem Alter zu tun. Ruth ist zwar schon über siebzig, aber sie sieht mehr als zehn Jahre jünger aus. Und was ihren Intellekt und ihre Energie angeht, beschämt sie mich geradezu. Sie ist außerdem wundervoll zu Kindern. Es ist ein Jammer, dass sie selbst keine hat.“

„Manche Frauen sind einfach nicht mütterlich veranlagt“, warf Bobby ein.

„Manche nicht“, pflichtete Olivia ihr bei. Nachdem der Ober die Bestellung aufgenommen hatte, fügte sie hinzu: „Aber Ruth ist es ganz gewiss. Es ist schade, dass sie nie geheiratet hat.“

„Vielleicht hat sie nie einen Mann gefunden, der es ihr wert gewesen wäre, auf den Namen Crighton zu verzichten“, vermutete Bobby.

Olivia bedachte sie mit einem erstaunten Blick. „Manche männliche Mitglieder der Familie mögen sich zwar einbilden, gleich nach Gott zu kommen und höher zu stehen als jeder andere Mensch, aber Ruth hat nie diese Einstellung besessen. Dass sie nie geheiratet hat, liegt wohl eher daran, dass ihr Verlobter – ein Kampfpilot – im Krieg ums Leben kam. Obwohl Caspar meint …“ Sie hielt inne, runzelte die Stirn und fügte dann hinzu, ohne den ursprünglichen Satz zu beenden: „Joss betet sie förmlich an, und sie schätzt ihn sehr.“

„Weil er männlichen Geschlechts ist“, warf Bobby trocken ein.

„Nein, weil er Joss ist“, entgegnete Olivia entschieden. „Wir scheinen Ihnen einen recht negativen Eindruck von ihr vermittelt zu haben. Ich weiß gar nicht, wieso. Sie ist wirklich ein wundervoller Mensch. Fürsorglich, verständnisvoll … und sehr weise.“

Der Ober servierte das Essen und zog sich wieder zurück.

„Ich bin ganz vom Thema abgeschweift“, fuhr Olivia fort. „Da Sie gesagt haben, dass Sie noch eine Weile in dieser Gegend bleiben möchten, haben Caspar und ich uns gedacht, dass Sie einen Teilzeitjob bei uns übernehmen und auf Amelia aufpassen könnten. Dadurch käme Caspar zum Arbeiten.“

Bobby legte ihre Gabel nieder, ohne das Essen angerührt zu haben. „Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll. Ich habe eigentlich keine Erfahrung …“

„Sie haben doch auf der Geburtstagsparty gesagt, dass Sie in den Ferien in einem Kinderhort gearbeitet hätten“, erinnerte Olivia sie.

„Ja, das stimmt“, gab Bobby zögernd zu. „Aber es war ein Hort für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Es waren ältere Kinder, die spezielle Unterstützung brauchten. Ich war eigentlich nur für Botengänge da.“

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

Mehr erfahren