2. KAPITEL
„Was haben Sie hier zu suchen?“
Prus empörter Ausruf ließ den fremden Mann aufblicken. Ihr erster Gedanke war, dass es sich um einen Freund von Nicholas handelte, doch sie änderte rasch ihre Meinung. Ein modischer Kastorhut mit lockiger Krempe lag neben ihm auf dem Tisch, und der dunkle Gehrock war perfekt auf die breiten Schultern zugeschnitten. Seine weiße Seidenweste war kunstvoll bestickt, und als er den Kopf hob, glitzerte ein Diamantnadelkopf aus den Falten seines zerknitterten Krawattentuchs. Trotz seines fragwürdigen Zustands und der dunklen Stoppeln in seinem Gesicht ließ sich sofort erkennen, dass er kein Dienstbote war.
Er stand nicht auf, sondern starrte sie nur an. „Die Tür stand offen.“
„Das mag ja sein, aber das entschuldigt nicht, dass Sie hier einfach eingedrungen sind.“
„Ich bin die verdammte Treppe hinuntergefallen! Da die Tür offen war, dachte ich, ich könnte genauso gut hier hereinkommen, anstatt wieder nach oben zur Haustür zu gehen.“
„Aber es ist ein Uhr nachts!“, entgegnete sie.
„Jawohl. Die Nacht ist noch jung.“
Aus seiner lallenden Sprechweise schloss sie, dass er nicht ganz nüchtern war. Sie blies ihre Kerze aus und stellte sie auf den Tisch.
„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Haus auf demselben Weg, den Sie gekommen sind, wieder verlassen würden. Und zwar unverzüglich“, sagte sie frostig.
„Oh, auf gar keinen Fall. Sie müssen wissen, dass ich dringend Ablenkung brauche.“
Er richtete sich auf, und Pru machte schnell einen Schritt zur Seite, damit die ganze Breite des Küchentisches zwischen ihnen war.
„Gehen Sie!“, befahl sie dem Mann. „Raus hier!“
„Ah, Sie denken, ich habe kein Geld.“ Er warf einen Blick auf seine Kleidung. „Ich gebe zu, ich bin ein wenig verdreckt von dem Sturz. Dennoch können Sie sicher sein, dass ich für meine Vergnügungen bezahlen kann.“ Er warf einen schweren Geldbeutel auf den Tisch. „Na, macht das meine Anwesenheit akzeptabler?“
„Nicht im Geringsten“, erwiderte Pru. „Wenn Sie ein Gentleman wären, würden Sie auf der Stelle verschwinden.“
„Nun, das bin ich aber nicht. Ich bin ein Duke …“
Sie lachte verächtlich. „Umso schlimmer!“
„Um Himmels willen, Madam! Ich bin doch nur zum Spielen hergekommen.“
Er machte einen Schritt auf Pru zu, und sie schnappte sich den Schürhaken von der Feuerstelle und schwang ihn in die Luft.
„Bleiben Sie mir vom Leibe!“, warnte sie ihn. „Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich meinen Diener.“
Der Fremde blickte finster drein. Sein schwarzes Haar war ihm in die Stirn gefallen, und ärgerlich schob er es mit einer Hand zurück.
„Zur Hölle, Madam! Ich habe wahrlich nicht vor, Ihre Tugend zu rauben! Ich will Karten spielen.“
„Karten?“ Obgleich Pru etwas dämmerte, ließ sie den Schürhaken nicht sinken. „Dann sind Sie im falschen Haus.“
Er starrte sie fragend an. „Ist das etwa nicht das Haus von Sally Triscombe?“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“
„Teufel und Verdammnis! Ich scheine von einem Fluch verfolgt zu werden!“
Obgleich seine Ausdrucksweise sie zusammenzucken ließ, bemühte sie sich um Gelassenheit. „Sehr wahrscheinlich, aber nicht hier. Und jetzt gehen Sie bitte.“
Dieser Entgegnung schenkte er keine Beachtung.
„Wir sind aber in der Kilve Street, nicht wahr?“ Er rieb sich mit einer Hand über die Augen. „Und Sally Triscombe hat hier ein Haus – eine verwitwete Lady, die sehr attraktiv und zuvorkommend sein soll, wie ich gehört habe“, fügte er hinzu.
„Wie können Sie es wagen, mir zu unterstellen, ich würde eine solche Person kennen?“
„Wollen Sie mir etwa weismachen, sie nicht zu kennen?“
Pru biss sich auf die Unterlippe. Natürlich hatte sie Gerüchte gehört, aber keine anständige Lady würde solche Dinge mit einem fremden Mann besprechen.
Er blickte sie erwartungsvoll an.
„Ich glaube, eine solche Person könnte in dem Haus zwei Türen weiter wohnen“, antwortete sie vorsichtig.
Er nickte, doch diese Bewegung schien ihn ins Schwanken zu bringen.
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er und legte die Hände auf den Tisch, um sich abzustützen. „Ich bin verdammt betrunken, müssen Sie wissen.“
„Das habe ich mir schon gedacht.“ Gütiger Himmel, was war in sie gefahren, mit diesem Mann zu reden?
„Seit dem Morgengrauen habe ich mit Freunden getrunken.“
„Ihre ausgelassenen Feiern interessieren mich nicht.“
„Oh, ich habe nicht gefeiert“, beteuerte er und schürzte die Lippen. „Ich habe meine Sorgen ertränkt, auch wenn ich das meinen Freunden nicht erzählt habe.“
Pru hörte ihm nicht mehr richtig zu. Er hatte den Kopf gesenkt und schien sich kaum noch auf den Beinen zu halten.
„Wann haben Sie das letzte Mal gegessen?“, fragte sie.
„Ich kann mich nicht erinnern. Heute noch nichts. Am Morgen haben wir unser Fasten mit Wein gebrochen …“
„Gütiger Himmel!“ Sie winkte ihn zum Stuhl zurück. „Setzen Sie sich.“
„Was?“
„Sie müssen etwas essen, bevor Sie irgendwohin gehen können.“
„Unsinn!“
„Glauben Sie mir, das ist jetzt nötig“, sagte sie mit Nachdruck. „In Ihrem momentanen Zustand kommen Sie nicht weiter als ein paar Meter. Da würde ich jede Wette eingehen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Sie zusammenbrechen und von Straßenräubern ausgeraubt werden. Setzen Sie sich hin, und Sie bekommen etwas zu essen.“
Mühsam hob er den Kopf und sah sie an. „Warum tun Sie das?“
„Weil ich nicht Ihren Tod auf dem Gewissen haben möchte!“
Achselzuckend ließ er sich zurück auf den Stuhl sinken. Pru holte eilig ein paar Vorräte aus der Speisekammer. Nachdem sie dem Fremden Messer und Gabel hingelegt hatte, stellte sie einen Teller mit einer Scheibe Wildpastete, Brot, Käse und ein Glas mit Essiggurken auf den Tisch. Anschließend begann sie, Schinken von der Keule abzuschneiden.
„Setzen Sie sich zu mir?“, fragte er.
„Nein.“
„Aber Sie bleiben bei mir?“
„Ich habe nicht die Absicht, Sie hier allein zu lassen.“ Wer weiß, welchen Unfug Sie anstellen? Sie legte ihm drei dicke Scheiben Schinken auf den Teller. „So. Fangen Sie an zu essen, und ich hole Ihnen einen Krug Bier.“
„Was, keinen Wein?“
„Ich möchte Sie nüchtern machen, nicht noch betrunkener.“
„Dann schenken Sie sich wenigstens selbst etwas ein.“
Pru wollte gerade eine spöttische Antwort geben, hielt jedoch inne, weil sie bemerkte, dass sie tatsächlich eine Stärkung gebrauchen konnte.
Fünf Minuten später saß sie dem Mann am Tisch gegenüber und nippte an einem kleinen Glas Bier, während er sich an den Speisen labte, die sie ihm hingestellt hatte. Wie pragmatisch und fantasielos ich doch bin! Wie gewöhnlich. Die Heldin ihres Schauerromans wäre bestimmt in Ohnmacht gefallen, hätte sie einen Eindringling in ihrem Haus vorgefunden. Ganz sicher hätte sie ihn nicht mit den besten Vorräten aus der Speisekammer gefüttert. Sie schmunzelte.
„Was amüsiert Sie so?“
Die Stimme des Fremden riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und bemerkte, dass er sie beobachtet hatte.
Er winkte mit einem Messer in ihre Richtung. „Sie haben eben gelächelt.“
„Nicht absichtlich.“
„Vielleicht nicht.“ Er musterte sie. „Ah, jetzt sehe ich es. Ihre Mundwinkel sind von Natur aus nach oben gewölbt.“
„Ja.“ Sie wandte den Blick ab und sagte mit leisem Seufzen: „Ja, das ist ein angeborener Makel.“
„Es wirkt, als ob Sie immer kurz davorstünden, zu lachen. Wie kann das etwas Schlechtes sein?“
„Mein Mund ist zu breit.“
„Das finde ich nicht.“
Pru wurde bewusst, dass dies kein angemessenes Gesprächsthema für eine Unterhaltung mit einem fremden Mann war, und schwieg.
„Darf ich wissen, wem ich dieses Abendessen zu verdanken habe?“, fragte er schließlich.
„Meiner Tante, Mrs. Clifford. Das ist ihr Haus.“
Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Ich möchte Ihren Namen wissen.“
„Ich bin Miss Clifford.“
Er hob fragend die Brauen, und Pru presste die Lippen zusammen, entschlossen, ihm nicht ihren Vornamen zu verraten. Doch nach wenigen Augenblicken siegte ihre Neugier.
„Und wer sind Sie, Sir?“
„Garrick Chauntry, Duke of Hartland.“
„Dann sind Sie also wirklich ein Angehöriger des Hochadels.“
„Was haben Sie denn gedacht?“
„In erster Linie habe ich in Ihnen einen Eindringling gesehen – und zwar einen sehr betrunkenen.“
„Und doch scheinen Sie keine Angst vor mir zu haben.“
Mit Bestürzung gestand sich Pru ein, dass er recht hatte. Sogar als sie sich den Schürhaken geschnappt hatte, war es aus Wut, nicht aus Angst geschehen. Wie töricht, wo sie doch von klein an vor den Gefahren gewarnt worden war, mit einem anderen Mann als einem Verwandten allein zu sein. Sie hätte Angst haben und um Hilfe schreien sollen. Aber was hätte das genützt? Der einzige Diener des Hauses lag völlig betrunken im Nebenzimmer. Es mangelte ihr eindeutig an Fantasie.
„… so langweilig wie ihr Name!“
Wieder kamen ihr die kränkenden Worte in den Sinn, und in der Antwort, die sie dem Fremden gab, lag eine gewisse Verbitterung. „Bevorzugen Sie Frauen, die beim ersten Anzeichen von Gefahr in Hysterie verfallen?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich finde das verdammt lästig.“
Das klang, als hätte er auf diesem Gebiet viel Erfahrung gesammelt. Pru erschien es besser, das Thema zu wechseln.
„Was ist mit Ihren Freunden passiert? Sie sagten vorhin, dass Sie mit Freunden trinken waren.“
„Ich hatte noch einen anderen Termin. Ich sagte ihnen, ich würde sie bei Mrs. Triscombe treffen.“
„Und Sie sind erst jetzt auf dem Weg dorthin?“
„Ich beschloss, mich vor meiner anderen Verabredung in einer Taverne zu stärken, und bemerkte dann, dass ich zu betrunken war, um den Termin einzuhalten.“
Er hielt inne und starrte mit grimmiger Miene vor sich hin. Pru hatte den Eindruck, dass er in sich selbst hineinschaute und nicht mochte, was er dort sah. Nach einer Weile zuckte er mit den Achseln.
„Ich schrieb eine kurze Nachricht, entschuldigte mich und sagte, ich müsste meinen Besuch auf morgen früh verschieben. Dann habe ich noch eine Flasche geleert. Oder vielleicht zwei, ich kann mich nicht erinnern. Ich dachte, der Spaziergang zur Kilve Street würde mich ausnüchtern. Das hat offensichtlich nicht geklappt.“
„Ich bin erstaunt, dass Sie nicht bewusstlos in der Gosse liegen!“
„Das hätte ich wahrhaftig verdient.“
Plötzlich verspürte sie Mitleid.
„Würde es Ihnen helfen, mir alles zu erzählen?“
Er blickte überrascht auf, und Pru errötete. „Ich helfe bei wohltätigen Einrichtungen, die sich um Notleidende kümmern. Manchen Menschen fällt es leichter, mit einem Fremden zu sprechen, mit jemandem, den sie nie wiedersehen werden. Auf meine Verschwiegenheit können Sie sich verlassen.“
„Es gehört also zu Ihren guten Taten, sich die Leidensgeschichten anderer Menschen anzuhören?“
„Ja. Zuweilen hilft es ihnen.“
„Was für eine Heilige Sie sind.“
Er schenkte ihr ein unerwartetes Lächeln, das seine rauen Gesichtszüge weicher erscheinen ließ. Plötzlich sah er viel jünger aus. Viel attraktiver. Pru spürte, wie sich tief in ihrem Inneren etwas zusammenzog, und rasch schob sie ihren Stuhl zurück.
„Ihr Krug ist leer“, sagte sie und stand auf. „Ich fülle Ihnen Bier nach.“
Als sie zurückkam, nahm er den Krug mit einem Wort des Dankes entgegen und sah zu ihr auf.
„Wollen Sie wirklich wissen, wie ich in diesen Zustand geraten bin?“
Nein. Gehen Sie zurück zu Ihren Freunden. Ihr Unglück geht mich nichts an!
Pru unterdrückte ihre lieblosen Gedanken und brachte die Alarmglocken zum Schweigen, die in ihrem Kopf schrillten. Sie setzte sich wieder hin und faltete die Hände im Schoß.
„Wenn Sie es mir erzählen wollen.“
Es folgte Schweigen. Der Duke starrte lange in seinen Krug.
„Ich habe meine bevorstehende Verlobung gefeiert“, sagte er schließlich. „Gestern – nein, vorgestern – redete ich mit dem Vater der Lady und erhielt seine Einwilligung. Ich wollte es gestern hinter mich bringen und der Dame die Ehe antragen.“
„Das war der Termin, von dem Sie sprachen.“
„Ja.“ Ein Muskel zuckte in seiner Wange. „Ich war ein zu großer Feigling. Stattdessen habe ich mich höllisch betrunken.“
Pru sah ihn fragend an. „Verzeihen Sie mir“, sagte sie langsam, „aber wenn Sie so zögerlich sind …“
„Warum ich ihr dann überhaupt einen Antrag mache?“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wir hatten eine Abmachung. Das arme Mädchen hat die letzten zehn Jahre auf einen Heiratsantrag von mir gewartet.“
„Ich verstehe.“
Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Diese Ehe wurde arrangiert, als Annabelle noch in der Wiege lag. Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte: Zwei Familien vereinbaren eine Vernunftehe für ihre Kinder. Als sie sechzehn Jahre alt wurde, sprach ich Miss Speke darauf an, um mich zu vergewissern, ob sie damit einverstanden war.“ Er machte eine Pause, um einen Schluck aus seinem Krug zu trinken. „Wir verabredeten, dass ich ihr an ihrem nächsten Geburtstag einen Antrag machen sollte.“
„Was ist passiert?“
„Ich war … gezwungen, ins Ausland zu gehen.“
„Und das liegt zehn Jahre zurück?“ Pru runzelte die Stirn. „Sie waren zehn Jahre außer Landes?“
„Ja.“ Er zuckte niedergeschlagen mit den Achseln. „Ich hatte keinen Grund zurückzukehren. Ich hatte mich wie ein verdammter Narr verhalten, und ich nahm an, Annabelles Eltern hätten längst jeden Gedanken daran verworfen, eine Ehe zwischen ihrer Tochter und mir in Betracht zu ziehen. Viscount Tirrill war schon immer ein pedantischer Verfechter von Anstand und Moral. Dann, vor zwei Monaten, erhielt ich einen Brief von Lady Tirrill. Sie teilte mir mit, dass ihre Tochter nach wie vor auf meinen Heiratsantrag wartete. Deshalb kam ich nach Bath. Die Familie wohnt zurzeit hier. Kennen Sie sie?“
Pru schüttelte den Kopf. „Ich weiß von ihnen, und ich habe Miss Speke auch schon ein paar Mal gesehen. Der Viscount ist ein Gönner unserer Wohltätigkeitseinrichtung.“
„Und worum geht es dabei?“
„Wir bieten vor allem ärztliche Versorgung für die Armen und Bedürftigen von Bath. Ich bin dort eine der freiwilligen Helferinnen. Aber Lord Tirrill und seiner Familie bin ich noch nie vorgestellt worden. Meine Tante und ich bewegen uns nicht in diesen gehobenen Kreisen.“
„Das spielt keine Rolle. Der Punkt ist, dass Miss Speke sich so gut wie verlobt mit mir fühlt, und nach der Unterredung mit ihrem Vater muss diese Heirat stattfinden.“
Pru runzelte die Stirn. Der Duke warf ihr einen spöttischen Blick zu.
„Sind Sie etwa anderer Meinung, Madam?“
Sie zögerte und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Ich denke, Ihr heutiges Verhalten zeigt, dass Sie diese Ehe nicht wollen.“
„Es geht nicht darum, was ich will. Die Frau ist in den letzten zehn Jahren meinetwegen ledig geblieben. Mit sechsundzwanzig ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie ein anderes Angebot erhält. Um meiner Ehre willen bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu heiraten!“
Er ließ den Kopf in die Hände sinken. Pru wartete schweigend ab. Nach ein paar Augenblicken hatte er sich wieder gefasst. Er richtete den Oberkörper auf und straffte die Schultern.
„Ich bin meinen Verpflichtungen zu lange aus dem Weg gegangen. Es wird Zeit, dass ich mich ihnen stelle. Morgen werde ich Miss Speke um Verzeihung bitten und meine Pflicht tun.“
Pru hatte den Eindruck, dass es ihm jetzt, da er eine Entscheidung getroffen hatte, besser ging. Erneut füllte er seinen Teller und schien zu vergessen, dass sie ihm gegenübersaß. Auch das Essen zeigte Wirkung, denn er sah jetzt nicht mehr so mitgenommen aus. Die harten Falten um seinen Mund hatten sich gemildert, und eine schwarze Haarsträhne war ihm tief in die Stirn gefallen, was sein markantes Gesicht jugendlicher erscheinen ließ.
Es war leicht, sich ihn als wilden und ungestümen Jüngling vorzustellen. Pru schätzte, dass er selbst jetzt noch nicht älter als dreißig war. Die Gesellschaft würde ihn als einen Mann in den besten Jahren betrachten, während eine Frau mit fünfundzwanzig schon als zu alt für den Heiratsmarkt galt.
„Sie sehen gerade sehr ernst aus.“ Er riss sie aus ihren Gedanken. „Woran denken Sie?“
Sie lächelte. „Dass Sie wahrscheinlich bisher ein sehr interessantes Leben geführt haben.“
„Interessant ist nicht der Begriff, den ich dafür verwenden würde!“
„Ich habe England nie verlassen“, sagte sie. „Und Sie haben zehn Jahre auf einer Kavalierstour verbracht.“
„Eine Kavalierstour war es wohl kaum! Ich war in Frankreich, als der Vertrag von Amiens nicht mehr eingehalten wurde und es im Mai 1803 erneut zum Krieg kam. Zum Glück hatte ich gute Freunde und genügend Geld, um nach Österreich zu fliehen.“ Er zog eine Grimasse. „Es war alles andere als eine angenehme Zeit.“
„Warum sind Sie dann überhaupt auf den Kontinent gegangen?“, fragte sie verwundert. „Und weshalb sind Sie so lange dortgeblieben?“
Er schob seinen leeren Teller beiseite und blickte sie an.
„Wissen Sie es nicht? Ich habe einen Mann getötet.“