Ein neuer Anfang für Dr. Meredith?

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Traurig zieht die junge Ärztin Meredith ans Meer. Hier soll ihr Baby zur Welt kommen, das seinen Vater niemals kennenlernen wird! Doch als sie zum ersten Mal in die Augen ihres neuen Nachbarn Raf schaut, liest sie darin ein stummes Versprechen: Alles wird gut …


  • Erscheinungstag 01.06.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747220
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dr. Meredith Dennisons Hände waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden, und ihr Kopf steckte tief in einem großen Eimer. Zaghaft versuchte sie, einen der lustig im Wasser auf und ab hüpfenden Flaschensauger zu ergattern, ohne patschnass zu werden. Ihre Kolleginnen hatten gut lachen! Sie hatten sie mit einer Babyparty überrascht, was wirklich nett war, aber auf die albernen Spiele hätte Meredith gern verzichtet.

„Los, Merry, schnapp dir einen“, rief Olivia.

„Ich muss nachher mit Richards Eltern noch im Le Goût essen“, sagte sie und richtete sich ein wenig auf. „Mit nassen Haaren lässt mich der arrogante Oberkellner bestimmt nicht rein.“

„Du hast noch genug Zeit, dich zurechtzumachen“, bestimmte ihre Freundin Emma. Auch sie war Ärztin für Allgemeinmedizin, genau wie Meredith. „Außerdem willst du doch deine Geschenke, oder nicht?“

„Das ist Erpressung“, antwortete sie entrüstet.

„Aber es macht Spaß!“ Emma lachte. „Und ist meine Rache für die Peinlichkeiten, die ich bei meinem Junggesellinnenabschied ertragen musste.“

„Du wurdest von einem strippenden Kerl umsorgt. Ich glaube nicht, dass man das damit vergleichen kann, dass ich hier halb ertrinke.“

Emma verdrehte die Augen. „Tja, wenn ich ihn nicht gerade in der Woche vorher wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt hätte, wären meine Gedanken vielleicht nicht ständig von seinem Sixpack zu meinem Krankenbericht gewandert.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Augen funkelten. „Los jetzt. Du kommst sowieso nicht drumherum.“

Meredith spürte in sich einen entschiedenen Tritt gegen die Rippen und seufzte. Nicht einmal ihr ungeborenes Kind hatte Mitleid mit ihr. Sie atmete tief ein, nahm einen der Sauger ins Visier, öffnete den Mund und tunkte ihr Gesicht beherzt in den Wassereimer. Zwei Sekunden später und mit tropfnassem Haar hielt sie einen Flaschensauger fest zwischen den Zähnen.

Ihre Kolleginnen jubelten. Das Baby trat erneut: Gut gemacht, Mum! Lachend spuckte Meredith den Sauger aus. „Richard wird enttäuscht sein, dass er nicht dabei war, wenn er erfährt, dass ihr mich gefesselt habt.“

„Wenn er von seinem Snowboarding-Wochenende zurückkommt, ist ihm das wohl erst mal egal“, entgegnete Emma. „Da will er wahrscheinlich nur eine heiße Dusche – und seine hübsche, watschelnde Frau.“

„He, ich watschel nicht!“

Emma lachte erneut. „Wenn du meinst …“

Meredith nahm ein Handtuch entgegen. „Er sagt, er hat noch nie eine schwangere Frau gesehen, die so sexy ist wie ich.“

Die Physiotherapeutin Lee seufzte. „Wäre ja auch idiotisch, was anderes zu sagen.“

„Stimmt genau.“ Meredith lächelte. So lange hatte sie schon ein Baby gewollt. Und so lange hatte sie darauf warten müssen!

Erst hatten sie und Richard die anstrengende Assistenzzeit hinter sich bringen müssen. Dann hatte Richard sich zu einem der besten Unfallchirurgen in Melbourne weitergebildet. Aber nun sollte es so weit sein! In wenigen Wochen würden sie ihr Baby willkommen heißen. Ihr konnte es gar nicht schnell genug gehen: Sie würden Eltern werden, und sie freute sich darauf, Richard als Vater zu sehen.

Vor anderthalb Jahren hatte es einige schwierige Monate gegeben, in denen sie glaubte, dass Richard niemals dafür bereit sein würde. Er arbeitete so viel, und seine wenige Freizeit wollte er am liebsten in der Natur verbringen, um seine Batterien wieder aufzuladen. Doch so gern Meredith auch mit ihm wandern ging, so sehnte sie sich noch viel mehr danach, Mutter zu werden. Aber letztes Jahr, als er von einer Trekkingreise in Nepal zurückkam, hatte er sie plötzlich in die Arme genommen und gesagt, er sei bereit. Sie waren beide verblüfft, wie schnell sie dann schwanger geworden war.

Doch manchmal nagten Zweifel an ihr. Schon länger hatte sie sich ein Wochenende gewünscht, an dem sie zusammen das Kinderzimmer streichen würden. Zum Glück hatte er sie letzte Woche, nachdem er die Ausrüstung für ein Wochenende im Hochgebirge zusammengepackt hatte, auf die Stirn geküsst und verkündet, dass dies das letzte Mal sei, dass er solch einen Ausflug machen würde. Zumindest bis das Baby einige Monate alt sein würde.

Nachdem Meredith sich die Haare trocken gerubbelt hatte, grinste sie und warf das Handtuch in den Wäschekorb. „He Emma, du hast doch was von Geschenken gesagt?“

Raf Camilleri stand in der Küche und trank gierig Wasser. Die weißen Sandstrände von Shearwater Island waren eben doch etwas ganz anderes als die geteerten Straßen von Melbourne. Seine Beine hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt. Nachdem er das Wasser ausgetrunken hatte, stützte er sich am Stuhl ab und drückte eine Ferse zum Boden, um die Achillessehne zu dehnen.

„Du bist wieder da.“

Raf blickte unter seinem Arm hindurch und sah die orthopädischen Schuhe seines Vaters – die Schuhe, die Mario Camilleri hasste, Raf ihm aber trotzdem jeden Morgen zuschnürte. „Dann fährst du mich jetzt zum Club“, sagte Mario mit seinem leichten italienischen Akzent. Keine Frage, sondern ein Befehl. Mario gab Anweisungen, als wäre er immer noch der Kapitän seines Fischerbootes.

„Ich dachte, wir essen erst mal. Ich habe Calamari direkt vom Boot gekauft.“

„Ich esse im Club.“ Die knappen Worte zerhackten die Luft.

Eindeutiger ging es nicht. Es überraschte Raf nicht, dass sein Vater ihn nicht einlud. Außerdem wusste er ja, dass sein Vater Zeit mit seinen Freunden verbringen wollte. Trotzdem wäre es nett gewesen, zum Mitkommen aufgefordert zu werden.

Du passt so gut zu den Freunden deines Vaters wie ein Steak zu einem vegetarischen Picknick.

Raf richtete sich auf und sah seinen Vater an. Vater und Sohn waren lange gleich groß gewesen, aber seit Marios Schlaganfall war Raf der Größere. „Das hättest du mir doch heute Morgen schon sagen können.“ Er versuchte, nicht allzu kritisch zu klingen.

Mario zuckte mit den Schultern. „Du kannst die Calamari einfrieren.“

„Klar, Dad, als ob du schon jemals in deinem Leben tiefgefrorenen Tintenfisch gegessen hättest.“

Marios Augen funkelten. „Vielleicht fange ich jetzt damit an. Du bist doch nicht mein Aufpasser.“

Raf biss die Zähne zusammen. Nein, das war er nicht. Er war nur vorübergehend als Pfleger bei seinem Vater. Ein Job, gegen den der Börsengang seines IT-Unternehmens und der darauf folgende Verkauf wie ein Kinderspiel wirkten. „Darf ich vorher noch duschen?“ Er klang wie ein bockiger Teenager.

„Wie du willst. Ich habe gesagt, ich bin um sechs da.“

Marios Gehstock klopfte laut auf das verblichene Linoleum, während er in Richtung Wohnzimmer ging.

Auf dem Weg ins Bad hörte Raf, dass Mario den Fernseher eingeschaltet hatte und Fußball guckte. Ein weiterer schöner Tag in der Casa Camilleri.

Meredith sah auf die Uhr. Sie würde schon wieder zu spät kommen! Es hatte länger gedauert als geplant, die Päckchen zu öffnen – süße Babykleidung, und sogar ein Kindersitz war dabei gewesen. Olivia und Emma hatten ihr geholfen, alles in den Wagen zu packen. Sie war nach Hause gerast, um ihre Haare zu fönen. Trotzdem würde sie es nicht rechtzeitig ins Le Goût schaffen.

Wenn Richard zu spät kam, hatten seine Eltern dafür vollstes Verständnis. Für sie galt das leider nicht. Ihre Schwiegermutter Linda war der Überzeugung, dass Meredith keine Überstunden machen musste, da sie als Ärztin für Allgemeinmedizin ja keine Notfallpatienten zu versorgen hatte.

Meredith arbeitete aber meist trotzdem zu lang, weil sie sich genug Zeit für ihre Patienten nehmen wollte. Zu Hause gab es auch viel zu tun. Richard hatte zwar für einen Tag in der Woche eine Putzhilfe engagiert, aber Meredith übernahm den Großteil der restlichen Haushaltsarbeit.

Sie war auf einer Milchfarm aufgewachsen, wo entweder die Kühe selbst oder die Maschinen die unangenehme Eigenschaft hatten, in den ungünstigsten Momenten Chaos zu verursachen, und so war sie der Überzeugung, dass zehn Minuten Verspätung immer noch als pünktlich gelten sollten. Linda war jedoch anderer Meinung. Meredith wusste schon, welcher Blick sie erwarten würde, wenn sie ins Restaurant kam – einer, der sagte: Richard wäre das nicht passiert.

Um den Frieden nicht zu stören, hatte sie schon nichts gesagt, als Linda erwähnte, dass sie und Derek bereits Anmeldeformulare für die Melbourne Grammar School und den Melbourne Cricket Club besorgt hätten. Die könnten sofort ausgefüllt werden, sobald Geschlecht und Name des Babys feststanden.

Dabei hatten sie und Richard doch noch Jahre Zeit, um sich um die richtige Schule zu kümmern. Das Baby trat erneut, und sie legte von außen die Hand auf den kleinen Fuß, der ihr zwischen die Rippen stieß. „Du hast wohl nicht mehr genug Platz da drin, Winzling? Sechs Wochen musst du aber noch aushalten.“

Plötzlich fühlte sie sich so müde, dass sie sich nicht traute, sich zum Schuheanziehen hinzusetzen. Dann würde sie bestimmt nicht mehr aufstehen. So nett es auch war, dass Linda und Derek sich auch ohne Richard mit ihr treffen wollten, so sehr hätte sie es jetzt genossen, sich einfach mit einer Pizza aufs Sofa zu legen.

„Los, Merry, du schaffst das“, sprach sie sich selbst Mut zu, während sie ein letztes Mal in den Spiegel blickte: Lippenstift aufgelegt, die Haare einigermaßen in Ordnung, schwarzes Kleid.

Es klingelte an der Tür. Ihr Herz tat vor Freude einen Sprung. Richard hatte zwar gesagt, dass er seinen Trip nicht abkürzen könne und erst morgen Abend zurück sein würde. Aber er hatte wohl doch gemerkt, wie enttäuscht sie und seine Eltern waren, dass er bei ihrem lang geplanten Dinner nicht dabei sein würde.

Sie eilte zur Wohnungstür. Ihre Aufregung stieg. Hoffentlich stand wirklich Richard davor und nicht irgendein verspäteter Stromableser oder Kabelfernsehkerl!

„Dr. Dennison?“ Auf der winzigen Veranda ihres Reihenhauses standen ein junger Polizist und seine Kollegin.

„Ja?“ Sie war daran gewöhnt, dass die Polizei bei ihr klingelte: Von allen Mitarbeitern lebte sie am nächsten an der Gemeinschaftspraxis, in der sie arbeitete. Wenn es Probleme mit dem Sicherheitssystem oder einen Einbruchversuch gab, klopfte die Polizei stets zuerst an ihre Tür. „Ist die Alarmanlage wieder losgegangen?“

„Können wir reinkommen?“

„Ich bin schon spät dran. Können wir nicht gleich zur Praxis fahren? Ich kann das Sicherheitssystem ausschalten.“

Die Polizistin schüttelte langsam den Kopf. „Wir sind nicht wegen des Sicherheitssystems hier.“

Sie musterte die beiden in ihren dunkelblauen Uniformen. „Warum dann?“

„Können wir bitte reinkommen?“

Hatte sie ein Knöllchen nicht bezahlt? Aber kam dafür die Polizei bei einem zu Hause vorbei? Seufzend ließ sie die Polizisten in die Wohnung.

„Dauert es lange? Sonst muss ich wirklich meine Schwiegereltern anrufen.“

„Dr. Dennison, bitte setzen Sie sich.“

Nun ging Merediths Verwirrung langsam in Angst über. Sie gehorchte wie ein braves Kind. „Was ist denn los?“

Die Polizistin legte ihre Mütze auf den Couchtisch. „Dr. Dennison, ist Richard Nichols Ihr Ehemann?“

„Ja.“ Merediths Atem stockte. „Wieso?“

Die Polizistin schluckte und befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. „Es gab leider einen Unfall. Ihr Mann …“

„Einen Unfall?“ Sie hörte ihre Stimme, die ganz anders klang als sonst. „In welchem Krankenhaus ist er?“ Sie begann sofort zu überlegen, wie sie Richard aus einem kleinen Krankenhaus auf dem Land nach Melbourne kriegen würde.

Der Polizist schüttelte langsam den Kopf. „Dieses Jahr gab es so viel Schnee wie seit Langem nicht mehr.“

Die Polizistin beugte sich vor, Mitleid in den Augen. „Die Freunde Ihres Mannes haben berichtet, dass sie zum Mount Feathertop gewandert und dort zwei Tage lang Snowboard gefahren sind. Letzte Nacht hat es stark geschneit, und Mr. Nichols wollte heute früh noch einen letzten Ausflug machen.“

„Er liebt Neuschnee.“

„Ihr Mann … wurde von einer Lawine begraben.“

„Nein.“ Meredith schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass es wehtat. „Nein, das kann nicht sein. In Australien gibt es doch gar keine Lawinen. Hier gibt es nicht einmal richtige Berge.“

„Als seine Freunde ihn fanden, war es schon zu spät. Sie konnten ihn nicht mehr wiederbeleben.“

Meredith starrte die beiden an, während erst ihre Füße, dann ihre Beine langsam anfingen zu zittern, bis schließlich ihr ganzer Körper bebte. „Nein! Er kann nicht tot sein! Er darf nicht tot sein!“ Sie wurde von lähmender Verzweiflung ergriffen. Ihr Hals wurde eng. Ihre Augen brannten. „Wir bekommen in sechs Wochen ein Baby! Wir müssen noch das Kinderzimmer streichen!“

„Es tut uns sehr leid, Dr. Dennison.“ Der Polizist reichte ihr eine Packung Taschentücher. „Können wir jemanden für Sie anrufen? Sie sollten jetzt nicht alleine sein.“

In diesem Moment trat das Baby erneut zu, und ihr entfuhr ein verzweifeltes Stöhnen. Ihr Traum von einer Familie mit Richard war gerade in tausend kleine Stücke zerplatzt.

Meredith würde ein Baby bekommen.

Doch nun würde sie es allein großziehen müssen.

2. KAPITEL

Drei Wochen später

Die Sonne schien durch das Fenster, sodass Raf auf seinem Laptopbildschirm kaum noch etwas sah. Er arbeitete an seinem aktuellen Projekt – einer App für Kardiologen, mit der sie den Patienten besser erklären konnten, was mit ihrem Herz los war. In der Medizin hatte sich so viel geändert, seit seine Mutter damals an einem Herzinfarkt gestorben war. Medizinisch gesehen war es praktisch noch das Mittelalter gewesen.

Nach dem bewölkten Frühlingsmorgen nahm er die warme Sonne nun als Zeichen, den Computer herunterzufahren. Sein Vater döste in seinem Fernsehsessel, müde nach der Hydrotherapie.

Die helle Sonne war gnadenlos: Das einst moderne Haus auf Shearwater Island, in dem Raf seine Kindheit verbracht hatte, sah mit seinen typischen Siebzigerjahre-Bögen, den ausgetretenen Berberteppichen und holzverkleideten Wänden müde und alt aus. Nur die schönen, klaren Linien der skandinavischen Möbel hatten dem Zahn der Zeit widerstanden. Rafs Mutter hatte das Haus als junge Braut dekoriert. Bevor sie zwanzig Jahre später hätte renovieren können, war sie gestorben. Von einem Flachbildfernseher abgesehen, hatte sein Vater seit ihrem frühen Tod nichts Neues angeschafft.

Das Rauschen der Wellen und die fröhlichen, schnarrenden Rufe der Elstern lockten Raf nach draußen. Er stand auf und reckte sich. Nachdenklich schaute Raf aus dem Fenster. Als er sich am Rahmen abstützte, spürte er sofort die abblätternde Farbe. Er wusste nicht, wieso er so oft aus diesem Fenster starrte. Er konnte ja nicht einmal da Meer sehen, nur das Haus nebenan. Vielleicht war das der Grund. Etwas an diesem modernen Gebäude erinnerte ihn an sein neues Haus in Melbourne – ein Haus, das er selbst entworfen hatte. Und in dem er ganze zwei Nächte geschlafen hatte, bevor seine Schwester ihn angerufen hatte, um von seinem Vater zu berichten …

Mario Camilleri war zu diesem Zeitpunkt noch in der Reha gewesen, um sich von den Folgen seines Schlaganfalls zu erholen.

„Das Rehazentrum will Dad entlassen“, hatte Bianca berichtet.

„Zu Hause fühlt er sich wahrscheinlich auch wohler.“ Im Stillen hatte sich Raf jedoch gefragt, ob es überhaupt einen Ort gab, an dem sein Vater sich wohlfühlte.

„Sie lassen ihn aber nicht allein zu Hause wohnen.“

„Kann er eine Weile zu dir ziehen?“, schlug er vor. Bianca sog hörbar die Luft ein. „Ich habe ein Unternehmen, Raf, einen Ehemann und zwei Teenager, die mich allesamt verrückt machen. Ich kann mich nicht noch um Dad kümmern.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wie wäre es mit einem Pfleger im Haus?“

„Das kann er sich nicht leisten.“

„Ich aber.“

„Das klappt nicht. Du weißt doch, wie schwierig er ist. Außerdem würde es außerhalb der Saison hier unten auf der Insel nicht gerade viele Bewerber für den Job geben.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Du arbeitest doch ehrenamtlich in der St.-John-Ambulanz, seit Mum tot ist.“

„Ja, aber als Notfallhelfer. Das heißt nicht, dass ich für Pflegearbeit qualifiziert bin.“

„Tja, ich kenne mich nicht einmal mit Erster Hilfe aus, kümmere mich aber schon seit Jahren um Dad. Ich muss sagen, kleiner Bruder, dass du dich langsam auch mal einbringen könntest. Außerdem hast du ja nicht mehr so viel zu tun, seit du die Firma verkauft hast.“

„Ich entwickele gerade eine App und habe mehr als genug zu tun.“ Dazu gehörte es bestimmt nicht, mit seinem Vater auf Shearwater Island zu wohnen.

„Bestimmt. Aber jetzt solltest du mal ein guter italienischer Sohn sein.“

Wut und schlechtes Gewissen trafen aufeinander, bald gefolgt von Resignation. Wenn Bianca sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Entrinnen. Außerdem hatte sie recht. Er war lange nicht zu Hause gewesen. „Wie lang würde das sein?“

„Bis es ihm wieder gut genug geht.“ Ihr schnippischer Ton wurde weicher. „Sein Rehabetreuer sagt, dass er in drei Monaten wieder selbstständig sein sollte. Sieh es mal so: Der Winter ist so gut wie vorbei, und der Frühling auf der Insel ist doch immer wunderschön. Nimm den Computer mit. Sieh es als Arbeitsurlaub.“

Urlaub? Er und sein Vater gemeinsam in einem Haus? „Seit wann bist du denn unter die Komiker gegangen?“

Bianca lachte. „Man weiß nie, Raf. Vielleicht überrascht dich Dad ja noch mal.“

Doch in den nachfolgenden sechs Wochen hatte Raf leider keine Überraschung mit seinem Vater erlebt …

Raf sah noch immer bewundernd auf das Nachbarhaus mit den hohen Holzstreben und den raumhohen Fenstern. Jeder Zentimeter war für die Aussicht auf den Ozean optimiert. Eine Aussicht, die sein Vater sein Leben lang von seinem Fischerboot aus gehabt hatte. Bis vor vier Monaten. Jetzt sah er das Meer nur, wenn er das Anwesen verließ, und dafür war er auf Raf angewiesen. Bestimmt vermisste er den großartigen Blick, der an einem sonnigen Tag die ganze Welt versprach. Kein Wunder, dass der alte Kerl dauernd schlechte Laune hatte.

Sein Vater räusperte sich, um zu zeigen, dass er aufgewacht war. „Was machst du da?“

Raf drehte sich um. Plötzlich kam ihm eine Idee. „Du solltest das Haus nach oben ausbauen, dann hättest du die gleiche Aussicht wie die Nachbarn.“

Mario zog am Hebel des Fernsehsessels, sodass er aufrecht zum Sitzen kam. „Weil ich ja auch so gut Treppen steigen kann, Rafael.“ Marios Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Es gibt Aufzüge, Dad.“

„Dafür habe ich kein Geld.“ Mario stieß seinen Gehstock auf den Boden, um seine Aussage zu unterstreichen.

Raf schloss die Augen und zählte bis fünf, bevor er sie wieder öffnete. „Ich könnte das gern finanzieren.“

„Wieso solltest du? Du hasst es doch hier auf der Insel.“

Er seufzte. „Das stimmt nicht.“

„Und warum bist du dann nicht öfter hier gewesen?“

Und so waren sie wieder bei der Diskussion angelangt, die sich seit achtzehn Jahren im Kreis drehte. Er hätte sagen können: Jetzt bin ich aber hier! Doch das hätte seinen Vater nur daran erinnert, warum er hier war, und da hätte Raf auch gleich ein angezündetes Streichholz in einen Benzinkanister werfen können. Er wechselte das Thema.

„Wer wohnt denn eigentlich nebenan?“

Mario knurrte verächtlich. „Wochenendler.“

Die Inselbewohner pflegten eine Hassliebe gegenüber den Feriengästen, die jedes Jahr von Dezember bis Ostern die Insel überfluteten. Natürlich brachten sie das benötigte Geld auf die Insel, damit die Geschäfte nicht schließen mussten, doch mit dem Geld kamen eben auch die Menschen aus der Stadt, deren Verhalten die Eingesessenen nur allzu oft beleidigte.

„Ich habe sie aber noch nie hier gesehen“, sagte Raf trocken. „Dabei bin ich doch schon einige Wochen da.“

„Wahrscheinlich müssen sie Geld verdienen, um das Haus abzubezahlen. Du weißt doch, dass dein Cousin Rocco einen Haufen Kohle damit verdient hat, als er es verkaufte!“

Mühsam stand sein Vater auf. Raf musste sich zwingen, ihm nicht zu helfen. Im Rehazentrum hatte man ihm gesagt, er solle immer warten, bis sein Vater ihn um Hilfe bat. Theoretisch klang das logisch, aber in der Praxis war Mario stinksauer, wenn er nach mehreren missglückten Versuchen Raf doch noch um Hilfe bitten musste …

Sein Vater ging langsam in die Küche. Obwohl Mario schon seit Langem nicht mehr fischen ging, blieben manche Gewohnheiten bestehen. Um drei Uhr am Nachmittag machte er Kaffee und hörte sich den ausführlichen Wetterbericht für die Küstenregion an, als ob er immer noch entscheiden müsste, ob er ausfahren würde oder nicht.

Wenn Mario so beschäftigt war, ging Raf meist joggen. Doch heute hörte er das leise Brummen eines Motors und sah wieder nach draußen. Ein silberner BMW mit Allradantrieb bog auf die Auffahrt nebenan. Durch die getönten Scheiben war nicht auszumachen, wie viele Leute im Wagen saßen, aber in einem solchen Auto saßen vermutlich zwei Erwachsene und mindestens zwei Kinder. Die perfekte Familie für das perfekte Haus.

Eine Woge der Traurigkeit überkam Raf, doch er schüttelte dieses Gefühl schnell wieder ab. Es ging ihm gut. Er hatte keinen Grund, traurig zu sein!

Die Fahrertür wurde geöffnet, und er sah blondes Haar. „Ha!“

Er hatte es ja geahnt! Die perfekte Familie: reich, blond und blauäugig!

„Was?“, rief Mario aus der Küche.

„Deine Nachbarn sind da.“

Mario antwortete nicht. Der Wetterbericht war wichtiger als die Wochenendler. Aber Raf blieb am Fenster stehen, um herauszufinden, wie der Rest der Familie aussah. Doch als der Fahrer ausstieg, erlebte Raf eine seltsame Überraschung. Es war gar kein Mann, sondern eine blonde Frau.

Eine Frau, die zudem hochschwanger war und eine dunkle Sonnenbrille trug, die das halbe Gesicht verbarg. Sie drückte ihren Rücken durch, als ob sie lange ohne Pause gefahren wäre. Das enge Top spannte über ihren vollen Brüsten und dem runden Bauch.

Üppig und wunderschön. Die Worte kamen Raf ungebeten in den Sinn. Herrje, was war los mit ihm? Wenn ein Mann seine eigene schwangere Frau sexy fand, war das ja in Ordnung, aber eine fremde Frau …

Sonst stieg niemand aus dem Auto. Die Frau blieb stehen und strich sich über den schwangeren Bauch. Den Kopf hatte sie nach hinten geneigt, und ihre Haare legten sich glänzend über die Schultern. Sie betrachtete das Haus, als wäre es ein Berg, den sie erklimmen müsste.

Warum denkst du so was? Und seit wann beobachtest du Leute vom Fenster aus?

Wie klein seine Welt in den letzten Wochen geworden war. Er musste wirklich mal aus dem Haus und mit Leuten reden.

Plötzlich straffte die fremde Frau die Schultern, und einen Moment später war sie im Haus verschwunden.

„Hallo.“

Eine tiefe Männerstimme holte Meredith aus ihren Träumen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier in den Dünen stand und aufs Meer blickte, aber wahrscheinlich war einige Zeit vergangen.

In den drei Wochen seit Richards Tod hatten sich immer wieder Phasen schneller Entscheidungen mit Phasen lähmender Trauer abgewechselt. Vor vier Tagen war sie aus Melbourne geflohen, weil sie einen Tapetenwechsel brauchte. Hier war sie bislang jeden Morgen ganz früh und noch einmal am Nachmittag spazieren gegangen, froh über den heftigen salzigen Wind. Die Anstrengung sollte ihr beim Schlafen helfen, aber das Baby und ihre Trauer ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Ein großer Mann mit dunklen, grau melierten Locken stand unter ihr am Strand und joggte auf der Stelle. Sie hatte ihn schon öfter aus der Entfernung gesehen. Er schien jeden Tag und bei jedem Wetter um diese Zeit am Strand zu sein. Sie bemühte sich um ein Lächeln und grüßte zurück. „Hallo.“

Sein breiter Mund mit den vollen Lippen verzog sich zu einem freundlichen Lächeln, das zwei Grübchen unter seinen Dreitagebart zauberte. „Alles in Ordnung?“

Nichts ist in Ordnung. Die letzten Tage hatte sie damit zugebracht, alle möglichen Leute zu kontaktieren, vom Internet-Dienstanbieter bis zur Bank. Und es gab immer noch genug, denen sie sagen musste: Mein Mann ist gestorben. Heute brauchte sie einen Tag Ruhe. Sie wollte sich jetzt nicht mit dem erschöpfenden Mitleid eines anderen Menschen auseinandersetzen.

„Die Wellen sind so hypnotisch“, sagte sie. „Da kann man stundenlang zugucken.“

Er nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, damit er ihm nicht in die kastanienbraunen Augen tropfte. „Zugucken könnten Sie doch auch aus Ihrem windgeschützten Haus.“

Sie stutzte.

„Wir sind Nachbarn“, sagte er schnell, als hätte er gemerkt, dass er wie ein Stalker klang. „Ich bin Raf Camilleri.“

„Oh“, sagte sie, während ihr lahmes Hirn versuchte, die Informationen zu verarbeiten. „Ist die Straße nach Ihnen benannt?“

„Nein. Nach meinem nonno, der dafür bezahlt hat, dass sie geteert wird. Er war sehr stolz auf diese erste geteerte Straße auf der Insel.“

Sie streckte den Arm aus und zeigte auf die Häuserreihe entlang des Strandes. „Den Camilleris gehört also viel von diesem Land?“

„Nicht mehr. Im Laufe der Jahre ist es verkauft oder verschenkt worden. Heutzutage ist es eine gute Lage für Immobilien. Meine Cousins verkaufen viel an Wochenendler, damit die ihre Traumhäuser bauen können.“

Richard und sie waren damals am Camilleri Drive Nummer sechs vorbeigefahren und hatten ihr Traumhaus gefunden. Leider war Richard kaum jemals hier gewesen.

Sie hatte sich noch gar nicht vorgestellt. „Ich bin Meredith Dennison.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“

Wenn er lächelte, bildeten sich Fältchen um seine Augen. Sie wappnete sich gegen die Fragen, die man ihr auf Shearwater Island ständig zu stellen schien: Wann kam das Baby, wann kam ihr Mann nach, und wie lange blieb sie?

Autor

Fiona Lowe

Fiona Lowe liebt es zu lesen. Als sie ein Kind war, war es noch nicht üblich, Wissen über das Fernsehen vermittelt zu bekommen und so verschlang sie all die Bücher, die ihr in die Hände kamen. Doch schnell holte sie die Realität ein und sie war gezwungen, sich von den...

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