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Die erste Liebe ist unvergesslich: Emilys Herz schlägt viel zu schnell, als Harry Kavenagh eines Tages überraschend vor ihrer Tür steht - mit einem entzückenden Baby auf dem Arm. Eigentlich sollte Emily ihn schleunigst wegschicken. Wenn er nur mit der Fürsorge für die winzige Kizzy nicht so sichtlich überfordert wäre! Emily nimmt sich der beiden an, und ein Sommer voller Zärtlichkeit beginnt. Aber die Tage ihres unverhofften Glücks sind gezählt: Der nächste gefährliche Auslandseinsatz wartet schon auf Harry. Und wenn er geht, wird er Emilys Herz zum zweiten Mal brechen …


  • Erscheinungstag 27.07.2008
  • Bandnummer 1638
  • ISBN / Artikelnummer 9783863498740
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Nächtliche Krise. Bitte melden Sie sich so schnell wie möglich!

Harry Kavenagh starrte auf die Nachricht, die man ihm am Hotelempfang gegeben hatte. Er fröstelte. Nein. Nicht jetzt. Er war nicht bereit.

Er würde nie bereit sein – nicht für das hier.

Ohne den Blick von den Worten zu nehmen, fuhr er sich mit der freien Hand durchs Haar und zerzauste die staubigen, verschwitzten Strähnen noch mehr. Was sollte er jetzt tun? Er drehte den Zettel um, hoffte auf weitere Informationen, aber auf der Rückseite stand nichts.

„Wann haben sie angerufen?“, fragte er die junge Frau an der Rezeption.

„Heute Morgen, gleich nachdem Sie ausgegangen waren.“

Seine Finger zitterten, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er von seinem Zimmer aus die Nummer anrief. Fünf Minuten später saß er in einem Wagen und war auf dem Weg zum Flughafen.

Er konnte noch immer nicht glauben, dass es tatsächlich geschah. Absurd. Er sollte es sich vorstellen können. Schließlich war es seine Idee gewesen. Sie hatten ihn schon vor Wochen um die Erlaubnis gebeten, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten. Aber er hatte schon zu viele Menschen sterben sehen. Viel zu viele.

Also hatte er sie angefleht, es nicht zu tun – erschöpft, vielleicht ein wenig angetrunken und entsetzt über das, was sie ihm erklärt hatten. Und er hatte es geschafft, sie hatten schließlich nachgegeben.

Sie hatten ihren Teil der Abmachung eingehalten. Jetzt war er an der Reihe, sein Versprechen einzulösen.

Harry schluckte, starrte aus dem Fenster und sah weder die zerbombten Häuser noch all das Leid und Elend um ihn herum. Einige Straßen entfernt schlug eine Granate ein, doch er registrierte die Explosion kaum. Plötzlich erschien ihm alles unendlich weit entfernt und auf seltsame Weise unwichtig, denn in den nächsten Stunden würde sich sein Leben für immer ändern.

Sie war so winzig.

Ihre kleinen Finger waren so schmal, dass sie im Licht der Speziallampen fast durchsichtig erschienen. Sie brauchte das Licht, weil ihre Haut verfärbt war. Sie hatte Gelbsucht. Offenbar kam das bei Frühgeburten häufig vor. Kein Grund zur Sorge, hatten die Ärzte gesagt.

Aber Harry war sogar äußerst besorgt. Wie um alles in der Welt sollte er sich um dieses zerbrechlich aussehende Wesen kümmern? Die Kleine war so elfenhaft, so niedlich, kaum größer als eine Puppe. Kein Wunder, unter diesen Umständen.

Er wollte nicht daran denken. Nicht daran, wie er ihre Mutter im Stich gelassen hatte. Wie er sie hierher nach London und damit in Sicherheit gebracht und sie dann trotzdem schmählich im Stich gelassen hatte.

„Wie kommen Sie zurecht?“

Harry hob den Kopf und versuchte, die Schwester anzulächeln. „Ganz gut. Vor einer Minute hat sie das Gesicht verzogen. Ich glaube, sie hat vielleicht ein Problem mit der Windel.“

„Möchten Sie sie wechseln?“

Ihm wurde kalt. Nein. Seine Hände waren zu groß. Er würde ihr wehtun …

„Sie wird schon nicht zerbrechen“, sagte die Schwester mit mildem Spott. „Das schaffen Sie schon. Ich helfe Ihnen.“

Also wechselte er die Windel – eine äußerst komplizierte Angelegenheit – und am Ende des Tages und nach einigen weiteren Versuchen hatte er diese alltägliche Sache gelernt. Er schaffte es sogar, die winzigen Gelenke so vorsichtig zu ergreifen, dass er ihr nicht die dünnen Beine brach, wenn er sie anhob, um ihr die Windel auszuziehen und den unglaublich kleinen Po abzuwischen.

Sie hatte so weiche Haut. Sie war so erstaunlich perfekt, mit all den winzigen Fingern und Zehen, deren Nägel so klein waren, dass er sie kaum erkennen konnte. Sie war ein lebendes Wunder, und er konnte nur staunen.

Und Angst um sie haben.

Die Schwester – Sue stand auf dem Namensschild – brachte ihm eine Flasche und half ihm, das Baby zu füttern. Als es alles wieder von sich gab, stieg Panik in ihm auf. Doch Sue lachte nur und machte die Kleine wieder sauber. Dann gab sie ihm ein frisches Klinikhemd und legte das Baby wieder in seine Arme.

„Sie muss langsamer trinken. Halten Sie die Flasche etwas höher, damit sie nicht so viel Luft schluckt. Und lassen Sie sie zwischendurch ein Bäuerchen machen.“

Zwischendurch? Ein Bäuerchen machen lassen? Wie denn? Das hatte er noch nie im Leben getan, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es anstellen sollte.

Ihm war ein wenig schwindlig, aber das lag vermutlich am Schock und Schlafmangel. Fast hätte er hysterisch aufgelacht, doch dann fühlte er, dass ihm die Tränen kamen, und erneut musste er sich gegen die Panik wehren.

Was um alles in der Welt hatte er bloß getan?

Er musste an das alte chinesische Sprichwort denken. Wenn du ein Leben rettest, gehört es dir.

Harry betrachtete das kleine Mädchen, das jetzt also ihm gehörte. Mit einer Hand hielt es seinen kleinen Finger gepackt. Voller Staunen registrierte er, wie kräftig der Griff war, und die Panik legte sich ein wenig.

Sie war wunderschön, sie faszinierte ihn, aber sie machte ihm auch Angst.

Und sie gehörte zu ihm.

Seit heute Morgen war sie offiziell seine Tochter. Das Standesamt lag nur einen Häuserblock entfernt, und jetzt hatte er seine Vaterschaft schriftlich.

Bewaffnet mit Formularen und Bescheinigungen aus der Klinik hatte er den Tod ihrer Mutter gemeldet und war zurückgekommen, um Carmen ein letztes Mal zu sehen. Sie wirkte zart und jung, auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. Als hätte sie endlich Frieden gefunden. Er erzählte ihr von dem Baby und versprach, ihm das zu geben, was er ihr versagt hatte – Sicherheit und Geborgenheit.

Es war jetzt sein Kind, in jeder Hinsicht.

„Hör auf damit, Kavenagh“, murmelte er, brachte es jedoch nicht fertig, einfach davonzugehen und das kleine Mädchen seinem ungewissen Schicksal zu überlassen. Das Bedürfnis, es zu beschützen, war so gewaltig und fremd, dass es ihm Furcht einflößte.

Zusammen mit allem anderen, was heute passiert war.

Du meine Güte, er war so erschöpft, dass ihm fast die Augen zufielen. Vielleicht konnte er sie ja auf seine Brust legen und sich zurücklehnen …

„Harry?“

Er öffnete die Augen, blinzelte ins Licht, und langsam nahm Sues Gesicht Konturen an. „Warum gönnen Sie sich nicht eine Pause und legen sich eine Weile hin? Wir haben hier einen Aufenthaltsraum für Eltern, nichts Schickes, nur ein paar Betten und ein separater Bereich mit einem Fernseher und einer kleinen Küche. Sie könnten ein wenig schlafen.“

Schlafen. O ja. Bitte. Das brauchte er dringend. Seit Wochen hatte er nicht mehr richtig geschlafen, denn die Granaten und Raketen waren die ganze Nacht hindurch explodiert. Doch dieser Tag hatte ihn mehr Kraft gekostet als die gesamte Zeit im Kriegsgebiet.

Harry nickte erleichtert und stellte erst jetzt fest, dass das Baby wieder in seinem Bett unter der Speziallampe lag und die Schwester sich um alles kümmerte.

„Wird ihr auch nichts passieren?“, fragte er, als würde seine Anwesenheit auch nur den geringsten Unterschied machen. Die Schwester nickte lächelnd.

„Natürlich nicht. Ich passe gut auf sie auf. Versprochen. Meine Schicht geht bis neun, und bevor ich gehe, werde ich sie der Nachtschwester anvertrauen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Elternzimmer.“

Ein Bett. Frische weiße Laken, ein weiches Kissen mit gestärktem Bezug und dann … Er würde schlafen und vergessen, wenigstens für eine Weile.

„Sie werden es schon schaffen.“

Harry sah Sue an und wünschte, er könnte ihr glauben. Sie hatte es ihm wieder und wieder versichert, ihm geduldig gezeigt, wie man Windeln wechselte und Babyflaschen hielt, wie er seine winzige Tochter baden, anziehen und ganz einfach im Arm halten sollte. Und nach und nach hatte er sich von ihr aufmuntern und überzeugen lassen. Bis jetzt.

Sie war unglaublich winzig, seine kleine Puppe, aber auch zäh, genau wie ihre Mutter es gewesen war, und für ein so zerbrechliches Geschöpf konnte sie ziemlich laut und durchdringend schreien. In der Geborgenheit der Klinik, umgeben von dem Summen der Geräte, den eiligen Schritten des Personals, dem Lachen und den Freudentränen der anderen Eltern, hatte er Mut geschöpft. Aber jetzt …

„Wir sind immer da, wenn Sie ein Problem haben. Sie können jederzeit anrufen. Sie schaffen es schon, Harry“, wiederholte die Krankenschwester, als würde die Prophezeiung dadurch wahr werden. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn auf die Wange und ging wieder hinein. Er stand vor der Tür, sah ihr nach und fühlte sich verloren.

Was sollte er jetzt tun? Wohin konnte er gehen? In seine Wohnung? Die war nicht mehr als ein Schlafplatz, kein echtes Zuhause, aber bis jetzt hatte er sich noch gar nicht gefragt, wohin er das Baby bringen würde. Dorthin auf keinen Fall, das wäre nicht richtig. Aber wohin sonst?

Er schaute auf das kleine Mädchen in der erschreckend teuren Tragetasche, die er am Morgen gekauft hatte, und ihm wurde warm ums Herz. Es starrte ihn mit seinen dunklen Augen an, durchdringend, den Blick fest auf sein Gesicht gerichtet, und plötzlich fühlte er sich ruhiger.

Plötzlich wurde ihm klar, was er tun musste, und es war höchste Zeit, dass er es tat. Er hätte es schon vor Jahren tun sollen.

„So, meine kleine Kizzy“, murmelte er sanft. „Wir bringen dich jetzt nach Hause.“

1. KAPITEL

Nebenan zog offenbar jemand ein.

Die letzten Mieter waren schon seit Wochen fort, aber jetzt stand ein Wagen in der Einfahrt, und im Haus brannte Licht.

Emily reckte den Hals und versuchte, einen Blick auf die Leute zu erhaschen, aber die Bäume nahmen ihr die Sicht. Jedes Mal, wenn sie etwas sah, schwankten die Zweige in der leichten Brise.

Du meine Güte! Sie konnte neugierige Nachbarn nicht ausstehen, und jetzt benahm sie sich selbst so!

Entschlossen kehrte sie dem Fenster den Rücken, deckte Freddie zu und lächelte. Süß. Er war einfach süß, und am liebsten hätte sie ihn auf die Arme genommen und an sich gedrückt.

Doch dann würde er aufwachen, und aus dem hinreißenden kleinen Engel würde schlagartig ein schlecht gelaunter, aus vollem Hals protestierender Tyrann werden. Das schreckliche zweite Lebensjahr hatte seinen schlechten Ruf zu Recht. Dabei war ihr Sohn noch gar nicht so alt, erst in fünf Monaten würde es so weit sein!

Mit einem duldsamen Lächeln schlich Emily auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und ließ die Tür einen Spaltbreit auf, um nach Freddies großer Schwester zu schauen. Beth lag auf dem Rücken, ein Bein zur Seite gestreckt, und das zerzauste dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht.

Emily schob ihr eine Strähne aus den Augen und hauchte ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn. In ein paar Minuten gab es einen Film, den sie schon seit Langem sehen wollte. Wenn sie jetzt sofort den Geschirrspüler belud, könnte sie gerade noch rechtzeitig vor dem Fernseher sitzen.

Oder auch nicht.

Auf der untersten Treppenstufe sah sie, wie vor der Haustür ein Schatten auftauchte. Dann zeichnete sich auf der anderen Seite eine Hand ab, und sie hörte jemanden behutsam an die Glasscheibe klopfen.

Ihr neuer Nachbar?

Stumm seufzte sie und tastete nach dem Riegel. Sie würde höflich sein müssen. Was sie von Natur aus war, aber heute Abend hätte sie es sich am liebsten vor dem Fernseher bequem gemacht und sich nach Herzenslust verwöhnt. Im Kühlschrank lag belgisches Schokoladeneis …

„Em?“

„Harry?“

Sie schlug die Hand vor den Mund, unterdrückte einen verblüfften Aufschrei, riss sich von seinem Gesicht los und senkte den Blick, bis er auf ein …

Ein Baby?

Blinzelnd schaute sie genauer hin. Ja, kein Zweifel. Es war eindeutig ein Baby. Ein winziges Kind, kaum alt genug, um auf der Welt zu sein, aber sicher und geborgen an der breiten Brust, an die sie selbst vor so vielen Jahren oft den Kopf gelegt hatte.

„Oh, Harry!“ Sie öffnete die Tür weit, zog ihn herein und küsste ihn auf die Wange. Obwohl sie am liebsten laut aufgeheult hätte, denn wo ein Baby war, war auch eine Frau. Und wenn es eine andere Frau gab …

Rasch ließ sie ihn wieder los, bevor sie eine Dummheit begehen konnte. „Es ist lange her … Wie geht es dir?“, fragte sie und erkannte ihre Stimme kaum wieder, während sie den Anblick seines Gesichts in sich aufnahm.

„Na ja … du weißt schon.“

Nein, sie wusste nicht, obwohl er fast täglich in den Fernsehnachrichten zu sehen war. Im Gegenteil, sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Er rang sich die Andeutung eines Lächelns ab und wirkte plötzlich äußerst erschöpft.

Trotzdem sah er großartig aus. Hochgewachsen, athletisch, gebräunt, mit Falten an den hellblauen Augen, bestimmt weil er sie so oft zusammenkneifen musste, in all den Krisengebieten, in denen er sein Leben verbrachte. Eine Rasur konnte ihm nicht schaden, und zu einem Friseurbesuch hätte sie ihm am liebsten auch geraten.

Es juckte ihr in den Fingern, sein dunkles, ein wenig wildes Haar zu berühren und festzustellen, ob es noch so weich war wie in ihrer Erinnerung. Doch das durfte sie nicht. Sie hatte kein Recht dazu. Offensichtlich gehörte er jetzt einer anderen Frau.

Harry drehte sich etwas zur Seite, bis sein Gesicht im Schatten lag und sie seine Augen nicht mehr sehen konnte. Also schaute sie nach unten, und ihr Herz machte einen Satz. Das winzige Baby schien zwischen den großen, kantigen Händen zu verschwinden. Der kleine Kopf mit dem unbändigen schwarzen Haar lugte unter einem Mützchen hervor und wurde sicher von den langen, kräftigen Fingern gehalten.

Was für ein eindrucksvolles Bild! Die Werbung hatte diese Wirkung schon vor Jahrzehnten erkannt. Aber hier, in ihrem Flur, war der Anblick noch wirksamer als in Werbespots und Zeitungsanzeigen, und Emily fühlte, dass ihre Knie weich wurden.

Und nicht nur die Knie, auch ihr Herz wurde weicher, als ihr lieb war.

„Du bist zurück“, sagte sie nach einer kleinen Ewigkeit, als ihr Verstand wieder zu funktionieren begann. „Ich habe das Licht gesehen, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass du es bist.“ Nicht nach all diesen Jahren. Nicht nach der letzten Begegnung … „Bist du allein?“

„Ja. Nur das Baby und ich.“

Nur? Fast hätte sie laut gelacht. An einem Baby war nichts „nur“, erst recht nicht an einem so winzigen. Sie fragte sich, wann seine Frau nachkam und ihm die Bürde erleichterte. Später am Abend? Oder erst morgen? Sie hatte nicht gewusst, dass er verheiratet war. Wie auch? Er hatte den Kontakt zu ihr und ihrem Bruder Dan einschlafen lassen, und sie hatte nicht versucht, ihn aufrechtzuerhalten.

Lügnerin! Sie hatte jede Woche im Internet recherchiert, so gut wie keine Nachrichtensendung verpasst, an seinen Lippen gehangen, sobald eine seiner Reportagen gesendet wurde …

„Und wo ist die Mutter des Babys? Hat sie es dir anvertraut?“, fragte sie atemlos, denn sie ertrug die Spannung keine Sekunde länger.

Sein Lächeln misslang, und in seinen Augen blitzte so etwas wie Panik auf, doch sein Blick blieb ernst, und darin nahm sie etwas wahr, das sie nicht recht deuten konnte.

„Es gibt keine Mutter“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Es gibt nur uns beide, das Baby und mich.“

Hoffnung keimte in ihr auf, und sie unterdrückte sie gnadenlos. Hinter all dem hier steckte eine Geschichte, die er ihr nicht erzählte. Und abgesehen davon war eine Neuauflage ihrer Romanze mit Harry Kavenagh das Letzte, was sie sich zumuten wollte. Es gab keine Mutter? Das erklärte, warum er so überraschend zurückgekehrt war. Sicher, er tat ihr leid, aber mit der Situation musste er wohl allein fertig werden.

Emily wich zurück, sowohl räumlich als auch emotional. Sie ging auf Distanz, um nicht schwach zu werden. Aber dann begann das Baby zu zappeln, und dieses Mal war die Panik in Harrys Augen nicht zu übersehen. Trotzdem musste sie hart bleiben.

„Also, was kann ich für dich tun?“, fragte sie sachlich und versuchte, weder abweisend noch allzu ermutigend zu klingen.

Er wirkte etwas bestürzt – vielleicht hatte sie sich doch zu kühl angehört. Aber dann straffte er die Schultern und lächelte müde. „Nichts. Ich werde eine Weile bleiben. Deshalb wollte ich nachsehen, wer meine Nachbarn sind, und mich vorstellen … oder deine Eltern begrüßen, wenn sie noch hier gewesen wären. Ich wusste nicht …“

War das eine Frage? Sie war nicht sicher, beantwortete sie aber dennoch. Ich werde eine Weile bleiben, hatte er gesagt. „Sie sind in Portugal. Sie leben für einen Teil des Jahres dort. Mum hatte Heimweh, und meiner Großmutter geht es nicht sehr gut.“

„Also hütest du für sie das Haus?“

„Nein. Ich wohne hier“, erwiderte sie und wünschte, sie hätte nicht „ich“, sondern „wir“ gesagt, um sich nicht so allein und verfügbar zu fühlen. Denn auch wenn sie wieder Single war, stand sie Harry Kavenagh ganz bestimmt nicht zur Verfügung. Das würde sie nie wieder tun.

Das Baby wurde lauter, und er wiegte es vorsichtig. Doch seine Bewegungen waren linkisch, er wirkte angespannt, fast ein wenig ängstlich. Sie musste sich beherrschen, um ihm das Kind nicht einfach abzunehmen und tröstend an die Brust zu drücken. Das wäre lächerlich. Sie wollte ihn loswerden, bevor sie sich zu einem leichtsinnigen Fehler verleiten ließ.

Emily machte einen Schritt in Richtung Haustür. „Das klingt, als wäre das Baby hungrig. Vielleicht solltest du … sie füttern? Es ist doch ein Mädchen, oder?“

Harry nickte. „Ja.“

Ja, was? War es tatsächlich ein Mädchen? Oder würde er sie, ihn oder es füttern? Sie öffnete die Tür und lächelte, ohne ihm in die Augen zu schauen. „Ich hoffe, du gewöhnst dich schnell ein. Ruf mich an, falls du etwas brauchst.“

Er nickte wieder, und erneut huschte ein Lächeln über sein Gesicht, bevor er in die Dunkelheit hinausging. Leise schloss sie die Tür.

Verdammt. Ein schlechtes Gewissen war eine üble Sache.

Entschlossen ging Emily in die Küche, nahm das Eis aus dem Kühlschrank und überlegte, ob sie es in eine Schüssel füllen sollte. Dazu war keine Zeit mehr, also griff sie sich einen Löffel, eilte ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Fernseher.

Natürlich hatte der Film schon begonnen, und sie fand nicht mehr in die Handlung hinein. Doch das machte nichts, denn in Gedanken war sie ohnehin bei Harry und der Winzigkeit in seinen großen Händen. Das Schuldgefühl quälte sie.

Das Schuldgefühl und eine Million Fragen.

Warum war er mit dem Baby allein? War es überhaupt von ihm? Oder handelte es sich um ein Waisenkind, das er aus den Trümmern eines ausgebombten Hauses gerettet hatte …

Zuzutrauen wäre es Harry. Aber nein, das konnte nicht sein. Das Baby war erst ein paar Tage alt, und so schnell schaffte es niemand, ein Kind zu adoptieren und mit ihm aus einem vom Krieg verwüsteten Land auszureisen.

Es sei denn, er hatte es einfach entführt.

Auch das war unwahrscheinlich. Er wirkte eher wie ein Mann, der mit einem Baby sitzen gelassen worden war – von einer Freundin, die es in seinem rastlosen, aufregenden Leben nicht mehr ausgehalten hatte.

Oder sie war tot, bei der Geburt gestorben …

„Oh, du meine Güte!“

Emily ging in die Küche, stellte die – kaum angerührte – Eiscreme weg, trat ans Fenster und starrte auf das Nachbarhaus.

Sie hörte das Baby schreien, und sofort eilte die Mutter in ihr über den Flur, ins Freie und nach nebenan, um das arme Ding tröstend in die Arme zu nehmen. Aber zum Glück blieb die Realistin in ihr genau dort, wo sie war, und wünschte, sie wäre schwerhörig und nicht so sehr darauf geeicht, jedes kindliche Weinen wahrzunehmen.

Sie mixte sich einen Drink, kehrte ins Wohnzimmer zurück und griff nach der Fernbedienung. Vielleicht würde ein anderes Programm sie ablenken. Eines, von dem sie nicht einen zu großen Teil verpasst hatte. Nervös zappte sie durch die Kanäle.

Eine Kochsendung, eine Soap, die sie noch nie interessiert hatte, und eine Dokumentation über einen der vielen schmutzigen Kriege, die überall auf der Welt auszubrechen schienen. Womit sie wieder bei Harry und seinem weinenden Baby war …

„Bitte hör auf zu weinen, meine Kleine“, flehte Harry seine Tochter an und berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Trink einen Schluck, du musst doch hungrig sein. Oder ist es dir zu kalt? Oder zu heiß?“

Verdammt, woher sollte er das wissen? Er mochte seinen Kaffee kochend heiß und sein Bier eiskalt. Alles dazwischen war ihm einfach fremd.

Verzweifelt starrte er auf das Haus nebenan und das erleuchtete Fenster hinter den dicht stehenden Bäumen.

Nein. Er konnte sie unmöglich um Hilfe bitten. Schließlich hatte sie ihn nicht gerade mit offenen Armen willkommen geheißen.

„Na ja, was zum Teufel hast du erwartet?“, murmelte er frustriert, bevor er das Baby auf den anderen Arm nahm und die Flasche in einem anderen Winkel ansetzte. „Du verschwindest für Jahre aus ihrem Leben und tauchst mit einem Baby wieder auf – vermutlich hat sie gedacht, du wolltest es bei ihr abladen!“

Er drückte das kleine Wesen fester an sich, und sofort wurde das Weinen lauter. Besorgt lockerte er den Griff wieder, legte das Baby an seine Schulter und strich besänftigend über den kleinen Rücken, während er hilflos auf und ab ging und jedes Mal, wenn er am Fenster vorbeikam, einen flehentlichen Blick auf Emilys Haus warf.

Im Wohnzimmer brannte kein Licht mehr, nur die Treppenbeleuchtung drang durch das hübsche Buntglasfenster der Haustür. Seltsam. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie allein im Haus war …

„Hör endlich auf, an sie zu denken“, knurrte Harry, und das Baby begann zu zappeln. „Psst“, flüsterte er, rieb ihm wieder über den Rücken und ging ins Bad. „Wie wäre es mit einem schönen warmen Bad?“

Er fand die Idee gut, aber leider machte seine Tochter ins Waschbecken, und er musste das Wasser mit einer Hand wechseln, ohne sie fallen zu lassen. Und dann war es zu heiß, und er musste kaltes Wasser nachlaufen lassen. Dabei lief das Becken fast über, und als er sie endlich behutsam hineinlegen konnte, schrie sie aus vollem Hals. Er gab auf.

Er spürte, wie ihm vor Verzweiflung fast die Tränen kamen. So hilflos wie jetzt hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.

„Oh, Grandma, wo bist du?“, seufzte er. „Du würdest wissen, was zu tun ist – du hast immer für jedes Problem eine Lösung gefunden.“

Vorsichtig trocknete Harry das Baby ab, zog ihm frische Sachen an und versuchte, es in die Tragetasche zu legen, doch es wollte nicht. Es gab nur eine Methode, seine Tochter zu beruhigen – er legte sie an sein Herz und lief umher.

Nach einer Weile hüllte er sie in die weiche Decke aus dem Auto und ging mit ihr in die milde Sommernacht hinaus. Er spazierte zur Klippe, durch die stillen Wohnstraßen zur Promenade hinunter und am Strand entlang. Trotz der rauschenden Wellen schlief das Baby ruhig an seiner Brust.

Als er so müde war, dass er nicht mehr laufen konnte, seine Augen brannten und er sich nur noch hinlegen und weinen wollte, kehrte er mit seiner Tochter nach Hause zurück. Wo er sich in den scheußlichen Sessel setzte, den die Mieter dagelassen hatten, und im selben Moment schlief.

Aber nicht lange.

Nicht annähernd lange genug. Das Baby erwachte vor ihm, und nach und nach wurde aus einem leisen Wimmern erst ein klägliches Weinen, dann ein markerschütterndes Geschrei.

Harry rieb sich die Augen und suchte hektisch nach der Flasche, fand sie im Kühlschrank, wärmte sie, hielt sie an die Wange und kühlte sie unter dem Wasserhahn, weil sie natürlich zu heiß geworden war. Als er sie endlich seiner ungeduldig zappelnden Tochter an den Mund hielt, war sie alles andere als dankbar und weigerte sich strikt, daraus zu trinken.

Panisch starrte er sie an, und ihm kamen die Tränen. „Oh, bitte, Kizzy, nimm sie einfach“, flehte er, und gnädig erfüllte sie seinen Wunsch. Doch kurz darauf bekam sie Schluckauf, fing wieder an zu schreien und strampelte mit den Beinen.

Harry wusste nicht weiter. Wie war er bloß auf die absurde Idee gekommen, dass er das hier konnte? Er musste den Verstand verloren haben. Kein Wunder, dass Frauen nach der Geburt depressiv wurden.

Ob das Männern auch widerfuhr? Unvorbereiteten, ungeschickten, unfähigen Männern, die keine Mutter ersetzen konnten – Männern, deren Frauen bei einer Bombenexplosion oder einem Erdbeben ums Leben gekommen waren?

Wie erging es einem Witwer, nachdem seine Frau die Geburt ihres Kindes nicht überlebt hatte? Oder einem Mann, der sich entschieden hatte, Hausmann zu werden und die Sprösslinge zu betreuen? Wie schafften die es?

Wie schaffte es überhaupt irgendjemand?

Er wechselte die Windel, zog seiner Tochter etwas Neues an, zog sie nochmals um, nachdem sie die Milch wieder von sich gegeben hatte, probierte es noch einmal mit der Flasche, leider vergeblich, legte das Baby schließlich in die Tragetasche, ließ es weinen, schloss die Tür hinter sich und ging nach oben.

Er musste dringend schlafen, sonst konnte er bald gar nichts mehr für sie tun.

Aber in seinem alten Kinderzimmer lag nur eine nackte, fleckige Matratze. Selbst wenn er es fertiggebracht hätte, das Weinen seiner Tochter lange genug auszublenden, um einzuschlafen, er konnte sich einfach nicht überwinden und sich darauf legen.

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft schaute er sich richtig im Haus um. Wenn er hier wohnen wollte, würde er ein ganzes Team von Handwerkern brauchen, die alles vom Boden bis zur Decke renovierten. Gründlich. Neue Teppichböden, neue Möbel und wahrscheinlich auch eine neue Küche.

Und bis dahin sollte er in dieser spartanischen Behausung durchhalten? Mit einem Baby?

Er musste verrückt gewesen sein.

Damals, vor Wochen, hätte er den Ärzten erlauben sollen, die Schalter umzulegen, anstatt sich einzumischen.

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte seinen Magen, und schuldbewusst schüttelte er den Kopf.

Nein.

Was immer als Nächstes geschehen würde, was immer er getan hatte, es war genau das Richtige gewesen. Das einzig Mögliche. Und alles würde einfacher werden. Das musste es. Er würde lernen, sein Kind zu versorgen.

Und jetzt würde er wieder nach unten gehen, Kizzy aus der Tasche nehmen, sich in den schäbigen Sessel setzen, sie an die Brust legen und warten, bis ihnen beiden die Augen zufielen. Um alles andere würde er sich morgen kümmern …

Autor

Caroline Anderson

Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

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