Ein Duke für alle Fälle

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DER DUKE MEINER TRÄUME

Geraubte Küsse, heiße Hände auf nackter Haut, verbotenes Verlangen: Sündige Bilder quälen Lady Lucinda seit dem Kutschenunglück mit dem berüchtigten Duke of Alderworth, bei dem sie Teile ihrer Erinnerung verlor. Als sie das ihren Brüdern gesteht, wissen diese nur einen Ausweg: Sie zwingen den Duke, ihre Schwester zu heiraten … und entsenden ihn tags darauf in die amerikanischen Kolonien. Doch drei Jahre später kehrt der Duke zurück. Noch attraktiver, noch verwegener - und wild entschlossen, die sinnlichen Träume seiner jungen Gattin wahr zu machen …

DIE HERZENSDIEBIN UND DER DUKE

Wer bin ich? Ein Unfall auf dem Broadway hat Roderick das Gedächtnis geraubt! Einzig die betörende Schönheit, die sich besorgt über ihn beugt, kommt ihm vage bekannt vor. Vertrauensvoll folgt er ihr in ihre ärmliche Wohnung. Und erkennt rasch: Seine zauberhafte Retterin ist die Anführerin einer Diebesbande, vor der ganz New York erzittert. Aber was ist das schon gegen die Leidenschaft, die zwischen ihnen brennt? Bis Roderick sich eines Tages erinnert: Er ist der Duke of Wentworth und sein Zuhause sind nicht die Slums der City, sondern sein Landsitz in England! Zwischen ihm und seiner Herzensdiebin liegen Welten, die die Liebe kaum überbrücken kann …

VERFÜHRUNG EINER DUCHESS

Von wegen Zweckehe: Der Duke of Severn, verzehrt sich nach seiner sinnlichen Frau Linette - leider denkt sie, dass er sie nur wegen ihrer Mitgift geheiratet hat!


  • Erscheinungstag 10.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773755
  • Seitenanzahl 632
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sophia James, Delilah Marvelle, Elizabeth Rolls

Ein Duke für alle Fälle

IMPRESSUM

HISTORICAL MYLADY erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2013 by Sophia James
Originaltitel: „The Dissolute Duke“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY
Band 557 - 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Bärbel Hurst

Abbildungen: Harlequin Books S.A., Radek Sturgolweski / shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733762315

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

England, Bedfordshire, 1831

Meine Brüder werden mich dafür umbringen.

Lady Lucinda Wellingham wusste genau, dass sie das tun würden. Von all den tollkühnen Plänen, die sie jemals ausgeheckt hatte, war dies hier der verrückteste. Er würde sie ruinieren, und das wäre ganz allein ihre Schuld.

„Nur ein Kuss“, flüsterte der Mann und drängte sie gegen die Wand des Korridors. Sein Atem roch nach Alkohol. Er ließ die Hände über ihre Brüste gleiten, über den lächerlich dünnen Stoff des Kleides, zu dem sie sich von Posy Tompkins hatte überreden lassen. Lucinda ahnte, was er als Nächstes vorhatte.

Richard Allenby, dritter Earl of Halsey, war ihr auf Londons Bällen anziehend erschienen, doch hier auf dem Land in Bedfordshire war er unerträglich aufdringlich. Sie stieß ihn zurück, richtete sich auf und war froh, dass sie ihn mit ihrer Größe um einige Zentimeter überragte.

„Ich glaube, Sir, irgendwie haben Sie meinen Wunsch missverstanden, zu …“

Sie verstummte, als er seine Lippen auf ihre presste, ein nasser, schmieriger Kuss, bei dem sie sogleich den Kopf wegdrehte, ehe sie sich den Mund abwischte. Himmel, der Mann geiferte fast, und das machte ihn nicht attraktiver.

„Diese Gesellschaft ist die berüchtigtste der ganzen Saison … und mein Zimmer ist nicht weit von hier.“ Er umfasste ihr Handgelenk, während er zwei anderen Männern winkte, die aussahen, als hätten sie ebenso viel getrunken wie er. Beide starrten sie genauso lüstern an, wie Halsey es tat. Ein Fehler. Sie hätte vorhin davonlaufen sollen, als sie die Gelegenheit dazu hatte und die Schlafgemächer nicht so gefährlich nahe waren. In diesem Sündenpfuhl schien alles möglich zu sein – der Mann, dem dieses Haus gehörte, genoss den denkbar schlechtesten Ruf.

In einem Anflug von Panik stieß sie sich mit dem Ellenbogen an der Wand ab, löste sich aus Halseys Griff und konnte sich so befreien. Rasch rannte sie davon.

Vor ihr lagen enge, gewundene Korridore. Allein auf diesem Stockwerk gab es fast zwanzig Zimmer, und während Lucinda weitereilte, entdeckte sie am Ende des Ganges eine Flügeltür. Sie war um mehrere Ecken gelaufen und war sicher, dass ihre Verfolger keine Ahnung hatten, wohin sie geflohen war. Ohne sich noch einmal umzusehen, drehte sie den reich verzierten Türknauf aus Elfenbein und schlüpfte in das Zimmer.

Drinnen war es dunkel, nur eine Kerze leuchtete neben dem Bett, in dem ein Mann saß und las. Auf seiner Nasenspitze balancierte er eine dickrandige Brille.

Als er aufsah, legte sie einen Finger an die Lippen, damit er still blieb, ehe sie sich wieder zur Tür drehte. Draußen hörte sie ihre Verfolger. Sie würden doch hoffentlich nicht die Türen ausprobieren? Einige Minuten vergingen, das Flüstern draußen war kaum noch hörbar. Dann erstarb es ganz. Die Unholde gaben offensichtlich die Suche nach der entflohenen Beute auf und bedauerten sicher, dass ihr Abendprogramm nun um eine Unterhaltung ärmer geworden war.

Eine Woge der Erleichterung überkam sie.

„Darf ich jetzt etwas sagen?“ Die Stimme klang tief und lakonisch. Aber der Mann wirkte auch angespannt.

„Wenn Sie leise sprechen, ist es ungefährlich, denke ich.“ Lucinda sah sich unsicher um.

Als Antwort hörte sie nur einen Fluch, und als die Laken zurückgeschlagen wurden, sah sie einen splitterfasernackten Mann aufstehen. Sie starrte ihn an, ihr Mund stand weit offen. Es war nicht irgendein Mann – sondern ausgerechnet der skandalumwitterte Gastgeber dieser Wochenendgesellschaft: Taylen Ellesmere, der sechste Duke of Alderworth. Der ruchlose Duke, wie man ihn nannte, ein Wüstling, der sich nicht um Moral kümmerte und dem es egal war, was sich gehörte, solange er nur seinen amourösen Vergnügungen nachgehen konnte.

Vollkommen nackt ging er an ihr vorbei und verschloss die Tür. Lucinda vernahm das Geräusch überdeutlich, aber sie konnte keinen Muskel bewegen.

Er war schön. Das musste sie leider zugeben. Sein dunkles Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und seine Augen hatten die Farbe der nassen Blätter bei einem Sturm auf Falder. Unterhalb des Halses betrachtete sie ihn nicht, obwohl sie ein unbändiges Verlangen danach spürte. Sein Lächeln schien ihr zu sagen, dass er wusste, was sie dachte, und die Fältchen um seine Augen zeigten, dass er amüsiert war. „Lady Lucinda Wellingham?“

Der ruchlose Duke kennt meinen Namen? Sie nickte und versuchte, etwas zu sagen. Was würde als Nächstes geschehen? Sie fühlte sich wie ein kleines Lamm vor dem großen, bösen Wolf.

„Wissen Ihre drei Brüder, dass Sie hier sind?“

Sie schüttelte den Kopf, konnte vor Angst kaum atmen. Seit Tagesanbruch war so ziemlich alles schief gegangen, daher versuchte sie, ihr Mieder ein wenig zu öffnen, und war froh, als es nachgab und sie wieder etwas Luft holen konnte. Der künstlich geformte Ausschnitt, den die Damen der Gesellschaft so wichtig fanden, verschwand, als die Schnüre gelöst waren, und ihre Brüste fielen zurück in ihre natürliche, eher zarte Form. Das auffallende rote Kleid, das sie trug, öffnete sich vorn in sehr verführerischer Weise, und sie bemerkte, dass er das durchaus zur Kenntnis nahm.

„Mein Zimmer als Versteck zu wählen, war vielleicht nicht die klügste aller Entscheidungen.“ Er warf einen vielsagenden Blick zum Bett.

Lucinda ging auf diese Bemerkung nicht ein. „Richard Allenby, Earl of Halsey, und seine Freunde ließen mir kaum eine andere Wahl, Euer Gnaden. Ich brauchte einen sicheren Ort.“

Darüber musste er lachen, und das Geräusch hallte im Zimmer nach.

„Alkohol löst die erstickenden Fesseln des gesellschaftlichen Drucks. Gute Manieren und Anstand sind Dinge, die die meisten Männer nicht länger als ein paar Wochen ertragen, und dieser Ort erlaubt ihnen, etwas Dampf abzulassen, wenn Sie so wollen.“

„Auf Kosten der Frauen, die dazu Nein sagen?“

„Die meisten Damen hier ermutigen solches Verhalten und kleiden sich entsprechend.“

Er ließ den Blick über ihr tiefes Dekolleté gleiten, dann sah er ihr wieder in die Augen.

„Dies ist nicht London, Mylady, und es gibt auch nicht vor, das zu sein. Wenn Halsey Sie beleidigt hat, dann deshalb, weil er glaubte, Sie – nun, Sie ständen zur Verfügung. Auf den freien Willen lege ich hier in Alderworth sehr großen Wert.“

In seinem Blick lag eine Herausforderung, keine Entschuldigung. Wenn sie seine Miene beschreiben müsste, würde sie tatsächlich sagen, dass ein gewisser Gleichmut darin lag, als spielte eine Eidechse mit einer Fliege, der bereits die Flügel fehlten.

Sie tastete nach dem Türknauf, aber als sie nach dem Schlüssel suchte, stellte sie fest, dass er abgezogen war. Eine schnelle Handbewegung, die sie nicht gesehen hatte.

„Da der freie Wille Ihnen so wichtig ist, würde ich jetzt gern meinen eigenen zum Einsatz bringen und Sie bitten, die Tür zu öffnen.“

Er beugte sich über einen Haufen Kleidungsstücke, die unordentlich auf einem Stuhl lagen, und zog eine Taschenuhr hervor.

„Unglücklicherweise ist das eine ungewöhnliche Uhrzeit: zu früh, als dass die Gäste richtig betrunken wären und daher harmlos, und zu spät, als dass sie sich wie Gentlemen benähmen und daher über jeden Verdacht erhaben wären. Jeder Schritt in diesem Haus wäre um diese Zeit gefährlicher, als einfach hier bei mir zu bleiben.“

„Hier zu bleiben?“

Seine Augen funkelten. „Ich habe Platz genug.“

„Sie kennen mich seit zwei Minuten, und die Hälfte davon haben wir schweigend verbracht.“ Sie versuchte, ihre Stimme so autoritär klingen zu lassen, wie es ihr nur möglich war.

„Genug, um Ihre – vielfältigen Reize zur Kenntnis zu nehmen.“ Der Blick aus seinen grünen Augen war verschleiert und sinnlich. Es lag eine Einladung darin.

„Sie hören sich an wie der Wolf aus den Märchen der Brüder Grimm, Euer Gnaden, obwohl ich nicht glaube, dass irgendeine Figur aus den Kinderbüchern jemals so nackt gewesen ist.“

Rasch wich sie vor ihm zurück und sah mit Freude, dass er ein langes weißes Hemd anzog, das an den Schultern in weite Ärmel überging. Ein Kleidungsstück für einen Piraten oder einen Straßenräuber. Es passte ausgezeichnet zu ihm.

„Ist es so besser, Mylady?“

Als sie nickte, lächelte er und nahm dann zwei Gläser aus dem Schrank hinter ihm. „Vielleicht löst ein guter Wein etwas von Ihren Vorbehalten.“

„Das wird er gewiss nicht.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihr Tonfall streng, und ihr Blick fiel auf das Buch, das auf dem Bett lag. „Machiavellis Il Principe ist eine seltsame Wahl für einen Mann, der keinen Wert auf den Namen der Generationen von Ellesmeres zu legen scheint, die vor ihm hier waren.“

„Sie meinen, alle Bösewichte sollten Analphabeten sein?“

Zu ihrer eigenen Überraschung begann sie zu lachen, so seltsam war dieses Gespräch. „Nun, gewöhnlich sind sie nicht um zehn Uhr abends im Bett mit nichts als einer Brille bekleidet, um ein Buch über Philosophie und Politik auf Italienisch zu lesen, Euer Gnaden.“

„Glauben Sie mir, es ist anstrengend, ein sündiges Leben zu führen. Es werden immer ruchlosere Taten erwartet! Und das kann sehr ermüdend sein, je älter man wird.“

„Wie alt sind Sie?“

„Fünfundzwanzig. Aber ich übe mich bereits etwas länger darin.“

Er war nur ein Jahr älter als sie, und ihre wenigen öffentlichen Fehltritte waren immer qualvoll gewesen. Doch er ist ein Mann, überlegte sie, wenn auch die unterschiedlichen Verhaltensregeln für beide Geschlechter nicht annähernd seine zahlreichen schockierenden Taten entschuldigten.

„Hat ihre Mutter Sie nicht die Grundlagen menschlicher Nächstenliebe gelehrt, Euer Gnaden?“

„Oh doch, das hat sie. Einen Ehemann und sechs Liebhaber später habe ich sie vollkommen verstanden. Ich war ihr einziges Kind, wissen Sie, und ich lerne schnell.“

Sie hatte die schmutzigen Geschichten über die Familie Ellesmere viele Male gehört, aber nicht aus dem Blickwinkel eines desillusionierten Sohnes. Patricia Ellesmere war weit weg von ihrer Familie gestorben. Es gab Menschen, die sagten, ihr gebrochenes Herz habe sie umgebracht, aber sechs Liebhaber hörten sich nach einem ziemlichen Durcheinander an.

„Was ist mit Ihrem Vater?“ Sie wusste, dass sie diese Frage eigentlich nicht stellen sollte, aber ihre Neugier siegte über jegliches Taktgefühl.

„Er tat das, was jeder Duke, der auf sich hielt, getan hätte, wenn er herausfindet, dass seine Ehefrau ihn mit sechs verschiedenen Männern betrogen hat.“

„Er nahm sich das Leben?“

Taylen Ellesmere lachte. „Nein. Er hat sein Vermögen verspielt und dann seinen Kummer in Brandy ertränkt. Meine Eltern starben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, in verschiedenen Ecken des Landes und in der Gesellschaft ihrer neuesten Affären. Leberversagen und ein selbst zugefügter Schuss in den Kopf. Wenigstens wurde dadurch der Preis für die Beerdigung günstiger. Zwei zum Preis von einem senkt die Kosten ganz erheblich.“ Er verzog das Gesicht, und der Blick aus seinen grünen Augen wurde hart. „Damals war ich elf.“

Diese Offenheit war unerwartet. Niemand hatte bisher so mit ihr gesprochen, und er entschuldigte sich keineswegs, dass er ihr diese vielen schrecklichen Dinge erzählte.

„Hatten Sie andere Verwandte, die Ihnen helfen konnten?“

„Mary Shields, meine Großmutter, nahm mich auf.“

„Lady Shields?“ Gütiger Himmel, wer in der guten Gesellschaft kannte nicht ihre Vorliebe für boshaften Klatsch? Sie war jetzt seit drei Jahren tot, aber Lucinda erinnerte sich noch an ihre rabenschwarzen Augen und ihre beißenden Bemerkungen. Dieser Frau hatte man ein Waisenkind anvertraut?

„Ich sehe an Ihrer Miene, dass Sie sie kannten.“ Er öffnete die Flasche und schenkte sich großzügig ein.

An jedem Finger seiner linken Hand trug er Ringe, wie ihr auffiel. Sehr üppige Ringe, bis auf den schlichten Ring am Mittelfinger, der mit einer Gravur verziert war. Sie konnte die Buchstaben nicht entziffern.

Zweifellos von einer Frau. Es gingen Gerüchte um, dass er viele Geliebte hatte, junge und alte, dicke und dünne, verheiratete und unverheiratete. Wenn der Appetit ihn überkam, war er angeblich nicht wählerisch. Sie erinnerte sich, dass man sich genau das in der Gesellschaft erzählte – und das skandalöseste für die Klatschtanten war, dass der Hauptbeteiligte nicht das geringste Anzeichen von Reue zeugte.

Der Duke of Alderworth. Sie wusste, dass die meisten Damen der Gesellschaft ihn beobachteten und dass so manche hoffte, dass sie vielleicht diejenige wäre, die ihn bekehren könnte. Aber da er mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt war, glaubte Lucinda nicht, dass er sich für irgendjemanden ändern würde.

Alberne Träume waren das Vorrecht unerfahrener Mädchen. Als jüngste Schwester von drei lebhaften älteren Brüdern fühlte sie sich immun gegen die Reize des anderen Geschlechts und hing nur selten romantischen Träumen über irgendjemanden nach.

Überraschenderweise war das Schweigen, das nun zwischen ihr und dem Duke herrschte, nicht unangenehm. Diese Tatsache war umso erstaunlicher, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, neugierig darauf zu sein, wie es wohl war, wenn er sich ebenso auf sie stürzte, wie Richard Allenby, Earl of Halsey, es getan hatte …

Doch er näherte sich ihr in keiner Weise. Von draußen drangen Entzückensschreie herein, und das helle Lachen einer Frau mischte sich mit den tieferen Stimmen ihrer betrunkenen Verehrer. Jemand blies in der Nähe in ein Jagdhorn, und das laute Geräusch ließ Lucinda zusammenzucken.

„Es hört sich an, als wäre dies eine erfolgreiche Nacht. Die Jäger und die Gejagten auf der Suche nach Ekstase. Bald schon wird darauf die Stille der Verdammten folgen.“ Er beobachtete sie genau.

„Ich glaube, Sie wollen mich herausfordern, Euer Gnaden. Ich glaube nicht, dass Sie auch nur halb so schlimm sind, wie die Leute es sagen.“

Seine Miene veränderte sich.

„Da täuschen Sie sich, Lady Lucinda. Denn ich bin genauso, wie die Leute behaupten, und noch viel schlimmer.“ Er wirkte auf einmal verärgert, und dieser Unmut verwandelte ihn auch äußerlich. Plötzlich kam er ihr viel ernster und älter vor. „Es ist eine Tatsache, dass ich Sie im Handumdrehen in mein Bett locken könnte – und Sie würden mich anflehen, nicht aufzuhören mit all dem, was ich mit Ihrem Körper tun möchte.“

Bei dem bloßen Klang seiner Worte schlug ihr Herz schneller, denn in dieser prahlerischen Behauptung lag ein gutes Stück Wahrheit. Sie war sich seiner männlichen Ausstrahlung so bewusst, wie sie es noch nie bei einem anderen Mann erlebt hatte …

Erschrocken drehte Lucinda sich zum Fenster und blickte angestrengt zum Garten hinaus, dessen Wege in dieser Nacht von vielen Fackeln erleuchtet wurden. Im Gebüsch lag ein Liebespaar, eng umschlungen, die nackte Haut schimmerte im Licht. Sie waren umgeben von anderen Paaren, deren Absichten selbst aus der Ferne eindeutig waren. All das schockierte sie bis tief in ihr Innerstes.

„Wenn Sie mich anrühren, werden meine Brüder Sie vermutlich umbringen.“ Sie versuchte, nicht allzu ängstlich zu klingen, während sie diese Drohung aussprach, aber das gelang ihr nicht.

Er lachte nur.

„Sie können es vermutlich versuchen, aber …“ Zwar beendete er den Satz nicht, doch die Drohung, die darin lag, war unüberhörbar. Die Gleichgültigkeit, die sie vorher bemerkt hatte, war nun einer stählernen Härte gewichen, ein Mann, der in der unteren Schicht von Londons Gesellschaft lebte, obwohl er von edelster Herkunft war. Dieser Widerspruch in ihm verwirrte sie, und der rasche Wechsel war beunruhigend.

„Ich bin mit Lady Posy Tompkins zu dieser Gesellschaft gekommen, und sie hat mir versichert, dass dies eine anständige Zusammenkunft ist. Offenbar haben sie und ich verschiedene Vorstellungen von dem Begriff ‚anständig‘, und vermutlich hätte ich genauer fragen sollen, wohin wir gehen, ehe ich Ja sagte. Aber sie hat immer wieder betont, wie viel Spaß wir haben werden, und die Tatsache, dass ihre Patin hier sein würde, ließ das Ganze noch viel ungefährlicher erscheinen …“

Er unterbrach sie, indem er einen Finger auf ihre Lippen legte. „Reden Sie immer so viel, Lady Lucinda?“

Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen. „Das tue ich, Euer Gnaden, denn wenn ich nervös bin, scheine ich immerfort zu reden, obwohl ich mich an keinen einzigen Anlass erinnern kann, bei dem ich so nervös war wie in diesem Moment, wenn Sie mich also bitte aus diesem Zimmer lassen würden, dann gehe ich mit Vergnügen zu …“

Er presste seine Lippen an die Stelle, an der eben noch sein Finger gewesen war, und Lucindas ganze Welt zerbarst in tausend bunte Teile.

2. KAPITEL

Tay wollte nur, dass sie aufhörte zu reden, denn der leichte Anflug von Panik in ihrer Stimme weckte in ihm ein Schuldbewusstsein, wie er es schon seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Er spürte, wie sie instinktiv ihre Brüste an seinen Körper schmiegte, und das Gefühl gefiel ihm. Gewöhnlich musste er sich zu einer Frau hinabbeugen, aber diese war nur wenig kleiner als er, und ihre Schlankheit betonte ihre Größe noch.

Sie hatte kurze Fingernägel. Und die Schwielen zwischen Zeige- und Mittelfinger zeigten ihm, dass sie Linkshänderin war und irgendeinen Sport ausübte. Vielleicht Bogenschießen. Die Vorstellung, wie sie da stand und ein Ziel anvisierte, während der Wind mit ihrem blonden Haar spielte, war seltsam erregend. Natürlich sollte er sie umgehend von Alderworth fortbringen und dafür sorgen, dass sie sicher im Schoß ihrer Familie geborgen war.

Aber er wusste, dass er das nicht tun würde, und als er sie küsste, drängte sich ihm ein anderes Gefühl auf, über das er gar nicht nachdenken wollte.

Er glaubte nicht, dass sie schon oft geküsst worden war, denn sie hielt die vollen Lippen fest zusammengepresst, bis er seine Zunge dazwischenschob und sie ihn mit großen Augen ansah.

Hellblaue Augen, die am Rand ein wenig dunkler wurden – Augen, in denen ein Mann sich vollkommen verlieren und niemals wiederfinden konnte.

Er wurde sanfter, grub die Finger in ihr Haar, schob ihr Gesicht hoch. Diesmal drängte er sie nicht und verlangte auch nicht mehr, als sie geben wollte. Himmel, wie gut sie roch – wie die Blumen im Frühling, so sauber und frisch. Er hatte sich so sehr an die schweren Parfums seiner vielen erfahrenen amours gewöhnt, dass er den Unterschied vergessen hatte.

Unschuld. Es roch seltsamerweise nach Hoffnung.

Er küsste sie und umfasste ihren Nacken. Zog sie näher. Ihm wurde warm.

Ihre Nähe erregte ihn, und die Art, wie sie zögernd ihre Zunge zu bewegen begann, machte ihn melancholisch. Es war lange her, seit er eine Frau geküsst hatte, die ihn ansah, als könnte er ihr die Geheimnisse des Universums erklären.

Lust stieg in ihm auf, das Verlangen begann in ihm zu wachsen, als hätte jemand in seinem Innern eine Zündschnur entflammt. Unaufhaltsam.

„Bist du noch Jungfrau?“

Er wusste, dass dem so war, erkannte es an der Art, wie sie atmete – nur mühsam gelang es ihr, Luft zu holen, so ganz verloren hatte sie sich an diesen Augenblick. Und dann öffnete sie die Lippen. „Ja.“

„Warum zum Teufel bist du dann hierher gekommen?“

Die zivilisierte Haltung, die er nicht hatte ablegen wollen, war verschwunden, sobald er sie fühlte, aber als er die Frage gestellt hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen, als versuchte sie, in der Dunkelheit eine Antwort zu finden. Er spürte den Hauch ihres Atems an seiner empfindlichen Halsbeuge und fragte sich, ob sie tatsächlich so unschuldig war, wie er vermutete. Wenn dies ein Spiel sein sollte, das sie spielte, dann war es eines, in dem er sehr viel Übung hatte, und sie würde vorsichtig sein müssen. Wie von selbst legten sich seine Hände um ihren Rücken, als erinnerten sie sich an diese Bewegung.

Die Rettung.

Das Wort ging ihm unerwartet durch den Kopf, bewegte etwas, das er nicht leugnen konnte, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Es war Jahre her, seit er so etwas zum letzten Mal bei einer Frau empfunden hatte, und die Verwunderung darüber spornte ihn an.

Er drehte sie herum, ließ seine Lippen tiefer gleiten, liebkoste die Haut an ihrem Nacken, und ihre bleichen Wangen wurden rosiger. Sie passte ihren Atem seinem an, atmete weder ruhig noch gleichmäßig, denn jetzt hatte ihr Körper die Kontrolle übernommen. Mit dem Daumen rieb er ihre harten Brustspitzen durch den zarten Stoff ihrer Robe.

Sie beugte sich zurück, die Schenkel zusammengepresst, die Brüste zwei unendlich verlockende Versuchungen.

Er begehrte sie, wie er noch nie eine andere Frau in seinem Leben begehrt hatte, wollte sie fühlen, ihren weichen Körper, ihr Haar, das wie helles Gold neben seinem dunklen Körper lag. Mit einer einzigen Bewegung hatte er ihr Mieder gelöst und mit einer Hand ihre Brust umfasst, die er rieb und streichelte. Er wollte sie nackt, wollte sie spüren ohne etwas dazwischen. Wäre sie keine Lady, hätte er ihr einfach die Kleidung vom Leib gerissen und sie nackt in sein Bett getragen, um sich an ihr zu erfreuen. Selbst sein Mund sehnte sich danach, sie zu berühren.

„Der Geschmack einer Geliebten macht einen Teil der Anziehung aus“, erklärte er schlicht, als er den Kopf hob und beobachtete, wie sie begriff. Sie wurde wachsam, ein wenig unsicher, doch sie zog sich nicht zurück, wie er es erwartet hatte. Nur ein leichtes Stirnrunzeln machte sich bemerkbar, und sie wirkte nicht furchtsam. Sie erlaubte es ihm.

Dergleichen hatte er bisher selten erlebt. Sein Ruf hatte ihn geschützt, wie er vermutete, und andere auf Distanz gehalten. Aber Lucinda Wellingham war anders und gefährlicher als all die Sirenen, die ihn über die Jahre verfolgt hatten. Die Verbindung zwischen ihnen war beunruhigend und unerwartet, und er fühlte, wie seine Anspannung stieg. Er neigte den Kopf und umfasste ihre Brustspitze so ungestüm mit den Lippen, dass der rote Seidenstoff ihres Kleides zerriss. Es gefiel ihm, wie sie sich ihm entgegendrängte, wie sie die Finger in sein Haar grub, seine Annäherung genoss, sie einforderte.

Nun ließ er seine Hände von ihren Schenkeln nach vorn gleiten, tastete nach der empfindsamen Stelle dazwischen, wobei die zarte Seide ihrer Pantalettes glücklicherweise kaum ein Hindernis darstellte. Behutsam schob er einen Finger in sie hinein.

„Nein.“ Ein einziges Wort nur, mehr geseufzt als gesprochen, aber es genügte.

„Nein?“ Er musste sich vergewissern, dass sie genau das gemeint hatte. Er atmete schwer, so erregt war er. Diesmal schüttelte sie den Kopf. Ihre himmelblauen Augen wirkten ausdruckslos, sie hatte die Stirn gerunzelt, während ihre Brust sich sichtbar hob und senkte.

Nein, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was ein Ja bedeuten würde? Nein, weil er ein Mann von so schlechtem Ruf war, dass ein Stelldichein mit ihm sie gesellschaftlich vernichten könnte?

Er löste sich von ihr und trat zurück, und in ihm vermengte sich Unmut mit Schuldbewusstsein. Der Weg zum Verderben war kurz, und er wusste, dass eine Lady wie sie seinen Verführungskünsten wenig entgegenzusetzen hatte. Ganz plötzlich erschien ihm seine Art zu leben schmutzig und vulgär.

„Ich werde dich nach Hause bringen.“

Sie sah ihn an, versuchte aber nicht, den Schaden an ihrem Kleid zu beheben, sodass eine ihrer Brüste nackt aus dem offenen Stoff herausstand. Deutlich hob sich die rosige Spitze von der scharlachroten Seide ab. Mit ihren glänzenden Augen und ihrem Schweigen wirkte sie wie eine sinnliche Madonna, die vom Himmel gefallen war und zu Füßen des Teufels gelandet war. Er zögerte, aber gegen so viel Güte hatte er keinen Schutzschild und keine Möglichkeit, sein Verlangen vor ihrer Unschuld zu schützen.

Er trat vor, richtete ihr Kleid, schloss die Bänder des dünnen Mieders, sodass wieder ein gewisser Anstand gewahrt war. Er konnte nichts tun, um die gerissene Naht zu reparieren, und sein Blick wurde angezogen von dem bisschen Haut, das darunter zu erkennen war und nach seiner Aufmerksamkeit zu betteln schien. Fluchend nahm er eine Decke von seinem Bett und legte sie ihr um die Schultern. Die Wolle war beinahe von derselben Farbe wie ihr Haar. Dann nahm er seine Sachen, zog seine Hose an und einen Gehrock. Mit einem Tuch hielt er sich nicht auf. Die Stiefel zog er über die nackten Füße.

Dann war er schon an der Tür, holte den Schlüssel hervor und entriegelte sie.

„Komm, meine Schöne“, flüsterte er und nahm ihre Hand. Es gefiel ihm, wie ihre schlanken Finger sich um seine schlossen.

Vertrauen.

Ein weiteres Hindernis genommen. Er sehnte sich nach den anderen.

Draußen war es still, und als sie die Stallungen erreichten, kam ein Junge auf sie zu.

„Sie brauchen um diese Zeit eine Kutsche, mitten in der Nacht, Euer Gnaden?“ Ungläubigkeit lag in dieser Frage. Gewöhnlich wurde vor dem Mittag des nächsten Tages keine Kutsche geordert. Oder besser vor dem Mittag des übernächsten Tages.

„So ist es. Hol Stephens und lass den Wagen vorbereiten. Ich muss nach London fahren.“

Als der Junge davonging, begann Lucinda Wellingham zu sprechen. Ihre Stimme klang leise und unsicher. „Mein Umhang ist noch immer im Haus, zusammen mit meinem Hut und dem Retikül. Soll ich sie nicht holen gehen?“

„Nein.“ Tay wollte nur fort von hier. Er wusste nicht, wer über ihr Erscheinen auf dieser berüchtigtsten und sündhaftesten Gesellschaft der Saison Bescheid wusste, aber wenn es ihm gelang, sie ins Stadthaus der Wellinghams zu bringen, ehe der Tag anbrach, dann würden ihre Brüder sich gewiss eine Geschichte ausdenken können, die alle Gerüchte im Keim erstickte.

„Meine Freundin Posy Tompkins wundert sich vielleicht, was aus mir geworden ist. Ich hoffe, sie ist in Sicherheit.“ Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, eine zerknirschte Venus, die unverhofft in die Unterwelt gestolpert war und jetzt wieder fort wollte.

„Sicherheit?“ Er musste lachen, allerdings klang es sehr freudlos. „Auf meinen Gesellschaften ist niemand in Sicherheit. Der einzige Programmpunkt ist gewöhnlich, genau das nicht zu sein.“

„Es geht also darum, sich zu amüsieren?“, gab sie schnell zurück, und wieder erschienen diese verdammten Grübchen in ihren Wangen.

„Oh, ich würde beinahe schwören, dass sie sich amüsiert. Ein guter Höhepunkt ist immer ein wichtiger Punkt auf dem Weg zur Zufriedenheit.

Stille breitete sich aus, aber sie musste das wissen. Wer er war. Was er war. Ihr Schweigen ermutigte ihn.

„Ich biete keine Sicherheit, Lady Lucinda, und das bereue ich auch nicht. Da du in einem Kleid nach Alderworth gekommen bist, das in jedem lebenden Mann dunkle Fantasien weckt, verstehst du doch wenigstens das?“

Tränen glänzten in ihren Augen, und Tay fluchte, als er im Schein der Lampe sah, wie ihre Wangen feucht wurden.

„Gott weiß, dass du viel zu süß bist für einen Sünder wie mich, und morgen wirst du begreifen, wie nahe du daran warst, ruiniert zu werden! Und du wirst dankbar dafür sein, dass ich dich nach Hause gebracht habe, auch wenn du dabei ein paar Habseligkeiten verloren hast.“

Asher, Taris und Cristo hätten sie niemals süß genannt. In einer Million Jahre nicht. Sie war ein Schandfleck für die Familie Wellingham, und das würde sie immer sein. Das war das Problem. Sie war im Innersten schlecht. Die Wahrsagerin, die ihr an einem Stand auf dem Leadenhall Market aus der Hand gelesen hat, hatte ihr direkt in die Augen gesehen und genau das gesagt.

Im Innersten schlecht.

Und das war sie. Diese Nacht war ein lebendes Beispiel für die lächerlichen Dinge, die sie tat, ohne an die Folgen zu denken. Sie handelte absolut unverantwortlich. Hätte sie weniger Glück gehabt, würde sie jetzt im Bett des Duke of Alderworth liegen, die Beine um seine muskulösen nackten Schenkel geschlungen, wohl wissend, dass das schon viele Frauen der guten englischen Gesellschaft mit weniger strengen Prinzipien getan hatten. Nur seine Vernunft hatte sie daran gehindert, denn sie war darüber hinaus gewesen, noch irgendetwas zu verhindern. Er hätte sie nicht lange überreden müssen, damit sie ihm im Schein der Kerzen ins Bett gefolgt wäre. Sie schämte sich, und sie fühlte sich schlecht. Gerade noch entkommen.

Ein älterer Mann kam auf sie zu, in der Hand eine Laterne, und hinter ihm eine ganze Reihe geschäftiger Diener. Lucinda sah ihnen nicht in die Augen, als sie sie musterten, und setzte eine Miene auf, von der sie annahm, dass sie gleichgültig wirkte. Himmel, wie sehr hoffte sie, dass unter diesen Dienern auf Alderworth keiner war, der irgendeine Verbindung zu den Wellinghams hatte.

Alderworth stand an ihrer Seite, und das versetzte sie gleichermaßen in Anspannung als auch in freudige Erregung. Sie spürte seine Wärme genau. Als er ihren Arm berührte, wich sie nicht von ihm, und es fühlte sich faszinierend und verboten zugleich an. Dann zog er die Hand zurück. Lucinda holte tief Luft, atmete langsam aus und versuchte, wieder klar zu denken. Doch es gelang ihr nicht.

Er beobachtete sie mit dem aufmerksamen Blick eines Tigers auf Beutezug.

Innerhalb weniger Augenblicke war die Kutsche bereit zum Aufbruch. Die Lampen leuchteten, und der Kutscher hatte Platz genommen. Ohne sie zu berühren, gab ihr Taylen Ellesmere ein Zeichen, dass sie einsteigen sollte, und als sie sich auf dem weichen Lederpolster niedergelassen hatte, setzte er sich ihr gegenüber. Seine grünen Augen funkelten.

„Wir brauchen etwa vier Stunden bis Mayfair. Falls dir noch kalt ist …?“

„Nein, mir geht es gut.“ Sie zog die Decke um sich, wie einen Schutzpanzer.

„Fein.“ Das klang kurz und schroff.

Sie blickte zum Fenster und entdeckte im Glas ihr bleiches, erschrockenes Gesicht.

Was dachte der Duke of Alderworth über sie? War er verwundert über ihre Unsicherheit, so wie über ihre Schamlosigkeit? Sie spürte, dass er sie loswerden wollte, so schnell wie nur möglich. Sie war eine Frau, die sich ungebeten an einen Ort verlaufen hatte, an dem sie nichts zu suchen hatte, eine Frau, die nicht die Spiele mitspielte, für die er so berüchtigt war …

Warum er selbst mit in die Kutsche gestiegen war, erschloss sich ihr nicht. Er wirkte so, als wäre er am liebsten ganz woanders gewesen als hier – ihr gegenüber – in diesem kleinen schaukelnden Gefährt.

Vermutlich war es der Kuss, besser gesagt die Tatsache, dass sie nicht genau wusste, wie man so eine Liebkosung erwiderte. Ihre Weigerung, mehr zwischen ihnen beiden zuzulassen, spielte natürlich auch eine Rolle. Sie war eine Unschuld, die mit dem Feuer gespielt und sie dann beide verbrannt hatte. Zwar hatten zwei oder drei wagemutige Verehrer in den letzten Jahren schon einmal ihre Lippen auf ihren Mund gepresst, aber das war stets sehr keusch gewesen und brav und ganz und gar nicht so wie bei …

Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken. Taylen Ellesmere war ein schnelllebiger Wüstling, der sich ganz gewiss nicht zu der Tochter einer der ehrbarsten und angesehensten Familien Londons hingezogen fühlen würde. Er hatte alle Frauen, die er wollte, leichtlebige, schöne Frauen, und sie hatte schon sehr häufig gehört, dass er sich niemals durch eine Heirat Fesseln anlegen lassen würde.

Sie schüttelte heftig den Kopf und hörte sich an, was er jetzt zu sagen hatte.

„Sollte mich jemand danach fragen, werde ich leugnen, dass du heute Nacht in Alderworth gewesen bist. Sag deinen Brüdern, sie sollen dasselbe tun.“

„Wenn ich Glück habe, müssen sie gar nichts davon erfahren …“

„Meiner Erfahrung nach fällt das Wort Skandal nur ganz selten in einem Atemzug mit dem Wort Glück, Lucinda.“

Als er ihren Namen aussprach, erfasste sie eine warme Welle des Glücks. „Lucinda“ hatte ihr nie gut gefallen, aber wenn er es sagte, klang es – sinnlich. In seinen Worten lag die Andeutung eines Versprechens.

„Glaub mir, wenn wir uns geschickt anstellen, kann der Schaden in Grenzen gehalten werden.“

Schaden. Sie fand zurück in die Wirklichkeit. Sie war nur eine Situation, die gehandhabt werden musste. Die Nacht umfing sie, und etwas Mondlicht fiel in das Innere der Kutsche. Draußen hatte heftiger Regen eingesetzt, ein plötzlicher Schauer in einer windstillen Nacht.

Taylen Ellesmere war genau wie ihre Brüder, ein Mann, der es liebte, Dinge unter Kontrolle zu haben und Macht auszuüben. Keine Überraschungen oder unerwünschte Zwischenfälle. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn.

„Ich rechne nicht mit Schwierigkeiten“, sagte er. „Wenn du deine Rolle geschickt spielst, dann sollte es nicht …“

Ein Ruf durchdrang die Stille, und dann neigte sich die Kutsche plötzlich auf eine Seite, kippte und fiel, rollte immer weiter und weiter, Metall knirschte auf Holz, und es gab einen heftigen Ruck.

Mit einem Satz war der Duke neben ihr, zog sie in seine Arme, schützte sie vor dem splitternden Glas, das hereinfiel, ein Schutzschild gegen das Chaos und die eindringende kalte Luft. Er hielt sie so fest, dass sie spürte, wie Metall gegen seinen Körper schlug, wie Blut heraustrat und er das Gesicht verzog.

Und dann wurde es dunkel.

Lucinda befand sich in ihrem Zimmer in Falder House in Mayfair. Die Vorhänge bauschten sich in der leichten Nachmittagsbrise. Die Bäume raschelten im Wind, und aus dem etwas weiter entfernt gelegenen Park drangen die Stimmen von Kindern herein.

Alles schien ganz normal, abgesehen von ihren drei Schwägerinnen, die in dunkler Kleidung nebeneinander auf den Stühlen saßen und sie beobachteten.

„Du bist wach?“

Beatrice-Maude trat vor und hob behutsam Lucindas Kopf, um ihr etwas kühle Limonade aus einem Glas neben ihrem Bett einzuflößen. „Der Doktor hat gesagt, dass du heute wieder bei uns sein würdest, und er hatte recht.“ Sie lächelte, während sie behutsam ein paar Tropfen von Lucindas Lippen abtupfte. „Wie fühlst du dich?“

„Wie sollte ich mich fühlen?“

Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas Schlimmes wurde vor ihr verheimlicht, lauerte im Schatten, am Rande ihres Bewusstseins.

„Warum bin ich hier? Was ist passiert?“

„Du erinnerst dich nicht?“ Emerald trat jetzt zu Beatrice-Maude. Ihre Miene war ernst. „Du erinnerst dich nicht an den Unfall, Lucy?“

„Wo war das?“ Panik erfasste sie, und sie versuchte, sich aufzurichten, aber nichts schien zu funktionieren, weder ihre Arme noch ihre Beine oder ihr Rücken. Alles taub und gefühllos. Sie spürte nur, wie heftig ihr das Herz in der Brust schlug, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen vor lauter Angst, gelähmt zu sein.

„Ich kann mich nicht bewegen.“

„Doktor Cameron sagte, das wäre normal. Er sagte, viele Menschen können sich erst wieder bewegen, wenn die Schwellung abgeklungen ist.“

„Die Schwellung?“

„Du hast einen Schlag gegen den Hals bekommen und einen auf den Kopf. Es war ein Glück, dass die Kutsche nach Leicester gerade in die andere Richtung vorbeifuhr, sonst …“

„Du hättest die ganze Nacht da liegen können, und Doktor Cameron sagte, dass du dann vielleicht nicht überlebt hättest.“ Eleanor, die Frau ihres jüngsten Bruders, kam jetzt dazu, aber anders als bei den anderen war ihr Gesicht verschwollen, und ihre Stimme zitterte. Sie hatte geweint. Sehr viel geweint.

Das erschreckte Lucinda mehr als alles andere

„Wie ist das passiert?“

„Deine Kutsche hat sich überschlagen. Allem Anschein nach geschah es in einer Kurve, und das Gefährt fuhr viel zu schnell. Es stürzte mehrere Meter den Hügel hinab und blieb erst am Fuß der Anhöhe liegen.“

Sie begann zu zittern, als nach und nach immer mehr Worte in ihr leeres Gedächtnis eindrangen.

Beatrice übernahm, drückte ihr ganz fest die Hand und brachte ein mühsames Lächeln zustande. „Es ist vorbei, Liebes. Du bist zu Hause und in Sicherheit, und nur das zählt.“

„Wie bin ich hierhergekommen?“

„Asher hat dich vor drei Tagen zurückgebracht.“

Lucinda schluckte. Drei Tage. Sie versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas zu erinnern, aber es gelang ihr nicht.

Und jetzt lag sie auf diesem Bett, als wäre sie aus Stein gemacht, und außer ihrem Kopf und ihrem Herzen vermochte sie nichts zu spüren. Aus ihrem linken Auge rollte eine Träne, lief als warmes Rinnsal über ihre Wange und dann in ihr Haar. Sie schluckte. Ihre Kehle war rau und trocken, und sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge.

Schreie. Sie erinnerte sich an Geräusche. Schreie und noch mehr Schreie. Ihre Stimme und eine andere, die sie beruhigte. Ruhig und traurig. Warme Hände, die ihren Hals festhielten, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Die Nachtluft kühl und feucht, während der Regen sich mit Blut vermengte.

„Doktor Cameron sagte, es wäre ein Wunder, dass du dich kein Stück bewegt hast, sonst wärest du gestorben. Er sagte, es wäre ein Glück gewesen, dass dein Kopf zwischen zwei Holzbrettern stabilisiert gewesen war, als man dich fand, sodass du dich nicht rühren konntest.“

„Ein Glück“, erwiderte sie, und es klang wie eine Frage.

Sie hatten ihr nicht alles gesagt. Das erkannte sie an den Blicken, die die drei miteinander tauschten, und aus der unausgesprochenen Zurückhaltung. Sie fragte sich, warum ihre Brüder nicht hier mit ihr im Zimmer waren, und kannte die Antwort auf die Frage, kaum dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte.

Sie würden nicht so leicht etwas vor ihr verheimlichen können, wie ihre Schwägerinnen es konnten, auch wenn Cristo noch immer recht gut darin war, für sich zu behalten, was er dachte.

„War noch jemand verletzt?“

An dem Zögern erkannte sie, dass das der Fall war.

„Es war ein Mann bei dir in der Kutsche, Lucy.“ Emerald nahm jetzt ihre andere Hand und rieb sie in einer Weise, die vermutlich tröstlich sein sollte, sich aber tatsächlich eher lästig anfühlte, weil ihre Gliedmaßen so taub waren.

„Ich war allein mit ihm?“ Das ergab alles keinen Sinn. Was konnte sie mitten in der Nacht auf offener Landstraße in Gesellschaft eines Fremden zu suchen gehabt haben? Es war alles sehr merkwürdig. „Wer war er?“

„Der sechste Duke of Alderworth.“ Jetzt nahm Beatrice den Faden wieder auf.

„Alderworth?“ Diesen Namen kannte Lucinda, auch wenn sie sich überhaupt nicht an den Unfall erinnern konnte.

Der ruchlose Duke war berüchtigt in ganz London, es hieß, dass er sich ausschließlich in den Kreisen der Dirnen und Lebedamen bewegte. Warum sollte sie dort mit ihm allein gewesen sein, noch dazu so weit weg von zu Hause?

„Weiß Asher, dass er dabei war?“ Sie blickte Emerald an.

„Unglücklicherweise weiß er es.“

„Wissen andere auch davon?“

„Unglücklicherweise ja.“

„Wie viele wissen es?“

„Ich denke, wenn ich sage, ganz London weiß davon, dann wäre das nicht übertrieben.“

„Ich verstehe. Dann hat es also einen Skandal gegeben, und ich bin ruiniert?“

„Nein.“ Beatrice-Maudes Stimme klang fest. „Deine Brüder würden niemals zulassen, dass das geschieht. Und das würden wir auch nicht.“

Lucinda schluckte, das alles war noch zu viel für sie. Eleanor und Emerald beobachteten sie mit besorgten Mienen, und selbst Beatrice, die selten von etwas aus der Ruhe gebracht wurde, schien angespannt.

Im Innersten schlecht. Die Worte schienen aus dem Nichts zu kommen, als sie die Augen schloss und einschlief.

3. KAPITEL

Tay Ellesmere saß in der Bibliothek des Stadthauses der Carisbrooks in Mayfair und sah die drei Brüder Wellingham an, die ihm gegenüber Platz genommen hatten.

Sein Kopf schmerzte, sein rechtes Bein war oberhalb des Knies geschwollen, und an seinem linken Oberarm trug er einen schweren weißen Verband, ebenso um die Rippen, wo er so fest geschnürt war, dass er ohne große Schmerzen atmen konnte. Darüber hinaus hatte er zahllose weitere Schnitte und Kratzer von den Glas- und Holzsplittern, die er sich zugezogen hatte, als der Wagen sich überschlug.

Aber diese Verletzungen waren noch die geringsten seiner Sorgen. Zwischen ihm und seinen Gastgebern ging es um weitaus dringendere Angelegenheiten.

„Sie waren höchst unpassend gekleidet und Lucinda äußerst unzureichend. Jeder in London spricht von diesem Skandal, und zwar schon seit der ganzen vergangenen Woche.“

Asher Wellingham, Duke of Carisbrook, war selten um Worte verlegen, und Tay ebenso wenig.

„Dass wir ‚unpassend gekleidet‘ waren, lag daran, dass wir in einer Kutsche saßen, die sich mehrmals überschlug. Aus einer solchen Lage geht man in der Regel selten mit tadellos sitzendem Gewand hervor“, erwiderte er, wohl wissend, dass das den Brüdern nicht gefallen würde. Doch wenn er nicht bestätigen wollte, dass ihre Schwester auf seiner Gesellschaft gewesen war, dann blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als dem Unfall die Schuld zu geben.

„Wir dachten, Lucinda wäre mit Lady Posy auf den Landsitz ihrer Tante gefahren, für das Wochenende. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, wie es passieren konnte, dass sie stattdessen allein mitten in der Nacht mit Londons schamlosesten Duke unterwegs sein konnte, gekleidet wie eine Dirne?“

„Haben Sie sie gefragt?“

„Sie kann sich an nichts erinnern.“ Jetzt mischte sich Taris Wellingham ein, dessen Ruhe ebenso bedrohlich wirkte wie der Zorn seines älteren Bruders.

„Nichts?“

„Nichts, was vor dem Unfall passiert ist, nichts von dem Unfall und nichts von dem, was unmittelbar danach geschah.“

Hoffnung keimte auf. Vielleicht war das ein Fluchtweg. Wenn die Lady nicht nach seinem Blut schrie, dann würden ihre Brüder die Jagd vielleicht aufgeben, wenn er seine Karten geschickt ausspielte.

„Ihre Schwester sagte mir, dass sie versuchte, das Stadthaus der Wellinghams zu erreichen, nachdem sie aus irgendeinem Grund von ihrer Freundin getrennt wurde. Sie bat mich lediglich, sie nach Hause zu bringen, und ich folgte dieser Bitte selbstverständlich.“

„Von Ihrem Landhaus wurden uns ihr Retikül, ihr Hut und ihr Umhang gebracht. Finden Sie nicht, dass es ein seltsamer Zufall ist, dass diese Sachen an jenem Ort zurückgelassen wurden, von dem Sie schwören, dass sie nicht dort gewesen ist?“

Cristo Wellinghams Stimme klang genauso ausdruckslos wie die seiner Brüder.

„Richard Allenby, Earl of Halsey, hat außerdem in halb London herumerzählt, dass sie bei Ihrer Wochenendgesellschaft zu Gast war. Andere bestätigen diese Geschichte.“

„Er lügt. Ich war der Gastgeber, und Ihre Schwester war nicht da.“

„Das Problem ist, dass Lucinda ruiniert sein wird, und Sie scheinen ihre Rolle in diesem Vorfall nicht ernst genug zu nehmen.“

Taylen hatte genug.

„Ruin ist ein starkes Wort, Lord Taris.“

„So stark wie Rache.“

Asher Wellingham schlug mit der Faust auf den Tisch, und Tay stand auf. Selbst mit einem bandagierten Arm konnte er sie alle drei noch besiegen. Die Kunst des fairen Kampfes hatte er nie gelernt. Dafür hatte die harte Schule des Lebens ihm andere Dinge beigebracht. Verdammt, er war oft genug verprügelt worden, um genau zu wissen, an welche Stellen er treffen musste.

„Dafür werden wir Sie töten, Alderworth, das schwöre ich Ihnen.“ Jetzt sprach Cristo, und er betonte jedes einzelne Wort.

„Und wenn Sie das tun, können Sie Ihre Schwester gleich ans Kreuz nageln. Am besten ist es, die Sache auf sich beruhen zu lassen, darüber zu lachen und die Leute, die einem schlechtes Benehmen vorwerfen, nicht ernst zu nehmen.“

„Wie Sie es gewöhnlich zu tun pflegen?“

„Die englische Gesellschaft hält noch immer an lächerlichen Benimmregeln fest, obwohl die Freiheit allmählich Fuß fasst in den Köpfen einiger kluger Männer. Viele würden gut daran tun, ihrem Beispiel zu folgen.“

„Männer wie Sie?“ Taris erhob sich. Dass er nicht gut sehen konnte, war ihm nicht anzumerken, als er zum Fenster ging. Allerdings beobachtete Tay, dass sein ältester Bruder ihn fürsorglich beobachtete.

Fürsorge.

Das Wort hallte in ihm nach. Nur darum ging es hier: Sorge um einander, Sorge um den Familiennamen, Sorge um den Ruf der einzigen Schwester, der Schaden nehmen konnte, wenn er mit seinem verknüpft war.

Fürsorglichkeit war etwas, das er selbst nie erfahren hatte. Nicht von seinen Eltern. Nicht von seiner Großmutter. Und ganz gewiss nicht von seinem Onkel. Er war immer allein gewesen in einer Welt, in der niemand sich die Zeit genommen hatte, darauf zu achten, dass ein kleines Kind umsorgt wurde. Als Ergebnis dieser Vernachlässigung war er zu dem Mann geworden, der er war … Allerdings war dieses Wissen hier in diesem Salon einer Familie, die zusammenhielt wie Pech und Schwefel, wenig ermutigend.

Er ging um das große Sofa herum. „Ich habe noch eine Aufgabe, und ich glaube, ich brauche etwas frische Luft. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.“

„Was hältst du von ihm?“

Asher stellte diese Frage wenig später, als Cristo zum Schrank ging, um eine Flasche feinsten französischen Brandys herauszunehmen.

„Er verheimlicht etwas.“ Taris ließ sich von seinem Bruder einen Drink geben und nahm einen großen Schluck, bevor er weitersprach. „Aus irgendeinem Grund will er uns glauben machen, dass unsere Schwester nie auf Alderworth war. Und angeblich wäre sie auch nur mitten in der Nacht in seine Kutsche gestiegen, weil sie sich in einer Notlage befand.“

Cristo fluchte. „Aber warum sollte er das tun?“

„Selbst ein verkommenes Subjekt wie er hat vermutlich Grenzen dessen, wozu er fähig ist. Vielleicht liegt es an Lucindas Unschuld.“ Taris nahm noch einen Schluck Brandy, ehe er weitersprach. „Er studiert die Philosophie des neuen Bewusstseins, was interessant ist, denn die Forderungen nach freiem Ausdruck wurzeln in Amerika. Das ist eine ungewöhnliche Lektüre für einen Mann, der behauptet, an nichts anderem als an sexuellen Eskapaden und gesellschaftlichen Skandalen interessiert zu sein.“

„Ich traue ihm nicht.“ Asher trank sein Glas leer.

„Nun, wir können aber keinen Mann verprügeln, der sich noch von seinen Verletzungen erholt.“ Cristo lächelte.

„Dann warten wir, bis die Verbände abgenommen sind.“ In der Stimme Asher Wellinghams lag kein Fünkchen Humor.

Lucinda rollte sich zum Frühstückstisch. Ihre Muskeln schmerzten von der Anstrengung, und ihr Herz schlug zu schnell. Fast zwei Wochen waren seit dem Unfall vergangen, und das Gefühl, von dem der Doktor versprochen hatte, dass es zurückkommen würde, stellte sich tatsächlich allmählich ein, auch wenn sie sich immer noch erschöpft fühlte und seltsam melancholisch. Inzwischen konnte sie kurze Strecken gehen, ohne hinzufallen, und das Zittern, das sie gequält hatte, ließ nach, je kräftiger sie wurde. Der Rollstuhl war aber immer noch das wichtigste Hilfsmittel für sie, um sich zu bewegen.

Posy hatte in der vergangenen Woche viel Zeit hier im Stadthaus verbracht, und ihr Entsetzen über das, was Lucy zugestoßen war, schimmerte in jedem ihrer Sätze durch.

„Ich hätte dich nie nach Alderworth mitnehmen sollen, Lucy. Es ist alles meine Schuld, dass dir das passiert ist, und jetzt weiß ich nicht, wie ich das wiedergutmachen soll.“ Große Tränen waren ihr über die Wangen gelaufen und hatten dann feuchte Streifen auf der rosa Seide ihres Mieders hinterlassen.

„Du hast mich nicht gezwungen zu gehen, Posy. So viel weiß ich noch.“

„Aber während ich wohlbehalten in unserem Schlafzimmer saß, warst du …“

„Lass uns nicht noch mehr über Schuldgefühle reden. Was geschehen ist, ist geschehen, und wenigstens gewinne ich allmählich meine Beweglichkeit und meine Kraft zurück.“

Lucinda hatte mehrere Tage gebraucht, um ihre Freundin davon zu überzeugen, dass sie keine Schuld an allem trug. Und bei alledem hatte Posy ständig geweint, was Lucinda ermüdend fand.

Asher saß im Frühstückszimmer und las in der Times, wie er es jeden Morgen tat, aber diesmal faltete er die Zeitung in der Mitte zusammen und sah genauer hin. Etwas hatte sein Interesse geweckt.

„Hier heißt es, der Earl of Halsey hat eine gebrochene Nase, ein blaues Auge und musste an der Wange mit zwanzig Stichen genäht werden. Der Angriff erfolgte vor vier Tagen, in der Nähe der Stallungen in Davies Mews gleich hier in Mayfair. Zeugen gab es nicht.“

Er blickte hinüber zu Lucinda, um festzustellen, wie sie reagierte. Seit dem „unglücklichen Zwischenfall“, wie er genannt wurde, schlich die ganze Familie auf Zehenspitzen um sie herum, als könnte sie in tausend Teile zerbrechen, wenn der Skandal nur irgendwie erwähnt wurde … und sie war dessen reichlich überdrüssig. Also tat sie nichts weiter, als ihren Bruder anzulächeln und mit den Schultern zu zucken.

„Straßendiebe werden also immer unverschämter.“ Emerald griff den Gesprächsfaden auf, während sie sich eine Scheibe Brot strich. „Aber vielleicht haben sie uns damit einen Gefallen getan. Ist das nicht der Mann, der immer wieder behauptet hat, Lucinda wäre bei dem Zwischenfall mit Alderworth nicht angemessen bekleidet gewesen? Ohne ihn hätte der Skandal niemals diese Tragweite bekommen.“

Lucinda kannte Richard Allenby natürlich. Er hatte sich immer tadellos benommen und war ganz reizend, wenn sie ehrlich war, sodass sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum er jetzt so übel über sie sprach. Doch irgendwo ganz hinten in ihrem Gedächtnis lauerte der Schatten einer Erinnerung, nebelhaft und undeutlich wollte etwas aus der Dunkelheit hervortreten. Sie tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, als ihre Kehle plötzlich trocken wurde und es ihr schwerfiel zu schlucken.

„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen, Lucy.“

„Was genau hat der Earl of Halsey über mich gesagt?“

„Er streut das Gerücht, dass du mit Alderworth in seinem Haus vielleicht intim geworden bist. Er sagt, er hätte dich in den Gängen des ersten Stockwerks dort im Haus gesehen, vor der Schlafzimmertür deines Gastgebers.“

Ihr Bruder sprach in dem entrüsteten Tonfall, in dem er immer von ihren Eskapaden sprach, und in diesem Fall konnte Lucinda ihn durchaus verstehen.

„Intim?“ Die Vorstellung von so viel Bosheit war entsetzlich. „Warum sollte er so eine Lüge erzählen? Die Leute glauben ihm doch hoffentlich nicht.“

Lucinda drückte mit dem Fuß gegen das Metall des Rollstuhls und versuchte, sich weiter vorwärts zu bewegen. Während der letzten Tage hatte die Gefühllosigkeit in ihren Gliedern immer mehr nachgelassen. Erst hatte sie nur ein Kribbeln in den Knien verspürt, nun war es mittlerweile schon bis in die Füße vorgedrungen.

„Unglücklicherweise allmählich schon.“ Ashers Ton klang jetzt nicht mehr fürsorglich.

„Was sagt Alderworth dazu?“

„Nichts, und das ist das große Problem. Wenn er alles kategorisch leugnen und sich in der Gesellschaft genauso benehmen würde wie in Wellingham House, dann würden die Leute vielleicht aufhören, Richard Allenby zu glauben. Aber stattdessen hat sich der Mann aufs Land zurückgezogen und ein einziges Chaos hinterlassen.“

„Alderworth war hier? In unserem Stadthaus?“ Lucinda runzelte die Stirn. Etwas an ihm kam ihr vertraut vor, da gab es etwas, an das sie sich erinnerte – von früher. „Was wollte er?“

„Um es kurz zu sagen, er wollte sich freimachen von jedem Vorwurf, er habe deinen Ruf beschmutzt. Diesen Punkt hat er ganz deutlich gemacht.“ Asher legte die Zeitung weg und beobachtete sie genau. „Der Mann ist ein Windhund, aber er ist auch gewitzt. Die Andeutung einer Verbindung zu uns kann sich für ihn als vorteilhaft erweisen.“

„Verbindung?“ Lucindas Mund fühlte sich ganz plötzlich trocken an.

„Wenn der Ruf ruiniert ist, könnten Maßnahmen erforderlich werden, die zwingend und dauerhaft sind.“

„Du meinst eine Verlobung?“ Vor Entsetzen konnte Lucinda nur ganz leise flüstern. Alderworth! Sie hatte alle Geschichten über den ruchlosen Duke gehört. Jeder hatte das. Er war ein Mann, der nach seinen eigenen Regeln lebte und sich keinen Deut um gesellschaftliche Konventionen scherte.

Ihr Herz schlug schneller, während sich Erinnerungen durch den Nebelschleier in ihrem Kopf kämpften. Und sie traten an die Oberfläche. Sie ließ die Tasse fallen, die sie in der Hand gehalten hatte, und stand auf. Tee ergoss sich auf das antike weiße Damasttischtuch, und ein brauner Fleck breitete sich auf der Stickerei aus, während sie darauf starrte.

Durch den Nebel in ihrem Kopf drang ein Bild von Taylen Ellesmere, der sich nackt von einem zerwühlten Bett erhob. Seine prachtvolle, muskulöse Figur umspielt vom Schein der Kerzen, der Rotwein in der Karaffe hinter ihm beinahe ausgetrunken … Sie wusste, wie sich seine Haut anfühlte, denn sie hatten sich lustvoll aneinandergeschmiegt. Seine samtgrünen Augen waren ihr ganz nahe gewesen, als er sich heruntergebeugt und sie geküsst hatte. Es war kein schlichter, keuscher Kuss gewesen, sondern ein leidenschaftlicher, lustvoller …

Vor Schreck stand sie starr da und sah ihrem ältesten Bruder direkt ins Gesicht.

„Was ist los? Du siehst – elend aus.“ Er wirkte ehrlich besorgt.

„Ich erinnere mich an Dinge, und ich – ich glaube, dass alles, was der Earl of Halsey über mich sagt, vielleicht – vielleicht stimmt.“

Ihre kraftlosen Beine gaben unter ihr nach, als Asher sie auffing, doch die harte Lehne eines Stuhles schlug gegen ihre Seite.

„Du willst sagen, du hast mit Alderworth das Bett geteilt. Ohne mit ihm verheiratet zu sein.“

„Er war nackt in seinem Schlafzimmer. Er hat mich überall berührt. Die Tür war verschlossen, und ich konnte nicht hinaus. Ich habe es versucht, aber es war unmöglich. Er hatte den Schlüssel abgezogen.“ Eine rasche Folge von schwachen Erinnerungen, eine dramatischer als die andere.

„Meine Güte.“ So einen Tonfall hatte sie von ihrem Bruder bisher noch nie gehört, nicht ein einziges Mal bei all ihren Eskapaden und Dummheiten. Seine heisere Stimme trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie fühlte, wie Emerald ihre Hand nahm und sie leise drückte.

„Sie werden meine Schwester heiraten, sobald ich eine Ausnahmegenehmigung beschaffen kann. Und dann werden Sie aus England verschwinden, Sie Schwein!“

Asher Wellingham hatte Tay bereits einige gezielte Schläge ins Gesicht versetzt, und Cristo Wellingham drückte ihn noch immer zu Boden. Das waren nicht ganz die vornehmen Manieren, die er von ihnen erwartet hatte, und jeder Hieb wurde mit geradezu technischer Präzision ausgeführt. Blut strömte aus seiner Nase, und aus dem linken Auge konnte er kaum noch etwas sehen. Die beiden unteren Vorderzähne wackelten.

„Wenn Sie mich umbringen – könnte das mit der Verlobung – etwas schwierig werden.“

Ein weiterer Hieb traf ihn in die Nieren, und obwohl er versuchte, sich das zu verkneifen, entfuhr ihm ein Klagelaut.

„Sie werden Lucinda sagen, dass es einzig und allein Ihr Fehler war, dass sie überhaupt nach Alderworth gekommen ist, und dass Sie Ihr Gefühl für das, was sich schickt, schon vor Jahren verloren haben. Sie werden ihr vor allem sagen, dass sie niemals die Möglichkeit gehabt hat, dieser Situation zu entkommen.“

„Verstehe vollkommen.“

„Das ist gut. Und solange Sie uns verstehen, werden wir Ihnen gestatten, noch einen weiteren Tag Atem zu holen, während wir versuchen, alles wiedergutzumachen, was Sie unserer Schwester angetan haben. Sie ist verzweifelt, wie Sie sich sicher vorstellen können, und nennt Sie den schäbigsten aller Männer. Ein Schurke, der sie ausgenutzt hat, als sie wehrlos war.“

„Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Und Schlimmeres noch. Aber auch wenn sie Sie vermutlich hasst, so weiß sie doch, dass Sie der Einzige sind, der ihren guten Namen in der Gesellschaft wieder reinwaschen kann. Wenn Sie sie heiraten. In dieser Hinsicht ist sie äußerst entgegenkommend.“

„Das ist eine nicht zu unterschätzende Qualität bei einer Braut.“ Selbst in seinen eigenen Ohren schien seiner Stimme diesmal der übliche ironische Unterton zu fehlen, den er üblicherweise als sein Markenzeichen pflegte.

„Nun, Sie mögen lachen, Alderworth, aber wenn Sie glauben, dass wir Sie auch nur in Lucindas Nähe lassen werden, wenn die Zeremonie vollzogen ist, dann sind Sie auf dem Holzweg. Sie haben schon genug Schaden angerichtet. Jetzt werden Sie dafür bezahlen.“

Tay hustete einmal und dann noch einmal. Das Atmen fiel ihm schwer. Als Lucindas jüngerer Bruder ihn leicht hochzog und dann erneut zu Boden stieß, fühlte er, wie der Arm, der bei dem Kutschenunfall verletzt worden war, hart auf das Parkett prallte, und Schmerz schoss ihm hoch bis in die Schulter.

Ganz plötzlich begann er heftig zu zittern. Er fluchte. Es war lange her, seit ihm so etwas zum letzten Mal passiert war, und er sah das Gesicht seines Onkels vor sich, außer sich vor Zorn über irgendeine kleine Kränkung, die er gehört zu haben glaubte. Die Sommerwinde von Alderworth brannten heiß auf den Wunden, die die Peitsche auf seinem Rücken hinterlassen hatte. Überall Blut. Keine Gnade, nur Schläge.

Etwas unsicher richtete er sich auf und hielt sich dann an einer Stuhllehne fest, ehe er den Kopf hob. „Ihre Schwester erinnert sich nicht richtig. Ich habe sie nicht angerührt.“

„Sie behauptet das Gegenteil, und jeder, der Lucinda kennt, weiß auch, dass Ehrlichkeit eine ihrer größten Tugenden ist.“ Licht fiel auf den Siegelring an Ashers Finger, als er vortrat. „Ehrlich gesagt finde ich in Anbetracht der Anzahl Ihrer zweifelhaften Gäste, die seit dem Unfall nicht aufgehört haben, darüber zu reden, was auf Alderworth geschehen ist, Ihr Jammern und Ihre schwachen Entschuldigungen beleidigend. Ein Mann, der etwas wert ist, würde zu seinen Fehlern stehen und die Strafe, die er verdient, auf sich nehmen.“

Aus Erfahrung wusste Tay, wann er aufhören musste, einen Mann zu provozieren, der ihn schlagen würde, bis er die Wahrheit herausgefunden hatte. Er nickte, um die Diskussion zu beenden, und sah die Erleichterung auf Asher Wellinghams Gesicht.

„Wir werden Sie dafür bezahlen, dass Sie eine Woche nach der Hochzeit abreisen. Eine beträchtliche Summe, die sie auf dem Weg zu Ihrem nächsten Ziel gut versorgen wird. Danach werden Sie keinen Fuß mehr in die Nähe Londons oder unserer Familie setzen.“

„Alderworth ist beinahe bankrott. Die Schulden Ihres Vaters sind erheblich, und Sie werden am Ende des Jahres die Kosten nicht mehr tragen können.“ Jetzt hatte Taris übernommen, von seinem Platz auf dem Sofa am Kamin aus. Seine Stimme klang ruhig und fest. „Sie haben versucht, aus dieser Lage herauszukommen, aber Ihre Rechnungen werden immer höher, und Ihr Lebenswandel ist kaum gewinnbringend. Nehmen Sie unser Angebot an, und Sie werden Ihr Erbe noch ein paar Jahre länger behalten können. Lehnen Sie es ab, und Sie werden an Weihnachten im Gefängnis sitzen.“

„Wird Ihre Schwester davon erfahren?“

„Das wird sie. Lucinda will es so.“ Cristo trat vor. Sein Blick war missbilligend. „Sie will, dass Sie für immer aus ihrem Leben verschwinden.“

Eine Ehe, um das Anwesen der Alderworths zu behalten. Tay dachte an die Umrisse des Hauses unter dem Himmel von Bedfordshire, die goldschimmernden Steine im Schein der Sonne und Hunderte Morgen fruchtbaren grünen Ackerlandes unter seinen Füßen. Sein Vater hatte das Land aufgegeben, aber er konnte das nicht. Nicht einmal, wenn die Alternative bedeutete, dass er seine Seele verkaufen musste.

„Also gut.“ Seine Stimme klang heiser, und er fühlte, wie seine Ehre verloren ging, aber er wischte das Gefühl beiseite, als eine Feder in ein Tintenfass getaucht und ein Pergament vorbereitet wurde. Er war der einzige Alderworth, der vierhundert Jahre Geschichte retten konnte, und Lucinda Wellingham hasste ihn aus tiefstem Herzen.

4. KAPITEL

Lord Taylen Ellesmere, der sechste Duke of Alderworth, hatte das Aussehen eines Mannes, der einen besonders harten Boxkampf überstanden hatte, als Lucinda ihn zum ersten Mal am Ende des Ganges in der kleinen Kapelle von Londons Mayfair sah.

Er drehte sich nicht nach ihr um, sein Profil wirkte wie aus Granit gemeißelt. Das linke Handgelenk hatte er bandagiert, und über seine Wange verlief eine lang gezogene Wunde. Sein Gesicht war angespannt vor Zorn, den er kaum im Zaum halten konnte, wie sie es an seiner Haltung und seinen Bewegungen erkannte. Er trug das Haar kurz, beinahe kahl rasiert, und vom rechten Ohr bis weit über den Kopf reichte eine einzige weiße Narbe. Ein Auge war blau umrandet und geschwollen.

Selbst Asher wirkte ein wenig erschrocken über diesen Anblick, aber an diesem Punkt der Ereignisse gab es nicht viel, das er tun konnte.

Die Würfel waren endlich gefallen. Sie würde den Duke of Alderworth heiraten, um ihren Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen, und er würde sie heiraten, weil ihre Brüder ihn dazu gezwungen hatten. Sie hatte gesündigt, und das war nun die Folge davon. Liebe spielte dabei keine Rolle, und die leeren Bankreihen in der Kapelle zeigten das nur allzu deutlich. Auf ihrer Seite saßen ihre Brüder mit ihren Frauen und auch einige enge Freundinnen, aber auf seiner Seite – da gab es niemanden.

Lucinda überlegte, wer als sein Trauzeuge aufstehen würde, und die Frage wurde gleich darauf beantwortet, als Cristo sich neben ihn stellte. Ihr jüngster Bruder sah bei alledem genauso unglücklich aus wie Asher. Es war eine Pflicht, die aus einer Notwendigkeit heraus geschah und nicht aus Respekt.

Jede andere Hochzeit bei den Wellinghams war eine freudige Angelegenheit gewesen, mit Lachen, Lärm und Jubel. Diese Hochzeit aber war ernst, ruhig und freudlos. Sie fragte sich, wie lange der Duke of Alderworth wohl nach der Zeremonie noch in London bleiben würde und wie sie dann wohl seine Abwesenheit erklären sollte. Asher hatte gesagt, dass er noch etwa eine Woche in der Hauptstadt verweilen würde, sodass der Schein gewahrt werden konnte. Danach würden sie ihn mit Vergnügen nur noch von hinten sehen.

Ihr Bruder hatte das zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst, als wäre ein einziger Tag in der Gesellschaft ihres zukünftigen Ehemanns schon ein Tag zu viel.

Lucinda schluckte, um die Angst zu vertreiben. Dies war der schlimmste Fehler, den sie je begangen hatte, aber es war eine Folge ihrer eigenen Dummheit, jetzt hier zu stehen, und ihre ganze Familie war darin verwickelt. Am liebsten hätte sie den Strauß aus weißen Rosen und duftenden Gardenien weggeworfen und sich das elfenbeinfarbene Brautkleid, das noch schnell von einer von Londons aufstrebenden Modistinnen angefertigt worden war, vom Leib gerissen. Der Schleier half ihr, schirmte sie vor den Blicken der Welt ab und verbarg ihre Verwirrung. Vor einer Woche noch wäre sie nicht in der Lage gewesen, für so lange Zeit zu stehen oder zu gehen, aber an diesem Tag gelang es ihr, und die Anspannung hielt die Schmerzen in Grenzen.

Posy Tompkins stand mit ernster Miene neben ihr. Ihre Freundin war entsetzt gewesen von den Folgen ihrer unüberlegten Reise nach Alderworth und kümmerte sich seither reuevoll und aufmerksam um sie.

„Bist du sicher, dass du das hier wirklich tun willst, Lucy?“, flüsterte sie. „Wir können auch einfach nach Europa verschwinden. Ich habe mehr als genug Geld für uns beide. Wir könnten nach Rom oder Paris zu meinen Verwandten gehen.“

„Und für immer Ausgestoßene sein?“

„Das ist vielleicht besser als …“ Sie hielt inne, aber Lucinda wusste genau, was sie hatte sagen wollen.

Es war vielleicht besser, als mit einem Mann verheiratet zu sein, der so aussah, als ginge er zu seinem eigenen Begräbnis. Entschlossen hob sie den Kopf. Es war nicht so, dass sie über irgendetwas davon glücklich war, obwohl ein Teil von ihr, ganz tief unten, den Atem anhielt, als er sie aus seinen grünen Augen ansah. Das eine davon, das rot unterlaufen war, funkelte vor Zorn.

„Wir befinden uns im Jahr 1831, Lucy, nicht im Mittelalter. Wenn du das hier nicht willst, dann musst du es nur sagen. Niemand kann eine Braut, die das nicht tun will, vor den Altar zerren, nicht einmal dann, wenn die Alternative ein großer Skandal ist.“

„Ich glaube nicht, dass deine Worte hilfreich sind, Posy.“

„Dann lass mich das abbrechen. Ich könnte sagen, dass das alles mein Fehler war, denn ich habe dich nach Alderworth mitgenommen und zu diesem Kleid überredet und …“

Aber der Pfarrer hatte mit seiner tiefen, ruhigen Stimme zu sprechen begonnen, und Lucinda wusste, wenn sie die letzte Gelegenheit, ihren Ruf zu retten, einfach verstreichen ließ, dann würde sie das von einer Familie trennen, die ihr einfach alles bedeutete.

Sie hatte sich das schließlich selber zuzuschreiben, und ihr fiel beim besten Willen keine andere Lösung ein. Eine Hochzeitszeremonie. Eine Woche, in der sie so tun musste, als ob. Und dann die Freiheit. Wirklich, von nun an würde sie nie wieder vom Pfad der Tugend abweichen. Wenn Gott in seiner Weisheit ihr die Kraft verlieh, die nächsten Stunden zu überstehen, dann würde sie zum Dank dafür geloben, sich den Rest ihres Lebens guten Taten in seinem Namen zu widmen.

Als Tay einen raschen Blick auf seine zukünftige Frau warf, sah er, dass ihr Haar unter dem Schleier zu einer komplizierten Frisur geflochten und aufgesteckt war. Darin trug sie helle Rosenknospen. An diesem Tag erschien sie ihm kleiner, schmaler, weniger selbstsicher. Er nahm an, dass ihr die Lügen, die sie über sie beide erzählt hatte, hier vor dem Altar deutlicher zu Bewusstsein kamen und keine Basis waren für eine Verlobung. Er war froh über den Spitzenschleier vor ihrem Gesicht, so musste er ihre verräterischen Augen nicht früher sehen als unbedingt nötig. Allerdings überraschte ihn ihr Kleid. Er hatte geglaubt, sie würde sich keine Mühe damit geben, doch dieses Kleid stand ihr ausgezeichnet: üppige weiße Spitze umhüllte und betonte ihre Figur auf überaus attraktive Weise. Um ihr Handgelenk trug sie ein zierliches silbernes Armband, daran hingen vier kleine goldene Sterne.

Das ständige Geflüster mit der Brautjungfer ging ihm allmählich auf die Nerven, und er war froh, als der Pfarrer in seinen fließenden dunklen Gewändern die Anwesenden zur Ordnung rief.

Alle wirkten angespannt. Die Braut. Die Brüder. Selbst der Pfarrer, als er die Hand in Richtung des Organisten hob und um Ruhe bat.

„Eine Ehe ist ein Bündnis, das niemand leichtfertig eingehen sollte oder aufgrund von falschen Versprechungen. Möchten Sie, dass ich fortfahre, Lady Lucinda?“

Tay unterdrückte eine Bemerkung. Natürlich wollte sie das. Ein Grund war sein Titel, ein anderer ihr ruinierter Ruf. Er wünschte, der Mann würde alles andere überspringen und gleich zu dem endgültigen Schwur kommen – dann wäre endlich alles vorüber.

Aber das tat er nicht. Er wartete, bis die Braut, die vor ihm stand, nickte, wenn auch ohne Begeisterung. „Dann sind wir heute hier zusammengekommen, um diesen Mann und diese Frau im Heiligen Bund der Ehe …“

Für immer und ewig. An nichts anderes als das konnte Tay denken, als er die Fragen beantwortete, obwohl seine Eltern sich durch solche Versprechen niemals von ihrem hedonistischen Treiben hatten ablenken lassen. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sie ansatzweise verstehen, und ein Teil seiner Enttäuschung verschwand.

Doch jetzt war es zu spät dafür, denn es sah aus, als ob sein Leben denselben chaotischen Verlauf nehmen sollte wie jene, denen er es nie hatte gleichtun wollen. Er war schließlich der Sohn seines Vaters, und dies war die himmlische Strafe für das, was aus ihm geworden war. Der Gedanke beruhigte ihn, das Schicksal wählte Wege, die keine Erlösung erlaubten, und wäre es nicht dieses Ende, das ihn ereilt hätte, dann wäre es zweifellos ein anderes gewesen.

„Willst du, Taylen Andrew Templeton Ellesmere, Lucinda Alice Wellingham als dein dir gesetzlich angetrautes Eheweib …“

Die Worte schreckten ihn aus seinen Gedanken. Ihr zweiter Vorname war Alice, und das passte zu ihr. Sanft, zart, wie aus einer anderen Welt.

„Ja, ich will.“

Resignation überwältigte ihn beinahe.

Als Lucinda Wellingham ihr Jawort gab, zitterte ihre Stimme – eine leise Stimme in diesem Gotteshaus, in dem es keine Freude gab.

Und dann war es endlich vorbei.

Da es so von ihm erwartet wurde, drehte er sich zu ihr um und hob langsam den Schleier. In seiner Kindheit war die Kirche für ihn ein Zufluchtsort gewesen, und trotz allem, was aus ihm geworden war, glaubte er noch immer an die Kraft der Religion. Die Frau, die jetzt vor ihm stand, war so ganz anders als die lachende, mutige Frau, die er in seinem Schlafzimmer getroffen hatte. Dieses Mädchen hatte dunkle Ringe unter den Augen und rote Flecke auf den Wangen. Ihre Augen waren ausdruckslos, und es lag kein Funkeln darin. Die Wunde an ihrem Kopf, die von dem Unfall herrührte, war noch immer sichtbar, und sie war bleich vor Erschöpfung.

Sie wirkte genauso verletzt wie er. Zwei Opfer der äußeren Umstände und gesellschaftlichen Zwänge.

Er ertappte sich dabei, die Hand zu heben, um ihre Wunde zu berühren, und hielt inne. Es war nur eine Heirat, um den Schein zu wahren, und die Wellinghams hatten ihm das deutlich klargemacht. Eine Woche oder zwei, höchstens, und dann sollte er für immer verschwinden. Ihre Brüder hatten gesagt, dass sie es auch so wünschte … seine Braut, die nach all den Lügen, die sie erzählt hatte, nicht einmal so tun wollte, als wäre sie mit ihm zusammen. Sie wollte durch die Hochzeit nur bewirken, dass der Ruf ihrer Familie keinen Schaden erlitt. Mehr nicht.

Eine Farce. Eine Scharade. Die beschämende Parodie von etwas, das etwas Gutes sein sollte. Himmel, die Vorstellung, dass es, um zu überleben, legitim war, sich so unmoralisch zu verhalten, wenn man das gewünschte Ziel anders nicht erreichen konnte, machte ihn traurig und unzufrieden.

Derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, ruiniert seine Existenz viel eher, als dass er sie erhält. So formulierte es Machiavelli.

Die Erinnerung daran brachte ihn zurück zu jener Nacht, da sie unaufgefordert in sein Zimmer getreten war, mit gerötetem Gesicht und dem tief ausgeschnittenen roten Kleid.

Tay wünschte, Lucinda Wellingham würde wieder seine Hand nehmen und sie festhalten, wie sie es in Alderworth getan hatte, ihre Finger mit seinen verwoben, als wüsste sie Dinge über ihn, die sonst niemand wusste. Er schüttelte den Kopf bei diesem Unsinn, und gerade in diesem Augenblick sah sie ihm direkt ins Gesicht, suchte seinen Blick, und die Lügen, die zwischen ihnen standen, bildeten unüberwindliche Hindernisse.

„Es ist sicher nicht leicht, eine ruinierte Braut zu sein.“ Bei seinen Worten zuckte sie zusammen, doch er nahm sie nicht zurück. Er wünschte sich, dass es unter den Versammelten nur einen einzigen Menschen gegeben hätte, der froh über seine Anwesenheit hier war. Aber dem war nicht so. Die Frauen der Wellinghams hatten Lucinda an sich gedrückt und ihm aus zusammengekniffenen Augen scharfe Blicke zugeworfen – ein bitterer Waffenstillstand, die weiße Flagge wehte über seinem Blut und seinen Wunden. Wäre er jetzt aus irgendeinem geheimnisvollen Grund tot umgefallen, so wäre vermutlich ein Fest gefeiert worden.

Nie zuvor hatte er sich irgendwo so unwillkommen gefühlt.

Als Taylen Ellesmere den Kopf schüttelte, wandte Lucinda sich ab, denn die Tränen, die ihr in den Augen brannten, drohten überzufließen. Er wirkte nicht so, als bedauerte er etwas oder wollte sich entschuldigen. Er wirkte ungerührt und gleichgültig. Dieser Mann, der sie mit teurem roten Wein und ohne Rücksicht auf ihre Unschuld verdorben hatte, unternahm auch jetzt keinen Versuch, sich für dieses armselige Verhalten zu entschuldigen.

Die ruinierte Braut, das war sie in der Tat. Er war jetzt ihr Ehemann. Dieser Wüstling, dieser unmoralische Frauenheld.

Sie war ruiniert, und sie konnte sich an nichts davon erinnern. Ein Meister in dieser Kunst hatte ihr die Unschuld geraubt, und sie wusste nicht mehr das Geringste davon. Ihre Brüder standen um sie herum wie eine Wand, unterstützt von ihren Schwägerinnen.

Alderworth hatte sich bei ihnen nicht entschuldigt. Stattdessen hatte er ihnen ins Gesicht gelacht und gesagt, dass sie alle nur dem freien Willen unterstanden.

Der freie Wille, sich eine Jungfrau zu rauben und sie unter dem Einfluss von starkem Wein zu entehren. Der freie Wille, sie in sein Bett zu holen und nichts zu tun, um das Gerede zu unterbinden, das in der feinen Gesellschaft kursierte.

Lucinda Wellingham, die Dirne.

Sie war froh, dass Posy Tompkins sich ebenfalls neben sie gedrängt hatte, denn die Freundin vermochte es, in dieser schrecklichen Hochzeit noch etwas Gutes zu sehen.

„Von nun an wirst du frei sein, Lucy. Eine verheiratete Frau hat so viel mehr Möglichkeiten.“

„Ich glaube kaum, dass jemals wieder eine Einladung auf meinem Kaminsims stehen wird, Posy.“

„Dann werden wir unsere eigenen Soireen veranstalten, kulturelle Gesellschaften, über die in der ganzen Stadt geredet wird.“

„Wie bei Mätressen?“ Lucinda gelang es nicht, den beißenden Unterton zu vermeiden, ganz plötzlich erschien ihr alles bedeutungslos und leer. Posy hatte keine Ahnung von den Verträgen, in denen die Regeln dieser Ehe festgelegt waren. Sie hatte es ihr nicht erzählt.

„Taylen Ellesmere hat einen Titel und sieht gut aus. Viele Frauen werden dich um so einen Ehemann beneiden. Glaube mir, sei dankbar, dass er nicht alt und grau ist! Außerdem hat er noch alle Zähne und keinen schlechten Atem.“

Gegen ihren Willen musste Lucinda lächeln. Posy gelang es letztendlich doch immer, sie aufzumuntern. Sie nahm die Hand ihrer Freundin und drückte sie. Der Bund war geschlossen, es war geschehen. Von nun an führte der Weg nur noch aufwärts, und Lucinda schwor sich, ihr Leben nie wieder von so einer schrecklichen Lüge beeinflussen zu lassen, wenn sie dies alles erst hinter sich gebracht hatte.

„Das Hochzeitsfrühstück ist angerichtet, Lucy. Asher lässt fragen, ob du jetzt kommen könntest, damit wir – damit wir all dies hier endlich abschließen können.“ Beatrice sprach leise, sodass niemand ihnen zuhören konnte. Die Wellinghams konnten die Katastrophe abwenden, aber sie wollten nicht, dass irgendjemand etwas davon mitbekam. Die etwa zwanzig Gäste, die nicht zur Familie gehörten, aber eine enge Verbindung zu ihnen hatten, lächelten sie freundlich an.

Sie waren eingeladen worden, damit diese Farce einen Anschein von Legitimität erhielt. Ihre Brüder wussten, was als Nächstes geschehen konnte, und hatten ihr wenigstens ihren guten Namen zurückgegeben. Doch von nun an würde man ihr nur noch Mitleid entgegenbringen … die Braut, die von einem Mann verlassen wurde, der sie nie geliebt hatte.

Beatrice, Taris und Asher bahnten sich ihren Weg durch den Raum und führten die Gruppe in den Blauen Salon. Wenn sie sich zuvor gefragt hatte, wie ihre Brüder diese Angelegenheit wohl kontrollieren wollten, so erkannte sie jetzt das gesamte Ausmaß ihres Tuns. Die Tische waren üppig gedeckt, mit dem feinsten Porzellan und mit Silberbesteck. Aus dem Weinkeller hatte man französischen Wein bringen lassen. Keine Beschränkungen, um dem Klatsch keine Nahrung zu geben. Keine Fehler, die die geladenen Gäste ins Grübeln brachten. Niemand sollte ahnen, dass hinter dem höflichen Geplauder eine dunkle Wahrheit lauerte

Taylen Ellesmere saß neben ihr, seine Nähe ließ sie erzittern, doch wenn er sie aus seinen grünen Augen ansah, dann fühlte sie sich – wie benommen, verwirrt.

Etwas wie Besorgnis mengte sich unter ihren Unmut, ein seltsames Gefühl in diesem Raum, in dem die Atmosphäre so angespannt war. Sein blaues Auge war geschwollen, und in seiner Unterlippe war ein Riss, der ihr vorher nicht aufgefallen war. Trotz alledem war seine Schönheit noch zu erkennen. Er sah nicht einfach nur gut aus – er war ein Prachtexemplar von einem Mann.

Ein wenig angespannt zupfte sie an dem langen Schleier, ein Teil des Carisbrook-Erbes, der hauchfein im Sonnenlicht schimmerte. Sie fühlte sich, als hätte ihr ein heftiger Schlag in die Magengrube den Atem geraubt, denn plötzlich überkam sie eine Vorahnung.

Ihr Mann war nicht durch und durch schlecht. Es ruhte etwas Gutes in ihm, das bisher noch niemand entdeckt hatte.

Sie wusste das so sicher, wie sie wusste, dass die Nacht auf den Tag folgte, obwohl an seiner linken Hand neben dem Ehering noch andere Ringe funkelten – vielleicht Erinnerungsstücke an die Liebe einer anderen Frau, der einst sein Herz gehört hatte, bis ihre Brüder ihn gezwungen hatten, sie zu heiraten? Schließlich war sein Name immer im Zusammenhang mit Liebesaffären genannt worden. Gab es eine, von der er wünschte, sie würde hier an ihrer Stelle stehen?

Ihre Wangen begannen zu brennen und zu jucken – wie immer, wenn sie böse Ahnungen überfielen. Die Vorstellung, dass ihr guter Name durch diese Heirat wiederhergestellt werden könnte, erschien ihr auf einmal lächerlich und falsch. Sie wünschte, ihr würde nicht so heiß werden von seiner bloßen Nähe. Die Gelassenheit, nach der sie strebte, war unerreichbar, solange sie sich seiner Gegenwart so bewusst war.

„Bei dem Unfall mit der Kutsche wurden wir beide verletzt? Man hat mir gesagt, ich hätte Glück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein, denn hätte ich mich nur ein bisschen bewegt, wäre alles noch schlimmer geworden, sodass ich vielleicht nie mehr hätte laufen können oder sprechen, und Doktor Cameron hat gesagt, dass …“

Er hob eine Hand, und sie hielt inne. „Sind Sie nervös?“

Lucinda fühlte, wir ihr das Blut in die Wangen stieg, und hob eine Hand an ihr Gesicht.

„Warum sagen Sie das?“

„Weil Sie mir anvertraut haben, dass Sie zu viel reden, wenn Sie aufgeregt sind.“

Sie starrte ihn an.

So ein persönliches Bekenntnis, noch dazu etwas, das sie noch nie jemandem erzählt hatte. Selten teilte sie ihre Geheimnisse mit jemandem, behielt sie stattdessen für sich, sodass niemand darüber urteilen oder sie weitertratschen konnte. Wann und aus welchem Grund hatte sie ihm das erzählt? Vielleicht hatte der Wein ihre Zunge gelöst? Die Tatsache, dass sie sich an nichts erinnern konnte, war ärgerlich und besorgniserregend.

„Sicher erinnern Sie sich daran. Das war, kurz bevor ich Sie küsste.“

Sollte sie ihm sagen, dass sie sich an fast nichts von der Zeit erinnerte, die sie gemeinsam in seinem Zimmer verbracht hatten?

Seine Nacktheit. Der Wein. Sein Mund an ihrer Brust. Ihre Brustspitzen, die sich vor Erregung aufrichteten …

Das war neu. Sie hob den Kopf und versuchte, sich an mehr zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Doch jetzt war sie entschlossener. Er hatte ihr ohne ihr Einverständnis die Unschuld geraubt, und dafür würde er jetzt bezahlen.

Die Gesetze waren dafür da, die Unschuldigen zu beschützen, und jeder Lord in seiner Position war dazu erzogen worden, diese Regeln zu beachten. Moral verhinderte Chaos. Wenn Regeln gebrochen wurden, dann war dies die Folge: eine überstürzte Heirat zwischen Fremden, eine Ehe, die nur von den dünnen Bändern der Zweckmäßigkeit zusammengehalten wurde.

„Es war dumm, überhaupt in Ihr Haus zu kommen, Euer Gnaden, und noch dümmer zu bleiben. Dies ist meine Strafe.“ Sie sprach sachlich, förmlich, als führte sie nur eine höfliche Konversation. Als sie sich vorbeugte, konnte sie ihr Spiegelbild in einer schimmernden Silberplatte betrachten. Die Haut an ihren Wangen sah schlechter aus als noch vor ein paar Stunden, als sie ihr Zimmer verlassen hatte. Sie glaubte nicht, je zuvor so schrecklich ausgesehen zu haben, und das schöne Gesicht ihres Bräutigams machte das alles noch peinlicher. Diese Gefühle waren oberflächlich, das wusste sie, aber in ihren Mädchenträumen hatte sie sich nie vorgestellt, in so einem Zustand auf ihrer eigenen Hochzeit zu erscheinen.

Lord Fergusson erschien hinter ihnen und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter. „Wenn Sie eine solche Ehe führen, wie ich sie für dreiundvierzig Jahre hatte, dann können Sie sich glücklich schätzen.“ Liebevoll sah er sie aus seinen alten Augen an.

Ellesmere blickte zu ihr hinüber. Antworte darauf, was du willst, schien er zu sagen, doch sein Unmut war spürbar.

„Das stimmt, Lord Fergusson“, erwiderte sie und dachte an Mary-Rose, seine schöne Frau, die im letzten Sommer ganz plötzlich verstorben war.

„Aber darf ich Ihnen einen guten Rat geben? Sie bekommen von einer Ehe zurück, was Sie hinein investieren, und Absprachen sind das Öl, das das Getriebe geschmeidig hält.“

„Dann sollte das bei uns kein Problem sein, bei all den Absprachen, die wir haben“, bemerkte Alderworth.

Er hatte die Bedeutung des Wortes Absprache geändert, aber das verstand Lord Fergusson nicht. Ihr frisch gebackener Gemahl hatte die Hände in den Schoß gelegt. Und zu Fäusten geballt. Er war nicht annähernd so gleichgültig, wie er sich den Anschein gab. Und ihr fiel noch etwas anderes auf. Seine Fingerknöchel waren aufgeschrammt, als hätte er erst kürzlich einen Faustkampf absolviert. Hatte er daher das blaue Auge und den Riss an der Wange? Himmel, bitte mach, dass es nicht meine Brüder waren, die ihn geschlagen haben.

„Ich kannte Ihren Onkel, Duke.“ Das kam nur zögernd. „Den Earl of Sutton.“

„Das ist bedauerlich für Sie.“ Der Tonfall ihres Bräutigams war eiskalt, und Lord Fergusson ging so rasch fort, wie er gekommen war. Die Stirn hatte er dabei gerunzelt.

„Er ist ein alter Mann, der Ihnen nicht schaden will, Euer Gnaden, und er hat erst kürzlich seine Frau verloren. Außerdem ist dies eine Hochzeit, und die Leute erwarten …“

Er unterbrach sie. „Was erwarten Sie, Lucinda? Das zwischen uns ist eine lächerliche Farce. Die Inszenierung einer Hochzeit und die Vortäuschung eines glücklichen Ehelebens. Und jetzt wollen Sie, dass ich wegen meines grässlichen Onkels lüge, der sich niemals Kindern hätte nähern dürfen, gar nicht zu reden davon, dass …“ Ganz plötzlich verstummte er, und in seinen grünen Augen schienen sich endlose Qualen wiederzuspiegeln. Der echte Taylen Ellesmere, den es hinter all dem, was er der Welt von seinem Leben zeigte, noch gab, war plötzlich zu erkennen, mit all seinem Schmerz.

„Sie sprechen von sich selbst als Kind? Dieser Onkel, der Earl of Sutton, war er Ihr Vormund?“

Sie sah das Entsetzen in seinen Augen, dann aber verbarg er seine Gefühle schnell und verwandelte sich wieder in den unerschütterlichen, verwegenen Duke.

„Genießen Sie diesen Tag, meine liebe Gemahlin, denn allzu viel Zeit werden wir nicht miteinander verbringen.“

Damit stand er auf und ging aus dem Zimmer.

5. KAPITEL

Himmel, sie wusste es! Lucinda Alice Ellesmere erriet seine Geheimnisse so mühelos, als hätte er sie für sie aufgeschrieben, eine schmutzige Tatsache nach der anderen.

Er hätte schweigen sollen, aber er hatte sich geärgert über den alten Mann und seine sinnlosen Träume, und dieser Ärger hatte ihn veranlasst, an seine eigenen Hoffnungen zu denken, als seine Mutter und sein Vater unaufhörlich miteinander gestritten hatten, ohne auf ihr kleines Kind zu achten, das jedes Wort der endlosen Beleidigungen und Boshaftigkeiten gehört hatte. Er hatte sich vorgenommen, niemals zu heiraten, und doch stand er jetzt hier, gekettet an eine fremde Familie, der nichts lieber wäre, als ihn tot und begraben zu sehen.

„Wenn Sie es sich jetzt anders überlegen, bekommen Sie keinen Penny, Alderworth.“ Cristo Wellingham trat zu ihm. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war leer. Unerwarteterweise zog Lucindas jüngster Bruder eine Zigarre hervor. „Sie sehen aus wie ein Mann, der eine brauchen könnte“, sagte er, bot ihm Feuer an und wartete, während Tay den ersten Zug nahm. Der Rauch stieg zur Decke hoch, ein weißer Schleier, der sich ausbreitete und verschwand. Tay wünschte, er könnte sich ebenso mühelos in Luft auflösen, schloss für einen Moment die Augen, lehnte sich an die Wand und genoss die erste Wirkung des Tabaks.

„Ich freue mich auf den Tag, an dem Ihre Schwester so große Schuldgefühle wegen ihrer Lügen hegt, dass sie wieder zur Vernunft kommt.“ Die Erschöpfung in seiner Stimme war deutlich hörbar, aber es war ein anstrengender Tag gewesen, und er war es müde, so zu tun, als ob es ihm gut ginge.

„Das wird der Tag sein, an dem Sie vermutlich das, was von Ihrem Blutgeld noch übrig ist, sinnlos verschwenden. Hoffentlich denken Sie dann dennoch an all das Übel, das sie einer Unschuldigen zugefügt haben, und fragen sich, wie das passieren konnte.“

„Haben Sie sich nicht ein wenig an den Reizen Ihrer Frau erfreut, ehe Sie sie geheiratet haben?“

Als Antwort auf diese Frage erhielt er nur Schweigen, daher fuhr er fort. „Ich habe Ihre Schwester geküsst und sie dann nach Hause bringen wollen. Das war alles. Wenn Sie etwas anderes behauptet, dann lügt sie.“

„Bei Ihrem schlechten Ruf sollte es Sie nicht überraschen, wenn Ihnen nichts von dem geglaubt wird, was Sie sagen.“

„Dann erlauben Sie mir eine Bitte, Lord Cristo. Informieren Sie mich darüber, wie es Ihrer Schwester geht, wenn ich fort bin.“

„Warum sollten Sie das wünschen? Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass eine ausreichende Bezahlung Ihnen genügt.“ Er trat zurück. „Mehr wird es nicht geben, ganz egal, was Sie sagen.“

„Sie werden also immer auf sie aufpassen?“ Tay hatte diese Frage gar nicht stellen wollen, sie war ihm einfach so entschlüpft, weil sie ihn beschäftigte. Es war das letzte Versprechen, das er sich vielleicht noch erbitten konnte, ehe er fortging.

„Besser, als Sie es getan haben“, kam die Antwort, aber in Cristo Wellinghams dunklen Augen lag jetzt etwas wie Erstaunen. Taylen nutzte das zu seinem Vorteil aus und ergänzte: „Wenn ich schreibe, geben Sie ihr dann meine Briefe?“

„Ja.“ Es war nur eine knappe, schroffe Antwort, aber sie war ehrlich. Als Lucindas Bruder sich umwandte und davonschritt, war Tay froh, dass ihm wenigstens diese eine kleine Hoffnung auf Kontakt blieb.

Lucinda fühlte sich erschöpft von all dem Lächeln und den guten Wünschen, die so voll ehrlicher Herzlichkeit ausgesprochen worden waren, dass der Skandal, der hinter dieser Heirat steckte, fast in Vergessenheit geriet. Eine solche Verbindung verhinderte das Chaos in dieser vollkommen geregelten Welt. Ein Verstoß, der verschleiert wurde, ein Unrecht, das korrigiert wurde. Ein glückliches Ende für einen alles andere als glücklichen Anfang.

Es hatte sie überrascht, dass der Duke während der letzten zwanzig Minuten neben ihr gestanden hatte. Sein Verhalten gegenüber den Gästen stand in völligem Gegensatz zu seinem vorgegebenen Desinteresse an der feinen Gesellschaft. Vielleicht hatte auch er endlich eingesehen, dass dieses So-tun-als-ob ein gutes Stück Freiheit bedeutete. Als er sie mit seinem Arm berührte, wurde ihr heiß, sie war wie elektrisiert, und ihr stockte der Atem, so bewusst wurde sie sich wieder seiner Gegenwart, wie es ihr noch mit niemandem sonst passiert war.

Wenn sie sich doch nur daran erinnern konnte, wie die Nacht in seinem Bett gewesen war! Bei dem Gedanken daran runzelte sie die Stirn, denn sie spürte, dass ihr irgendetwas Wichtiges entfallen war.

„Sie wirken besorgt.“ Alderworth nutzte eine Lücke in der Reihe der Gratulanten, um sie anzusprechen.

„Es sieht aus, als wären die Leute trotz Ihres Rufes geneigt, Ihnen eine zweite Chance einzuräumen. Ich fragte mich, warum.“

„Vielleicht liegt es daran, dass Sie meine Braut sind, eine Tochter der Wellinghams, die ihren guten Namen mit meinem übel beleumundeten verbindet.“

„Nein. Es ist mehr als das. Die Menschen bringen Ihnen einen gewissen Respekt entgegen, was interessant ist.“

„Wachsamkeit wäre ein treffenderer Ausdruck.“ Zu ihrer Überraschung lächelte er sie an, seine grünen Augen bekamen einen goldenen Glanz, und mit seiner vom vielen Aufenthalt an der frischen Luft gebräunten Haut und dem so kurzen dunklen Haar sah er … beeindruckend aus. Ihre Brüder waren gut aussehend, aber der Duke besaß eine unvergleichliche Schönheit, die ihn von jedem anderen Mann unterschied, den Lucinda je gesehen hatte.

Aufgrund dieser Erkenntnis brachte sie kein Wort heraus.

„Ein Stirnrunzeln passt nicht so gut zu Ihnen wie ein Lachen“, meinte er.

„In der letzten Zeit hatte ich nicht oft Grund zum Lachen.“

„Das tut mir leid.“

„Tatsächlich?“ Selbst hier, unter all diesen Freunden der Familie, konnte sie sich diese Frage nicht verkneifen.

Sie beobachtete, wie er sich umsah, um zu überprüfen, ob jemand zuhören konnte, ehe er antwortete.

„Ich habe meine ganze Kindheit lang mit Lügen gelebt, Duchess, und ich will so etwas nicht unterstützen. Wenn Sie auf dieser Scheinheiligkeit bestehen, dann ist das Ihr gutes Recht, aber ich werde das niemals verstehen.“

Lucinda trat einen Schritt zurück, einmal, weil er ihren neuen Titel verwendet hatte, und dann, weil sie nicht mit seinem Zorn gerechnet hatte. Wieder sah sie in Gedanken die Szene vor sich, an die sie sich vor einer Woche beim Frühstück erinnert hatte.

Seine Nacktheit, der rote Wein, seine warme Haut an ihrem Körper. Die Tür abgeschlossen und der Schlüssel versteckt. Keine Möglichkeit, einfach zu gehen.

„London ist die Hauptstadt des Klatsch und Tratsch, Duke. Und wegen dem, was Sie getan haben, wurde mein Name überall in den Schmutz gezogen.“

„Dann haben Sie Ihren guten Ruf für nichts verloren.“

Lucinda erbleichte. Sprach er so herablassend von ihrer Unschuld? Sie war froh, dass ihre Brüder nicht in der Nähe waren, um das zu hören.

„Für nichts?“ Sie konnte die Frage kaum aussprechen. „Sie sind abscheulich, Euer Gnaden, in außergewöhnlichem Maße! Den Rest meines Lebens werde ich das Schicksal bedauern, das uns in Alderworth zusammengeführt hat. Bitter bedauern!“ Jetzt lag keine Spur von Höflichkeit mehr in ihrem Tonfall.

Er besaß die Dreistigkeit zu lächeln. „Dann ist es eine Schande, dass Sie unseren gemeinsamen Abend nicht in vollem Umfange genutzt haben. Es wäre besser gewesen, eine Nacht in meinem Bett zu genießen und alles zu lernen, was Sie über die Kunst der Liebe wissen sollten, als die Nichtigkeit zu bedauern, für die Sie hier ans Kreuz geschlagen wurden.“

Entsetzt machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen. Es war ihr egal, wer sie davonlaufen sah. Er verachtete sie für ihre armseligen Liebeskünste im Bett, und sie konnte sich nicht einmal daran erinnern. Ihr Herz schlug schneller vor Zorn, und sie ärgerte sich, weil sie so sichtlich hinkte.

„Geht es dir gut, Lucinda?“ Emerald fing sie ab, ehe sie die Tür erreichen konnte.

„Sehr gut.“ Nicht einmal gegenüber ihrer geliebten Schwägerin konnte sie ihn anklagen, und sie verstand nicht einmal, wieso nicht.

„Alderworth wird fort sein, ehe die Woche zu Ende ist, und du wirst ihn nie wiedersehen müssen.“

Ganz plötzlich erfasste sie, wie absurd diese Erklärung war, und sie sah plötzlich ihr Leben vor sich, wie es nach diesem Tag sein würde. War sie dazu bestimmt, auf ewig allein zu bleiben, ohne Ehe und ohne Kinder? Würde sie jetzt am Rande der Gesellschaft leben, zusammen mit den unglücklichen alten Jungfern, deren Liebe unerwidert geblieben war oder die die Liebe nie gekannt hatten? Nicht ruiniert, aber gescheitert, weil sie sich nicht den normalen Konventionen hatte anpassen können?

Der Kopfschmerz, der sie schon den ganzen Tag über geplagt hatte, machte sich nun heftiger bemerkbar und verschleierte ihren Blick. Eine Migräne. Seit dem Unfall hatte sie häufiger solche Anfälle.

Emerald verstand ihr Leid, nahm ihre Hand und führte sie hinaus, die Treppen hinauf zu ihrem alten Kinderzimmer. Ein Zufluchtsort. Ein Versteck.

Behutsam half Emerald ihr beim Auskleiden und löste die Nadeln aus ihrem Haar, sodass es ihr bis zur Taille fiel. Das Gewicht regte das Pochen in ihren Schläfen noch weiter an.

„Die Ehe hat alles nur noch schlimmer gemacht, Emmie.“ Der Ring, den Alderworth ihr geschenkt hatte, schimmerte an ihrem Finger, und sie betrachtete ihn. Ein Rubin mit weißem Gold. Unerwartet geschmackvoll. „Vorher war nur mein Ruf beschmutzt, jetzt ist es mein ganzes Leben.“

„Wenn dir der Kopf nicht mehr so wehtut und du merkst, dass du wieder all die Dinge tun kannst, die dir Spaß machen, wird die Welt wieder rosiger aussehen.“

„Als Witwe? Oder als Ehefrau? Als alte Jungfer, auf ewig dazu verdammt, in einer Ecke zu sitzen und auf den Mann zu warten, der fortgegangen ist?“

„Du meinst, du willst nicht, dass er verschwindet?“ Die Stimme ihrer Schwägerin klang scharf.

„Nein.“ Heftig schüttelte Lucinda den Kopf und dachte daran, wie abschätzig Taylen Ellesmere sich über das geäußert hatte, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Sie erinnerte sich auch daran, wie wundervoll prickelnd es sich angefühlt hatte, als ihre Arme sich berührt hatten.

Ärgerlich schüttelte sie den Gedanken ab. Ihr Ehemann sah in ihr eine Frau, die Mitleid verdiente, ein armes Mädchen, das nur auf Anstand bedacht war und sich dabei viel zu sehr verkrampfte, anstatt die sinnlichen Freuden des Lebens zu genießen.

Sie würden einander Unglück bringen. So einfach war das. Lucinda wollte nichts anderes als zwischen kühlen Leinentüchern liegen, wollte die Welt vergessen und träumen von Dingen, die weit entfernt waren … von der Wirklichkeit, in der sie die Braut eines Mannes war, der noch kein einziges freundliches Wort an sie gerichtet hatte, an diesem Albtraum von einem Hochzeitstag.

Die ruinierte Braut. Genau das war sie.

„Lucinda ist mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen und wird der Familie heute Abend nicht mehr Gesellschaft leisten. Wenn ich sage, dass Sie von Ihnen enttäuscht ist, wäre das noch harmlos ausgedrückt.“

Asher Wellingham stand vor Tay, in der Hand ein recht großes Glas mit Brandy. Ihm bot er keines an. Taris Wellingham lehnte an einem Fenster am anderen Ende der Bibliothek. Als Verstärkung, wie Taylen annahm. Die Schweigsamkeit des mittleren Bruders wirkte so beunruhigend wie immer.

„Man wird Ihnen ein Zimmer in diesem Haus geben, Alderworth, um alle Gerüchte zu ersticken. Dann werden Sie Lucinda morgen Abend auf den Ball der Parkinsons begleiten. Die Duchess und ich werden ebenfalls dort sein, um sicherzugehen, dass Sie die Rolle des verliebten und hingebungsvollen Bräutigams auch wirklich überzeugend spielen.“

„Also noch eine Inszenierung. Allerdings verstehe ich noch nicht, wie Sie mit den rechtlichen Umständen unserer Ehe in Zukunft umgehen wollen. Eine Ehe besteht gewöhnlich für immer.“

„Der Tod hebt sie auf.“ Die Worte wurden ohne jedes Gefühl gesprochen, und Tay sah ihm in die Augen.

„Sie drohen mir?“

„Ich bin das Oberhaupt einer Familie, die versucht, eine schamlose Nötigung zu verbergen, um ihr Ansehen zu retten.“

„Nötigung? Ich habe Ihre Schwester einmal geküsst und sie dann in die Kutsche gesetzt, um sie nach Hause zu bringen. Ein Unfall hinderte uns daran, das Stadthaus zu erreichen. Was daran war Nötigung?“

„Ich neige eher dazu, die Version meiner Schwester zu glauben.“

„Ach, die erlogene Version, wie ich die Situation schamlos ausgenutzt und eine unschuldige Jungfrau geschändet habe?“ Tay konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen, und der Duke of Carisbrook runzelte die Stirn.

„Wenn ich nur die Andeutung eines Gerüchts höre, dass Sie etwas anderes behaupten, dann werde ich verbreiten, dass Sie Geld von uns verlangt haben. Ich könnte sie als geldgierigen Erpresser darstellen und darüber jammern, dass sie nicht einmal an das Schicksal Ihrer armen, unschuldigen Braut gedacht haben.“

„Mit dieser Lüge würden Sie mich also aus London vertreiben und damit Lucinda zu einem Leben als Nonne verdammen?“

„Lieber eine Nonne als die Dirne, zu der Sie sie gemacht haben.“

„Besser als ein Mädchen, das Geschichten erfindet, um mir eine Falle zu stellen?“ Tay hatte es satt, wie auf Zehenspitzen um die Angelegenheit herumzuschleichen, und zog nun die Samthandschuhe aus.

Die Miene seines Gegenübers verfinsterte sich. „Sie sind nur zufällig in unser Leben getreten, Alderworth, und genauso schnell können Sie wieder daraus verschwinden.

„Noch mehr Drohungen?“

Taylen wandte sich ab von Asher Wellingham und holte tief Luft. Dann würde er sich eben wie ein Feigling benehmen und sehen, was als Nächstes geschah. Er hatte genug von Kopfschmerzen und Warnungen, so wie von Lügen. Dies war seine Hochzeitsnacht, und die einzige, die er vermutlich je haben würde, nach diesen lächerlichen Regeln, und er stand nur hier und tauschte mit seinem … seinem neuen Schwager Beleidigungen aus. Bei dem Gedanken wurde ihm übel.

In dieser Nacht konnte er keine Verbesserungen erlangen, nicht hier, wo Anspannung, Misstrauen und Zorn jedes Wort zwischen ihnen begleiteten. Besser, er wartete bis zum Morgen. Dann würde er das Gespräch mit seiner Braut führen, welches längst überfällig war.

„Ich werde jetzt in mein eigenes Haus hinübergehen, und wenn Sie mich nicht bewusstlos schlagen und an ein Bett hier fesseln wollen, dann werden Sie nichts tun können, um mich aufzuhalten. Morgen Nachmittag werde ich zurückkommen und darauf hoffen, dass sich Ihre Schwester wohl genug fühlen wird, um sich mit mir zusammenzusetzen und ein vernünftiges Gespräch zu führen. Sorgen Sie dafür, dass sie hier ist, Carisbrook.“

Als die Tür zuschlug und Alderworths Schritte leiser wurden, erhob sich Taris. „In seiner Stimme liegt etwas, das mir Sorgen bereitet, Ashe.“

„Wie das?“

„Er scheint tatsächlich der Meinung zu sein, dass er unschuldig ist.“

„Sich seine Schuld einzugestehen, ist niemals so einfach. Und bei ihm ist es noch komplizierter als bei anderen.“

Taris trank sein Glas leer. „Emerald sagt, dass Lucy ihn nie wiedersehen will.“

„Das könnte schwierig werden in Anbetracht der Tatsache, dass sie soeben geheiratet haben und ihm eine Woche mit ihr versprochen wurde.“

„Wir könnten ihn loswerden, wenn wir London bei Tagesanbruch verlassen und irgendwo hinreisen, wo er uns nicht finden kann. Ich denke, beide Seiten brauchen ein wenig Zeit, um auf sich wirken zu lassen, was geschehen ist, und dann eine Lösung zu finden. Ich glaube nicht, dass er deswegen einen Aufstand machen würde, solange die Drohung, ihm das Geld wieder wegzunehmen, im Raum schwebt.“

Sie überlegten hin und her, während das Feuer zuckende Schatten an die Decke warf. Ein sauberer Bruch würde dafür sorgen, dass Lucinda in Sicherheit war, und würde außerdem die Wogen glätten, bis sie eine andere Lösung für den Schlamassel gefunden hatten. Der starke Brandy in ihren Gläsern sorgte nach dem anstrengenden Tag dafür, dass sie sich etwas entspannten und nachdenklich wurden.

Sie hatten immer auf ihre kleine Schwester aufgepasst, sie aus dieser und jener unglücklichen Lage befreit, Aufsehen vermieden und Gerede erstickt. Immer. Bis jetzt.

„Haben wir einen Fehler begangen, als wir auf diese verdammte Heirat bestanden? Was meinst du?“ Asher klang ernst. Der Alkohol und die widersprüchlichen Gefühle schürten Zweifel in ihm.

„Es ist zu spät für Bedenken.“ Taris fluchte, und seine Stimme hallte in der Bibliothek wider. „Wir haben getan, was wir konnten. Es ist höchste Zeit, dass Lucy anfängt zu begreifen, welche Konsequenzen ihre Fehltritte für sie haben.“

„Eine davon könnte Einsamkeit sein.“

„Ja, vielleicht. Aber das wäre besser, als an einen Mann gekettet zu sein, den sie verachtet! Dessen bin ich mir sicher. Wenn wir alles richtig machen, wird er bald fort sein, und sie kann ein neues Leben beginnen. Diese unglücklichen Verbindungen werden jeden Tag geschlossen, aber mit etwas Geschick können sie so aussehen, als wären sie ganz anders, als sie es tatsächlich sind.“

„Harmonisch?“ Seine Stimme klang spöttisch.

„Das vielleicht nicht. Aber für beide Seiten zufriedenstellend. Lucinda erhält ihre Freiheit und Alderworth sein Geld. Das immerhin ist besser als der Ruin.“

6. KAPITEL

Jemand schüttelte sie wach, beharrlich und unnachgiebig.

„Komm, Lucy, du musst aufstehen. Asher will, dass wir London bis Tagesanbruch verlassen haben.“

„Warum?“

Lucinda warf einen raschen Blick auf die Uhr neben ihrem Bett. Es musste sehr früh am Morgen sein. Die Vögel sangen noch nicht einmal, und Emerald sah aus, als hätte sie es eilig.

„Alderworth hält sich nicht an sein Versprechen zu gehen. Er scheint zu glauben, dass du ihn nach Norden auf sein Anwesen begleiten wirst.“

Lucinda schlug die Decken zurück. Die blauen Flecke auf ihren Beinen hoben sich dunkel vor den Laken ab.

„Verlangt er das von mir?“

Ihre Schwägerin zuckte die Achseln. „So wie ich ihn einschätze, denkt er vermutlich, er könne dich einfach über seine Schulter werfen, nach Alderworth verschleppen und dich dort festhalten.“

Autor

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