Die schöne Piratin der Karibik

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Schiffbrüchig! Verzweifelt klammert sich William an einen Felsen im tobenden Meer. Nur noch Sekunden, bis die Wogen ihn mitreißen - da sieht er auf den Klippen hoch über sich eine Lady in Weiß. Ihre dunklen Locken wehen im Wind, und jetzt springt sie! Gemeinsam erreichen sie den Strand. Bevor William zusammenbricht, küsst er seine Lebensretterin leidenschaftlich. Er ahnt nicht, wer dieser wunderschöne, mutige Engel ist: Mia Del Torres, die Schwester des berüchtigsten Piraten der Karibik. Um ihn zur Strecke zu bringen, ist Piratenjäger William Greenacre nach Barbados gesegelt. Doch nun steht er für immer in Mias Schuld …


  • Erscheinungstag 21.06.2016
  • Bandnummer 324
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765231
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sichert die Takelage!“ Kräftige Sturmböen zerrissen die Worte des Kapitäns.

Will schlitterte über das glatte Deck. Er versuchte sich mit aller Kraft auf den Beinen zu halten, während die peitschende See das Schiff hin- und herwarf. Ein falscher Schritt, und der Sturm fegte ihn über Bord. Will wäre für immer verloren.

„Mehr Männer ans Steuerrad!“, brüllte der Erste Offizier.

Will kämpfte sich die letzten Stufen empor und griff nach einer freien Speiche. Sofort spürte er, wie sich die geballte Kraft der See unter dem Schiff zusammenballte.

„Hart Steuerbord!“

Mit zwei weiteren Männern versuchte er, das Steuerrad herumzureißen, doch es ließ sich kaum bewegen. Will gab nicht auf. Noch einmal stemmte er sich so gegen das unbeugsame Rad, dass es ihm schier die Muskeln zerriss.

„Allmächtiger Gott“, flüsterte der Erste Offizier.

Will blickte auf und erschrak. Er wusste, dass er das hier nicht überleben würde. Eine der mächtigsten Wellen, die er je gesehen hatte, türmte sich unbarmherzig vor ihnen auf. Ihr Schiff lag bereits seitlich, gleich würden sie kentern. Es gab keine Rettung mehr.

„Macht euch auf was gefasst, Männer!“, rief der Kapitän.

Das Steuerrad fest in der Hand blickte Will seinem Schicksal entgegen. Da brach die gewaltige Welle auch schon donnernd über dem Schiff zusammen.

Die Gewalt des Aufpralls war so enorm, dass die Wassermassen Will binnen Sekunden vom Steuerrad über die Reling in die Tiefe rissen. Seine Lungen brannten, während er nach Luft rang, doch Will wusste, dass ein einziger Atemzug unter Wasser den sicheren Tod bedeutete. Er versuchte, sich zu orientieren und darauf zu vertrauen, dass ihm sein innerer Kompass die rettende Richtung weisen würde, als er endlich aus der Tiefe emporschoss. Kaum an der Wasseroberfläche angekommen, sog er gierig den lebensspendenden Sauerstoff in seine Lungen ein, bevor ihn eine zweite Welle hinab in die Tiefe riss.

Will kämpfte sich mit letzter Kraft an die Oberfläche zurück. Er stieß seine Schuhe mühsam von sich, denn jedes überschüssige Gramm Gewicht konnte in dieser Situation über Tod oder Leben entscheiden. Das Schiff lag in einiger Entfernung. Sein Heck richtete sich unnatürlich auf. Nur wenige Augenblicke später wurde es von den dunklen Fluten unbarmherzig in die Tiefe gezogen. Ganz in der Nähe hörte Will Kameraden verzweifelt um Hilfe schreien. Die meisten von ihnen konnten nicht schwimmen, obwohl sie schon ihr ganzes Leben auf See zubrachten. Ein Mann schaukelte nur wenige Meter von ihm entfernt im Wasser und schlug panisch vor Angst um sich. Will wusste, dass ihn der Mann mit sich hinabziehen würde, sollte er sich ihm zu sehr nähern. Gleichzeitig brachte er es nicht übers Herz, einen Kameraden einfach so im Stich zu lassen. Beherzt griff er nach einem Stück Treibholz und schwamm zu dem Mann hinüber.

„Halt dich daran fest“, rief Will und warf dem Ertrinkenden die Planke zu.

Dankbar umklammerte der Mann das rettende Stück Holz und hörte für einen Moment auf zu schreien.

„Wir sollten in Richtung Land schwimmen“, rief Will ihm zu.

„Das Festland ist noch meilenweit entfernt. Das schaffen wir nie.“

„Wir müssen es versuchen.“

„Unsere Flotte wird ein Schiff entsenden. Sie werden kommen und uns retten.“

Wahrscheinlich hatte er recht und sie würden wirklich ein Schiff losschicken, doch bis es die Unglücksstelle erreicht hatte, war gewiss jeder Überlebende des Sturms an Erschöpfung gestorben. Die Karibische See mochte bei Tag sanft erscheinen, doch sobald sie von nächtlichen Stürmen aufgewühlt wurde, war an Schwimmen nicht mehr zu denken.

„Das Festland ist nur einige wenige Meilen von hier entfernt. Wir schaffen es, versprochen. Es kann Stunden dauern, bevor unsere Leute merken, dass wir Schiffbruch erlitten haben.“

„Ich bleibe hier. Wenn du wirklich so verrückt bist und schwimmen willst, dann wünsche ich dir viel Glück.“

Will war der trotzige Blick seines Kameraden nicht entgangen. Er überließ den Mann seinem Schicksal, um wenigstens die anderen von seinem Vorhaben zu überzeugen. Langsam schwamm er zurück in Richtung Schiff und wich dabei immer wieder neuen Trümmerteilen aus, die die Welle vom Deck gerissen hatte. Will schätzte die Zahl der Überlebenden auf etwas mehr als ein Dutzend. Er hoffte inständig, dass den anderen ein schneller Tod beschieden worden war.

„Wir müssen an Land schwimmen“, rief er, als er eine Gruppe von vier Männern erreichte. Sie alle klammerten sich an schwimmendes Treibgut und waren vor Schock kreidebleich. Sie starrten ihn nur wortlos an.

„Wir können nicht hierbleiben“, versuchte er ein letztes Mal. „Hier werden wir sterben.“

Die Männer blickten entgeistert.

„Das Festland ist meilenweit entfernt“, entgegnete einer von ihnen. „Das schaffen wir nie.“

„Du bist doch verrückt geworden“, rief ein anderer. „Wir schaffen noch nicht einmal die Hälfte der Strecke.“

„Aber hierzubleiben wäre der reine Wahnsinn. Ich bin überzeugt, dass wir es schaffen können. Wenn wir uns nicht bald bewegen, kühlen wir aus und sterben an Erschöpfung, noch bevor uns irgendjemand zu Hilfe eilen kann.“

Will spürte, dass sein Appell nicht zu den Männern durchdrang, dennoch weigerte er sich aufzugeben. Wenn er seine Kameraden jetzt zurückließ, wären sie innerhalb weniger Stunden tot.

Er schwamm etwas dichter an einen von ihnen heran, mit dem er sich während der Reise ein paarmal unterhalten hatte. Vielleicht konnte er ihn von Angesicht zu Angesicht überzeugen.

„Jim“, rief er und fasste ihn bei der Schulter.

Doch mit der darauffolgenden Reaktion hatte er wahrlich nicht gerechnet. Jim schlug um sich und traf Will an der Stirn. Glücklicherweise wurde Will vom Schlag nur gestreift, dennoch zuckte er wie betäubt zurück.

„Lass mich in Ruhe“, brüllte Jim. Er stieß Will noch weiter von sich. „Hau doch ab und stirb, wenn du es unbedingt willst. Uns ziehst du nicht mit ins Verderben.“

Aus sicherer Entfernung startete Will zu einem letzten Versuch. „Ich werde versuchen, das rettende Ufer zu erreichen. Ich glaube noch immer fest daran, dass wir alle es schaffen können. Wenn mich jemand begleiten möchte, verspreche ich, mein Bestes zu geben. Ich werde uns in Sicherheit bringen.“

Jeder der Männer hatte ihn gut verstanden, doch keiner rührte sich.

Will war hin- und hergerissen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass sie alle gemeinsam sterben würden, wenn sie weiter hier verharrten. Bald schon würde die Kälte ihre Körper lähmen und einen nach dem anderen in die Tiefe ziehen. Die einzige Chance zu überleben bestand darin, in Richtung Küste zu schwimmen. Er hatte ihnen angeboten, sie dabei zu begleiten, mehr konnte er nicht tun. Wenn auch widerwillig, fasste er sich ein Herz und wandte sich ab.

Wenn er überleben wollte, dann musste er die Gedanken an seine Kameraden aus seinem Kopf verbannen. Fest entschlossen entledigte er sich auch noch seines Hemdes und schwamm los. In der Ferne konnte er die Insel sehen. Ihre Umrisse waren noch dunkler als der schwarze Nachthimmel. Vielleicht lag sie vier, vielleicht auch fünf Meilen weit entfernt. Will war noch nie zuvor so weit geschwommen, doch er traute es sich zu.

Er achtete genau auf sein Tempo. Bei einer so großen Entfernung musste man seine Kräfte gut einteilen. Um nicht die Orientierung zu verlieren, konzentrierte er sich auf einen festen Punkt am Horizont und kam damit recht gut voran.

Er war mit dem Meer aufgewachsen, die See war sein Zuhause. Brennendes Salzwasser und beißende Kälte, die ihm der Wind ins Gesicht blies, konnten ihn nicht schrecken. Sein Bruder hatte ihn früher immer zu Schwimmwettkämpfen herausgefordert, wenn auch nie auf eine solche Distanz, doch Will war es gewohnt eine Meile den unwirtlichen Ärmelkanal hinabzuschwimmen. Allerdings war er noch nie bei Sturm im Meer geschwommen.

Nachdem vom Gefühl her bereits Stunden vergangen waren, legte Will eine kleine Pause ein und strampelte nur sanft mit den Beinen auf der Stelle, um nicht unterzugehen. Zum ersten Mal beschlichen ihn Zweifel. Was, wenn er es doch nicht schaffte? Er ohrfeigte sich in Gedanken und schob alle Zweifel beiseite. Sie brachten einen um.

Will schwamm weiter, Stunde um Stunde, Meile um Meile. Sein Körper fühlte sich bald ebenso taub an wie sein Geist, doch er schwamm instinktiv weiter und verdrängte alle Gedanken. Er behielt die Küste fest im Blick und kämpfte sich vorwärts, bis seine Beine irgendwann nachgaben. Will konnte sie nicht mehr bewegen. Seine Arme spürte er zwar noch, doch sie schmerzten unter der Last seines restlichen Körpers.

Als die Sonne langsam über dem Horizont aufging, konnte Will bereits einzelne Bäume auf den messerscharfen Klippen am Rande der Insel erkennen. Er brauchte einen Moment, bis er die Tragweite seiner Beobachtung begriff. Er sah Klippen, keinen weißen Sandstrand. Am liebsten hätte er seine Verzweiflung laut hinausgeschrien, doch dazu fehlte ihm die Kraft. Er hatte doch nicht diesen ganzen Weg zurückgelegt und überlebt, nur um jetzt von einer Felswand in die Knie gezwungen zu werden? Seine Kraftreserven reichten kaum aus, um sich an Land zu schleppen. Wie sollte er da eine zerklüftete Felswand bezwingen?

Will war kein Mann, der einfach aufgab. Er hatte sich den Widrigkeiten des Lebens immer gestellt, doch jetzt, das spürte er, sah er seinem Ende entgegen. Ihm fehlte die Kraft, die Klippen zu erklimmen. Auch war er zu schwach, die Insel auf der Suche nach einem Strand weiter zu umrunden.

Mit letzter Kraft schwamm er noch etwas näher an die Klippen heran, um zu sehen, ob es nicht doch einen Felsen gab, der ihm einen Aufstieg ermöglichte. Doch da war nichts, nicht einmal ein kleiner Vorsprung, an dem er sich hätte festhalten können. Will wagte es nicht, sich noch mehr den Klippen zu nähern. Die Wucht der Brandung würde ihn unbarmherzig gegen die Felsen schleudern.

Er schloss die Augen und ließ sich treiben. Früher oder später, das war gewiss, würde ihn die See verschlucken und in sein nasses Grab hinabziehen.

„Dies ist kein Ort, um sich schlafen zu legen.“ Eine sanfte Brise trug eine himmlische Stimme an sein Ohr. Will schlug erstaunt die Augen auf und blickte sich um.

Als er hinauf zu den Klippen sah, glaubte er, er sei bereits gestorben. Dort stand eine wunderschöne, ganz in Weiß gekleidete Frau, und sah zu ihm herunter. Sie musste ein Engel sein.

Will fügte sich seinem Schicksal. Er schloss die Augen zum letzten Mal und überließ sich dem Meer.

Der Mann dort war tatsächlich im Begriff einzuschlafen! Für einen Moment stand Mia wie angewurzelt da. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, bis ihr ihre Instinkte den Weg wiesen. Ohne zu zögern, löste sie die Schnüre von ihrem Gewand und zog es kurzerhand über den Kopf. Nur noch mit ihrem Nachthemd bekleidet, sprang sie kopfüber in die Fluten. Schon bald hatte sie den Ertrinkenden erreicht und legte stützend den Arm unter den seinen, um den Mann über Wasser zu halten.

„Himmel“, flüsterte er, als er seine Augen für einen kurzen Moment öffnete.

„Nein, Barbados“, korrigierte ihn Mia unter höchster Kraftanstrengung. „Ihr werdet mir schon helfen müssen. Schwimmt.“

„Ich will nicht mehr schwimmen.“

„Nun, entweder Ihr schwimmt, oder ich überlasse Euch dem Meeresgrund. Glaubt ja nicht, dass ich Euch bis zum Strand trage.“

„Strand?“ Will blickte vorsichtig auf.

„Ja, Strand. Sand, Palmen, sanfte Brandung.“

„Worauf warten wir dann noch?“

Ganz langsam ließ Mia von ihrer neuen Bekanntschaft ab, um zu sehen, ob er es auch ohne ihre Hilfe schaffte. Seine Bewegungen waren zwar schwach und seine Augen nur halb offen, dennoch gelang es ihm, sich selbstständig über Wasser zu halten.

Sie deutete ihm die Richtung. Etwas unsicher schwammen sie um das Kliff herum. Nach etwa zehn Minuten zeigte Mia auf einen Punkt in der Ferne.

„Seht Ihr den Strand?“

Will suchte den Horizont ab, und tatsächlich, vor ihnen lag ein schmaler Streifen feinsten Sandstrands.

„Land! Lust auf ein Wettschwimmen?“

Mia blickte den Fremden ungläubig an. Dieser Mann war über alle Maßen erschöpft. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Lippen hatten ein lebloses Blau angenommen.

„Vielleicht ein anderes Mal“, entgegnete sie.

Sie setzten ihren Weg fort und kämpften sich Zug um Zug durch den Strom. Mia kam es wie eine Ewigkeit vor, und so blickte sie immer wieder über ihre Schulter, um zu sehen, ob ihr Begleiter noch atmete und ihr noch folgte.

Als sie unter sich endlich den Schlick spürte, jauchzte sie vor Freude.

„Ihr habt jetzt Boden unter den Füßen“, rief sie ihm zu, „wir haben es geschafft.“

Vorsichtig setzte der Mann die Füße auf den Sand, doch seine Knie gaben sofort nach. Mia eilte ihm zur Seite, stützte ihn und schleppte ihn ans Ufer, wo sie sich endlich fallen ließen. Sie streckten ihre Arme und Beine weit von sich. Jede kleinste Bewegung hätte ihnen zu viel Kraft abverlangt. Für eine Weile lag Mia einfach nur mit geschlossenen Augen da. Sie brauchte Zeit, wieder zu Atem zu kommen, auch pochte ihr Herz noch viel zu heftig. Doch als sie sich etwas erholt hatte, stützte sie sich auf und betrachtete den Unbekannten, der neben ihr lag.

Seine Augen waren noch geschlossen, sein Brustkorb zeigte keinerlei Regung. Mia rückte etwas näher und fürchtete schon, die letzte Strecke zum Ufer wäre zu viel für sein Herz gewesen. Behutsam legte sie eine Hand auf seine Brust, als sie jenen kräftigen Schlag spürte, der ihr die Sicherheit gab, dass der Mann noch lebte.

„Ich danke Euch“, flüsterte er, ohne die Augen zu öffnen. „Ihr habt mir das Leben gerettet.“

Mia sah ihn an. Vielleicht wäre es besser aufzustehen, doch die sonnengebräunte Haut des Fremden wirkte viel zu anziehend. Ganz sanft strich Mia mit ihren Fingern über seine starke Brust und die Muskeln, die noch immer vor Erschöpfung zuckten.

Während sie sein Gesicht betrachtete, fragte sie sich, ob er wohl schlief? Er sah so friedlich und zufrieden aus und nicht wie ein Mann, der die ganze Nacht gegen die Wellen und den Sturm angeschwommen war. Seine Augenbrauen waren vom Meersalz verkrustet, seine Lippen aufgeplatzt, seine Haare strebten in alle Himmelsrichtungen. Behutsam ordnete sie ein paar Strähnen. So nass es auch war, das Goldblond seiner Haare schimmerte kräftig im Sonnenschein. Mia hatte bislang nur wenige Menschen mit goldblondem Haar gesehen. Es waren ein paar Soldaten von der Festung, ein paar Seeleute am Hafen, doch keiner war wie er.

„Wie heißt Ihr“, flüsterte er.

Erschrocken zog sie ihre Hand zurück. „Mia.“

Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. „Mia? Wie hübsch. Ganz so wie Ihr es seid.“

„Redet Ihr immer so süßlich daher?“

„Ich habe vor Kurzem Schiffbruch erlitten und bin vom Gefühl her Hunderte Meilen bis zur Küste geschwommen. Vielleicht verzeiht Ihr mir den einen oder anderen Fauxpas in Sachen Konversation.“

„Natürlich.“

„Ich heiße Will“, sagte er und setzte sich mühsam auf. Freundlich reichte er Mia die Hand, die diese nur zögerlich annahm. Sachte hob er ihre Hand zu seinen Lippen und küsste sie. „Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen.“

Mia spürte, wie sie beim Handkuss errötete. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Selbst der drohende Tod hatte seinen Charme nicht erschüttern können. Wenn er erst wieder vollständigen bei Kräften war, konnte er ihr vermutlich sehr gefährlich werden.

„Was ist geschehen?“ Mia versuchte, die Intensität seines Blickes zu ignorieren.

„Wir wurden auf der White Rose ein paar Meilen vor der Küste von einem Sturm überrascht.“

„Lasst mich raten, der Kapitän hat noch versucht, den Hafen anzusteuern, statt die Segel zu streichen und abzuwarten, bis der Sturm wieder abflaut.“

Ihre Vermutung schien ihn ein wenig zu irritieren.

„Wenn man sein Leben an der Karibischen See verbringt, lernt man das eine oder andere über ihre Launen“, sagte sie.

„Er hat sein Bestes gegeben. Wir hatten nicht die geringste Chance.“

„Gab es noch weitere Überlebende?“

„Einige. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, mich hierher zu begleiten, doch die meisten von ihnen konnten nicht richtig schwimmen und beschlossen, auf Rettung durch eines unserer Flotten-Schiffe zu warten.“

Mia war der Schmerz in seinem Blick nicht verborgen geblieben. Er trauerte um seine toten Kameraden. Das Meer hatte ein ganzes Schiff samt seiner Männer verschlungen. Viele von ihnen hatten ihr Leben noch vor sich.

„Auch ich war drauf und dran aufzugeben, bis ich Euch oben auf den Klippen entdeckte.“

Will sah sie an, und wieder verunsicherte sie die Intensität in seinem Blick. Vorsichtig blickte sie an sich hinunter und erschrak. Sie hatte völlig vergessen, dass sie bis auf ihr Unterkleid nichts an ihrem Leibe trug. Ihre Wäsche war völlig durchnässt und klebte an ihrer Haut, wodurch sich jede Kontur ihres Körpers verräterisch abzeichnete.

Fast schien es, als hätte der Fremde ihre Not bemerkt, denn er schaute hastig beiseite.

„Ich würde Euch ja gern meinen Uniformrock anbieten, nur leider habe ich ihn irgendwo verlegt.“

Mia zwang sich zu einem Lächeln. Er war eben auch nur ein Mann, wenn auch ein besonders attraktiver mit einem ansteckenden Lächeln. Sie beide waren von sehr unterschiedlicher Herkunft, das wusste sie, und sobald er bei Kräften war würde sie ihn nie wiedersehen.

„Ich wohne ganz in der Nähe“, sagte Mia. „Meint Ihr, Ihr schafft es bis zu mir, wenn ich Euch helfe?“

„Nur zu.“

Mia stand auf und verdrängte ihre Scham. Stattdessen streckte sie ihre Hand aus, um Will auf die Beine zu helfen.

„Ich danke Euch, Mylady“, sagte Will. Er rappelte sich mühsam auf und bot ihr schließlich seinen Arm zum Geleit.

Während sie fest untergehakt über den Sandstrand wateten, spürte Mia, welch seltsame Wärme von Wills Körper ausging. Es war die gleiche seltsame Wärme wie kurz zuvor, als sie mit ihrer Hand seine Brust berührt hatte.

Schluss jetzt, schimpfte Mia im Stillen. Will hielt abrupt inne. Leider war es so abrupt, dass Mia geradewegs in ihn hineinlief. Unter anderen Umständen hätte er dem Gewicht einer so zarten Frau sicher standgehalten, doch geschwächt, wie er war, gaben seine Knie nach und zwangen ihn zu Boden. Mia versuchte noch, ihren Arm von seinem zu lösen, doch es ging alles viel zu schnell. Sie strauchelte und fiel direkt auf ihn.

Etwas unglücklich lagen sie nun Nase an Nase.

„Hoppla“, flüsterte er.

Für einen Moment fühlte sich Mia wie benommen. Sie spürte, wie sich jeder Muskel in seiner Brust anspannte und gegen ihre presste. Ihre Beine waren ineinander verschlungen, und mit ihren Lippen waren sie sich so nahe, dass nicht mehr viel zu einem Kuss fehlte. Nur mit größter Mühe überging Mia, dass Will seine Hüfte gegen ihre drängte. Dass seine Nähe jedoch eine gewaltige Glut in ihr entfachte, konnte sie nicht leugnen.

„Mia“, raunte er, „mein Engel.“

Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, zog er sie an sich und küsste sie voller Leidenschaft.

„Mia, Mia, Mia“, keuchte er dabei immer wieder.

Ihr Körper reagierte sofort und streckte sich ihm entgegen. Mia brannte vor Lust. Natürlich wusste sie, dass es falsch war. Sie lebten beide in ganz unterschiedlichen Welten, zudem schien Will einem Fieber nahe zu sein, doch was sprach schon gegen einen Kuss?

„Aufhören!“ Die Stimme hallte aus einiger Entfernung zu ihnen herüber. Mia war wie gelähmt.

Langsam hob sie ihren Kopf und stöhnte entsetzt auf. Vier Männer kamen direkt auf sie zu, den Uniformen nach gehörten sie zu den englischen Soldaten, die in Bridgetown stationiert waren.

„Nein, nein, nein“, flüsterte sie.

Sie blickte zu Will herab und fragte sich, ob er es wohl schnell genug hinter die schützenden Bäume schaffen würde, die den Strand säumten. Doch er lag ohnmächtig im Sand und lächelte selig. Während sie immer wieder zu den näher kommenden Soldaten blickte, versuchte sie verzweifelt, den Schlafenden wachzurütteln. Die Uniformierten setzten ihren Weg unbeirrt fort und kamen immer näher. Mia erwog kurz, Will sich selbst zu überlassen und einfach fortzulaufen, schließlich sah er nicht gerade aus, wie ein gesuchter Verbrecher.

Doch es war zu spät. Gerade als sie auf den Füßen stand, warf sie einer der Soldaten unsanft zu Boden.

„Nicht bewegen“, brüllte er. Das Gebrüll war völlig unnötig. Mia hatte einen Gewehrlauf im Rücken und nicht vor, auch nur einen Muskel zu rühren.

Will hatte das Gefühl, einen ganzen Monat geschlafen zu haben. Warum also sollte er sich nicht noch einmal umdrehen und noch ein paar weitere Stunden Schlaf genießen? Doch das rasselnde Geräusch eines Schlüsselbundes riss ihn hoch.

Als er die Augen öffnete, fand er sich in einer stinkenden Zelle auf modrigem Heu wieder. Nur ein schwacher Sonnenstrahl fiel durch das Fenster hinein, und das war wahrscheinlich auch besser so.

Das Geräusch wurde immer lauter. Will setzte sich aufrecht. Jede Faser seines Körpers schrie vor Schmerz.

Plötzlich sprang die Tür mit einem lauten Knall auf, und Will erkannte eine schemenhafte Gestalt auf der Schwelle.

„William Greenacre, was in Gottes Namen ist dir widerfahren?“

Will riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. Er kannte die Stimme, doch er wusste nicht, zu wem sie gehörte.

„Wir dachten alle, du wärst tot.“

„Das dachte ich auch.“

Die Gestalt in der Tür ging auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter.

„Edward Thatcher!“, rief Will. „Das ist Jahre her.“

„Das letzte Mal haben wir uns auf der Beerdigung deines alten Herrn gesehen. Er war ein guter Mann, wird schmerzlich vermisst. Das muss vor sieben Jahren gewesen sein.“

„Acht.“

„Dann nichts wie raus mit dir aus dieser Höllengrotte.“ Edward Thatcher reichte Will die Hand und half ihm auf. „Und dann erzählst du mir, wie du es geschafft hast, diesen Sturm zu überleben.“

„Da war diese Frau“, hob Will an.

„Mach dir um sie keine Sorgen, alter Freund. Wir haben alles im Griff. Mach dich erst einmal frisch, dann bringe ich dich auf den neuesten Stand. Es ist einiges passiert. Der Gouverneur erwartet dich bereits.“

„Aber Mia …“

„In der Tat, gute Arbeit, William. Wir sind schon Monate hinter ihr her. Erst überlebst du einen Schiffbruch, dann lieferst du uns die Schwester von Barbados’ meist gesuchtem Verbrecher, und das alles an einem Tag.“

Die Schwester von Barbados’ meist gesuchtem Verbrecher? Will blinzelte irritiert. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Hinter ihm lag ein langer, anstrengender Tag, und er erinnerte sich nicht mehr an alles. Ein fürchterlicher Sturm hatte die White Rose überrascht, dann war er geschwommen, bis ihm die scharfen Klippen der Insel beinahe den letzten Lebensmut geraubt hatten. Doch dann war Mia oben auf den Felsen erschienen und hatte ihm das Leben gerettet. Und schließlich hatten sie sich am Strand geküsst.

Will fühlte sich unbehaglich. Er hatte die Fremde wirklich geküsst. Er verdankte ihr sein Leben und hatte nichts Besseres zu tun, als über sie herzufallen. Aber warum? Sein hohes Fieber mochte einiges erklären, aber nicht alles, und es taugte schon gar nicht als Entschuldigung.

Will blinzelte heftig, als sie aus der dunklen Zelle in das gleißende karibische Sonnenlicht hinaustraten.

„Zum Haus des Gouverneurs ist es nur ein Katzensprung. Glaubst du, du schaffst das, alter Freund?“

Zwar schmerzten die Muskeln in seinen Beinen noch immer, doch es fühlte sich gut an, sie wieder auszustrecken. Wenn der Weg wirklich kurz war, würden seine Beine ihn sicher tragen.

„Was machst du eigentlich hier draußen?“, fragte Will seinen alten Freund.

Er kannte Edward Thatcher noch aus Schulzeiten. Damals gingen beide Jungs auf dasselbe Internat, wenn auch nicht in die, selbe Klasse. Sie teilten ihre Vorliebe für Sport sowie für den einen oder anderen heimlichen Ausflug in die nächstgrößere Stadt.

„Ich bin der Sekretär des Gouverneurs von Barbados, im Dienste seiner Majestät.“ Edwards Worte ließen eine gewisse Begeisterung vermissen.

„Darf ich annehmen, dass dich der Posten nicht besonders erfüllt?“

„Der Gouverneur ist ein Idiot. Ich verbringe die meiste Zeit damit, seine Fehler auszubügeln.“

Als sie schließlich das Haus des Gouverneurs erreicht hatten, klopfte Edward an die Tür. Man öffnete ihnen sogleich und bat sie ohne Aufschub herein. Edward war hier wohlbekannt, das war nicht zu übersehen, und so ließ sie der Diener mit einem wohlwollenden Nicken ungehindert von der Empfangshalle in den Korridor.

„Mr. Greenacre, oder besser, Lord Sedlescombe?“

Will hielt inne und wandte sich um.

„Ich bitte Euch um Verzeihung. Meine Männer wussten nicht, wer Ihr seid. Ich bin untröstlich, dass Ihr die Nacht in einer unserer Zellen verbringen musstet. Es war höchst unangebracht für einen Mann von Eurem Stand.“

Ein Mann in einem tadellos weißen Hemd und einem verzierten roten Frack eilte ihnen den Flur hinab entgegen.

„Gouverneur Hall“, vermutete Will, „es ist mir eine Ehre, Euch endlich persönlich kennenzulernen.“

„Kommt, Mr. Thatcher, holt dem guten Mann einen Drink. Er ist von den Toten auferstanden.“

Der Gouverneur führte die beiden Männer in einen riesigen Speisesaal und dort an einen Tisch, auf dem ein herrliches Mahl stand.

„Setzt Euch, esst und trinkt.“

Will gehorchte und trank einen tiefen Schluck aus dem Becher, der vor ihm stand. Jeder Tropfen des köstlich kühlen Weins war ein Hochgenuss und Balsam für seine ausgetrocknete Kehle.

„Und jetzt erzählt mir, was passiert ist. Ich möchte alles wissen“, bat der Gouverneur.

Will fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, um für einen Moment die fürchterlichen Schreie der Ertrinkenden aus seinem Kopf zu verbannen.

„Wir wurden ein paar Meilen vor der Küste entfernt von einem heftigen Sturm überrascht. Der Kapitän hat noch versucht, ihn zu umsegeln.“

Der Gouverneur zog die Augenbrauen hoch. „Kapitän Brand war ein guter Freund von mir.“

„Es dauerte nicht lange, bis unser Schiff Schlagseite bekam und versank. Die, die das Unglück überlebten, wollten auf Rettung durch die Flotte warten.“

„Natürlich haben wir sofort Schiffe ausgesandt, doch ich bezweifle, dass sie noch irgendjemanden lebend bergen werden.“

„Ich bin dann allein Richtung Küste geschwommen. Ich wollte gerade vor Erschöpfung aufgeben, als eine junge Frau von den Klippen sprang und mich rettete.“

„Ah, natürlich, die berühmte Mia Del Torres.“ Der Gouverneur schien amüsiert. „Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass sie Euch nicht gleich die Kehle durchgeschnitten hat. Ihr müsst wissen, dass ihre Familie in der ganzen Karibik mehr als verrufen ist.“

Will war irritiert. Diese Beschreibung passte ganz und gar nicht zu der Frau, die ihn gerettet hatte. Sie war freundlich, fürsorglich und offenbar bereit, ihr eigenes Leben für einen Fremden zu riskieren. Sie mochte vieles sein, aber ganz sicher keine Verbrecherin. Und was den Nachnamen anging, hier musste es sich um einen dummen Zufall handeln. Es war nicht möglich, dass die Frau, der er sein Leben verdankte, mit dem Mann verwandt war, den er kreuz und quer durch die Karibik jagte.

„Und was geschah dann?“, fragte der Gouverneur.

„Ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagte Will, während er versuchte, seine doch sehr lebhafte Erinnerung an Mias Kuss und ihre sanften Lippen zu verdrängen.

„Was für eine Tragödie“, seufzte der Gouverneur, „doch am Ende habt Ihr überlebt. Eure Ankunft hier wurde sehnlichst erwartet.“

Der Gesprächston hatte sich merklich verändert. Man kam also zum Geschäftlichen.

„Wir geben Euch, was immer Ihr an Unterstützung braucht, um Eure Mission erfolgreich zu Ende zu führen“, versprach der Gouverneur und sah Will eindringlich an.

„Ich brauche ein Schiff, eine Mannschaft und jemanden mit ausgezeichneten Ortskenntnissen. Wir reden hier über jemanden, der selbst Erfahrungen im Umgang mit diesen Piraten gemacht hat.“

Der Gouverneur lächelte. „Das können wir noch besser.“ Er gab Edward ein Zeichen, worauf dieser aufstand und den Raum verließ. Was führten die beiden im Schilde?

„Zuletzt konnten wir bei der Jagd auf Freibeuter und Piraten in karibischen Gewässern große Erfolge verbuchen“, verkündete der Gouverneur nicht ohne Stolz, „doch es gibt Schlupflöcher, Inseln, auf denen sie sich verstecken, die wir einfach nicht finden.“ Er tippte nervös mit seinen Fingern auf die Tischplatte. „Es scheint fast, als würden sie sich in Luft auflösen, sobald wir uns ihnen nähern. Irgendjemand muss sie schützen, anders lässt sich dieser Umstand nicht erklären.“

„Klingt überzeugend“, sagte Will. „Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein wenig lokale Unterstützung sehr hilfreich sein kann.“

„Durchaus. Jedenfalls dulde ich diese Zustände nicht mehr. Ich habe geschworen, das Meer von den Piraten zu befreien, und ich denke nicht daran, diesen Schwur zu brechen.“

„Natürlich nicht, Sir. Doch während unsere Flotte im fairen Kampf besticht, kämpfen die Piraten mit unlauteren Mitteln.“

„Darum haben wir Euch ins Spiel gebracht. Man hat Euch in dieser Sache wärmstens empfohlen.“

Will trank einen Schluck Wein und lächelte. „Wenn es um das Wohl der Allgemeinheit geht, braucht es jemanden, der sich gern die Hände schmutzig macht.“

Damit hatte Will tatsächlich nicht das geringste Problem. Er hasste die Piraten. Sie waren raffgierig, feige und arrogant. Doch nicht nur das, einer von ihnen hatte seinen Bruder auf dem Gewissen. Gouverneur Hall war also nicht der Einzige, der das Meer von diesem Ungeziefer befreien wollte. Zwei lange Jahre hatte Will unerbittlich daran gearbeitet, damit man ihn eines Tages mit der Aufgabe betrauen würde, Kapitän Torres und seine Männer zu jagen.

„Ach, da kommt ja unsere Person mit der profunden Ortskenntnis“, jubilierte der Gouverneur.

Edward betrat den Speisesaal und zog eine gefesselte, etwas widerspenstige Frau mit sich.

„Mia.“ Will stand überrascht auf.

Glühender Hass sprühte förmlich aus ihren Augen.

„Wir versuchen schon seit Monaten, Miss Del Torres festzunehmen. Dank Euch ist es uns heute gelungen.“

„Ich“, haspelte Will. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Miss Del Torres’ Bruder ist Kapitän der Flaming Dragon und damit die Geißel der Karibischen See. Im Tausch für ihr Leben wird sie Euch assistieren und Euch somit helfen, ihren Bruder und seine Männer zu fassen.“

Will lächelte Mia zögernd an, doch ihm schlug nur pure Verachtung entgegen.

„Miss Del Torres steht für die Dauer dieser Mission unter Eurer Obhut. Ihr ist bewusst, dass jeder Fluchtversuch, jede Warnung an ihren Bruder mit dem Tode bestraft wird. Und es wird ein ungemütlicher Tod, so viel steht fest.“

„Welches Verbrechens wird sie denn angeklagt?“, fragte Will.

„Welches Verbrechens?“

„Nun welches Verbrechens, das die Todesstrafe rechtfertigen würde.“

„Der Kollaboration mit Piraten.“

Will trank noch einen Schluck Wein und trat dann auf Mia zu.

„Euer Bruder ist also Pirat?“

Mia blickte ihn trotzig an, nickte aber.

„Und Ihr wisst, wo er sich aufhält?“

„Nein.“

„Aber Ihr ahnt, wo er sich aufhalten könnte?“

„Nein.“

Er stand nun direkt vor ihr. Er hob sanft ihr Kinn an, sodass sie ihm in die Augen blicken musste.

„Ich werde Euch nicht wehtun, Mia“, versprach er. „Immerhin habt Ihr mir das Leben gerettet.“

In ihrem Blick lag nichts als Kälte.

„Aber ich habe eine sehr wichtige Aufgabe, und dazu brauche Eure Hilfe.“

„Habe ich denn eine Wahl?“, flüsterte sie. Und ihre Stimme offenbarte die gnadenlose Verachtung, die sie für ihn empfand.

2. KAPITEL

Mit diesem Schiff kriegt Ihr sie nie.“

Will drehte sich zu Mia um und sah sie neugierig an. Es war das erste Mal, dass sie sprach, seitdem sie die Festung verlassen hatten. Zuvor war jeder Versuch, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, gescheitert.

„Ganz bestimmt nicht“, fuhr sie fort.

„Vielleicht werde ich sie nicht gleich überholen“, korrigierte Will, „aber aufspüren werde ich sie allemal.“

Mia blickte wortlos über den Kai. Viele der Seemänner, die hier waren, mieden ihren Blick. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten. Auch die Fesseln um ihre Handgelenke behinderten jeden spontanen Fluchtversuch.

„Ich will doch hoffen, dass Ihr uns nicht davonlauft, junge Dame“, mahnte Edward.

Mia setzte ihr süßestes Lächeln auf: „Warum in aller Welt sollte ich das tun?“

Edward brummte.

„Man behandelt mich doch so gut.“

„Sind die Fesseln wirklich nötig?“, fragte Will. Er betrachtete die Eisen um Mias Handgelenke voller Unbehagen.

„Man kann nicht vorsichtig genug sein, William. Diese junge Dame hier hat uns monatelang zum Narren gehalten.“

„Gerne auch länger“, zischte Mia. Sie sah Will vorwurfsvoll an.

Natürlich bereute sie nicht, ihn gerettet zu haben. Wenn sie sich nicht in die Fluten gestürzt hätte, wäre sie jetzt zwar frei, aber er wäre ein toter Mann, und das hätte sie sich niemals verziehen.

„Wollen wir, Mylady?“ Will wies in Richtung Anleger.

Zusammen gingen sie an Bord ihres Schiffes. Will zögerte einen kurzen Moment, bevor er seinen Fuß auf das Deck setzte. Mia vermutete, dass ihm die Erinnerung an das jüngste Unglück noch zu sehr in den Knochen steckte.

Die Mannschaft stand geduldig in Reih und Glied und erwartete ihre Befehle. Ein Mann trat schließlich nach vorne und ging auf sie zu.

„Kapitän Little. Es ist mir eine Ehre, Euch an Bord willkommen zu heißen, Mr. Greenacre, Sir.“

Der Kapitän war um die fünfzig Jahre alt und schlank. Sein Blick huschte zwischen ihnen hin und her, als versuchte er, jedes Detail zu erfassen. Seine Haut war wind- und sonnengegerbt, so, wie es sich für einen echten Seemann gehörte.

„Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft, Käpt’n.“

„Darf ich vorstellen, mein Erster Offizier, Ed Redding.“

Ein junger Mann trat vor und gab Will die Hand. Er lächelte Mia traurig an. Offenbar bedauere er, dass man sie gefangen genommen hatte.

„Und das hier ist Kapitänleutnant Glass.“

Ein weiterer Mann trat hervor und reichte Will die Hand.

„Es ist mir ein Vergnügen, mit Euch segeln zu dürfen, Mr. Greenacre, und eine Ehre, Euch im Kampf gegen die Piraten zu unterstützen.“

„Kapitänleutnant Glass ist auf Wunsch der Marine hier. Er wird ihre Interessen auf dieser Reise vertreten.“

„Ich bin hier, um zu helfen, wo immer ich kann.“

Mia musterte den Mann genau. Er sah recht schneidig aus in seiner makellos weißen Weste und seinem blauen Rock. Die nachmittäglichen Sonnenstrahlen ließen jeden einzelnen Knopf seiner Uniform prächtig aufleuchten. Und sein Haar war so sorgsam zu einem Pferdeschwanz gebunden, dass keine einzige Strähne herausfiel. Auch seine Schuhe waren tadellos poliert. Dieser Mann fühlte sich zweifellos Anstand, Ordnung und Routine verpflichtet.

Ihr Blick wanderte zurück zu Will. Der gerade die Reihen abging, um jeden einzelnen Mann persönlich zu begrüßen. Er fragte nach den Namen und versuchte etwas mehr über das Leben der Seeleute zu erfahren. Es schien ihm leichtzufallen, Menschen für sich zu begeistern. Für gewöhnlich interessierte sich kein Befehlshaber für den Menschen hinter dem Seemann. Doch in wenigen Tagen würden viele von ihnen wahrscheinlich ihr Leben für ihn geben.

„Wann legen wir ab?“, fragte Will den Kapitän, als er seine Parade beendet hatte.

„Die Strömung ist gerade günstig. Wenn wir nicht jetzt aufbrechen, müssen wir bis morgen warten.“

Mia betete inständig, dass sie erst am Morgen ausliefen, um wenigstens den Hauch einer Chance zur Flucht zu bekommen. Sobald das Schiff auf hoher See war, war sie für immer verloren.

„Dann wollen wir keine Zeit verlieren“, entschied Will.

„Welchen Kurs schlagen wir ein, Sir?“

„Port Royal, Jamaika. Dort treffe ich einen wichtigen Informanten.“

Mia erlaubte sich ein unauffälliges Lächeln. Port Royal war noch immer ein beliebter Unterschlupf für Piraten, obwohl dort ein neuer Gouverneur für Ordnung sorgte, doch ihr Bruder versteckte sich dort ganz sicher. Er hatte mal gesagt, dass man in Port Royal und auf der Île de la Tortue zwar wunderbar abtauchen, im Tausch gegen etwas Gold aber auch ganz schnell wieder verraten werden konnte. Wenn man jemanden finden wollte, dann fand man ihn dort auch.

„Wir legen noch in dieser Stunde ab“, versicherte der Käpt’n.

„Das bedeutet für mich, Lebewohl zu sagen“, sagte Edward und klopfte Will auf die Schulter. „Ich wünsche dir viel Glück, und was immer du auch tust, lass nicht zu, dass dich die Piraten auf offener See angreifen.“

„Wir sehen uns bald wieder, alter Freund.“

Mia blickte Edward Thatcher hinterher. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, spürte sie, wie ihre Hoffnung auf Flucht langsam versiegte.

„Vielleicht sollten wir Euren Aufenthalt an Bord ein wenig angenehmer gestalten.“ Wills tiefe Stimme kitzelte an ihrem Ohr und ließ einen wohligen Schauer über ihre Haut prickeln.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Eurer Sache dienlich wäre“, entgegnete sie.

„Es tut mir wirklich aufrichtig leid“, beteuerte Will. „Ich habe das so nicht gewollt.“

Als sie ihm in die Augen sah, glaubte sie ihm beinahe. Tatsächlich wollte sie ihm sogar glauben, sie verbot sich aber gleichzeitig, derart naiv zu sein. Er benutzte sie. Er würde jede Information, die er brauchte, aus ihr herauspressen, um sie danach dem Gouverneur auszuliefern, damit sie den Rest ihres Lebens in Ketten verbrachte.

„Lasst mich gehen.“ Mia sprach so leise, dass nur Will sie hören konnte.

Er schüttelte den Kopf.

„Es tut mir leid, aber das ist unmöglich.“

„Ich habe Euch das Leben gerettet.“

„Und dafür werde ich Euch ewig dankbar sein.“

„Aber nicht so dankbar, dass Ihr mir die Freiheit schenkt?“

Will sah sie eindringlich an. Die unerwartete Nähe ließ Mia erzittern.

„Wenn das hier vorüber ist, werde ich mich für Euch einsetzen, das verspreche ich. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch die Freiheit zurückzugeben.“ Sein Tonfall wurde härter. „Die Ergreifung dieser Piraten hat für mich jedoch allerhöchste Priorität. Und ich lasse nicht zu, dass mir dabei jemand in die Quere kommt.“

Mia schluckte schwer, doch sie hielt seinem Blick stand. Dieser Mann war ein Getriebener, das verstand sie jetzt. Er nahm ihre Hand und legte sie in die seine, sodass er ihre Fesseln lösen konnte. Wie rau seine Hände auch waren, seine Berührung war zärtlich.

„Darf ich Euch Eure Kabine zeigen, Mr. Greenacre?“, fragte Leutnant Glass.

„Danke.“

„Und sie können wir in der Brigg unterbringen.“ Er wies auf Mia. In seinen Augen funkelte tiefe Verachtung.

„Die Brigg?“, fragte Will.

„Eine Art Gefängniszelle an Bord eines Schiffes, Sir.“

„Ich weiß, was eine Brigg ist.“

Leutnant Glass schien irritiert. „Es ist ein sicherer Ort, Sir.“

„Davon gehe ich aus.“

„Es tut mir leid, Sir. Ich fürchte, ich verstehe nicht …“

„Miss Del Torres unterstützt uns auf dieser Mission“, sagte Will. „Sie hat sich freundlicherweise bereiterklärt, ihr kostbares Wissen mit uns zu teilen, auf dass wir diese Schurken schon bald dingfest machen können. Ich denke nicht, dass es sich schickt, unseren Gast in eine Zelle zu sperren.“

„Unseren Gast, Sir?“

„Ja. Unseren Gast.“

So viel Spott hatte sie nicht verdient. Auch der Kapitän und sein Erster Offizier schienen ihren Unglauben über das, was sie gerade gehört hatten, zu teilen.

„Habt Ihr vor zu fliehen, Miss Del Torres?“, fragte Will.

Ja, ja, ja und tausendmal ja.

„Nein.“

„Da hört Ihr es.“ Will lächelte zufrieden.

„Aber“, protestierte Leutnant Glass.

„Ja?“

„Sie ist die Schwester eines Piraten.“

„Und ich war einmal der Nachbar eines Mannes, der seine Frau geschlagen hat. Macht mich das zu einem gewalttätigen Menschen?“

Leutnant Glass sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.

„Aber was, wenn sie versucht zu fliehen?“

„Dann müssen wir sie eben wieder einfangen.“

Der Kapitänleutnant gab auf.

„Auf geht’s“, befahl Will und bot Mia seinen Arm. „Zeigt uns unsere Kabinen.“

Mia stieg allen voran in den Bug des Schiffes hinab. Zahlreiche Männer hasteten unter Deck umher, um alles für die bevorstehende Mission vorzubereiten.

„Dies ist Eure Unterkunft, Sir“, erklärte Kapitänleutnant Glass und öffnete die Tür zu einer kleinen, aber nett eingerichteten Kabine, in der ein prächtiges Himmelbett dominierte. Dieses Himmelbett zog Mia magisch an, doch sie riss sich zusammen. Sie war eine Gefangene und hatte nichts im Bett eines Mannes verloren, den sie so gut wie nicht kannte.

„Nettes Bett, in der Tat“, sagte Will.

Erst jetzt bemerkte Mia, dass sie noch immer auf das Bett starrte. Sie wandte sich schnell ab.

„Und die Kabine von Miss Del Torres?“

Ed Redding, der Erste Offizier, stieg hinter ihnen die Treppe hinab.

„Miss Del Torres kann meine Kabine haben. Hier entlang.“

„Ich möchte nicht, dass Ihr meinetwegen Umstände macht“, sagte Mia. „Die Brigg reicht mir, ich werde es mir dort schon bequem machen.“

Ed Redding konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Niemand hat es dort bequem, Miss.“

„Aber wo schlaft Ihr?“

„Es gibt noch freie Hängematten unter Deck. Für ein paar Wochen komme ich damit schon zurecht.“

„Das ist wirklich sehr zuvorkommend von Euch, Mr. Redding“, bemerkte Will. „Ich weiß es sehr zu schätzen.“

Autor

Laura Martin
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