Gerettet von deiner Liebe

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Jubel begrüßt James Trevenen, den nach einem Schiffbruch alle für tot hielten, bei seiner Heimkehr nach London. Jahrelang hat er allein auf einer unbewohnten Südseeinsel überlebt! Alle Damen der feinen Gesellschaft wollen den wagemutigen Forscher kennenlernen - doch nur eine kommt ihm näher: die schöne junge Witwe Susannah Park. Aber wenn sie mit ihm zusammen ist, spürt sie nicht nur prickelnde Sehnsucht nach diesem faszinierenden Mann, sondern auch, dass ihn ein dunkles Geheimnis bedrückt. Susannah hat nur noch einen Wunsch: James' Herz zu heilen - und es für sich zu gewinnen …


  • Erscheinungstag 10.11.2008
  • Bandnummer 250
  • ISBN / Artikelnummer 9783863499525
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Gottbewahre! Jedes Mal, wenn ich einen Brief von Sir Joseph erhalte, stockt mir das Blut in den Adern“, verkündete Lord Watchmere beim Frühstück.

Er warf einen Blick zu seiner Frau, den beiden Töchtern und seinem Enkelsohn, ehe er wieder auf das Schreiben starrte. „Es bedeutet nichts Gutes, wenn er mit den Worten beginnt: ‚Mein lieber Watchmere, ich vergaß, Dir mitzuteilen …‘“

„Er muss doch wissen, wie beschäftigt wir sind“, bemerkte Lady Watchmere tadelnd.

Beschäftigt womit?, fragte Susannah Park sich. Verglichen mit dem Großteil der Bevölkerung leben wir doch nur in den Tag hinein. Sie beobachtete ihren kleinen Sohn, der sich nicht für das Gespräch interessierte. Eigentlich müsste sie ihm dringend die Haare schneiden, wartete aber stets so lange wie möglich damit, weil seine Locken sie an ihren Ehemann David erinnerten, der nur noch als Miniaturporträt im ovalen Goldrahmen auf ihrem Nachttisch existierte.

Ihre Mutter ergriff wieder das Wort. „Sir Joseph ist zwar dein Verwandter und Susannahs Pate, dennoch ist er eine Last.“

„Und davon haben wir weiß Gott genügend in der Familie“, bemerkte Loisa spitz.

Der kleine Noah schaute zu Susannah auf und rückte näher zu ihr. Sie strich ihm über die Locken und war sich deutlich bewusst, dass Loisa ihr böse Blicke zuwarf. Wie lange willst du mich noch mit Verachtung strafen, Loie?, dachte sie. Habe ich dir tatsächlich alle Chancen im Leben verdorben, nur weil ich mit David durchgebrannt bin?

Lord Watchmere klärte die Familie über den weiteren Inhalt des Schreibens auf. Der Mann, der in diesem Jahr von der Royal Society mit der Copley-Medaille ausgezeichnet werden sollte, wurde noch diese Woche in London erwartet, und Sir Joseph Banks, Vorsitzender dieser erlauchten Gesellschaft, bat Lord Watchmere um einen Gefallen. „Hör zu Agatha, hier schreibt er: ‚Ein englischer Marineoffizier, der nach einem Schiffbruch fünf Jahre auf einer einsamen Insel gehaust hat und von Missionaren gerettet wurde, kehrte acht Monate nach seiner Rettung in seine Heimat zurück.‘“

Watchmere stocherte mit der Gabel auf den Brief ein. „Hier kommt es, Agatha: ‚Seine Rettung ist ein Segen und seine wissenschaftliche Abhandlung ein großer Triumph für die Royal Society. Leider macht mir meine Gicht sehr zu schaffen, und ich wäre ein schlechter Gastgeber.‘“

Er las weiter und erklärte dann: „Wir sollen diesen komischen Vogel bis zum Festakt bei uns aufnehmen. Danach steigt er in die Postkutsche und kehrt nach Cornwall zurück. Gütiger Himmel, Cornwall.“ Er dachte mit Grausen an die rauen Küsten dort, während er sich an Susannah wandte. „Und nun komme ich zum Postskriptum, meine Liebe. Sir Joseph wünscht, dass du dich dieses Mannes annimmst.“

„Ich?“

„Clarence! Das schickt sich nicht!“, entrüstete sich seine Frau. „Susannah wird … nirgendwo empfangen.“

„Und ich verdanke ihr meinen gesellschaftlichen Ruin“, bemerkte Loisa bissig. „Soll sie tatsächlich mit einem Bauerntölpel aus Cornwall durch die Stadt flanieren?“

„Dann nimmst du dich eben seiner an, Loisa“, legte Lord Watchmere ihr nahe. „Nach den ausgestandenen Strapazen ist er gewiss ein siecher Mann, der keine Ansprüche stellt, abgesehen von einem gelegentlichen Ausflug in den Hyde Park und einem Glas Milch vor dem Schlafengehen.“

„Ich denke nicht daran!“, rief Loisa empört.

Lord Watchmere wandte sich an Susannah. „Also trifft dich das Los, mein Kind. Du neigst nur noch selten zu Unbesonnenheiten.“ Er hüstelte in seine Serviette. „Jedenfalls seit deinem traurigen Fehltritt.“

„Clarence, Susannah ist fünfundzwanzig“, erinnerte ihn Lady Watchmere.

„Und sie hat mehr Verstand als die meisten Frauen, die doppelt so alt sind wie sie“, beendete ihr Mann die Debatte. „Du kannst Spaziergänge mit ihm unternehmen, Susannah, sofern das Wetter es gestattet. Im Übrigen weißt du, wie sehr ich es hasse, mich mit Fremden abzugeben. So etwas ist ermüdend und zu anstrengend für mich.“

Aber trotzdem versuchte Susannah es erneut. „Aber Papa, dieser Mr. …“

Lord Watchmere warf einen Blick auf das Schreiben. „James Trevenen.“

„Ist dieser Mr. Trevenen ein älterer Herr?“

Er zuckte mit den Achseln. „Die Marineoffiziere Seiner bedauernswerten Majestät sind in der Regel junge Männer, aber wer kann das schon wissen. Mr. Trevenens Abhandlung über Krabben lässt eigentlich auf einen älteren Verfasser schließen.“ Er hob die Hände. „Als Mitglied der Royal Society habe ich das Ding natürlich gelesen. Es ist die reife Arbeit eines Genies.“

Seine Frau und Loisa lachten spöttisch, während Susannah und Noah die Flucht ergriffen. Im Flur setzte Susannah hastig ihre Haube auf, legte das Cape um und nahm Noahs Leinenjacke über den Arm. Wie immer verließen sie das Haus durch einen Seiteneingang, um nicht durch die Halle gehen zu müssen, in der die Tukane ihres Vaters das Regiment führten. Die Vögel machten Noah Angst, und alle Bewohner verabscheuten sie.

Es war ein erstaunlich milder Tag für Ende September. Noah hüpfte voraus und wartete am Zaunübertritt, der das Anwesen von Clarence Alderson, Viscount Watchmere, von Kew Gardens trennte – den königlichen botanischen Garten, um den König George III. sich seit seinem geistigen Verfall nicht mehr recht kümmerte.

Susannah begab sich zuerst ins Rosenhaus, das die Gärtner bereits für sie geöffnet hatten. Heute wollte sie die Stöcke beschneiden und die Beete für den Winter vorbereiten. Während sie die Stängel abschnitt, sammelte Noah die welken Blüten in einen Jutesack. Später sollten sie mit dem Laub, das die Gärtner zusammenharkten, verbrannt werden.

Eigentlich war der Rauch dieser Feuer nicht unangenehm, aber sieben Jahre hatten nicht genügt, um Susannah die schwarzen Rauchsäulen vergessen zu lassen, die damals über Bombay hingen, als die Cholera gewütet und unzählige Menschenleben gefordert hatte.

Ihr Mann David, eines der ersten Opfer, war eines Morgens mit leichten Kopfschmerzen erwacht, und am Abend desselben Tages war er tot. Noch vor Sonnenuntergang hatte man seinen in weiße Tücher gehüllten Leichnam zu den anderen Toten im Innenhof der Gebäude der East India Company gelegt und verbrannt.

Kaum verwunderlich, dass Susannah den Herbstfeuern in Kew Gardens nichts abgewinnen konnte.

Nachdem sie mit den Rosen fertig waren, nahm sie Noah bei der Hand und spazierte mit ihm nach Spring Grove.

„Malst du heute nicht, Mama?“, fragte er.

„Nein. Ich will mit Sir Joe sprechen.“ Sie lächelte. „Und du freust dich gewiss auf Lady Dorotheas Schokoladenmakronen.“

Noah hüpfte voraus, und Susannah blickte ihm lächelnd hinterher. Nur ungern vernachlässigte sie ihre Malerei, da die Royal Society ihr für jedes Blatt einen Schilling bezahlte. Sie hatte den Auftrag, naturgetreue Abbildungen der Pflanzen zu malen, die von Naturforschern auf Expeditionsschiffen nach England gebracht wurden. Sir Joseph hatte die Mitglieder der Royal Society davon überzeugen können, dass Susannah die Arbeiten fortsetzte, die andere Künstler begonnen hatten – allen voran Sydney Parkinson, der berühmte Illustrator, der Sir Joseph in jungen Jahren auf seine erste Forschungsreise in den Südpazifik mit Captain James Cook begleitet hatte. Nachdem sie jede Blüte und jedes Blatt mit Wasserfarben gemalt hatte, brachte ein Sekretär Sir Josephs eine kurze Beschreibung der jeweiligen Pflanze auf der Rückseite der Aquarelle an, um sie für die Wissenschaft zu katalogisieren.

In Spring Grove erfuhr sie, dass Sir Joseph bezüglich seines Gesundheitszustands nicht übertrieben hatte. Lady Dorothea versprach Noah im Flüsterton Schokoladenmakronen im Salon und winkte Susannah den Korridor entlang.

„Ist es schlimm?“, fragte Susannah besorgt.

Lady Dorothea nickte. „Er hat große Schmerzen.“ Ihre Augen wurden feucht. „Trotzdem freut er sich, dich zu sehen.“

Der alte Mann vermochte allerdings kaum den Kopf zu drehen, um sein Patenkind zu begrüßen. Sein Butler Barmley drehte den Rollstuhl seitlich, sodass sein Herr die Besucherin sehen konnte.

Sie schenkte dem Butler ein dankbares Lächeln. Errötend zog er sich zurück und murmelte etwas von Tee.

„Du solltest deinen Charme nicht an meinen Diener verschwenden“, stellte Sir Joseph fest, die Hände im Schoß gefaltet. „Es wäre besser, dein Interesse einem geeigneten Kandidaten zuzuwenden.“

„Ich habe Barmley doch kaum angesehen!“, widersprach sie, gleichfalls errötend.

„Ich wollte dich nur necken“, schmunzelte er und wiegte bedächtig den Kopf. „Ich fürchte, Clarence kommt gar nicht auf die Idee, junge Herren nach Alderson House einzuladen.“

„Wenn ihnen ein … bunter Papagei auf den Schultern säße, hätte er wohl nichts dagegen.“

Sir Josephs Lachen glich einem heiseren Röcheln. „Das Leben mit einem fanatischen Vogelliebhaber muss eine rechte Plage sein.“

Der Butler brachte Tee, verneigte sich und zog sich nach einem prüfenden Blick zu seinem Herrn wieder zurück. Susannah schenkte ein und hielt ihrem Patenonkel die Tasse an den Mund. Dankbar schaute er sie an, bevor er trank.

Dann nippte auch Susannah an ihrem Tee. „Allem Anschein nach gehe ich demnächst öfter aus“, begann sie. „Papa hat mich zur Begleiterin des alten, gebrechlichen James Trevenen bestimmt, der uns demnächst besucht.“

„Alt und gebrechlich?“, wiederholte ihr Patenonkel erstaunt. „Wie kommt mein Cousin zu dieser Schlussfolgerung?“

„Papa geht davon aus, dass jemand, der fünf Jahre auf einer einsamen Insel verbannt war, ein siecher Mann sein muss. Und er behauptet, ein Grünschnabel könnte keine so fundierte Abhandlung verfasst haben.“

„Ja, es ist eine glänzende Arbeit“, bestätigte Sir Joseph. „Vielleicht willst du sie lesen. Nur zu, meine Liebe! Sie liegt auf meinem Schreibtisch.“

Susannah sprang auf und nahm das Manuskript zur Hand. „‚Die Gloriosa Jubilate: Schalentiere, beobachtet in einer stillen Bucht auf einer einsamen Insel irgendwo im Tuamotu-Archipel‘“, las sie laut. Beim Anblick der Zeichnung einer Krabbe auf dem Deckblatt musste sie lächeln. Offensichtlich lagen Mr. Trevenens Talente mehr in der Kunst des Schreibens als in der Malkunst.

Die Widmung rührte sie: Für meine geliebte Mutter, die mir stets nah war, auch über weite Fernen hinweg. Atemlos las sie die einleitenden Worte:

Glücklicher Vorsehung ist es zu verdanken, keineswegs meinen eigenen Anstrengungen, da ich mehr tot als lebendig war, als mein kleines Boot einen Durchlass im Korallenriff fand und mich an die sandigen Gestade meines Exils spülte. Ich war der einzige Überlebende.

„Sir Joe“, hauchte sie. „Darf ich …?“

„Nur zu. Noah wird sich den Bauch mit Makronen vollschlagen, und ich ruhe meine Augen aus.“

Sie streifte die Schuhe ab, machte es sich auf dem Sofa bequem und las.

Das Tuamotu-Archipel besteht aus Korallenriffen, die in keiner Seekarte verzeichnet sind. Die Orion, die Taifune und Angriffe der Maori in Neuseeland unversehrt überstanden hatte, wurde von einem Korallenriff der Länge nach aufgeschlitzt und sank in weniger als zehn Minuten. Captain Sir Hugo Marsh warf mir das Logbuch zu, als ich ins Beiboot sprang.

Als Susannah Spring Grove am späten Nachmittag verließ, nahm sie das Manuskript mit. Nach dem Dinner saß sie noch eine Weile mit ihrer Mutter und Loisa im Salon, bevor sie Noah zu Bett brachte.

Anschließend inspizierte sie das Gästezimmer, das ihrem Schlafgemach gegenüberlag. Die Stubenmädchen hatten die weißen Hussen von den Möbeln genommen und das Bett frisch bezogen, nur die gewaschenen Bettbehänge waren noch nicht angebracht. Bald wäre alles für Mr. Trevenens Besuch bereit.

Sie ging zu Bett und las weiter.

Ich entdeckte, dass die Gloriosa Jubilate ein geselliges Wesen ist, das sich gern in Gesellschaft artverwandter Krustentiere aufhält. Wer konnte wissen, wie lange ich hier auf dieser gottverlassenen Insel bleiben würde? Ich hatte keinen Gefährten, also beschloss ich, mich mit diesen kleinen Genossen näher anzufreunden.

Susannah ließ das Manuskript sinken und dachte über ihr eintöniges Leben in Alderson House nach. „Wahrhaftig ein Exil! Ich könnte von einer tropischen Insel träumen“, murmelte sie halblaut. „Die warmen Gewässer des Südpazifik, exotische Früchte, Fische in der Lagune.“

Sie löschte die Kerze und legte das Manuskript auf den Nachttisch. „Ob Sie nun jung oder alt sind, Mr. Trevenen, Sie müssen mir von Ihrem Leben im Paradies erzählen“, sagte sie leise.

Im fahlen Schein des Vollmondes schienen die winzigen Kugelaugen der Gloriosa Jubilate zu leuchten.

1. KAPITEL

Mochte die Orion auch schon vor sechs Jahren gesunken sein, so sträubten sich James Trevenens Nackenhaare dennoch, als die Wirtsfrau das Tuch aufschlug, um für ihn den Tisch in der Schankstube zu decken. Denn das Geräusch erinnerte ihn erschreckend an das dumpfe Donnern, während das Riff den Schiffsrumpf aufgeschlitzt hatte.

Verstohlen flog sein Blick durch den Raum. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, wie er den Atem laut eingezogen hatte. Wie lange würde es noch dauern, bis er nicht mehr bei jedem nichtigen Geräusch zusammenfuhr? Die Gaststube war gut besucht, doch niemand achtete auf den Fremden.

Der erzwungene Aufenthalt hier störte ihn nicht. Er hatte weiß Gott gelernt, geduldig zu sein. Laut Auskunft des Kutschers waren vor Kurzem schwere Regenfälle in der Gegend niedergegangen. Durch das Hochwasser war die Brücke zwischen Lovell und dem nächsten Dorf unpassierbar geworden, und die Fahrgäste waren genötigt, in der Poststation zu übernachten.

Ihm war es einerlei. Wie unbequem die bevorstehende Nacht auch werden mochte, nichts konnte annähernd so schlimm sein, wie fünf Jahre allein und hungrig auf einer tropischen Insel ausgesetzt zu sein.

Die Gouvernante mit den zwei Kindern, die während der langen Fahrt in der Postkutsche ihm gegenübergesessen hatte, tat ihm leid. Sie hatte ziemlich verzagt geklungen, als sie mit dem Wirt um den Zimmerpreis feilschte. Durch die unplanmäßige Übernachtung war die Frau im abgetragenen Umhang anscheinend gezwungen, auf ihre eigene bescheidene Barschaft zurückzugreifen. Ihr Dienstherr war offenbar ein Geizkragen, und James hätte gerne seine eigene wohlgefüllte Brieftasche gezückt, um der Frau auszuhelfen, wollte sich aber nicht einmischen.

Gerade war er dabei, den Wirt davon zu überzeugen, dass er nicht den Wunsch habe, ungestört in einem Separee zu speisen, da er nichts mehr verabscheute als Einsamkeit, als ein blasierter Stutzer die Poststation betrat und ein Zimmer verlangte.

Der überforderte Wirt versicherte ihm, es sei nichts mehr frei, Mr. Trevenen habe das letzte Zimmer bekommen.

Der feine Herr wandte sich an James. „Ich bezahle den doppelten Preis.“

Aufgeblasener Affe, dachte James belustigt. Ihm war es egal, wo er die Nacht verbrachte, aber so einfach wollte er es dem Kerl nicht machen. „Und wenn ich ablehne?“

Die leicht vorstehenden Augen des eitlen Pfaus quollen beinahe aus den Höhlen. James beobachtete ungerührt, wie dessen bleiches Gesicht eine fleckige Röte annahm. Euer Gnaden sind wohl nicht an Widerspruch gewöhnt, wie?, dachte er spöttisch.

Der Dandy betupfte sich die Stirn mit einem Spitzentuch. „Sie ahnen ja nicht, welche Strapazen ich ausstehen musste“, lamentierte er und wollte nun offensichtlich an James’ Mitleid appellieren.

„Wie könnte ich?“, erwiderte James ungerührt und verkniff sich ein Lächeln, während der nach Lavendel duftende Herr ihm sein Leid klagte.

Irgendwie wirkte der aufgeputzte Pfau tatsächlich derangiert. Die Enden seines breiten Revers hingen schlaff nach unten, die bauschige Seidenkrawatte war verrutscht, und die staubigen Spitzenmanschetten hingen zerknittert über den feingliedrigen Handgelenken.

„Ich überlasse dem Herrn gern mein Zimmer“, sagte James schließlich.

„Aber es ist mein letztes“, gab der Wirt zu bedenken.

Achselzuckend warf James einen Blick in den Schankraum. „Ich kann dort hinten auf der Bank schlafen, wenn Sie mir eine Decke und ein Kissen geben.“

„Sir, das ist …“

„Abgemacht!“, rief der feine Herr, der sich als Sir Percival Pettibone vorstellte, doch seine Begeisterung schwand augenblicklich, als der Wirt die Lage des Zimmers beschrieb.

„Es führt auf den Kuhstall und das stille Örtchen im Hinterhof?“, fragte er in blankem Entsetzen.

„Ja, so ist es.“

Sir Percival hielt sich das Spitzentüchlein unter die Nase, als verursache ihm allein der Gedanke daran bereits Übelkeit. „Ich nehme an, daran lässt sich nichts ändern, wie?“

„Es sei denn, wir drehen das Haus herum“, bemerkte James seelenruhig und zwinkerte dem Wirt zu, der nur mit den Achseln zuckte. „Kann ich mein Gepäck hinter den Schanktisch stellen?“

„Gewiss, Sir“, antwortete der Wirt erleichtert.

James verstaute seine Reisetasche, nahm den Lederbeutel mit seiner Abhandlung heraus und begab sich ins Freie. Hoffentlich habe ich mich nie so benommen wie dieser Stutzer, dachte er. Seine Familie war wohlhabend und besaß große Ländereien, aber keinen Titel, und seine Mutter hatte ihn als wohlerzogenen Knaben zur See geschickt. Seit seiner Rückkehr hatte James einige seiner Landsleute kennengelernt, denen ein paar Jahre Einsamkeit auf einer gottverlassenen Insel kaum geschadet hätten.

Er setzte sich auf eine Bank im Hof, bis die Sonne sank, und blätterte seine Abhandlung durch, obwohl er jeden Satz auswendig kannte. Nachdem ihm auf der Insel die Tinte ausgegangen war und bevor er gelernt hatte, aus der schwarzen Flüssigkeit von Kraken Tinte herzustellen, hatte er ganze Kapitel auswendig gelernt.

Auf dem Deckblatt prangte die Gloriosa. Er war kein Künstler, aber eines Nachts, als er wieder einmal im kalten englischen Sommer frierend am Schreibtisch saß, hatte er die Gloriosa aus dem Gedächtnis gemalt, so gut er es vermochte.

Während er nun die Seiten durchblätterte, dachte er an seine täglichen Beobachtungen auf der Insel. Einigen Krabben hatte er sogar Namen gegeben: Boney war kleiner als die anderen, aber umso kämpferischer; Lord Nelson fehlte ein Augenfühler; Marie Antoinettes Farben leuchteten bei der Paarung besonders prächtig. Alle waren bis heute seine Gefährten geblieben.

Jäh hob er den Kopf und dachte an seinen anderen Gefährten. „Nun gut, Tim. Wo steckst du?“, murmelte er. Mit angehaltenem Atem schaute er sich im Hof um, ohne das vertraute Gesicht zu sehen. Er wagte nicht zu hoffen, Tim habe sich endlich entschlossen, ihn in Frieden zu lassen. Vielleicht aber bereitete es ihm auch Vergnügen in der absonderlichen Art und Weise, die Gespenster an sich hatten, zur Abwechslung Sir Percival Pettibone heimzusuchen.

Auf dem Weg ins Haus suchte er den Nachthimmel in alter Gewohnheit nach dem Kreuz des Südens ab. Auch das muss ich mir endlich abgewöhnen, schalt er sich.

Die Schankstube hatte sich bereits geleert. Auf der Bank lagen ein Kissen und eine Decke bereit, auf einem Schemel daneben stand ein Krug Bier.

Hinter dem Schanktisch spülte der Wirt die letzten Gläser und blickte mürrisch auf.

„Seien Sie unbesorgt wegen Sir Percival“, sagte James. „Mir macht es wirklich nichts aus.“

„Sollte es aber“, entgegnete der Mann mit einem finsteren Blick zur Stiege. „Meiner Meinung nach hatte dieser Robespierre vollkommen recht.“ Er vollführte mit der flachen Hand eine Hackbewegung. „Kopf ab!“

James verzog das Gesicht, und der Wirt machte sich grinsend wieder an seine Arbeit. James legte die Gloriosa auf die Bank, ging durch die Seitentür ins Freie und überquerte den Hinterhof, wo sich das Örtchen befand.

Nachdem er sich die Hose zugeknöpft und den Holzverschlag zugemacht hatte, stieg ihm Rauchgeruch in die Nase. Alarmiert schaute er die Hauswand hinauf. Aus einem Fenster der Kammer, in der er Sir Percival Pettibone vermutete, quoll Rauch. Er eilte zum Haus, während der Dandy im Nachthemd aufgeregt zwischen zwei geöffneten Fenstern hin- und herrannte, und rief mit dröhnender Stimme nach dem Wirt.

Sir Percival streckte unterdessen ein spindeldürres Bein aus dem Fenster und versuchte Halt an einem Mauervorsprung zu finden.

„Nein! Tun Sie das nicht!“, warnte James.

„Hilfe! Retten Sie mich!“

Der Wirt rannte herbei, warf einen Blick nach oben, rief nach seiner Frau und befahl ihr, die Gäste zu wecken und aus dem Haus zu scheuchen. Sir Percival klammerte sich an das Fenstersims, sein Bein hing immer noch in der Luft.

James rüttelte an der Regenrinne, um zu prüfen, ob sie fest im Mauerwerk verankert war. Denk einfach, es ist eine Palme, sagte er sich, zog Stiefel und Strümpfe aus und kletterte behände die Regenrinne hinauf, während der Hof sich mit Menschen in Nachtgewändern füllte.

„Lassen Sie den Unsinn! Zurück ins Zimmer!“, rief er der halb aus dem Fenster hängenden Gestalt zu. „Auf der Stelle!“

Bei all seinem Entsetzen zog Sir Percival einen beleidigten Schmollmund. „Erlauben Sie mal, wie reden Sie mit mir?“

„Ich rede, wie es mir passt!“, rief James wütend. „Und Sie tun, was ich Ihnen sage! Und zwar sofort!“

Das dünne Bein verschwand, ein spitzer Schrei folgte. James zog sich am Fensterrahmen hoch, sprang in die Kammer und hielt sich die Hand gegen den Qualm vor die Nase. Das Publikum im Hof klatschte Beifall.

Er blieb in Kauerstellung, hielt den Kopf gesenkt, während Sir Percival sich an ihn klammerte. „Nehmen Sie sich doch zusammen!“, knurrte James und schüttelte ihn ungeduldig ab. „Ich sehe nicht einmal Feuer.“

Es gab auch kein Feuer. Mit halb zugekniffenen Augen schaute James sich um und entdeckte, dass der Rauch vom Fußende des Bettes aufstieg. Jemand – vermutlich der Schwächling auf dem Fußboden, der nun in sein Taschentuch schluchzte – hatte einen Morgenmantel über die Wärmepfanne geworfen, die mit glühenden Kohlen gefüllt war und deren langer Holzgriff aus dem Bett ragte. Vorsichtig hob James den schwelenden Morgenmantel hoch, warf ihn aus dem Fenster und ließ die angesengte Decke folgen. „Die Gefahr ist vorüber“, rief er.

Der Jubel der Zuschauer unten im Hof amüsierte ihn. In einer scherzhaften Siegerpose verschränkte er die Hände über dem Kopf und verneigte sich dankend vor den Herbergsgästen. Er wollte sich schon tröstend an Sir Percival wenden, der sich schniefend die Nase putzte, als der Gastwirt besorgt die Kammer betrat.

Sein Erscheinen brachte wieder Leben in Sir Percival, der mit seinem knochigen Zeigefinger auf den Mann einstocherte. „Sie haben gefährliche Wärmepfannen!“, erklärte er vorwurfsvoll. „Ich sorge dafür, dass diese Bruchbude von einer Poststation abgerissen und … und dem Erdboden gleich gemacht wird!“

Finster starrte der Wirt Sir Percival an. „Sie haben das Ganze doch verschuldet! Mr. Trevenen ist es zu verdanken, dass niemand zu Schaden gekommen ist und Sie noch am Leben sind!“

„Es war ja nur ein kleiner Schwelbrand“, versuchte James einzulenken.

Der Wirt seufzte resigniert. „Ich hole frisches Bettzeug“, brummte er und wies mit dem Finger auf Sir Percival. „Aber Ihnen bringe ich keine zweite Wärmepfanne!“

„Herzloser Grobian!“ Sir Percival putzte sich die Nase und schrie auf, als er rußigen Schleim in seinem Spitzentüchlein entdeckte. Empört hielt er es hoch. „Ich werde sterben, und der Rohling denkt nur an seine Wärmepfanne!“

Ich bin in ein Irrenhaus geraten, dachte James, auf meiner Insel war ich wenigstens vor Verrückten verschont.„Sie werden es überleben“, beschwichtigte er ihn.

Sir Percival, der immer noch entsetzt auf sein Taschentuch starrte, hob unvermutet den Kopf „Wie heißen Sie?“

„James Trevenen“, antwortete sein Retter. „Ich komme aus der Gegend von St. Ives und bin …“

„Titel, Besitz, Frau und Kinder?“, fiel Sir Percival ihm ins Wort.

„Diese Frage wurde mir in der Navy häufig gestellt“, antwortete James und dachte: Was für ein Dummkopf! Andererseits war etwas Rührendes an dem Kerl, der zusammengekauert auf dem Fußboden hockte und sich für Nichtigkeiten wie Ansehen und Würde interessierte. „Ich rufe Ihren Kammerdiener, Sir.“ James blickte sich ratlos um. „Falls Sie einen haben.“

Sir Percival machte eine wegwerfende Handbewegung.„Wahrscheinlich sitzt er sturzbetrunken in der Schankstube.“

James blinzelte, aber Sir Percival ließ sich zu keiner weiteren Erklärung herbei. Allem Anschein nach begriff er erst jetzt, was geschehen war. „Ich verdanke Ihnen mein Leben“, erklärte er feierlich.

James unterdrückte ein Stöhnen. Guter Gott, es war lediglich eine überhitzte Wärmepfanne und ein schwelender Morgenrock gewesen! Trotzdem legte er die Hand aufs Herz und verneigte sich tief. „Ich bin überglücklich, Sie vor dem Flammentod gerettet zu haben, Sir Percival.“

Bedächtig wiegte Sir Percival den Kopf hin und her. „Mein Tod wäre ein tragischer Verlust für die Welt der Mode und des erlesenen Geschmacks gewesen“, sagte er mit Grabesstimme, und James musste sich abwenden, um die Beherrschung nicht zu verlieren.

Wider Erwarten erholte Sir Percival sich bald, streckte den Arm aus, und James half ihm auf die Beine.„Diese Weste, die Sie da tragen, ist eine bedauernswerte Geschmacksverirrung. Hat man in Cornwall keinen Sinn für Mode?“

„Herzlich wenig, fürchte ich“, antwortete James. „Ich bin erst kürzlich von einer einsamen Insel im Südpazifik zurückgekehrt, und es scheint mir nicht fair, Cornwall die Alleinschuld an meinem Aussehen zu geben.“

Die beiläufige Erwähnung des Südpazifiks hatte den gewünschten Effekt. Sir Percivals Augen schienen abermals aus den Höhlen zu quellen. „Ausgesetzt? Von der Welt abgeschnitten? Und nun kommen Sie nach England, um mir das Leben zu retten!“

„Es war mir ein Ehre, Ihnen zu helfen“, sagte er, und dann ritt ihn der Teufel. „In einer Feuersbrunst zu sterben, ist die grässlichste aller Todesarten.“

Sir Percival erschauerte abermals, fand es aber angebracht, das Thema zu wechseln. „Wir wollen nicht mehr darüber sprechen! Reisen Sie nach London, um dort zu Reichtum zu kommen?“

Ich brauche keinen Reichtum, dachte James. „Nicht unbedingt. Auf meiner Insel habe ich eine Abhandlung über Krabben geschrieben. Es gab ja sonst nicht viel zu tun.“

Sir Percival nickte mit ernster Miene. „Ja, ich weiß, was es bedeutet, ein verregnetes Wochenende auf dem Lande zu verbringen. Man langweilt sich zu Tode. Fahren Sie fort. Sie machen mich neugierig.“

Dieses Maß an Ignoranz verblüffte James. „So kann man es auch sehen. Wie auch immer, ich wurde von Missionaren gerettet …“

„Gütiger Himmel, das klingt noch schlimmer als ein verregnetes Wochenende auf dem Lande“, murmelte Sir Percival.

„Hm, ja … vermutlich.“ Es wäre sinnlos, diesem Narren zu erklären, was es bedeutete, tausendachthundertfünfundzwanzig Tage in verzweifelter Einsamkeit zu verbringen und sich jeden einzelnen Tag zu fragen, ob man am nächsten Tag stirbt oder in einer Woche oder in fünfzig Jahren, ohne je noch ein menschliches Wesen zu Gesicht zu bekommen. „Nach meiner Rückkehr reichte ich meine Abhandlung bei der Royal Society ein und bewarb mich für die Copley-Medaille. Und ich habe den Wettbewerb tatsächlich gewonnen“, schloss er seinen knappen Bericht.

„Die Royal Society.“ Sir Percival beugte sich vor und tätschelte ihm den Arm. „Diese Herren legen bedauerlicherweise keinen großen Wert auf modische Eleganz. Ihre Weste wird in diesem Kreis kaum Anstoß erregen.“

„Das höre ich mit großer Erleichterung“, brachte James mühsam hervor.

„Denken Sie sich nichts dabei.“ Sir Percival schnäuzte sich erneut. „Wo wohnen Sie in London? Können Sie sich eine Unterkunft leisten?“

„Sir Joseph Banks lud mich ein, bei seinem Cousin zu wohnen, einem gewissen Lord Watchmere.“

Sir Percival entfuhr ein Schreckenslaut. „Watchmere? Guter Gott, das kann dem tapferen Helden nicht zugemutet werden, der mich vor einem grässlichen Flammentod gerettet hat! Watchmere hat nichts anderes im Sinn, als Vögel zu beobachten. Im Übrigen hat er noch weniger modischen Geschmack als Sie!“ Er schniefte. „Das ist zwar kaum vorstellbar, aber in dieser Hinsicht können Sie mir voll vertrauen.“

James, der nur mit Mühe einen Lachanfall unterdrücken konnte, sah keinen Grund, noch länger zu bleiben. Der Qualm hatte sich verzogen, und der Wirt stand mit frischem Bettzeug in der Tür. „Gute Nacht, Sir Percival.“ James ergriff die Gelegenheit zur Flucht.

„Ich werde Ihnen Ihre Güte nie vergessen“, versicherte Sir Percival erneut.

Bitte, verschone mich mit deiner Dankbarkeit, dachte James reumütig. Hätte ich dem Einfaltspinsel doch nicht weisgemacht, er habe sich in Lebensgefahr befunden. Mit einem amüsierten Lächeln ging er die Stiege hinunter in die leere Schankstube, um sich schlafen zu legen.

Sein Lächeln schwand. An einem der hinteren Tische saß ein Mann im Halbdunkel. „Verzieh dich, Tim“, knurrte er leise. „Und folge mir bloß nicht bis nach London.“

2. KAPITEL

James wurde vom verlockenden Duft gebratener Würste geweckt, der ihm in die Nase stieg. Er lag auf der schmalen Bank, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf seiner Insel hatte es kaum eine Nacht gegeben, in der er nicht von einer deftigen Mahlzeit geträumt hätte.

Er schlug die Augen auf. Zu seiner Überraschung stand auf dem Tisch neben ihm ein Teller mit gebraten Eiern und Würsten. Es gab auch getoastetes Brot, weich in der Mitte, mit einem Flöckchen schmelzender Butter darauf. Er schnupperte. In der kleinen Deckelschale vermutete er Quittengelee.

Bald darauf erschien der Wirt mit einer Platte Rinderbraten, dampfend heiß, in dünne Scheiben geschnitten, zartrosa und saftig im Innern wie … Guter Gott, unvermutet schoss James der Gedanke an Artemisia in den Sinn, Lady Audley mit ihren weit gespreizten Beinen, begierig darauf, ihn zu verführen, waren sie erst aus dem Fieberhafen von Batavia ausgelaufen, um den Indischen Ozean zu überqueren.

Er war ihrer Verführung bedenkenlos erlegen nach fünf entbehrungsreichen Jahren, in denen er auf alle Köstlichkeiten von Bett und Tisch verzichten musste. Möglicherweise wäre er bei seinem ersten Höhepunkt mit ihr in noch größere Verzückungen geraten, hätte er in ein knusprig gebratenes Hühnerbein gebissen, während er Lady Audley im gestreckten Galopp über die Ziellinie ritt.

Deftige Mahlzeiten und Huren, das waren die Freuden der Seefahrer. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte er nun und verdrängte seine lüsternen Gedanken.

Der Wirt hielt ihm den saftigen Braten unter die Nase, und James lief das Wasser im Mund zusammen. „Mit den besten Empfehlungen von Sir Percival Pettibone, der nach wie vor davon überzeugt ist, dass Sie ihm das Leben gerettet haben.“ Er zwinkerte verschwörerisch.

„Ich sollte mich schämen, seine Leichtgläubigkeit ausgenutzt zu haben, aber ich konnte nicht widerstehen!“

„Das verstehe ich gut, Sir!“, erklärte der Wirt. „Er ist ein Dummkopf.“

„Richtig. Aber ich muss ihm die Wahrheit sagen.“

„Das halte ich für sinnlos, Mr. Trevenen“,meinte der Wirt.„Er wird Ihnen nicht glauben. Jedenfalls bedankt er sich noch einmal und wünscht Ihnen guten Appetit.“

James richtete sich auf einen Ellbogen gestützt auf und weidete sich am Anblick der köstlichen Speisen. „Das schaffe ich beim besten Willen nicht allein, und es gibt nichts Verwerflicheres, als Essen zu vergeuden.“ Er entsann sich, wie er sich die Finger blutig gerieben hatte bei seinem ersten Versuch, Feuer mit einem Stein und einem Holzspan zu machen, um einen Fisch zu braten. Er hatte es nur ein paar Minuten ausgehalten, den Fisch über dem Feuer zu drehen, bevor er ihn mit Kopf, Gräten und Schwanzflossen verschlang, während ihm Blut und Speichel aus dem Mund getropft waren.

„Erinnern Sie sich an die Gouvernante?“, sagte er. „Laden Sie die Frau und ihre beiden Zöglinge ein, mit mir zu frühstücken. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich diesen Aufenthalt nicht leisten kann.“

„Den Eindruck hatte ich auch“, sagte der Wirt. „Zum Abendessen bestellte sie nur zwei Teller Suppe, und raten Sie, wer dabei leer ausging?“

Wehmütig ließ James den Blick über die reich gedeckte Tafel schweifen. Dieses Festmahl hätte die schiffbrüchigen Matrosen in seinem Boot am Leben erhalten, bis alle die Insel erreicht hätten. „Mir bringen Sie bitte eine Schale Haferbrei mit Butter und Dickmilch. Darauf hätte ich Appetit“, sagte er leise.

„Wie Sie wünschen, Sir.“ Der Wirt verschwand in der Küche.

James faltete die Decke zusammen und begab sich in den Hinterhof, um in dem Holzverschlag seine Notdurft zu verrichten. Als er die Gaststube wieder betrat, saßen die Gouvernante und ihre Zöglinge am Tisch.

„So viel Güte haben wir nicht erwartet, Sir“, empfing sie ihn und errötete verlegen.

Er setzte sich zu seinen drei Gästen. „Es war auch für mich eine Überraschung, Miss …?

„Haverstock, Sir“, stellte sie sich vor, und ein scheues Lächeln flog über ihr reizloses Gesicht.

„Dann wünsche ich allseits guten Appetit“, sagte er einladend. Während die Kinder sich hungrig über Eier und Würste hermachten, beobachtete er Miss Haverstock verstohlen, eine einfache Frau mittleren Alters, die wohl in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Aufmerksamkeit erhalten hatte. „Sir Percival wollte anscheinend sicherstellen, dass ich nicht verhungere, bevor die Postkutsche abfährt.“

Lächelnd hob Miss Haverstock den Blick. „Mit Erfolg, will ich meinen, Mr. …?“

„Trevenen. James Trevenen. Unterwegs nach London.“

Zu wohlerzogen, um weitere Fragen zu stellen, nickte sie und widmete sich der Schale Himbeeren mit Schlagsahne.

„Ihr Dienstherr wird nicht verärgert sein wegen dieser Verspätung, will ich hoffen?“, fragte James, der ahnte, dass die Gouvernante kein leichtes Los hatte.

„Ich fürchte doch“, antwortete sie. „Lord Eberly of Maines verabscheut Unpünktlichkeit.“

„Aber Sie können ihm diese unfreiwillige Verzögerung doch erklären, und er wird Ihnen die Kosten erstatten.“ Leise fügte er hinzu: „Ich hatte den Eindruck, Sie haben die Übernachtung aus eigener Tasche bezahlt.“

„Das habe ich.“

Versonnen löffelte James den Haferbrei. Als Sir Percival erschien, hatte er den Eindruck, dieser betrete zum ersten Mal eine Gaststube, in der einfaches Volk einkehrte. Er hielt ein frisches Spitzentuch in der Hand, um es an die Nase zu führen, falls unangenehme Gerüche ihn belästigten.

James wischte sich den Mund ab, stand auf und verneigte sich. „Guten Morgen, Sir Percival“, grüßte er munter. „Danke, dass Sie mich vor dem Verhungern bewahrt haben. Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“

„Nein danke, junger Mann“, entgegnete er. „Ich ließ mir Tee aufs Zimmer bringen und eine Scheibe Brot, leicht getoastet mit einem Hauch Zimt und Zucker bestreut.“

„Davon wird nicht mal ein Sperling satt, Sir Percival. Und mir ließen Sie ein so reichhaltiges Frühstück auftischen, dass ich es mit anderen teilen kann. Darf ich Ihnen Miss Haverstock vorstellen?“

„Gott segne Sie, Sir Percival“, sagte die Gouvernante mit zitternder Stimme und versank in einen tiefen Knicks.

Und James stellte fest, dass ein Dankeschön für Sir Percival offenbar eine Neuheit war. Der schmalbrüstige Stutzer schien vor Stolz förmlich zu schwellen. Er lächelte huldvoll in die Runde, als habe er fünftausend Hungernde mit Brot und Fisch genährt.

Plötzlich schoss James eine Idee durch den Kopf. „Sir Percival, ich überlege gerade …“, begann er, doch dann winkte er ab. „Nein, das wäre zu viel verlangt.“

Erfüllt von seinem Edelmut als Menschenfreund, lächelte Sir Percival wohlwollend. „Nur zu, junger Mann, schließlich verdanke ich Ihnen mein Leben.“

James räusperte sich und wies auf Miss Haverstock. „Das Fräulein befürchtet, ihre Stellung zu verlieren, wie sie mir gestand. Ihr Dienstherr nimmt es sehr genau mit der Pünktlichkeit, und sie verspätet sich um einen Tag wegen der unpassierbaren Brücke.“

„Hmm“, war alles, was Sir Percival zu sagen hatte.

„Es handelt sich um Lord Eberly of Maines“, fügte James hinzu.

Sir Percival bedachte die Kinder mit einem flüchtigen Blick und knurrte halblaut: „Eberly ist ein elender Geizkragen, Miss Haverstock! Wie kann er seinen Kindern zumuten, in einer holprigen Postkutsche zu reisen? Im Übrigen hat er einen grässlichen Modegeschmack. Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst.“

Die Gouvernante blinzelte verständnislos. „Sehr wohl, Sir Percival. Aber ich bin auf die Stellung angewiesen.“

„Ich habe eine glänzende Idee!“, rief Sir Percival begeistert. „Ich begleite Sie und die Kinder und schildere Lord Eberly die Situation. Er bewundert mich wegen meines erlesenen Geschmacks und wird Sie gewiss nicht entlassen.“

„Sie sind zu gütig“, murmelte James.

„Ich bringe die leidige Angelegenheit in Ordnung“, erklärte Sir Percival hochtrabend und wandte sich an James. „Bedauerlicherweise ist in meiner Equipage kein Platz mehr für Sie, mein Freund, sodass Sie gezwungen sind, die Reise nach London in der Postkutsche fortzusetzen.“

„Seien Sie unbesorgt, ich komme zurecht“, beeilte James sich zu versichern und schämte sich seiner großen Erleichterung, den Dandy loszuwerden. Wenn er Glück hatte, würde Sir Percival seine Adresse in London vergessen.

Es dauerte keine Stunde, bis die erste Kutsche aus der Gegenrichtung die Brücke passierte und der Kutscher meldete, dass die Straße wieder frei sei.

James verabschiedete sich mit einer höflichen Verneigung von der Gouvernante. „Viel Glück, Miss Haverstock.“

Sie errötete. „Vielen Dank.“

In diesem Moment stakste Sir Percival geziert die Stiege herunter, gefolgt von seinem Kammerdiener. Er gab Miss Haverstock und den Kindern einen Wink, dem Diener zu folgen. „Ich danke Ihnen für die Güte, die Sie Miss Haverstock erweisen“, sagte James.

„Das ist nichts verglichen mit Ihrer Güte“, versicherte Sir Percival in aufrichtiger Dankbarkeit. „Das werde ich nie vergessen.“

„Ich wünschte, Sie vergessen es bald“, murmelte James.

Durch die offene Haustür sah er, wie der Kutscher seinen hohen Sitz erklomm. „Ich muss gehen, sonst fährt die Postkutsche ohne mich ab“, sagte er.

„Für mich wird es auch Zeit.“ Sir Percival beugte sich vor und raunte James ins Ohr: „Lassen Sie sich bloß von Lord Watchmere nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ein verrückter Vogelliebhaber und wird kaum Notiz von Ihnen nehmen. Lady Watchmere bringt nicht einen vernünftigen Satz zustande. Und die Töchter? Eine hat ein rotes Gesicht und schütteres Haar – die Ärmste –, und die andere soll ein skandalumwittertes Leben führen.“

Mit affektierten kleinen Schritten überquerte er den Hof und ließ sich von seinem Diener in den Wagen helfen. James bestieg die Postkutsche, machte es sich in einer Ecke bequem und verbannte den affigen Sir Percival aus seinen Gedanken.

Am frühen Nachmittag erreichte die Kutsche die Vororte der Stadt. James, ermüdet von der holprigen Fahrt, wurde allerdings von Gewissensbissen geplagt, Sir Percival an der Nase herumgeführt zu haben. Um sich abzulenken, dachte er an Sam Higgins, einen seiner Retter aus seinem paradiesischen Gefängnis in der Südsee.

Vor einem Jahr hatte er ihn bei der Missionary Society in Londons Aldergate Street abgeliefert. Sobald die Klosterpforte auf James’ Klopfen geöffnet worden war und sein Begleiter seinen Namen genannt hatte, war keine Gelegenheit mehr gewesen, sich zu verabschieden.

James lächelte in der Erinnerung, wie er auf der Schwelle gestanden hatte, als die Mönche ihren verloren geglaubten Mitbruder unter lauten Danksagungen an Gottes unendliche Güte mit sich schleppten. Achselzuckend hatte er sich auf den Weg nach Admiralty House gemacht, um die Meldung zu überbringen, der einzige Überlebende der vor Jahren gesunkenen Orion zu sein und gleichzeitig seinen Abschied von der Navy zu nehmen.

Damit hatte seine Bekanntschaft mit Sam Higgins ein Ende gefunden.

Als die ersten Häuser von London auftauchten, dachte James an seine Zeit auf der Insel. In den ersten beiden Jahren hatte er fest mit seiner Rettung gerechnet. Im dritten Jahr hatte er die Hoffnung aufgegeben. Angst und Verzweiflung waren einer dumpfen Gleichgültigkeit gewichen, mit der er sich in sein Schicksal ergeben hatte. Kein Schiff war gekommen. Er war dazu verdammt, für immer als König über seine einsame Insel zu herrschen, etwa eine Meile breit und drei Meilen lang, umgeben von Korallenriffen, umspült von den warmen Gewässern des Südpazifik. Er hatte nichts weiter zu tun, als jeden Tag Nahrung zu finden und seine Freunde der Gattung Gloriosa zu beobachten.

Und er hatte sich eine dritte Aufgabe gestellt. Er machte peinlich genaue Aufzeichnungen der Tage, Wochen, Monate und Jahre, und jeden Sonntag deklamierte er mit lauter Stimme sämtliche Artikel des Kriegsrechts, so wie er es von allen Sonntagen an Bord eines Schiffes der Königlichen Marine gewohnt war, und am Abend, wenn er genügend Brennholz hatte, entzündete er ein Feuer. Diese Sonntagsrituale mahnten ihn daran, dass er auch als nackter, von der Sonne verbrannter, zerzauster und bärtiger Wilder immer noch Engländer war.

Nach fünf Jahren war er bereit, auch dieses Ritual zu vernachlässigen, da es ihm allmählich lächerlich erschien. Da er aber reichlich Brennholz gesammelt hatte, entschied er sich für ein letztes Lagerfeuer.

Beim Entfachen des Feuers hatte er ein tief hängendes Wölkchen am westlichen Horizont bemerkt. Am nächsten Morgen hatte die Wolke sich in ein Schiff unter Segeln verwandelt. Zudem entdeckte er ein Beiboot, das durch die Lücke im Korallenriff schoss und direkt in seine Richtung ruderte.

Statt zum Strand zu laufen und seinen Rettern zu winken, versteckte er sich furchtsam hinter den ausladenden Blättern einer Tropenpflanze. Später erklärte er seinen Rettern, er habe sich seiner Nacktheit geschämt, doch das war gelogen. Der Anblick von Menschen hatte ihm Angst eingejagt.

Bei dem Schiff handelte es sich um die Odyssey, die von der Londoner Missionary Society mit Mönchen nach Tonga geschickt worden war, um Heiden zum wahren Glauben zu bekehren. Die Einwohner dieser Insel aber wollten sich nicht bekehren lassen und nahmen die Fremden kurzerhand als Sklaven gefangen. Nun befand sich die Odyssey auf der Flucht mit den Überlebenden an Bord – unter ihnen auch Sam. Es waren nur noch fünf der ehemals zehn Mönche, die fliehen konnten, nachdem sie jahrelang unter einem König von unbeschreiblicher Leibesfülle Sklavenarbeiten verrichtet hatten, der wenig Geduld mit bleichen Männern aufbrachte, die schlecht rochen und ständig etwas an ihm auszusetzen hatten.

Nackt wie am Tag seiner Geburt, fand Lieutenant James Trevenen, Zweiter Offizier auf der Orion der Königlichen Marine, sich an Deck des Missionarsschiffes wieder und bedeckte seine Blöße mit dem geteerten Leinenbeutel, in dem er das Logbuch der Orion und seine Aufzeichnungen über die Gloriosa aufbewahrte.

Als der Kutscher nun in sein Posthorn stieß, schlug James die Augen auf und schaute an sich herab, um sich zu vergewissern, dass seine Lenden bedeckt waren. Er war längst wieder in die Zivilisation zurückgekehrt, sollte demnächst mit einer Auszeichnung geehrt werden, und alles, woran er denken konnte, war die Insel, Sam Higgins und zu allem Überfluss auch noch Lady Artemisia Audley.

Die Kutsche leerte sich rasch, er aber blieb benommen sitzen, da er sich plötzlich bewusst geworden war, dass er keine Pläne für die Zukunft hatte. Sein Landgut in Cornwall wusste er in den fähigen Händen eines Cousins zweiten Grades, der ihm nach seiner wunderbaren Auferstehung von den Toten den Besitz ohne Murren wieder überlassen hatte. Sein Gutsverwalter, ein zuverlässiger Mann, brauchte keine Unterstützung von ihm. James hatte weder Frau noch Kind, die seine Rückkehr herbeigesehnt hätten. Er hatte einen Schiffbruch überlebt, Hungersnot, Verzweiflung und Einsamkeit, und all das hatte eigentlich für niemanden eine Bedeutung.

Schließlich holte er sein Gepäck aus dem Holzkasten hinter der Kutsche und klemmte sich die Ledermappe mit dem Manuskript der Gloriosa unter den Arm. Innerlich aufgewühlt und schlecht gelaunt suchte er das nächste Gasthaus auf und setzte sich in die hinterste Ecke in der Gaststube, nachdem er im Vorübergehen beim Wirt eine Schweinepastete bestellt hatte.

Lustlos würgte er das Essen hinunter, bezahlte und verließ das überfüllte Gasthaus. Bald fand er eine offene Mietdroschke und ließ sich nach Richmond fahren, einem idyllischen Dorf in der Nähe von London, etwa sieben Meilen flussaufwärts.

Nachdem James dem Kutscher eröffnet hatte, er stamme aus Cornwall, machte der Mann ihn auf ein paar Sehenswürdigkeiten aufmerksam, die von der Straße her zu sehen waren. Ein exotisch anmutender hoher Holzbau fesselte seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor.

„Eine chinesische Pagode? Seltsam.“

Der Kutscher wies mit der Peitsche in die Richtung. „Das komische Ding ließ König George III. erbauen. Zehn Stockwerke hoch. Ich frage mich, ob die Königlichen Hoheiten zum Zeitvertreib dort Fangen spielen.“

Lachend schüttelte James den Kopf. „Ist das der Königliche Botanische Garten?“

„Ja, Sir. Kew Gardens.“

Etwa eine halbe Meile später bog der offene Landauer von der Straße ab und fuhr durch ein verschnörkeltes Eisentor, über dem der Schriftzug Alderson prangte. James bemerkte allerdings auch, dass der Mörtel an den verputzten Backsteinsockeln abbröckelte. Vermutlich schwelgten die Aldersons – Lord und Lady Watchmere, wie er dem Schreiben entnommen hatte – nicht unbedingt in Reichtum.

James entlohnte den Mietkutscher großzügig, stieg die Steinstufen hinauf und klopfte an das Portal des herrschaftlichen, wenn auch leicht verwahrlosten Anwesens. Nichts rührte sich. Er klopfte erneut, und als sich wieder nichts rührte, wollte er schon ein drittes Mal klopfen, da ertönte eine Stimme von innen.

„Treten Sie rasch ein, sobald ich öffne!“

James beeilte sich einzutreten, bevor die Tür wieder zugeschlagen wurde. Zu seiner Verblüffung sah er einen großen, bunt gefiederten Tropenvogel mit einem gewaltigen Schnabel auf einer Marmorbüste sitzen. Ihm gegenüber hockte, gleichfalls auf einer Büste, ein zweiter Vogel; offenbar handelte es sich um Tukane. Beide beobachteten ihn aus argwöhnischen schwarzen Knopfaugen.

Der Butler verneigte sich und fragte höflich, wieso er nicht den Dienstboteneingang genommen hatte.

Ich sehe offenbar zu schäbig aus, um durch das Hauptportal eingelassen zu werden, dachte James ungerührt. „Ich bin James Trevenen aus St. Ives und werde erwartet, denke ich.“

Der Butler blinzelte. „Verzeihung, Sir. Wir erwarteten einen älteren Herrn.“

„Hmm, seltsam.“ Bedächtig zog James den Hut und versuchte das auffallende Interesse des Tukans an seiner Person zu ignorieren, der auf dem Haupt einer Büste hockte, die einem römischen Staatsmann glich. „Julius Cäsar?“, fragte er.

„Lord Watchmere nennt ihn Don Carlos, und dort drüben sitzt Donna Isabel.“ Dann schmunzelte der Butler. „Sie meinen die Büste, nehme ich an, Mr. Trevenen. Ja, es handelt sich um den bedauernswerten Julius Cäsar, und dort drüben befindet sich die Büste von Octavian.“

Wahrlich bedauernswert, dachte James, als Don Carlos seinen gewaltigen gebogenen Schnabel am Lorbeerkranz des römischen Imperators wetzte. Gestern noch Herrscher über das Römische Weltreich und heute wetzt ein Vogel seinen Schnabel an seinem ehrwürdigen Haupt.

„Mrs. Park unterrichtete mich von Ihrer bevorstehenden Ankunft.“

„Mrs. Park?“

„Lord Watchmeres jüngste Tochter, die Witwe des verstorbenen Mr. Park, der in Indien von der Cholera dahingerafft wurde.“ Er setzte eine würdevolle Miene auf. „Mrs. Park wird sich Ihrer annehmen während Ihres Aufenthalts bei uns, Mr. Trevenen.“

„Ist Lord Watchmere nicht anwesend?“

„Er ist nicht im Haus“, erläuterte der Butler. „Sie werden ihn heute Abend kennenlernen. Für gewöhnlich begibt er sich jeden Morgen auf seinen Hochsitz, um seine gefiederten Freunde zu beobachten, und kehrt erst gegen Abend zurück.“ Er lächelte dünn. „Mr. Trevenen, wir wissen, dass wir ein exzentrischer Haushalt sind.“

„Verbringt der Hausherr tatsächlich den ganzen Tag auf einem Hochsitz?“

„Sehr wohl, Sir. Ich bringe ihm selbstverständlich sein Mittagessen.“

„Auf einen Baum?“, fragte James fasziniert und versuchte sich vorzustellen, wie der Butler mit einem Silbertablett in der Hand würdevoll einen Baum hinaufkletterte.

„Ich lasse Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer bringen, Sir. Falls Sie einen kurzen Spaziergang nicht scheuen, finden Sie Mrs. Park im Tropenhaus in Kew Gardens, lässt Sie Ihnen ausrichten.“

Vermutlich mit einem Tukan auf jeder Schulter, dachte James, verwundert über die schrulligen Gewohnheiten der Bewohner von Alderson House.

„Sie begibt sich jeden Tag mit ihrem Sohn nach Kew, um die Blumen zu pflegen. Die Nachmittage verbringt sie damit, exotische Pflanzen zu malen, die mit den Expeditionsschiffen nach England gebracht werden.“

Das leuchtete ihm ein. „Ich diente auf einem Expeditionsschiff. Wir pflanzten tropische Gewächse in Töpfe und brachten sie nach England“, erklärte James.

„Sie malt im Auftrag ihres Paten, Sir Joseph Banks“, klärte der Butler ihn auf. Er dämpfte die Stimme, als vermute er in den Tukanen feindliche Spione. „Sie ist keine Exzentrikerin.“

James nickte und machte sich auf den Weg, den der Butler ihm beschrieben hatte. Er genoss den Spaziergang. Mochte Lord Watchmere auch keinen Wert auf eine saubere Eingangshalle legen, der Garten war gepflegt und voller Vogelgezwitscher. Kein Wunder, dass die Tukane frei fliegen wollten.

Als er den Zaunübertritt zum Königlichen Botanischen Garten passierte, bemerkte er auf dem Kiesweg Fußspuren eines Kindes – der Butler hatte einen Sohn erwähnt – und die einer Frau. Der Abstand der Schritte wies darauf hin, dass sie zierlich gewachsen war, und die Tiefe der Abdrücke sagten ihm, dass sie schlank sein musste. Dann richtete er den Blick nach vorne zu den Reihen der Gewächshäuser. Mit leichter Enttäuschung stellte er fest, dass es sich nicht um himmelwärts ragende Glaskonstruktionen handelte, ähnlich wie die Chinesische Pagode, die zu seiner Linken aus den Baumwipfeln ragte. Diese Gewächshäuser bestanden aus verglasten Holzrahmen. Die schrägen Dächer waren gleichfalls mit Glasscheiben versehen, um Tageslicht einzulassen.

Das Rosenhaus war verschlossen. Vor dem nächsten Gewächshaus kauerte ein kleiner Junge, nicht älter als fünf oder sechs, und spielte mit einem Holzpferd und einem Karren. Als James sich näherte, stand er auf, stellte sich breitbeinig vor den Eingang und drückte sein Spielzeug an sich.

„Tapferes Kerlchen“, sagte James zu sich, hob die Hand und rief ihm zu: „Bist du Master Park?“

Der Junge nickte und schien seine Scheu abzulegen, als James näher kam. „Ja, ich bin Noah Park. Meine Mama ist da drin.“ Den Eingang zum Gewächshaus gab er allerdings nicht frei.

„Ich bin James Trevenen. Euer Butler sagte mir, dass ich deine Mutter hier finde.“

Noah klemmte sich das Spielzeug unter den Arm, jetzt wieder ein kleiner Junge, kein Beschützer. Verschmitzt lächelte er zu James hoch. „Haben Sie die Haustür auch schnell genug zugeschlagen, bevor die Vögel entkommen?“

James nickte.

„Ich kann sie nicht leiden. Ich wünschte, sie würden eines Tages wegfliegen, aber Mama sagt, ich darf keine … keine Revolution anzetteln.“

James verbarg seine Heiterkeit über die altkluge Rede. „Ich hatte den gleichen Gedanken“, gestand er.

Nachdem er den Fremden noch einmal argwöhnisch gemustert hatte, öffnete der Kleine vorsichtig die Tür, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. „Ich will Mama nicht erschrecken, wenn sie malt. Sie wird böse, wenn ihr der Pinsel wegrutscht und sie wieder von vorne anfangen muss“, flüsterte er.

„Das kann ich mir denken“, flüsterte James. „Ist sie eine gute Malerin?“

Es war lächerlich, einem Kind diese Frage zu stellen, aber Noah interessierte ihn.

„Mama ist die beste Malerin auf der ganzen Welt, Sir“, antwortete Noah prompt.

Sie standen in der offenen Tür des Gewächshauses. James schloss kurz die Augen und atmete den Duft tropischer Pflanzen ein, der ihn auf seine Insel zurückversetzte, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment.

Noah zupfte ihn am Ärmel. „Mama beobachtet uns“, flüsterte er.

Autor

Carla Kelly
Mehr erfahren