Eine Frühlingsbraut für den Vagabunden?

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ich werde eine gute Partie machen, schwört Jane sich nach ihrer Kindheit in bitterer Armut. Der Antrag des vermögenden Lord Cambury verspricht ihr die ersehnte Sicherheit - auch ohne Liebe. Doch ausgerechnet da appelliert ein zugelaufener kleiner Hund an ihr weiches Herz, wodurch sie die Bekanntschaft eines verwegenen hochgewachsenen Vagabunden macht! Zachary Black ist alles, was Jane nicht will. Doch seine Berührungen lassen sie erbeben; seine geraubten Küsse sind überaus erregend. Selbst als sie erfährt, dass Zachary unter Mordverdacht steht, gibt sie für diesen geheimnisvollen Verführer mutig ihren adligen Verlobten auf …


  • Erscheinungstag 14.07.2020
  • Bandnummer 355
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749224
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Das Glück in der Ehe ist allein eine Frage des Zufalls.“

Jane Austen, „Stolz und Vorurteil“

London, 1805

Erzähl uns von der Nacht, als du eine Prinzessin warst, Mama.“

„Sie war nicht wirklich eine Prinzessin“, warf Janes große Schwester Abby ein. „Sie hat sich nur wie eine gefühlt.“

Das war Jane egal. Eine Prinzessin war eine Prinzessin. „Mama? Erzähl uns davon.“

Mama lächelte. „Kriegst du denn nie genug davon, Schätzchen?“

Nachdrücklich schüttelte Jane den Kopf.

„Nun, ich war gerade achtzehn geworden, und es handelte sich um den prächtigsten Ball der Saison. Alle waren da, Dukes, Earls, sogar ein echter Prinz.“

„Und was hattest du an, Mama?“

„Das weißt du doch ganz genau, du hast es schon hundertmal gehört.“

„Mama!“

„Na schön. Ich trug ein wunder-wundervolles Ballkleid aus rosafarbener Seide, die bei jedem meiner Schritte wie Wasser rauschte.“

„Und ein Überkleid aus Gaze mit … erzähle weiter“, drängte Jane.

„Ein Überkleid aus Gaze, auf die Hunderte winziger Kristalle genäht waren, die im Licht funkelten …“

„… und glitzerten wie zahllose Diamanten“, vollendete Jane den Satz.

„Siehst du, du weißt es besser als ich.“

„Erzähl weiter. Dein Kopfputz …“

„Mein Kopfputz war eine hochelegante kleine Angelegenheit aus rosafarbenen Perlen und Diamanten – die waren natürlich falsch, aber …“

„Und als du die Treppe herunterkamst, drehten sich alle zu dir um und schauten dich bewundernd an“, unterbrach Jane, die nichts von falschen Steinen hören wollte, die nicht so gut waren wie Diamanten. Nicht dass sie, abgesehen von Mamas goldenem Ehering, irgendwelche Schmuckstücke besessen hätte, aber jeder wusste, dass eine Prinzessin Diamanten trug.

„Ja, du kleine Tyrannin, und alle drehten sich zu mir und meinem wundervollen glitzernden rosafarbenem Kleid um.“ Mama lachte, doch das Lachen verwandelte sich in einen Hustenanfall, nach dem sie sich erschöpft auf den Rücken legte, ein Taschentuch vor den Mund gepresst.

Abby holte ein Glas Wasser und ein frisches Taschentuch, das sie Mama in die Hand drückte, damit Papa das Blut auf dem anderen nicht bemerkte. Abby wusch ständig heimlich Blut aus Mamas Taschentüchern.

Nach einer Weile fragte Jane: „Warum bist du jetzt keine Prinzessin, Mama?“

„Oh, ich bin immer noch eine Prinzessin, Schätzchen.“ Sie öffnete die Augen und schaute über Janes Kopf hinweg zu Papa, der still und grimmig hinter seiner kleinen Tochter stand. „In jener Nacht habe ich deinen Papa getroffen und mich in ihn verliebt. Er ist mein Prinz und wird es immer bleiben.“ Sie lächelte ihm zu.

Und Jane konnte sehen, dass Mama wirklich eine Prinzessin gewesen war, denn dieses Lächeln machte sie wieder schön, so schön, als ob jemand in ihrem Inneren eine Kerze entzündet hätte.

„Du wirst immer meine Prinzessin sein“, erwiderte Papa mit erstickter Stimme. Er strich Mama das Haar zurück und küsste ihre Stirn.

Jane liebte Papa über alles, aber sie wusste, dass er kein Prinz war. Prinzen lebten in Schlössern, nicht in einem winzigen Zimmer in einem stinkenden alten Gebäude.

Mama hätte eigentlich jemand anderen heiraten sollen – einen reichen Mann, der in einem Schloss lebte. Papa hatte ebenfalls eine andere Dame heiraten sollen, doch dann waren sie einander begegnet und hatten sich verliebt. Und weil sie sich verliebt hatten, mussten sie zusammen weglaufen und heiraten, weil ihre Eltern wollten, dass sie diese anderen Leute heirateten. Diese reichen anderen Leute.

Deshalb hatten Jane und Abby auch nie ihre Großeltern kennengelernt, obwohl Abby schon beinahe zwölf war und Jane fast sechs. Weil die nämlich immer noch wütend waren. Papa und Mama waren verstoßen worden, ohne einen Penny in der Tasche. Darum hatten sie kein Geld. Papa tat, was er konnte, aber es reichte nie …

Wenn Mama eine Prinzessin gewesen wäre, dann wäre sie jetzt kein dünner Schatten ihrer selbst, verblüht, traurig und krank. Und Papa wäre nicht so angespannt und wütend und traurig. Jane und Abby wären ebenfalls Prinzessinnen und würden in einem Schloss wohnen, nicht in einem kleinen, dunklen, kalten Raum, hinter dessen Wänden die Ratten scharrten. Und keiner von ihnen müsste jemals frieren oder hungern oder sich fürchten.

„Wenn ich groß bin, werde ich ebenfalls eine Prinzessin“, verkündete Jane. „Und ich werde ein glitzerndes rosa Kleid haben und Diamanten tragen und …“

„Janey-Schätzchen, das sind doch bloß dumme Träumereien“, sagte Abby.

„Nein, ich werde eine Prinzessin!“

„Ach, Süße, egal was du trägst, du wirst immer Papas kleine Prinzessin sein.“ Ihr Vater hob sie hoch und schwang sie im Kreis herum. Und alle lachten.

Doch Jane hegte keinerlei Zweifel. Während sie in Papas Armen wirbelte, schaute sie auf den schäbigen Raum, der sich um sie drehte. Auf Mama, die schwach und abgemagert dalag, auf Abby, die mit einem sauberen Taschentuch in der Hand neben dem Bett kauerte. Es würde nicht immer so sein wie jetzt. Alle sagten, dass Jane ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und das bedeutete, dass sie auch eine Prinzessin sein konnte. Sie musste bloß einen Prinzen mit einem Schloss finden.

1. KAPITEL

„Es gibt nun mal nicht so viele reiche Männer auf der Welt wie hübsche Frauen, die einen reichen Mann verdient hätten.“

Jane Austen, „Mansfield Park“

Mayfair London, März 1817

Das war reizend von dir, Abby, vielen Dank.“ Jane drückte ihrer Schwester liebevoll den Arm, während sie untergehakt über den Berkeley Square spazierten. „Ich kann nicht glauben, dass ich achtzehn Jahre alt werden musste, um festzustellen, wie Eiscreme schmeckt.“

Abby lachte. „In den letzten paar Monaten hast du jedenfalls aufgeholt. Gibt es irgendeine Sorte bei Gunter’s, die du noch nicht probiert hast?“

„Nein“, bekannte Jane. „Aber ich habe noch immer nicht entschieden, welche ich am liebsten mag.“

Abby hob belustigt die Brauen. „Dabei ist noch nicht mal Sommer.“ Genau genommen war es noch nicht mal richtig Frühling. Die Bäume, die den Platz säumten, fingen gerade erst an auszuschlagen, und ein paar vereinzelte Gruppen Schneeglöckchen streckten die Köpfe aus der Erde.

„Unabhängig von der Eiscreme ist es so schön, mal wieder miteinander zu plaudern, nur wir beide.“ Wieder drückte Jane ihrer älteren Schwester den Arm. „Du weißt, dass ich Damaris und Daisy liebe, aber manchmal …“

Abby nickte. „Manchmal brauchst du einfach deine Schwester. So geht es mir auch.“ Sie schwieg kurz, dann blieb sie stehen und schaute Jane aufmerksam an. „Bist du aufgeregt wegen deiner Saison? Bis zu deinem ersten Ball dauert es doch nur noch ungefähr zehn Tage, oder?“

„Vierzehn“, berichtigte Jane. „Und nein, ich bin nicht aufgeregt. Nicht richtig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nun ja, auf gute Art aufgeregt. Wenn du’s genau wissen willst: Ich kann es kaum erwarten. All diese Jahre im Pillbury-Heim, wo es nur Gewänder aus grauem oder braunem Serge gab, hätte ich mir nie träumen lassen – oder vielmehr, ich konnte nur davon träumen –, zu Partys und Bälle eingeladen zu werden, hübsche Kleider zu tragen, bis in die Morgenstunden zu tanzen, ins Theater und auf Konzerte und zu Picknicks zu gehen, so wie Mama früher. Doch ich habe in Wahrheit nie daran geglaubt, dass es tatsächlich eines Tages dazu kommen würde.“ Sie umarmte ihre Schwester und drehte sich dann einmal fröhlich im Kreis. „Es ist so spannend, Abby. Ich bin ja so glücklich.“

„Wir können uns alle glücklich schätzen“, erwiderte Abby ernst. „Jede von uns. Wenn Lady Beatrice nicht gewesen wäre …“

„Ich weiß. Aber sie besteht darauf, dass wir sie gerettet haben, was ja in gewisser Weise auch stimmt. Und ehrlich, Abby, sie genießt das Ganze ebenso wie wir. Sie könnte nicht entzückter sein, wenn wir ihre echten Nichten wären.“

„Nur gut, dass ich ihren Neffen geheiratet habe.“ Abby lachte. „Dadurch wird es ja beinahe wahr.“

„Unsinn! Deine Heirat mit Max hat nichts damit zu tun. Wenn ich Nichten will, dann kriege ich sie verflixt noch mal auch!‘“, ahmte Jane Lady Beatrice nach. Es war eine exzellente Imitation, und beide Mädchen mussten lachen.

Abby hakte sich wieder bei Jane unter, und sie gingen weiter. „Oh Jane, ich bin so glücklich. Glücklicher als ich je für möglich gehalten hätte. Du hast keine Ahnung. Die Ehe ist …“ Sie seufzte verzückt auf und errötete dann. „Aber das findest du schon bald heraus. Du wirst einen gut aussehenden jungen Mann treffen – vielleicht sogar schon auf dem Ball nächste Woche –, und dich bis über beide Ohren in ihn …“

„Glaubst du, dass Damaris und Freddy schon in der Stadt sind?“

Abby warf ihrer Schwester einen scharfen Blick zu, akzeptierte aber den abrupten Themenwechsel. „In ihrem letzten Brief schrieb Damaris, dass sie voraussichtlich heute oder morgen eintreffen, es könnte also sein.“

„Oh, gut. Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Ihre Briefe aus Venedig enthielten so wundervolle Zeichnungen – es scheint ein geradezu magischer Ort zu sein. Ich frage mich, ob ich wohl jemals dorthin komme.“

„Jane …“

Doch Jane wollte sich nicht übers Verlieben unterhalten, im Gegensatz zu Abby, die derzeit keinen anderen Gesprächsgegenstand zu haben schien. „Pass auf.“ Sie zog Abby hastig ein Stück zurück, während ein offener Zweispänner an ihnen vorbeisauste. „Du bist nicht mehr auf dem Land, Abby. Denk dran, dass hier in London reger Verkehr herrscht.“ Sie überquerten die Straße und erklommen die Stufen, die zu Lady Beatrices Haustür führten. Jane und Daisy wohnten noch immer bei der alten Dame.

Nach seiner Heirat hatte Max ein eigenes Stadthaus direkt um die Ecke gemietet und auch Daisy und Jane angeboten, dort einzuziehen, war damit jedoch bei Lady Beatrice auf größten Widerstand gestoßen. „Du willst mir meine Mädels stehlen? Schlimm genug, dass ich Abby und Damaris an dich und Freddy verloren habe. Was ist heutzutage bloß los mit frisch vermählten Paaren? Legt ihr denn gar keinen Wert auf Privatsphäre?“ Der stechende Blick, mit dem sie diese Worte begleitete, wurde durch ihre Lieblings-Lorgnette eindrucksvoll vergrößert.

Abby und Max waren daraufhin von ihrem Vorschlag abgerückt. Und Freddy hatte sich den Hinweis zu Herzen genommen und für die Saison ebenfalls ein Stadthaus in fußläufiger Nähe zum Berkeley Square angemietet.

Bevor Jane nach dem Klingelzug greifen konnte, wurde die Haustür vorsichtig geöffnet. Featherby, ihr Butler, legte sich geheimnisvoll einen weißbehandschuhten Finger an die Lippen und trat zurück, um sie einzulassen.

Daisy saß auf der Treppe, auf halber Höhe zwischen Eingangshalle und erster Etage. „Daisy?“ Jane sah sie fragend an.

„Psssst!“ Daisy versuchte, sie mit ausufernden Gesten zum Schweigen zu bringen. Jane und Abby wechselten einen verdutzten Blick. Was um alles in der Welt ging hier vor?

Featherby klopfte sich mit dem Finger gegen die Lippen, um die Notwendigkeit absoluter Stille zu bekräftigen, und deutete mit der anderen Hand auf die nur angelehnte Tür zum Salon. Stimmen drangen in die Halle. Lady Beatrice und ein Besucher. Daran war nichts Ungewöhnliches. Warum also taten Daisy und Featherby so mysteriös?

„Was …“, versuchte Jane es noch einmal.

„Pssst!“ Daisy wedelte nachdrücklich mit den Händen, um Jane zu bedeuten, sie möge zu ihr hochkommen und den Mund halten.

Verwirrt verstummte Jane. Featherby stellte sich vor die Salontür, um die Sicht auf den unbekannten Gast zu blockieren, während Jane und Abby an ihm vorbeischlichen und leise die Stufen hocheilten.

„Was ist denn los?“, wisperte Jane.

„Setz dich hin und hör zu!“ Daisy zog sie neben sich auf die Stufen. „Es geht um dich.“

Jane setzte sich. Abby folgte ihrem Beispiel. Alle drei lehnten sich ans Geländer und lauschten angelegentlich den Stimmen, die noch immer aus dem Salon drangen.

Der Mann, wer auch immer er sein mochte, sprach gerade über sich selbst. „Natürlich kennen Sie meine Familie und meine finanziellen Verhältnisse, Lady Beatrice, und wissen, dass meine Heiratswürdigkeit außer Frage steht …“

Heiratswürdigkeit? „Wovon redet er denn?“, flüsterte Jane.

„Er macht gerade ein Angebot für dich“, informierte Daisy sie, ebenfalls flüsternd.

„Für mich?“, quiekte Jane leise. Sie drehte sich zu Daisy um. „Wer ist das?“

„Lord Cambury.“

Jane starrte sie verständnislos an. „Wer?“

„Lord Cambury. Er hat zwei Mal am literarischen Salon teilgenommen.“

Jane schüttelte den Kopf. Sie hatte noch immer keine Ahnung, um wen es sich handelte.

„Kleiner dicker Kerl. Ungefähr dreiunddreißig. Flott gekleidet. Wird schon kahl.“ Sie tat so, als ob sie spärliche Strähnen über einen Glatzkopf kämmte, und auf einmal erinnerte Jane sich. Lord Cambury.

Lord Cambury? Das musste ein Missverständnis sein. Er konnte unmöglich um sie anhalten. Sie hatte kaum ein Dutzend Worte mit dem Mann gewechselt. Unwillkürlich beugte sie sich weiter vor, um die Konversation dort unten besser verfolgen zu können.

Doch plötzlich drehte Featherby, der beiläufig neben der Salontür herumgelungert hatte, sich um und gestikulierte eindringlich. Lord Camburys Stimme wurde lauter. „Dann also bis morgen, Lady Beatrice. Ich freue mich darauf.“

Er machte sich zum Aufbruch bereit. Die Mädchen standen auf und liefen rasch nach oben, außer Sichtweite.

Auf dem Treppenabsatz blieb Jane stehen, drehte sich um und spähte vorsichtig zwischen den Streben des Geländers hindurch. Kurz sah sie eine rosige glänzende Glatze, auf der sich ein paar sorgfältig drapierte dünne blonde Strähnen verteilten, bevor Featherby Lord Cambury Hut, Mantel und Gehstock reichte.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Jane tief ein. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie vor Spannung die Luft angehalten hatte.

Featherby schaute kurz zu ihnen hoch. „Ja, Mylady, Miss Jane und Lady Davenham sind wieder hier, zusammen mit Miss Daisy“, sagte er lauter als notwendig. „Soll ich sie rufen?“ Die Mädchen huschten eilig die Treppe hinunter.

„Tee, Mylady?“, erkundigte Featherby sich, als alle im Salon waren.

Lady Beatrice nickte. „Und etwas Stärkeres für mich.“ Featherby zog sich mit einer Verbeugung zurück. Die alte Dame zückte ihre Lorgnette und musterte Jane eindringlich. „Nun, Miss, du steckst ja voller Überraschungen.“

Jane klappte die Kinnlade herunter. „Ich stecke voller Überraschungen?“, echauffierte sie sich dann.

Lady Beatrice runzelte die Stirn. „Du hast nicht damit gerechnet?“

„Ich weiß nicht mal genau, was mit damit gemeint ist.“ Sie warf Daisy einen Seitenblick zu. „Daisy sagte, dass Lord Cambury einen Antrag gemacht hat. Einen Heiratsantrag. Für mich.“

„Das Mädel hat scharfe Ohren“, bestätigte Lady Beatrice. „Auch wenn natürlich keine von euch jemals an Türen lauschen sollte.“

Daisy grinste ohne jeglichen Anflug von Reue. „Die beste Methode, immer auf dem Laufenden zu bleiben.“

„Frechdachs.“ Die alte Dame schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre leuchtend roten Locken hüpften. „Aber du hast ja recht.“ Sie wandte sich Jane zu. „Lord Cambury hat offiziell um deine Hand angehalten.“

Es stimmte also. Verblüfft starrte Jane sie an. „Aber … er kennt mich doch kaum.“ Sie versuchte, sich der beiden Gelegenheiten zu entsinnen, bei denen sie mit Lord Cambury ein paar Bemerkungen gewechselt hatte. Doch ihre Erinnerung gab nur den oberflächlichsten Austausch her. Einmal war es ums Wetter gegangen, das andere Mal um ihre Vorliebe für Sahnetorte.

„Und wie es sich anhört, kennst du ihn ebenfalls nicht“, stellte Abby fest.

„Dennoch handelt es sich um ein exzellentes Angebot“, sagte Lady Beatrice. „Er ist ungeheuer reich und stolz auf seinen ausgezeichneten Geschmack.“

Ihr Diener William brachte das Tablett mit einer großen Kanne Tee und einem Teller mit Kuchen und anderen Leckereien. Featherby folgte mit der Brandy-Karaffe und schenkte Lady Beatrice nach deren Anweisungen ein – mehr Brandy als Tee.

Abby versorgte den Rest der Gruppe; nur Tee mit etwas Milch. Ein paar Minuten lang wurde die Stille im Raum nur durch das Klappern von Tassen und Löffeln unterbrochen.

„Was haben Sie ihm geantwortet?“, platzte Jane heraus, sobald William und Featherby sich entfernt hatten.

„Dass es deine Entscheidung ist, natürlich.“

„Vollkommen lächerlich“, verkündete Abby. „Als ob Jane einen derart beleidigenden Antrag auch nur in Erwägung ziehen würde. Na schön, er ist reich und ein Lord. Bildet er sich etwa ein, er wäre so reich und bedeutend, dass er darauf verzichten kann, ihr den Hof zu machen?“ Sie schaute Jane erwartungsvoll an.

Jane schwieg.

„Lächerlich vielleicht“, sagte Lady Beatrice nach einer Weile. „Aber doch ein ziemlich eindrucksvoller Fang für deine Schwester. Meine Lieben, ihr habt ja keine Vorstellung, wie viele heiratswillige Töchter und Mütter in den vergangenen zehn Jahren die Angel nach Cambury ausgeworfen haben. Und nun hält er um Jane an, noch bevor die Saison überhaupt angefangen hat!“

Sie leerte ihre Tasse und bedeutete Abby, ihr nachzuschenken – nur Tee, diesmal. „Ob du seinen Antrag nun annimmst oder nicht, dein Erfolg ist damit garantiert, mein Kind. Was für eine grandiose Saison das wird! Zwei von euch sind bereits großartig verheiratet, und nun kommt dieses grandiose Angebot für Jane, und dann auch noch ausgerechnet von Cambury.“

„Was wissen Sie über ihn?“, erkundigte sich Jane.

Plötzlich wurde es ganz still.

Abby stellte ihre Teetasse mit einem Knall ab. „Du kannst ihn nicht ernsthaft in Betracht ziehen, Jane. Du kennst ihn nicht mal, das hast du selbst gesagt.“

„Deshalb frage ich ja Lady Beatrice, was sie über ihn weiß“, erwiderte Jane ruhig. „Ich bin neugierig.“ Sie schaute ihre Schwester an. „Schließlich habe ich das Recht, so viel wie möglich über ihn zu erfahren.“

Abby biss sich auf die Unterlippe. „Selbstverständlich.“

Die alte Dame hob ihre Teetasse und betrachtete Jane einen Moment lang nachdenklich. „Gute Familie natürlich – kam mit William dem Eroberer. Und ich bin einigermaßen sicher, dass ich bei der Taufe des Jungen anwesend war.“ Sie nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und bedeutete Abby, etwas Brandy dazuzugeben.

„Was Cambury selbst betrifft“, fuhr sie fort, „habe ich nichts Nachteiliges gehört. Seine Tante Dora, Lady Embury, nimmt hin und wieder an meinem literarischen Salon teil.“ Als niemand etwas sagte, fügte sie hinzu: „Ihr Mädels müsst sie kennen. Kräftige Dame, wohnt auf der anderen Seite des Platzes. Kleidet sich oft in Violett – nicht die Farbe, die ich einer Frau mit derart rötlichem Teint empfehlen würde – und so geschwätzig, dass selbst ein Tauber Reißaus nehmen würde. Hat ein ganzes Rudel kleiner kläffender Hunde.“

„Oh ja, ich weiß, wen Sie meinen!“, rief Jane. Sie hatte die Hunde im Park gesehen, sogar schon gestreichelt.

„Dora zufolge ist ihr geliebter Edwin – also Cambury – ein Ausbund an allen denkbaren Tugenden. Ein pflichtbewusster Neffe, seine Eltern sind vor einigen Jahren gestorben, der Dora oft genug besucht, um sie glücklich zu machen, aber ihr offenbar nicht an den Rockzipfeln hängt. Er führt gelegentlich sogar diese grässlichen kleinen Köter für sie aus.“ Lady Beatrice schüttelte den Kopf. „Was er sonst so im Leben macht? Nun, nach dem, was er mir erzählte, ist es seine größte Leidenschaft, schöne Dinge zu sammeln. Er sagte, er betrachte sich als ‚einen Connaisseur der Schönheit‘.“

Sie schnaubte. „Genau genommen hat er das mehr oder weniger auf dich bezogen, Jane. Er erklärte, dass er sich eine schöne Gattin zulegen wolle, um sein Haus voll schöner Objekte zu vervollkommnen. Oder vielmehr: seine Häuser“, korrigierte sie sich. „Soweit ich weiß, besitzt er drei. Ein Stadthaus in London, seinen Landsitz Cambury Castle …“

„Ein Schloss?“, unterbrach Jane sie.

„Ja, ein wirklich prächtiges Anwesen. Und eine Adresse in Brighton; er gehört zum engeren Kreis des Prinzregenten.“

„Er ist ein Laffe!“, warf Abby hitzig ein. „Mir ist egal, zu welchem illustren Kreis er gehört oder wie viele Häuser er besitzt oder wie sehr seine Tante ihn schätzt. Jane verdient etwas Besseres als einen Mann, der sich nicht mal dazu herablässt, sie kennenzulernen, bevor er um ihre Hand anhält. Einen Mann, der sie seiner Sammlung schöner Dinge hinzufügen möchte – ich habe noch nie etwas derartig Empörendes gehört –, und ich hoffe, dass Sie ihm das klargemacht haben, Lady Beatrice.“

Die alte Dame machte eine unverbindliche Geste. „Es steht mir nicht zu, darüber zu befinden, wen Jane heiratet oder nicht heiratet. Das muss sie schon selbst entscheiden. Cambury kommt morgen um drei Uhr noch einmal her, um mit ihr zu reden.“

„Gut. Dann kann Jane es ihm selbst sagen.“ Abby wandte sich ihrer Schwester zu. „Und ich hoffe, du gibst ihm einen Korb. Was für ein arroganter Schnösel!“

Jane antwortete nicht. Sie konnte nicht klar denken. Natürlich hatte sie erwartet – nun ja, gehofft –, dass ein heiratswürdiger Gentleman sich um ihre Hand bemühen würde. Aber doch nicht, bevor die Saison überhaupt begonnen hatte. Und gewiss nicht jemand, mit dem sie bislang kaum ein Wort gewechselt hatte. Oder jemand, der so … reich war. Der ein Schloss besaß.

„Jane?“ Abby schaute sie stirnrunzelnd an. „Du wirst ihn doch wegschicken, nicht wahr?“

Jane sagte noch immer nichts. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde. Sie konnte die Blicke der anderen förmlich spüren.

„Das ist es doch, was du, deiner eigenen Aussage zufolge, immer wolltest, meine Liebe, oder nicht?“, fragte Lady Beatrice nach einem Moment des Schweigens. „Eine gute Partie machen, einen vermögenden Mann heiraten?“

„Oh, aber das war vorher“, erwiderte Abby. „Als wir bettelarm und schrecklich verzweifelt waren. Damals hätte sich wohl jede von uns bereitgefunden, einen vollkommen Fremden zu heiraten, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben und zu wissen, woher die nächste Mahlzeit kommt.“

„Und in Sicherheit zu sein“, ergänzte Jane.

„Genau. Aber nun sind wir in einer komplett anderen Situation. Es fehlt uns an nichts. Und Damaris und ich sind so sehr, sehr glücklich verheiratet. Viel glücklicher als wir jemals zu träumen gewagt hätten.“ Bei diesen Worten brach ihr die Stimme ein wenig.

Jane hegte keinerlei Zweifel am Glück ihrer Schwester. Abby leuchtete geradezu vor Liebe und Freude, und bei Damaris war es genauso gewesen, als sie sich nach Weihnachten mit Freddy in die Flitterwochen nach Venedig verabschiedet hatte.

„Daher besteht jetzt absolut keine Notwendigkeit für eine Vernunftehe. Alles ist für Janes Debüt vorbereitet, und in den nächsten Monaten wird sie Dutzende heiratswürdiger und attraktiver junger Männer treffen, und ich weiß ganz genau, dass sie sich in einen davon verlieben und glücklicher sein wird, als sie je zu träumen wagte.“

Jane lächelte. Sie wusste, was ihre Schwester sich für sie wünschte. Abby wollte, dass Jane bekam, was sie selbst hatte – alles, was ihr Herz begehrte. Aber Jane war anders als Abby.

„Glauben Sie, dass er ein freundlicher Mann ist?“, fragte sie Lady Beatrice. Es klang ganz danach, immerhin führte er die Hunde seiner Tante aus. Dass er Hunde mochte, war ein gutes Zeichen.

„Jane, du kannst diesen Antrag unmöglich ernst nehmen!“, rief Abby.

„Warum nicht? Er war doch ernst gemeint, oder?“

„Aber …“, begann Abby.

„Nicht, Abby“, warf Lady Beatrice warnend ein.

„Aber sie denkt darüber nach, den Antrag anzunehmen, sehen Sie das denn nicht?“ Sie drehte sich wieder zu ihrer Schwester um. „Was ist denn mit Liebe, Jane? Du darfst nicht ohne Liebe heiraten. Das darfst du einfach nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, jemanden zu lieben und zu wissen, dass man zurückgeliebt wird.“

Jane schluckte und wandte den Blick ab.

Abby musterte sie aus schmalen Augen. „Sieh mal“, fuhr sie in sanfterem Ton fort, „du musst das ja nicht jetzt entscheiden. Du hast alle Zeit der Welt, den richtigen Mann zu treffen, dich zu verlieben. Du wirst Dutzende passender Angebote bekommen, warte nur ab. Stimmt das etwa nicht, Lady Beatrice? Sobald die Saison begonnen hat, wird sie sich vor Verehrern gar nicht retten können.“

Jane schwieg. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, von zahllosen Verehrern umschwärmt zu werden; allein die Vorstellung war ihr unbehaglich. Männer schienen immer irgendetwas von ihr zu wollen – sie hatte nie recht verstanden, was das war. Sie schienen sich einzubilden, Jane zu kennen, selbst wenn sie sich kaum mit ihr unterhalten hatten.

Sie wollte nicht, dass Dutzende Männer um ihre Gunst buhlten, sie wollte einfach nur … sicher sein. Und ein angenehmes Leben führen.

Sie hatte sich so sehr auf ihre erste Saison gefreut, darauf, hübsche Kleider zu tragen und Bälle und Partys und Konzerte zu besuchen. Wem wäre es nicht so ergangen nach zwölf Jahren im Pillbury-Heim, wo ihre ganze Garderobe aus den abgelegten Kleidungsstücken der älteren Mädchen bestanden hatte? Sie hatte sich auch darauf gefreut, mit einer Reihe gut aussehender junger Männer zu tanzen. Darüber hinaus hatte sie sich keine weiteren Gedanken gemacht.

Oh, sie wusste natürlich, dass das alles auf eine Heirat hinauslaufen würde, und sie wollte natürlich auch verheiratet sein. Man musste verheiratet sein, um Kinder zu bekommen, und Kinder wünschte Jane sich mehr als alles andere.

Doch die Details waren eher verschwommen gewesen. Sie hatte sich vage ausgemalt, dass sie einen netten Mann kennenlernen würde, der um ihre Hand anhielt. Sie würde den Antrag annehmen und dann, wenn die Saison zu Ende war, heiraten.

Und danach würde ihr Leben – ihr wirkliches Leben – beginnen. Sie hätte einen Gatten und ein Zuhause und hoffentlich sehr bald ihr eigenes kleines Baby. Das war alles, was sie sich je gewünscht hatte: ein eigenes Zuhause und Kinder. Und natürlich war ein Ehemann die Voraussetzung, um diesen Wunsch zu erfüllen.

Aber Dutzende Verehrer … die sie anstarrten … und um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten …

„Jane“, fing Abby schon wieder an, doch Lady Beatrice hob gebieterisch eine Hand.

„Still, Abby! Ich weiß, dass du nur das Beste für deine Schwester willst – das wollen wir alle –, aber es ist Janes Entscheidung, und sie braucht jetzt Zeit, um nachzudenken. In Ruhe.“

Abby lächelte zerknirscht. „Natürlich. Tut mir leid, Schätzchen.“ Sie erhob sich und umarmte Jane. „Ich wollte dir nicht vorschreiben, was du tun sollst. Ich vergesse nur manchmal, dass du achtzehn und erwachsen bist. Eine schlechte Große-Schwester-Angewohnheit. Du wirst die richtige Entscheidung treffen, da bin ich ganz sicher.“

Jane erwiderte die Umarmung, dankbar, sich nicht erklären zu müssen, während sich ihre Gedanken noch immer überschlugen.

„Ich sollte jetzt auch besser aufbrechen“, fügte Abby hinzu. „Ich habe Max versprochen, ihn um vier zu treffen und bin schon zu spät dran.“ Sie küsste Jane. „Überstürze nichts, kleine Schwester.“

„Das werde ich nicht.“

Daisy stand ebenfalls auf. „Ich hab’ zu tun, daher mach’ ich mich auch vom Hof. Wir sehen uns oben, Jane?“

Jane nickte. „In ein paar Minuten.“ Sie wollte allein mit Lady Beatrice reden.

Nachdem Abby sich verabschiedet und Daisy sich in die obere Etage zurückgezogen hatte, setzte sie sich wieder hin, gegenüber der alten Dame. Eine Weile sagte keine der beiden etwas. Jane versuchte, ihre chaotischen Gedanken zu sortieren, und Lady Beatrice nippte an ihrem „Tee“ und knabberte dazu ein Mandelplätzchen.

„Das ist der erste Heiratsantrag, den ich bekommen habe“, bemerkte Jane schließlich. „Es ist ein wenig beängstigend. Ich habe also bis morgen Zeit, um mich zu entscheiden?“

„Keineswegs. Er könnte auf eine Antwort pochen, aber falls er das tut und es dir unangenehm ist, verweis ihn an mich. Ich werde niemandem erlauben, dich zu einer Entscheidung zu drängen. Die Ehe ist eine ernste Angelegenheit, meine Liebe, und diese Entscheidung wird dein ganzes Leben beeinflussen. Also nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.“

„Aber wenn er morgen zurückkommt …“

„Du kannst ihm sagen, dass du mehr Zeit zum Nachdenken brauchst. Es tut Männern gut, wenn man sie warten lässt – wie oft muss ich euch Mädels das noch sagen? Männer wollen, was sie nicht haben können. Sie sind von Natur aus Jäger, und je schwieriger etwas zu erringen ist, desto höher schätzen sie es. Sie im Ungewissen zu lassen, gehört zum Spiel.“

Jane schaute sie bedrückt an. „Für mich ist es kein Spiel.“

Lady Beatrice tätschelte ihr die Hand. „Das weiß ich, mein Kind. Es ist alles sehr ernst, und du tust recht daran, dir Zeit zu lassen und gründlich nachzudenken. Und selbst wenn du beschließen solltest, Cambury abzuweisen, wird es deinem Ruf keineswegs schaden, wenn sich herumspricht, dass er dich gefragt hat.“

„Oh, aber ich würde niemals jemandem davon erzählen.“

„Papperlapapp. Wer spricht denn von erzählen?“ Die alte Dame zuckte wegwerfend mit den Schultern. „Doch solche Dinge sickern nun mal oft durch, ich kann mir nicht vorstellen, wie es dazu kommt. Aber ich versichere dir, es wird deine Chancen auf keinen Fall schmälern, wenn man weiß, dass Cambury dir noch vor dem Beginn der Saison einen Antrag gemacht hat.“ Lady Beatrice grinste. „Jede heiratsfähige Miss – ganz zu schweigen von ihrer Mutter – wird dir am liebsten die Augen auskratzen wollen. Du glaubst gar nicht, wie viele strahlende Schönheiten schon versucht haben, Cambury an Land zu ziehen. Und gescheitert sind. Ganz egal, ob du ihn erhörst oder nicht – ein Triumph ist es allemal!“

Sie lachte fröhlich in sich hinein, fing sich aber schnell wieder, als sie Janes besorgte Miene sah. „Nun, ich will auf keinen Fall irgendeinen Druck auf dich ausüben, meine Liebe. Es liegt ganz allein bei dir. Wenn du ihn nicht willst, sag es ihm. Und wenn du dir unsicher bist, sag ihm einfach, dass du mehr Zeit brauchst.“

„Aber wenn ich ihn warten lasse, ändert er vielleicht seine Meinung.“

Die alte Dame beäugte sie scharfsinnig. „Kann sein. Würde dir das etwas ausmachen?“

Jane biss sich auf die Unterlippe. Genau da lag das Problem. Sie wusste es nicht.

2. KAPITEL

„Ich möchte als grundsätzliche Regel festlegen, Harriet: Wenn eine Frau schon Zweifel hegt, ob sie einen Mann abweisen soll oder nicht, sollte sie ihn unbedingt abweisen.“

Jane Austen, „Emma“

Gott, ich bin total erledigt.“ Daisy reckte sich stöhnend. Sie und Jane waren dabei, sich bettfertig zu machen.

„Vulgärausdruck, Daisy, mein Mädel, Vulgärausdruck‘“, sagte Jane in Lady Beas Tonfall. „Dreh dich um, ich schnüre dich auf.“

Lachend wandte Daisy ihr den Rücken zu, und Jane machte sich ans Werk. „Ich wird’ niemals nich’ wie ’ne Dame klingen, stimmt’s? Ich muss mir jemanden anstellen, um mein nobles Geschäft zu führen. Falls ich das je kriege, meine ich.“

„Du wirst es kriegen“, versicherte Jane ihr. „Wir haben heute eine Menge geschafft. Zwei weitere Ensembles sind fertig.“

Daisy schüttelte den Kopf. „Ja, aber es gibt noch immer haufenweise zu tun.“ Seufzend ließ sie sich aufs Bett fallen. „Ehrlich gesagt, hab’ ich keinen Schimmer, wie ich das alles schaffen soll, Jane.“

„Selbst mit Pollys und Ginnys Hilfe?“ Die beiden Zofen halfen Daisy – mit Lady Beatrices Erlaubnis – jeden Nachmittag.

Daisy nickte. „Trotzdem. Ich glaub’, ich hab’ mich übernommen.“

„Unsinn.“ Jane umarmte sie. „Du bist nur müde.“

Daisy träumte davon, eine gefragte Schneiderin zu werden – gefragt beim ton –, und wollte in der angehenden Saison nachhaltig reüssieren. Zu diesem Zweck hatte sie sämtliche Kleider für Janes Debüt entworfen und genäht, die meisten Sachen für Abby und einige für Damaris. Für Letztere nur einige, weil Freddy seine junge Frau auf der Hochzeitsreise auch nach Paris entführt hatte. Er hatte darauf bestanden, wie Damaris entschuldigend schrieb, ihr dort die allerschönsten Kleider und zwei wundervolle Pelissen zu kaufen, und sie habe es nicht übers Herz gebracht, Nein zu sagen und könne nur hoffen, dass Daisy nicht allzu beleidigt sei.

Wie Daisy Jane gegenüber bekannte, war sie – weit davon entfernt, sich beleidigt zu fühlen – sogar ein wenig erleichtert. Die Aufgabe, alle drei Mädchen für die gesamte Saison mit Kleidungsstücken zu versorgen, gestaltete sich doch weit aufwendiger als gedacht. Natürlich kümmerten Jane und Polly sich um Säume und Nähte, und Ginny, die viel Talent für feine Handarbeiten besaß, übernahm einen Teil der Stickereien, während Daisy entwarf, zuschnitt, anprobierte und den Rest der Stickereien erledigte. Und wann immer sie konnte, half auch Abby aus.

Aber es war dennoch eine Riesenanstrengung.

Sie hatten alle das Ausmaß der anfallenden Arbeiten unterschätzt. Und auch den Platz, den sie brauchen würden.

Das war der Grund, warum die beiden Mädchen ein Schlafzimmer teilten – Daisys Zimmer quoll über vor Kleidungsstücken in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung, Stoffballen, Schnittmustern, Nadeln, Unmengen an Borten, Spitzen, Fransen, Perlen und Gott weiß was noch. Daisy bezeichnete das Chaos zwar euphemistisch als „meine Prunk-Höhle“, doch nachdem ihr Bett komplett unter Schneidermaterialien begraben worden war, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als besagtes Bett und ihre persönlichen Besitztümer in Janes Zimmer zu verlegen.

So ist es auch viel gemütlicher, dachte Jane. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie in einem großen Saal geschlafen, zusammen mit vielen anderen Mädchen. Obwohl sie nach ihrem Einzug bei Lady Beatrice den Luxus eines eigenen Zimmers genossen hatte, musste sie doch zugeben, dass sie sich über Daisys Gesellschaft freute. Es gefiel ihr, vor dem Einschlafen noch einmal die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen. Außerdem hatte es seine Vorteile, jemanden zu haben, der einem beim An- und Auskleiden half, ohne dass man gleich eine Zofe bemühen musste.

„Doch genug von mir“, sagte Daisy jetzt. „Weißt du inzwischen, was du mit Lord Glatzenkämmer machen willst?“

Jane zog sich ihr Kleid über den Kopf. „Nein, ich habe mich noch nicht entschieden.“

Daisy runzelte die Stirn. „Du willst den doch nich’ etwa heiraten? Du kennst ihn doch nich’ mal.“

„Wahrscheinlich nicht“, räumte Jane ein. Aber sie würde ihn auch nicht einfach kurzerhand abweisen. Ein reicher Mann aus guter Familie, keine bekannten Nachteile, ein pflichtbewusster Neffe, der freundlich zu Tieren war. Daran war nichts Alarmierendes.

Und er besaß ein Schloss. Oh, sie war dieser albernen Kleinmädchen-Fantasie entwachsen, aber trotzdem … wenn sie morgen Ja sagte …

Daisy griff nach Janes Schnürbändern. „Ich hab’ dein Gesicht gesehen, als Abby das über das Verlieben sagte.“ Sie schaute Janes Spiegelbild an. „Ja, genau. Das Gesicht mein’ ich. Also, wie kommt’s, dass du nich’ total erpicht drauf bist, ’nen hübschen jungen Gentleman zu treffen und dich zu verlieben?“

„Es wäre sicher nett, sich zu verlieben“, erwiderte Jane unsicher. „Aber …“

„Verflixt, diese Bänder sind eng geschnürt! Was ist denn dann das Problem? Doch nich’ der Puff, oder? Ich mein’, man hat dich nich’ angerührt und nix.“ So hatten sie einander kennengelernt – Jane und Damaris waren entführt und an ein Bordell verkauft worden, und Daisy, die dort als Dienstmädchen arbeitete, hatte ihnen, mit Abbys Unterstützung, bei der Flucht geholfen.

„Nein, das ist es nicht. Es ist nur … es ist nicht so einfach. Ich kann mich nicht einfach in irgendwen verlieben. Ich muss mich vorher vergewissern, dass es sich um die richtige Sorte Mann handelt.“

Nach einer kurzen Pause sagte Daisy unverblümt: „Du meinst reich, stimmt’s?“

Jane seufzte. „Ich weiß, das klingt schrecklich, aber du musst verstehen, Daisy, ein Mädchen wie ich, ohne einen Penny, abgesehen von dem Taschengeld, das die liebe Lady Beatrice uns aus reiner Herzensgüte zur Verfügung stellt, nun … Ich muss einen reichen Mann heiraten, wenn ich …“ Sie verstummte.

„Wenn du was? Hübsche Kleider haben willst? Juwelen? Viele Partys? Oder was?“

„Kinder.“

Kinder?“ Daisy starrte Jane perplex im Spiegelbild an. „Lieber Gott, Jane, man braucht keinen reichen Kerl, um Kinder zu kriegen.“

Ich schon.“ Sie wusste nur allzu gut, was es bedeutete, wenn man zu arm war, um Kinder vernünftig aufzuziehen. Sie hatte die Konsequenzen am eigenen Leib erfahren und wäre lieber gestorben, als ihre eigenen Kinder einem derartigen Schicksal auszuliefern. „Ich glaube, es ist ratsam, einen Mann danach auszusuchen, was er einem bieten kann, als blind darauf zu vertrauen, dass man sich in die richtige Sorte Mann verliebt.“

Und ein reicher Mann, der gut zu seiner Tante war und Hunde mochte, klang nicht nach der falschen Sorte Mann.

„Sich auf die Liebe zu verlassen ist ungefähr so, als ob ein Blatt sich darauf verlässt, dass der Wind es an den richtigen Ort bläst. Man weiß nie, wo man endet. Also habe ich nicht vor, mich jemals Hals über Kopf zu verlieben. Ich werde mir meinen Ehemann sorgfältig aussuchen und mich dann in ihn verlieben.“

„So funktioniert das aber nicht.“ Daisy schüttelte wissend den Kopf. „Nicht für dich. Wenn es so weit is’, dann wirst du nich’ anders können und dich verlieben. Genau wie Abby und Damaris, die haben auch nich’ damit gerechnet. So, fertig.“

Jane zog erst ihr Mieder, dann das Unterkleid aus. „Unsinn. Die Leute suchen sich aus, ob sie sich verlieben oder nicht.“

Daisy schnaubte belustigt.

„Doch, das tun sie, es ist ihnen bloß nicht bewusst“, beharrte Jane. Sie legte ihr Hemdchen ab und schlüpfte in ihr Nachtgewand. „Ich habe das beobachtet. Am Anfang gibt es eine Phase, in der man denkt: ‚Ist er es? Oder ist er es nicht?‘ Und dann findet man Gründe, ihn entweder nicht zu mögen oder sich rosarot gefärbte Geschichten auszudenken, die belegen, wie wundervoll er ist.“

Sie stieg ins Bett. „Die Leute wählen die Option, sich zu verlieben.“ Und sie wusste, dass viele Menschen, die eine Vernunftehe eingegangen waren, sich sehr wohl verliebten; es passiert einfach nur nach der Heirat, das war alles. Weil sie für sich beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen.

Daisy legte sich ebenfalls hin. „Für manche gilt das vielleicht. Aber nich’ für dich.“

„Warum nicht? Glaubst du, ich bin eine kaltherzige, berechnende Frau? Vielleicht stimmt das ja, aber was ist verkehrt daran, ehrgeizig zu sein? Du bist das auch, wenn es um dein Geschäft geht.“

„Ja, aber ehrgeizig sein und sich verlieben, da liegen Welten dazwischen. Außerdem, ich bin ’ne harte Nuss. Ich bin in der Gosse aufgewachsen, ich weiß, was ich tun muss, um Erfolg zu haben, und ich werd’ darum kämpfen. Und klar, viele Damen haben den Ehrgeiz, sich den reichsten Kerl zu schnappen, den sie finden können. Aber nich’ du. Du hast ein Herz, so weich wie Butter.“

„Habe ich nicht!“, widersprach Jane entrüstet.

Daisy lachte. „Wer wollte denn Damaris mit aus dem Puff rausholen und hat’s sich auch nich’ ausreden lassen, obwohl dadurch die eigene Flucht gefährdet war?“

„Das war was anderes.“ Jane runzelte die Stirn. „Damaris hat mich vor dieser schrecklichen Auktion gerettet. Ich konnte sie nicht dort lassen.“

„Und dann war da diese Katze mit ihren Kleinen, die du hier mit ins Haus gebracht hast, mit allen Flöhen und so. Ohne zu wissen, wie Lady Beatrice reagieren würde. Wir hätten damals alle in hohem Bogen rausfliegen können.“

„Unser altes Gebäude sollte abgerissen werden, sie wären umgekommen. Und wir sind die Flöhe losgew…“

„Und wir wissen beide, was du mit deinem Kleingeld machst.“

„Das ist was and…“

„Finde dich damit ab, dass du das weichherzigste Geschöpf der Welt bist, Janey-Mädchen. Und wie ich dich kenne, wirst du den unmöglichsten, unpassendsten Kerl im ganzen ton finden und dich über beide Ohren in ihn verlieben.“

„Ganz bestimmt nicht. Auf gar keinen Fall werde ich etwas derartig Dummes tun!“ Allein die Vorstellung jagte ihr eine Heidenangst ein.

„Pah, du wirst gar keine Wahl haben, genauso wenig wie Abby und Damaris es sich aussuchen konnten. Und wenn irgendwer für die Liebe geschaffen ist, dann du. Du kannst sagen, was du willst, Janey, die Liebe wird dich trotzdem erwischen. Und jetzt schlaf. Wir haben morgen früh jede Menge zu tun. Du bist dran, die Kerze auszublasen.“

Jane schlüpfte aus dem Bett und pustete die Flamme aus. Dann kroch sie zurück unter ihre Decke. Du wirst den unmöglichsten, unpassendsten Kerl im ganzen ton finden und dich über beide Ohren in ihn verlieben.

Das würde sie nicht. Absolut nicht.

„Jane! Jane, wach auf!“ Eine Hand schüttelte ihre Schulter, heftig.

„Wa…“ Jane setzte sich abrupt auf und starrte mit wilden Blicken um sich. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Du hast schon wieder geträumt.“ Daisy saß auf Janes Bett. „Noch’n Albtraum.“

Jane blinzelte. Langsam ließ ihre Benommenheit nach. Sie schaute zum Fenster. Die Vorhänge bewegten sich leicht im Wind, ließen einen Schimmer der grauen Morgendämmerung ins Zimmer.

„Geht’s wieder?“, fragte Daisy.

Jane nickte. „Danke.“ Es war der übliche Traum gewesen.

Daisy rührte sich nicht vom Fleck. „In letzter Zeit träumst du ziemlich oft. Und schreist und weinst.“

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufwecken.“ Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr. „Was sage ich denn?“

„Die Worte selbst sind unverständlich. Du murmelst und rufst irgendwas und wälzt dich hin und her. Aber darum geht’s auch gar nich’. Es liegt an der Nachtluft, das sag’ ich dir immer wieder. Jeder weiß, dass Nachtluft schädlich ist, aber du bestehst darauf, bei offenem Fenster zu schlafen.“

„Ich mag es nicht, wenn das Fenster geschlossen ist.“

Daisy stand auf und marschierte zum Fenster. „Tja, dumm gelaufen, weil ich’s nämlich jetzt zumache. Da draußen ist’s verdammt kalt, und es dauert noch mindestens eine Stunde, bis es hell genug zum Nähen ist, also sehe ich zu, dass ich noch ’ne Runde Schlaf krieg.“ Sie zog die Vorhänge zur Seite und schnupperte genüsslich. „Hmm, wir müssen Ostwind haben. Riechst du das? Bei Ostwind kann man immer das frische Brot aus der Bäckerei riechen. Der beste Geruch auf der ganzen Welt.“

Jane unterdrückte ein Schaudern.

„Hmmm, wie lecker das duftet. Macht mich hungrig.“ Daisy schnupperte noch einmal ausgiebig, dann schloss sie das Fenster und zog die Gardinen zu. „Schon komisch“, bemerkte sie, während sie sich wieder ins Bett legte.

„Was ist komisch?“

„Du scheinst bei Ostwind besonders oft schlecht zu träumen. Gute Nacht.“ Sie lachte. „Oder was immer man sich gegenseitig wünscht, wenn man morgens noch mal schlafen geht.“

„Gute Nacht. Und danke, Daisy.“ Jane kuschelte sich in ihre warmen Decken. Sie wusste, dass sie keinen Schlaf mehr finden würde. Nach dem Traum war es ihr noch nie gelungen, wieder einzuschlafen.

Daisy fragte nie, wovon ihre Albträume handelten. Sie ging ganz selbstverständlich davon aus, dass jede von ihnen schreckliche Erinnerungen mit sich herumtrug. „Das is’ normal, nich’ wahr?“, hatte sie einmal gesagt. „Aber wir sind Überlebende, und schlechte Träume sind halt der Preis, wenn man überlebt.“ Das war eine tröstliche Einstellung. Träume waren beängstigend, während man sie hatte, aber sie konnten einem nicht wirklich wehtun.

Und Jane hatte überlebt.

London, 1804

Eine Faust hämmerte an die Tür. Drei laute Schläge. Jeder davon brachte die Tür zum Scheppern. „Komm schon, Kleine, mach auf!“

Stille. Jane rührte sich nicht. Außerdem war sie nicht mehr klein. Sie war schon sechs.

„Ich weiß, dass du da drin bist, Kleine.“

Sie wagte kaum zu atmen.

„Ich habe hier eine Tüte Bonbons für dich. Mach die Tür auf, dann kannst du sie haben.“

Bonbons? Sie liebte Bonbons, hatte nur ein paarmal in ihrem Leben welche bekommen, aber dennoch bewegte sie sich nicht. Mr. Morrison, der Vermieter, machte ihr Angst, Bonbons hin oder her.

Außerdem durfte sie die Tür nicht öffnen. Für niemanden. Das hatte Abby gesagt. Für niemanden. Nur für Abby.

Draußen im Flur sprach Mr. Morrison jetzt mit gedämpfter Stimme. Jemand war bei ihm. Jane schlich näher zur Tür und presste das Ohr gegen das Holz.

„Sie ist da drin, das weiß ich genau. Und allein – ihre Schwester arbeitet in der Bäckerei und kommt erst in ein paar Stunden zurück.“

„Dann schließen Sie die verfluchte Tür auf. Ich hab’ nich’ den ganzen Tag Zeit.“

Jane erstarrte. Diese Stimme kannte sie. Sie gehörte dem Mann. Dem Mann. Sie begann zu zittern. Der Mann hatte schon mehrmals versucht, sie zu kriegen. Oh, wo blieb bloß Abby? Sie biss sich auf die Fingerknöchel und starrte zur Tür.

Das erste Mal hatte er sie einfach auf der Straße gepackt, aber Abby war da gewesen und hatte Jane zurückgezogen, und der Mann war weggegangen.

Das zweite Mal hatte sie draußen mit den anderen Kindern gespielt, und plötzlich war da ein Junge gewesen, der eine Orange aß. Sie kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er kam direkt auf sie und gab ihr ein Stück. Und, oh, es war köstlich, so süß und saftig, und der Junge sagte, dass ein Mann Orangen an Kinder verteilte, einfach so, umsonst, sie müsste einfach nur um die Ecke gehen.

Aber als Jane um die Ecke bog, stellte sich heraus, dass es der Mann war – und auf sie wartete. Er warf ihr einen Sack über den Kopf und hätte sie mitgenommen, doch sie schrie wie am Spieß, und die anderen Kinder – Mama nannte sie Gossenkinder, aber sie waren Janes Freunde –, kamen ihr zu Hilfe. Die ganze Gruppe hatte sich auf den Mann gestürzt, und er hatte Jane fallen gelassen, und sie war geflüchtet, nach Hause zu Mama gerannt, wo sie in Sicherheit gewesen war.

Doch Mama war jetzt tot und Jane ganz allein.

Wieder klopfte es an der Tür, sanfter diesmal, und Mr. Morrison versuchte, freundlich zu klingen, obwohl sie spürte, dass er wütend war. „Jetzt stell dich nicht so an, Mädchen. Du kennst mich. Niemand wird dir etwas tun.“

Ein Schlüssel knarzte im Schloss, und der Türknauf drehte sich. Zitternd starrte Jane darauf, wie auf eine giftige Schlange. Letzten Monat hatte Abby auf Mamas Wunsch einen Riegel angebracht. Mr. Morrison wusste nichts von dem Riegel. Aber war der stark genug, um ihn und den Mann auszusperren?

An der Tür wurde gerüttelt, blieb aber verschlossen. Mr. Morrison fluchte.

Einmal war der Mann hier gewesen als Mama noch lebte. Mama hatte Mr. Morrison erwartet, wegen der Miete, und zu Jane gesagt, sie solle sich im Schrank verstecken wie eine kleine Maus und die Tür von innen zuhalten und sich nicht bewegen oder rauskommen, ganz egal was sie hörte, bis Mama sie rief.

Es war tatsächlich Mr. Morrison, aber er brachte den Mann mit. Jane konnte ihn durch eine Ritze in der Schranktür sehen. Sie hörte, wie er zu Mama sagte, dass er bereit sei, Jane eine gute Arbeit und ein gutes Zuhause und reichlich Essen zu geben, und dass er Mama zehn Pfund für sie bezahlen würde. Zehn Pfund! Aber Mama wurde wütend und fing an zu husten und schrie den Mann an, er solle verschwinden und nicht wagen, eine ihrer Töchter anzurühren. Doch der Mann sagte, dass er die andere sowieso nicht wolle, nur Jane.

Und dann sagte er Mama, dass sie ohnehin nicht mehr lange leben und er Jane früher oder später schon bekommen würde. Und wenn nicht er, dann eben jemand anders. Jane sei in den richtigen Händen viel Geld wert, und wenn Mama sie ihm jetzt verkaufen würde, könne sie Medizin für sich und Essen für ihre andere Tochter kaufen.

Mama nannte ihn einen schmierigen Zu-irgendwas und schrie immer wieder, er solle verschwinden! Verschwinden! Und sich von ihren Töchtern fernhalten! Je zorniger und aufgeregter sie wurde, desto schlimmer hustete sie, und der Mann lachte, weil sie am Ende vor lauter Husten kaum noch sprechen konnte.

Er hörte auf zu lachen, als sie Blut auf ihn hustete, und wich fluchend zurück.

Die Leute kriegten immer Angst, wenn Mama Blut hustete. Jane und Abby waren daran gewöhnt. Nachdem der Mann weg war, hatte Jane das Tuch und die Schüssel mit Wasser geholt und Mama ein paar Tropfen aus der kleinen blauen Flasche gegeben, und kurz darauf hörte der Husten auf.

Jane wollte wissen, warum der Mann sie wollte und nicht Abby. Abby war stärker und schneller und viel klüger als Jane. Sie war schon zwölf und konnte lesen und schreiben und überhaupt alles. Sie hatte sogar schon eine Arbeit, in der Bäckerei. Jane war erst sechs und konnte gar nichts besonders gut.

„Warum will er mich und nicht Abby, Mama?“, fragte sie.

Mama legte ihre schmale weiße Hand an Janes Wange. „Weil du schön bist, mein Liebling“, sagte sie, und es klang sehr traurig. „Weil du schön bist.“

Sie hatte noch hinzugefügt, dass der Mann ein sehr böser Mann war, ein ganz schlimmer Mensch. Dass sie nach ihm Ausschau halten und sich von ihm fernhalten sollte. Und dass sie, wenn Mama nicht mehr da sein würde, immer brav in Abbys Nähe bleiben müsste.

Mama war vorige Woche gestorben, aber Jane durfte nicht mit Abby zur Arbeit gehen. Ihr Boss wollte kein kleines Kind in seiner Bäckerei haben. Er sagte, dass Jane nur stören und für Unruhe sorgen würde. Abby versprach hoch und heilig, dass Jane sich mucksmäuschenstill verhalten würde, aber nichts hatte geholfen. Also musste Jane, wenn Abby arbeitete, hierbleiben, allein in dem kleinen Raum, der ihr Zuhause war. Abby meinte, dass das sicherer war als auf der Straße zu spielen.

Jane fühlte sich überhaupt nicht sicher. Auf der Straße waren wenigstens noch die anderen Kinder.

Wieder wurde an der Tür gerüttelt. „Mach sofort auf!“, brüllte Mr. Morrison.

„Oh, in Gottes Namen, treten Sie das Ding einfach ein“, hörte sie den Mann zischen. „Ich zahle den Schaden.“

Verzweifelt schaute Jane sich um. Es gab keinen Platz, an dem sie sich verstecken konnte. Sie würden bestimmt in den Schrank gucken. Es gab keinen Weg nach draußen, außer durch die Tür. Selbst das Fenster war zugenagelt, seit die Scheibe vor langer Zeit zerbrochen war.

Das Fenster! Im Sommer hatte Abby ein paar der Nägel gelockert, damit ein bisschen frische Luft ins Zimmer kam. Etwas knallte gegen die Tür, die unter dem mächtigen Schlag erbebte. In der Mitte bildete sich ein Riss, von oben bis unten.

Jane rannte zum Fenster. Mit zitternden, ungeschickten Fingern löste sie die lockeren Nägel. Eins der Bretter schwang nach unten und gab einen schmalen Spalt frei. Sie konnte nach draußen schauen, ins Tageslicht.

Sie hörte das Geräusch von splitterndem Holz, aber Jane drehte sich nicht um. Hastig zwängte sie sich durch die Lücke zwischen den Brettern. Es war sehr eng, sie musste tüchtig quetschen.

Hinter ihr gab die Tür endgültig nach. Sie hörte einen Schrei und Schritte.

Sie wand sich verzweifelt, hörte, wie etwas zerriss, spürte, wie jemand nach ihrem Fuß griff. Doch sie trat heftig nach hinten und plumpste kopfüber durch die Öffnung auf den Gehsteig, einen ihrer Schuhe zurücklassend.

„Komm zurück, du kleine Schlampe!“, schrie Mr. Morrison, aber Jane dachte gar nicht daran.

Sie rappelte sich auf und rannte, rannte, rannte, ohne Atempause, trotz Seitenstechen, obwohl sie nur einen Schuh trug. Sie blieb nicht stehen, bevor sie den Hintereingang der Bäckerei erreicht hatte, wo sie Abby fand, in einer viel zu großen Schürze und mit Mehl bedeckt. Japsend warf sie sich in die Arme ihrer großen Schwester. „Oh, Abby, Abby, Abby!“

Abby hielt sie ganz fest. „Was ist passiert, Janey? Was machst du hier? Und wo ist dein Schuh?“

Zitternd und keuchend brachte sie heraus: „Er ist gekommen, Abby, der Mann, mit Mr. Morrison, und ich habe ihnen nicht aufgemacht, ganz, wie du gesagt hast. Aber er hat so laut geklopft, und dann hat der Mann gesagt, er soll die Tür aufbrechen, und …“ Schluchzend brach sie ab.

„Schhhh, Schätzchen, alles ist gut“, murmelte Abby besänftigend. „Du bist jetzt hier bei mir, du bist sicher.“

„Ich bin durchs Fenster geklettert.“ Sie schaute auf ihren verbliebenen Schuh und schauderte. „Jemand hat meinen Fuß gepackt, als ich noch nicht ganz draußen war. Er hat meinen Schuh, Abby. Der Mann hat meinen Schuh.“

„Ja, aber dich hat er nicht“, erwiderte Abby bestimmt. „Und das ist die Hauptsache.“

„Wir können nicht dorthin zurück, Abby. Er hat Mr. Morrison bezahlt, damit der ihn reinlässt.“

„Was macht das Kind hier?“, dröhnte eine tiefe Stimme. „Ich habe dir doch gesagt, keine Kinder!“ Es war der Bäcker, dick und rotgesichtig, mit einem großen Bart.

„Warte hier.“ Abby setzte Jane auf einen umgedrehten Eimer und ging mit raschen Schritten zum Bäcker. Jane konnte nicht hören, was sie sagte, aber der Bäcker drehte sich ein paarmal zu ihr um und schaute sie stirnrunzelnd an.

Sobald Abby wieder bei ihr war, sagte Jane: „Ich gehe nicht zurück. Er ist …“

„Shhh. Ich gehe, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, aber nur, um unsere Sachen zu holen.“

„Was ist mit mir?“ Jane warf einen ängstlichen Blick auf den Bäcker.

„Er sagt, du kannst tagsüber im Hof bleiben.“

„Du hast mir doch erzählt, dass da Ratten sind.“ Jane fürchtete sich vor Ratten. Sie war als kleines Mädchen einmal von einer gebissen worden. Die Narbe hatte sie immer noch.

„Es gibt zwei Katzen und einen kleinen Hund, die die Ratten vertreiben“, versicherte Abby. „Das wird dir gefallen, stimmt’s?“

Jane nickte. Sie liebte Tiere, abgesehen von Ratten.

„Hast du Hunger?“

Wieder nickte Jane. Sie war immer hungrig.

„Ich bringe dir ein schönes warmes Brötchen.“ Sie holte das Gebäck und gab es ihr. Das war überhaupt das Beste daran, in einer Bäckerei zu arbeiten; Abby durfte immer altbackenes Brot mit nach Hause nehmen. Meist war es alles, was sie zu essen hatten.

„Abby, wo sollen wir jetzt wohnen?“

Abby sah zum Bäcker, der gerade Bretter voller Brote aus dem Ofen holte.

„Er sagt, wir können für zwei Nächte oder so in der Scheune schlafen, auf den Mehlsäcken, bis wir woanders unterkommen. Mach dir keine Sorgen, irgendwas wird sich schon finden. Ich schreibe ein paar Briefe. Wir können so nicht weitermachen.“

„Briefe, wie Mama sie geschrieben hat?“ Mama hatte oft geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten.

Abby seufzte. „Ich weiß. Aber was bleibt uns anderes übrig?“

Jane lag zusammengerollt im Bett und dachte an die Vergangenheit.

Überstürze nichts, hatte Abby gesagt.

Aber Jane teilte nicht Abbys Vorstellungen von überstürztem Handeln. Abby war der Ansicht, es wäre überstürzt, den Antrag eines reichen Mannes aus guter Familie und mit gutem Ruf anzunehmen – und zwar einzig und allein deshalb, weil Jane diesen Mann nicht besonders gut kannte. Ihn nicht liebte.

Aber Abby war zwölf gewesen, als Mama und Papa starben. Abby konnte sich an Zeiten erinnern, in denen ihre Eltern glücklich miteinander waren. Abby glaubte an die Liebe. Und sie hatte Glück gehabt.

Jane besaß kaum Erinnerungen an jene Tage. Sie erinnerte sich vor allem an Hunger, Kälte und Unbehagen. Und an ihre Angst. Den größten Teil ihres Lebens war sie allein gewesen, ohne Familie.

An die Liebe glauben? Darauf vertrauen, sich in den Richtigen zu verlieben?

Mama und Papa hatten es so gemacht – und man sah ja, wie das geendet hatte. Papa, der als Straßenräuber erschossen worden war, weil die Verzweiflung ihn zu kriminellen Handlungen getrieben hatte. Mama, die sich vor Schwindsucht die Lunge aus dem Leib gehustet und ihre Töchter bettelarm und allein zurückgelassen hatte, mit zwölf und sechs Jahren.

Es war vermutlich reines Glück, dass sie und Abby nicht immer noch in Armut dahinvegetierten.

Glück – und Daisy … und Lady Beatrice … und eine vorteilhafte Verkettung zufälliger Ereignisse … Aber man konnte sich nicht für immer und ewig auf sein Glück verlassen.

Durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang das rosige Licht der Morgendämmerung. Jane kuschelte sich tiefer in ihre warmen Decken. Nein, sie würde nichts überstürzen.

3. KAPITEL

„Oh, Lizzy! Tu alles, was dir in den Sinn kommt, aber heirate nicht ohne Liebe!“

Jane Austen: „Stolz und Vorurteil“

Lord Cambury traf genau um Punkt drei Uhr ein.

Pünktlichkeit ist gut, dachte Jane. Es zeigte, dass er Wert auf Höflichkeit legte und, zumindest in kleinen Dingen, zu seinem Wort stand. Während er sie und Lady Beatrice begrüßte und in den Salon geführt wurde, musterte Jane ihn aufmerksam.

Er war recht füllig um die Taille herum, nur ein paar Zentimeter größer als sie und wirkte von seiner ganzen Statur her nicht bedrohlich. Gekleidet war er adrett und modisch: hellbraune Breeches, glänzend polierte schwarze Stiefel, das Halstuch elegant, aber nicht exzentrisch arrangiert. Der Schnitt seines Gehrocks offenbarte die Hand eines kunstfertigen Schneiders. Das spärliche Haar war sorgfältig frisiert, um die schon recht kahle Kopfmitte zu kaschieren, und mit Pomade fixiert. Lord Glatzenkämmer. Jane versuchte, nicht an Daisys spöttischen Kommentar zu denken. Schließlich war es nicht der Fehler des armen Mannes, dass seine Haare sich bereits verabschiedeten.

Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten und dem Angebot, Erfrischungen kommen zu lassen – Lord Cambury lehnte dankend ab –, ließ Lady Beatrice sie allein mit ihm. Jane setzte sich, strich ihren Rock glatt und versuchte, ruhiger zu erscheinen als ihr zumute war.

„Sie sehen bezaubernd aus“, sagte Lord Cambury mit anerkennendem Lächeln. „Ich glaube nicht, dass ich in all meinen Jahren in der Gesellschaft eine schönere junge Dame sah. Und glauben Sie mir, ich habe Ausschau gehalten.“ Er hob die Hände und formte eine Art Rahmen mit seinen Fingern, den er erst gerade vor ihr Gesicht hielt, dann in verschiedene Richtungen drehte. „Perfekte Proportionen, egal, aus welchem Winkel man es betrachtet.“

Errötend bedankte Jane sich für das Kompliment. Ihr war immer etwas unbehaglich, wenn die Leute über ihr Aussehen redeten. „Ich hörte, dass Sie gelegentlich die Hunde Ihrer Tante ausführen.“

„Ja, ich mag Hunde.“

„Ich ebenfalls. Mögen Sie auch Katzen?“

„Stören mich nicht, halte aber keine. Muss dann niesen.“

„Ah.“

Eine kurze Pause entstand. „War letzte Woche bei Ihrem literarischen Salon“, bemerkte Lord Cambury dann. „Hörte Sie lesen.“

„Ja, ich entsinne mich.“

„Lese normalerweise nicht viel. Langweilig.“

„Oh.“

„Aber Sie haben eine hübsche Stimme. Macht mir nichts aus zuzuhören.“

„Danke.“

Beide schwiegen eine Weile. Janes Kopf fühlte sich an wie leer gefegt, sie suchte vergeblich nach unverfänglichen Gesprächsthemen. Es fiel ihr schwer, so zu tun, als wäre das hier ein gewöhnlicher Besuch, da sie doch den wahren Grund seiner Anwesenheit kannte. Sie war geradezu absurd aufgeregt.

„Hat Ihre gesetzliche Vertreterin Sie über den Grund meiner Anwesenheit informiert?“

Ah, er hatte also nicht vor, um den heißen Brei herumzureden. Kein Flirtversuch, keine Illusion, dass es sich um etwas anderes handelte als eine geradlinige Übereinkunft. Jane entspannte sich etwas. „Ja, das hat sie.“ Lady Beatrice war nicht ihre gesetzliche Vertreterin, nicht offiziell, aber das spielte keine Rolle.

Er setzte zu der Rede an, von der sie das meiste bereits am Vortag von der Treppe aus belauscht hatte. Sie hörte höflich zu, als er den Wunsch äußerte, die Kollektion schöner Dinge, die er sein Leben lang gesammelt hatte, durch eine schöne Ehefrau zu vervollkommnen. Taktvoll fügte er hinzu, dass er hoffe, sie werde ihm zu einem späteren Zeitpunkt schöne Kinder schenken, denn natürlich benötige er einen Erben.

Dann erläuterte er seine heiratswürdigen Umstände, wenn auch nicht ganz so detailliert wie gestern gegenüber Lady Beatrice. Äußerst präzise fiel jedoch die Beschreibung aller drei Anwesen in seinem Besitz aus, bis hin zur Ausstattung und Einrichtung – als ob sie nicht nur ihn, sondern auch seine Häuser heiraten würde.

Was in gewisser Weise auch stimmt, dachte sie. Schließlich ging es ihr bei dieser Heirat vor allem um ein Zuhause.

Das Ganze kam ihr ein wenig seltsam vor, aber Jane fühlte sich in seiner Gegenwart kein bisschen unwohl. Er starrte sie an, aber nicht auf diese Weise. Nicht auf die Art, wie es so viele andere Männer taten – was ihr für gewöhnlich äußerst unangenehm war. Nein, bei ihm war es beinahe so, als wäre sie ein Gemälde oder eine Statue, kein lebendiger Mensch.

Er beendete seinen Vortrag, zögerte kurz und ging dann vor ihr auf die Knie. „Miss Chance, geben Sie mir die Ehre, meine Frau zu werden?“

Jane atmete tief durch. Der entscheidende Moment war gekommen. Mit einem schlichten Ja könnte sie ihre Zukunft absichern. Und die Zukunft aller Kinder, die sie vielleicht haben würde. Doch sie rechnete ihm hoch an, dass er nicht versucht hatte, sie mit falschen Liebesbeteuerungen einzulullen, und schuldete ihm dieselbe Aufrichtigkeit.

Offenbar würde sie doch etwas Überstürztes tun.

„Bitte setzen Sie sich, Lord Cambury“, hörte sie sich sagen. „Es gibt da ein, zwei Dinge, die ich klarstellen muss, bevor ich Ihre sehr schmeichelhafte Frage beantworte.“

Stirnrunzelnd erhob er sich, klopfte seine Breeches ab und ließ sich erneut auf seinem Sessel nieder.

„Vielen Dank für Ihren Antrag“, fuhr sie fort. „Ich fühle mich zutiefst geehrt.“

„Aber?“

„Aber Sie müssen etwas über mich wissen, bevor Sie mich erneut fragen.“ Die Falten über seiner Nasenwurzel wurden tiefer, doch sie sprach weiter, mit leicht zitternder Stimme. „Sie haben Miss Chance gebeten, Ihre Frau zu werden. Ich bin … Ich bin nicht Miss Chance. Chance ist ein Name, den wir – meine Schwestern und ich – uns ausgedacht haben, als wir in Schwierigkeiten waren und auf der Flucht und vor einem bösen Mann, der uns Schaden zufügen wollte. Mein echter Name lautet Jane Chantry.“

Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „Die Chantrys aus Herfordshire.“

Sie wusste nicht, ob seine Worte als Frage gemeint waren oder nicht, beschloss aber, sie als solche zu behandeln. „Ich glaube schon, auch wenn meine Schwester Abby und ich nie in Kontakt zur Familie meines Vaters standen.“ Die Chantrys aus Herfordshire hatten Janes und Abbys Existenz nie zur Kenntnis genommen. Nicht, als Papa seine Eltern von der Geburt der Mädchen unterrichtete. Nicht, als Mama ihnen mitteilte, dass Papa getötet worden war. Und auch nicht, als die zwölfjährige Abby sie nach Mamas Tod wissen ließ, dass sie und ihre kleine Schwester nun verwaist, verarmt und allein waren. Die Chantrys aus Herfordshire hatten keine Hilfe angeboten, keinerlei Interesse gezeigt.

„Es gab auch keinen Kontakt zu der Familie meiner Mutter, den Dalrymples. Unsere Eltern starben, als ich sechs war, und Abby und ich kamen in ein Waisenhaus.“

„Waisenhaus?“

Jane reckte das Kinn. „Ja, das Pillbury-Heim für Töchter in Not geratener Damen. Dort lebte ich zwölf Jahre lang.“

Seine strohblonden Brauen hoben sich. „Und was ist mit dem Marchese di Chancealotto?“

Sie schluckte. „Ich fürchte, der ist ein Lady Beatrices Fantasie entsprungenes Fabelwesen, das irgendwie die Aufmerksamkeit des ton erregte und für bare Münze genommen wurde. Wir können uns nicht öffentlich von diesem Phantom distanzieren, ohne Lady Beatrice bloßzustellen, also tun wir es nicht. Wir verdanken ihr alles und würden ihr um nichts auf der Welt Kummer bereiten wollen.“ Auch wenn höchst zweifelhaft war, ob es überhaupt etwas gab, das Lady Beatrice in Verlegenheit bringen konnte.

Die alte Dame hatte die haarsträubende Geschichte eines Abends beim Dinner mutwillig zum Besten gegeben, um ihren Neffen Max zu ärgern. Keine von ihnen hätte sich damals träumen lassen, dass irgendwer das Ganze ernst nehmen würde. Doch die spontane Schwindelei hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer und galt inzwischen als unerschütterliche Tatsache – zur unverhohlenen Freude von Lady Beatrice.

Wieder runzelte er die Stirn. „Und Lady Beatrice ist …“

„Eine liebe, über alles geliebte Freundin. Aber keine Blutsverwandte.“

„Und doch hat Lady Beatrices Neffe Ihre Schwester geheiratet. Weiß er Bescheid?“

„Ja.“

Nachdenklich lehnte Lord Cambury sich in seinem Sessel zurück. „Verstehe. Und Ihre anderen Schwestern?“

„Ebenfalls liebe, über alles geliebte Freundinnen, aber nicht verwandt mit Abby und mir. Dessen ungeachtet betrachten wir uns als Schwestern des Herzens, und nichts und niemand könnte mich dazu bringen, sie zu verleugnen“, erwiderte Jane bestimmt.

„Verstehe.“

Nein, das tat er nicht. Denn es kam ja noch schlimmer. Sie holte tief Luft und strich mit zittrigen Händen erneut über ihren Rock. Was nun kam, war der schwierigste Teil. „Ich muss Ihnen offenbaren, wie wir uns getroffen haben, erbitte mir aber vorab Ihr Wort als Gentleman, dass sie das, was ich Ihnen nun erzähle, niemandem gegenüber erwähnen, denn die Geheimnisse, die zu enthüllen ich im Begriff bin, gehören nicht mir allein.“

Er musterte sie aus verengten Augen und schürzte die Lippen. Dann nickte er knapp und gab ihr sein Wort.

Mit leiser Stimme und ohne ihn dabei anzuschauen, schilderte sie, wie sie während ihrer Reise vom Pillbury-Heim zu ihrer neuen Anstellung betäubt und entführt worden war. Wie sie sich nach dem Aufwachen in einem Bordell wiederfand, wo Damaris, ebenfalls ein Entführungsopfer, sie vor der Jungfrauen-Auktion rettete, indem sie ihr einen Kräutertrank braute, der Jane so krank werden ließ, dass man sie nicht verkaufen konnte.

Autor

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

Mehr erfahren
Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Chance Sisters