Historical Exklusiv Band 82

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DAS VERLANGEN DES IRISCHEN KRIEGERS von MICHELLE WILLINGHAM
Unbändige Wut treibt den irischen Krieger Trahern MacEgan an. Auf der Suche nach den Mördern seiner Frau findet er unterwegs die schwer verletzte junge Morren. Unversehens kämpft der Krieger, der geschworen hat, nie wieder zu lieben, nun seinen schwersten Kampf. Was kann er nur gegen das wachsende Verlangen, das die betörende Morren in ihm entzündet, ausrichten? Trahern muss sich zwischen Rache und Liebe entscheiden!

VERRAT AUF BURG BRAMPTON von ANNE O’BRIEN
Sir Francis Brampton, dessen Burg von Royalisten belagert wird, gerät in einem dramatischen Kampf in Gefahr. Dass ihm dabei seine frisch angetraute Gemahlin, Lady Honoria, tapfer zur Seite steht, weckt in ihm eine alles verzehrende Leidenschaft. In diesen Stunden finden sie in Liebe zueinander. Doch als Sir Francis nur wenige Tage später entdeckt, dass man ihn verraten hat, erwacht in ihm ein quälender Verdacht …


  • Erscheinungstag 31.03.2020
  • Bandnummer 82
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748982
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Willingham, Anne O’Brien

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 82

1. KAPITEL

Irland, 1180

Der kalte Herbstwind drang durch seinen Mantel und mahnte ihn, dass es an der Zeit war, sich einen Unterschlupf zu suchen. Aber Trahern MacEgan spürte die Kälte kaum. Schon während der letzten Monate war sein Innerstes so kalt gewesen wie der Wind, der an ihm zerrte.

Er war zerfressen von Rachegedanken, besessen von dem Verlangen, die Männer zu finden, die Ciara getötet hatten. Deswegen hatte er Heim und Familie verlassen. Er wollte in den Südwesten Irlands zurückkehren, wo in Glen Omrigh der Stamm der O’Reillys lebte.

Seine Brüder ahnten nichts von seinem Vorhaben. Sie glaubten, er wäre nur wieder einmal unterwegs, würde seine Geschichten erzählen und Freunde besuchen. Als Barde verweilte er nie lange an einem Ort, und so hegten sie nicht den geringsten Verdacht.

Was er plante, ging nur ihn etwas an. Seine Brüder hatten Frauen und Kinder. Er würde nie das Risiko eingehen, sie in Gefahr zu bringen. Er selbst hingegen hatte nichts mehr zu verlieren, und das war ihm nur recht.

Die Gegend wurde jetzt bergiger, grüne Hügel erhoben sich aus dem Nebel, und die schmale Straße schlängelte sich nun durch ein Tal. Warme Atemwolken stiegen von den Nüstern des Pferdes auf.

Im Frühsommer hatte Ciaras Bruder Áron ihm die Nachricht geschickt, dass Wikinger die kleine Wallburg, den cashel, überfallen hatten. Dabei war Ciara, bei dem Versuch zu fliehen, getötet worden.

Die grausame Botschaft hatte Trahern monatelang von Glen Omrigh ferngehalten. Er wollte weder Ciaras Grab sehen noch das Mitleid seiner Freunde ertragen müssen. Er wollte nur noch vergessen.

Aber die Zeit linderte seinen Schmerz nicht. Sie hatte ihn nur noch größer werden lassen. Er hätte Ciara nicht verlassen dürfen. Die Schuld wog schwer auf seinen Schultern und veränderte ihn. Er wurde ein anderer Mensch.

Hass durchströmte ihn und verdrängte den Schmerz. Wut und Entschlossenheit beherrschten jetzt sein Denken. Er würde diese Verbrecher finden, und dann sollten sie das gleiche Schicksal wie Ciara erleiden.

Als die Sonne tiefer am Himmel stand, hielt Trahern an, machte ein Feuer und baute sich einen Unterschlupf. Wenn er ein paar Stunden weitergeritten wäre, hätte er noch heute sein Ziel erreichen können. Aber er zog es vor, die Nacht allein zu verbringen.

Knisternd leckten die Flammen am trockenen Holz und hoben sich leuchtend orange vom nächtlichen Himmel ab. Morgen würde er den cashel erreichen und die Verfolgung seiner Feinde aufnehmen.

Trahern streckte sich auf seinem Mantel aus. Während er etwas aß, sah er ins Feuer und lauschte den Geräuschen der Nacht. In einiger Entfernung hörte er ein leises Rascheln im Wald. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Tiere. Trotzdem griff er nach seinem Schwert.

Das, was sich dort bewegte, war schwerer als ein Eichhörnchen oder ein Fuchs. Das war ein Mensch, kein Tier. Trahern packte das Schwert fester und wartete.

Plötzlich trat eine Gestalt aus dem Wald. Es war ein junges Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt. Es trug ein zerlumptes léine und ein grünes Oberkleid. Ihr Gesicht war voller Schmutz, und es war so dünn, als hätte es seit Wochen nichts zu essen gehabt. Das braune Haar war taillenlang, die Füße waren nackt.

Mein Gott, ihre Füße mussten fast erfroren sein!

„Wer bist du?“, fragte Trahern behutsam. Bei seinen Worten errötete sie verlegen und sah weg, ohne ihm eine Antwort zu geben.

„Komm her und wärme dich“, bot er ihr an. „Ich habe auch etwas zu essen, falls du hungrig bist.“

Sie machte einen Schritt aufs Feuer zu. Aber dann blieb sie stehen, schüttelte den Kopf und deutete auf den Waldrand hinter sich. Trahern ließ den Blick über die Bäume schweifen, konnte jedoch niemanden entdecken. Obwohl das Mädchen sich inzwischen die Hände am Feuer wärmte, schien es immer ängstlicher zu werden. Wieder deutete es zu den Bäumen hin.

„Wie heißt du?“, fragte Trahern. „Und was ist geschehen?“

Die Kleine hustete. Und mit rauer Stimme, so, als hätte sie lange nicht mehr gesprochen, sagte sie: „Ich heiße Jilleen.“ Und setzte hinzu: „Meine Schwester.“

Trahern sprang auf. „Bring sie her. Sie kann sich hier wärmen und etwas essen. Ich habe für euch beide auch noch genug.“ Das stimmte zwar nicht, aber es kümmerte ihn nicht, wenn sie seinen Proviant aufaßen. Er konnte jederzeit wieder auf die Jagd gehen. Besser, die Frauen konnten ihren Hunger stillen.

Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf. „Sie ist verletzt.“

„Wie schlimm?“

Jilleen antwortete nicht, sondern bedeutete ihm nur, ihr zurück in den Wald zu folgen. Trahern warf einen Blick auf sein Pferd und dann auf den bewaldeten Hügel. Zu Pferd wäre er zwar schneller gewesen, aber für einen Reiter standen die Bäume zu dicht.

Er verspürte keine große Lust, sich in den unbekannten Wald hineinzuwagen. In der nächsten Stunde würde die Dunkelheit hereinbrechen. Aber er konnte das Mädchen auch nicht allein gehen lassen. Seufzend zog er eine Grimasse und griff nach einem abgebrochenen Ast, um ihn als Fackel zu benutzen. Den Beutel mit seinem Proviant wollte er nicht zurücklassen und warf ihn sich über die Schulter.

Jilleen führte ihn fast eine halbe Meile lang bergauf. Der Boden war mit trockenen Blättern bedeckt, und Trahern achtete darauf, die Fackel nicht zu tief zu halten.

Dann überquerten sie einen Bach. Nicht weit davon entfernt entdeckte er einen notdürftigen Unterschlupf, der aus den Resten eines alten Rundhauses bestand. Dort angekommen, folgte er dem Mädchen ins Innere.

„Was ist das hier?“, murmelte er. So weit von jeder Behausung entfernt, konnte er sich nicht vorstellen, wozu das alte Rundhaus gedient haben sollte.

„Eine Jagdhütte“, antwortete Jilleen. „Morren entdeckte sie vor Jahren.“

Drinnen war es dunkel, und es brannte kein Feuer. Dann hörte er eindeutig eine Frau stöhnen. „Mach Feuer“, befahl er dem Mädchen und reichte ihm die Fackel.

Als die Flammen aufflackerten, beugte er sich über die Frau, die auf einer Lagerstatt ruhte. Sie zitterte am ganzen Körper und hielt die Decke umklammert, in die sie sich bis zum Hals eingewickelt hatte. Ihre Beine zuckten, wohl, weil sie Schmerzen litt. Als er ihre Stirn befühlte, merkte er, dass sie vor Fieber glühte.

Trahern stieß einen leisen Fluch aus. Er war kein Heiler. Er wusste, was bei Schwertverletzungen zu tun war, aber er hatte keine Ahnung von Krankheiten, die im Innern des Körpers wüteten. Die Frau schien große Schmerzen zu haben, und er wusste nicht, was er für sie tun konnte.

Er sah zu dem Mädchen hinüber, das mit dem Feuer beschäftigt war. „Deine Schwester braucht eine Heilerin.“

„Wir haben keine.“ Jilleen schüttelte den Kopf.

Trahern setzte sich und zog die Schuhe aus. Sie würden ihr zu groß sein, aber es war besser als nichts. „Zieh sie an. Wenn es sein muss, binde sie fest.“

Sie zögerte. „Geh zu meinem Lagerplatz zurück und schwinge dich auf mein Pferd“, meinte er daraufhin etwas sanfter. „Wenn du schnell reitest, wirst du in ein paar Stunden Glen Omrigh erreichen. Nimm die Fackel mit.“

Unter normalen Umständen wäre er nie auf den Gedanken gekommen, ein junges Mädchen allein in die Dunkelheit hinauszuschicken. Aber von ihnen beiden hatte er die größere Chance, die verletzte Frau am Leben zu erhalten, bis Hilfe kam. Trahern zweifelte nicht daran, dass die Männer der O’Reillys das Mädchen und die Heilerin hierher begleiten würden. Wenn die Kleine denn Glen Omrigh erreichte.

„Falls du es nicht bis dorthin schaffst, dann suche Hilfe in St Michael’s Abbey.“

Das Mädchen wollte sich weigern, aber Traherns Blick duldete keinen Widerspruch. „Allein kann ich sie nicht retten.“

Er fragte sich, was wohl aus der Familie der beiden geworden war. Wurde sie bei einem Überfall getötet? Weil Jilleen niemanden sonst erwähnt hatte, vermutete er, dass die beiden allein waren.

Es war dem Mädchen anzusehen, dass es nicht gehen wollte, aber schließlich nickte es. „Ich werde schon jemanden finden.“ Mit ein paar Stofffetzen band Jilleen sich die Schuhe an den Füßen fest. Wortlos griff sie nach dem Ast, den er als Fackel benutzt hatte, und verließ den Unterschlupf.

Bis zu ihrer Rückkehr würde es Stunden dauern. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht enttäuschte. Verzweifelt versuchte er sich daran zu erinnern, was Aileen, die Frau seines Bruders, tat, wenn sie einen Kranken behandelte. Ihm fiel ein, dass sie ihn als Erstes immer von Kopf bis Fuß betrachtete.

„Manchmal findest du eine Verletzung, wo du sie am wenigsten vermutest“, hatte sie einmal zu ihm gesagt.

Trahern trat zu der Frau. Sie hatte die Augen geschlossen. Als er ihre Hand berührte, zitterte sie, als wären seine Finger aus Eis.

„Schon gut“, beruhigte er sie. „Du bist jetzt in Sicherheit.“ Er sah sie sich genauer an. Auch wenn ihr Gesicht vom Hunger eingefallen war, so hatte sie doch volle Lippen. Das lange blonde Haar war verfilzt und klebte an ihren Wangen. Trotzdem strahlten ihre feinen Züge eine große Kraft aus. Er konnte förmlich spüren, wie sie mit aller Macht gegen das Fieber ankämpfte.

Sie trug ein zerlumptes léine, das sie wohl kaum wärmen konnte, weil es viel zu dünn war. Weiter auf der Suche nach der Ursache ihres Fiebers, tastete Trahern vorsichtig über ihr Gesicht und den Hals, dann über ihre Arme.

„Nicht“, wimmerte sie und versuchte, seine Hände fortzustoßen. Doch ihre Arme fielen kraftlos herunter. Die Augen hielt sie immer noch geschlossen, und Trahern wusste nicht, ob seine Berührung ihr Schmerzen verursachte oder ob sie ohnmächtig geworden war. Er hielt inne und wartete, dass sie sich wieder regte.

Als sie sich nicht rührte, zog er die Decke fort. Jetzt sah er, woher ihre quälenden Schmerzen kamen. Unterhalb der Taille war ihr Gewand blutdurchtränkt. Die Schwangerschaft hatte ihren Bauch noch kaum gerundet. Sie presste die Knie zusammen, als wollte sie die Fehlgeburt verhindern.

Großer Gott! Er flüsterte ein leises Gebet, weil er erkannte, dass er hier zu spät gekommen war. Sie würde nicht nur das Kind verlieren, sondern vielleicht auch ihr Leben.

Du musst ihr helfen, drängte ihn sein Gewissen. Er durfte kein Feigling sein. Nichts, was er jetzt tat, konnte schlimmer sein als die Schmerzen, die sie bereits auszuhalten hatte.

Zögernd schob er ihr léine hoch und wünschte sich, irgendwie ihre Schamhaftigkeit respektieren zu können. „Alles wird gut, a chara. Ich werde alles tun, um dir zu helfen.“

Morren O’Reilly öffnete die Augen und stieß einen Schrei aus.

Nicht wegen der heftigen Krämpfe, die sie zu zerreißen drohten, sondern wegen des Mannes, der neben ihr saß und ihre Hand hielt.

Trahern MacEgan.

Als er sie berührte, raubte ihr die Angst fast den Atem. Sie zog ihre Hand fort, und zum Glück gab er sie auch sofort frei. Das Fieber ließ sie immer noch nicht klar denken, und ihr fehlte jede Erinnerung daran, was im Laufe des Tages geschehen war.

Heilige Maria, was machte Trahern hier? In seinem Gesicht konnte sie keinen weichen Zug erkennen. Nur Härte. Er war immer noch der größte Mann, den sie kannte, aber sein Aussehen war völlig verändert. Er hatte sich die Haare kurz geschnitten und den Bart abrasiert. Das ließ sein Gesicht hart und kalt erscheinen. Steingraue Augen blickten auf sie herab. Aber in seinem Blick las sie keine Wut. Nur Leere.

Unter seiner Tunika zeichneten sich die starken Muskeln eines Kriegers ab. Ihr Herz bebte. Morren krallte die Finger in den Strohsack, auf dem sie lag. Ob Jilleen ihn hierher gebracht hatte? Von ihrer Schwester war jedoch nichts zu sehen.

„Das Schlimmste ist überstanden“, sagte er leise und ohne erkennbare Emotion.

Es stimmte nicht. Es war noch lange nicht überstanden. Morren rollte sich zusammen, als eine Welle dumpfen Schmerzes sie erfasste. Ihr Bauch war jetzt flach. Aus dem Haufen blutbefleckter Lumpen neben ihrem Lager schloss sie, dass sie das Kind verloren hatte.

Das war ihre Strafe. Die Strafe für all das, was geschehen war. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte dieses Kind nicht gewollt. Weil es sie immer wieder an jene schreckliche Nacht erinnert hätte. Aber jetzt, wo es fort war, fühlte sie eine grausame Leere in sich, den schrecklichen Verlust eines unschuldigen Lebens, das nicht verlangt hatte, aus einem Moment der Rohheit heraus gezeugt zu werden.

Ich hätte dich geliebt, dachte sie. Trotz allem.

Sie barg das Gesicht unter der Decke und merkte, dass sie nackt war.

Vor Scham wurde sie brennend rot. „Was hast du getan?“, fragte sie. „Ich will meine Kleider.“

„Alles war voller Blut. Um dir zu helfen, musste ich dich ausziehen.“ Seine Stimme klang gepresst. „Es tut mir leid, aber ich konnte dein Kind nicht retten.“

Die Worte trafen sie wie ein scharfes Messer, und sie weinte um das verlorene Kind. Als sie das Gesicht abwandte, legte sich eine warme Hand auf ihren Scheitel. Er wollte sie trösten, sie konnte es jedoch nicht ertragen, berührt zu werden.

„Nicht.“ Sie zuckte vor ihm zurück und zog sich die Decke bis unters Kinn.

Er hob beide Hände, wie um ihr zu zeigen, dass er nichts Böses im Schilde führte. „Ich habe deine Schwester um Hilfe geschickt.“ Mit einem Blick auf sie fügte er hinzu: „Ich suche dir etwas zum Anziehen.“

Er kramte in ihren Habseligkeiten. Morren wollte dagegen protestieren, aber dann schwieg sie lieber, weil eine neue Welle des Schmerzes sie packte. Der Raum begann sich zu drehen. Keuchend senkte sie den Kopf und kämpfte gegen den Schwindel an.

„Ich habe dich schon einmal gesehen, aber ich weiß deinen Namen nicht mehr“, bemerkte Trahern, der ein léine in dem Bündel gefunden hatte. Er warf es ihr zu und wandte sich ab, während sie es über den Kopf zog. „Ich bin Trahern MacEgan.“

Enttäuscht stellte Morren fest, dass er sich nicht im Geringsten an sie zu erinnern schien. Damals, als sie einander begegnet waren, hatte er natürlich nur Augen für Ciara gehabt und eine andere kaum angesehen.

Sie kannte Trahern gut. Während der Monate, die er bei ihrem Stamm verbrachte, lauschte sie immer den unzähligen Geschichten, die er erzählte. Nicht oft gelang es einem Barden, seine Zuhörerschaft mit nichts als Worten in seinen Bann zu ziehen. Aber Trahern war darin ein Meister.

„Ich heiße Morren O’Reilly“, sagte sie schließlich.

Es war ihm nicht anzumerken, ob er den Namen kannte, und sie gab sich damit zufrieden. Erneut wurde sie von einem Krampf gepackt, und wieder drohte der Schmerz sie zu überwältigen.

„Lebt dein Mann?“, fragte Trahern nach einer Weile vorsichtig, so, als wüsste er die Antwort bereits.

„Ich habe keinen Mann.“ Und so Gott wollte, würde sie auch nie einen haben. Jilleen war alles, was ihr von ihrer Familie geblieben war. Sie war die einzige Familie, die sie brauchte.

Sie fing Traherns Blick auf. Es lag keine Verurteilung darin. Und sie gab ihm auch keine weitere Erklärung. „Wann hast du zum letzen Mal etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht.“ Essen war das Letzte, an das sie gedacht hatte, als die Schmerzen kamen. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um. „Ich habe keinen Hunger.“

„Es könnte dir helfen.“

„Nein.“ Sie barg das Gesicht in dem zerlumpten Mantel, den ihre Schwester als Decke über sie gelegt hatte. „Geh doch einfach wieder. Jilleen wird schon zurückkommen.“

Er zog sich einen Hocker neben ihr Lager und setzte sich. „Ich sehe doch, dass du leidest. Sag mir, was ich für dich tun kann.“

„Nichts.“ Sie biss sich auf die Lippe. Wenn er doch nur endlich gehen würde, damit sie die Schmerzen nicht länger unterdrücken musste.

Trahern verschränkte die Arme vor der Brust. „Deine Schwester wird bald mit der Heilerin hier sein.“

„Nein, das wird sie nicht.“ Gegen ihren Willen stöhnte Morren laut auf, als der Schmerz übermächtig wurde. „Unsere Mutter war die Heilerin. Sie starb letztes Jahr.“

Trahern beugte sich über sie. Sie konnte ihm die Enttäuschung vom Gesicht ablesen. „Dann wird sie eben zur Abtei gehen und mit irgendjemand anderem zurückkommen.“

„Ich weiß nicht, ob von dort jemand kommen wird“, seufzte sie. Die Mönche von St Michael’s pflegten jeden, den man in ihr Kloster brachte. Aber Morren bezweifelte, ob einer der betagten Brüder in der Lage war, den Ritt hierher auf sich zu nehmen.

Traherns graue Augen schimmerten fast schwarz, und sein Mund, vor Zorn zusammengepresst, bildete eine schmale Linie. Morren hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Sie versuchte, so weit wie möglich von ihm fort zu rutschen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen.

„Gib nicht Jilleen die Schuld“, bat sie ihn. „Vielleicht bringt sie doch noch Hilfe.“

Aber sie glaubte selbst nicht an ihre Worte. Ihre Schwester war fort, und niemand wusste, ob sie je zurückkehren würde. Seit jenem nächtlichen Überfall war Jilleen nicht mehr dieselbe.

Und sie selbst auch nicht.

Morren schlang fest die Arme um ihren Körper. Sie wollte nicht schon wieder daran denken. Lass ab von dieser Erinnerung, sagte sie sich. Das Opfer musste sein.

„Gab es viele Überlebende in Glen Omrigh?“, fragte er.

Morren schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Wir liefen fort. Ich weiß nicht, wohin die anderen flüchteten. Vielleicht zu anderen Clans.“

„Wie viele der Lochlannach haben euch in jener Nacht überfallen?“

Morren antwortete nicht. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Angst. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte darum, nicht die Beherrschung zu verlieren.

Aber Trahern ließ nicht locker. „Wie viele, Morren? Hast du sie gesehen?“

Sie starrte ihm ins Gesicht. „Ich weiß genau, wie viele Männer es waren“, stieß sie hervor.

In seinem Gesicht konnte sie lesen, dass er verstand, was sie ihm sagen wollte. Er murmelte einen wilden Fluch und ließ den Blick über ihren misshandelten Körper gleiten.

Morren schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen.

Als er die Hand ausstreckte, um sie auf ihre Hand zu legen, zog sie sie zurück. Und als dieses Mal die Dunkelheit einer Ohnmacht lockte, widerstand sie ihr nicht länger.

Sie hatte wieder angefangen zu bluten.

Es störte Trahern, dass er sich auf so intime Art um Morren kümmern musste. Schließlich war sie eine Fremde für ihn. Außerdem hatte er keine Ahnung von der Heilkunst. Er tat zwar sein Bestes, um ihr zu helfen, aber er wusste nicht, ob es genügte.

Immer noch glühte sie vor Fieber. Trahern reichte ihr wieder und wieder Wasser, das sie in kleinen Schlucken trank, und kümmerte sich auch sonst so gut er konnte um sie. Aber er griff nicht mehr nach ihrer Hand oder berührte sie auf irgendeine Art. Es würde ihr doch keinen Trost bringen.

Seine Wut auf die Wikinger wuchs. Die Lochlannach hatten Morren das angetan. Und was noch schlimmer war, er fürchtete, dass sie auch Ciara vergewaltigt hatten. Im Geheimen erneuerte er seinen Racheschwur gegen diese Verbrecher. Sie würden bezahlen für das, was sie angerichtet hatten. Und wenn es stimmte, was Morren sagte, und der Stamm hatte sich in alle Winde zerstreut, dann war sie die einzige Hoffnung für ihn, etwas über diese Männer zu erfahren.

Die Stunden vergingen, während Trahern unerschütterlich Wache hielt bei Morren. Um Mitternacht begann sie zu zittern. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, und er wünschte, er hätte irgendeine Medizin, um ihre Qual zu lindern. Aber er verstand nichts von Pflanzen und Heilkräutern. Und er wollte sie auch nicht allein lassen, da sie so viel Blut verloren hatte.

Er fühlte sich seiner Hilflosigkeit ausgeliefert und fragte sich, ob auch Ciara so hatte leiden müssen. Vielleicht war sie ja auch sofort tot gewesen? Ob sich wohl irgendein Mensch seiner Verlobten angenommen hatte in den letzten Augenblicken ihres Lebens?

Er starrte auf seine Hände und wünschte sich, es gäbe etwas, das er tun könnte. Und es gab tatsächlich etwas. Es war alles, was ihm noch geblieben war und das er als Hilfe anbieten konnte – seine Geschichten. Solange er denken konnte, war er ein Barde gewesen. Aber seit Ciaras Tod hatte er keine einzige Geschichte mehr erzählt. Er fand die richtigen Worte nicht mehr. Es war, als wären seine Geschichten in ihm vertrocknet. Irgendwie erschien es ihm nicht richtig, andere zu unterhalten und sie zum Lachen zu bringen, wenn die Frau, die er geliebt hatte, nicht mehr da war und nicht länger seinen Erzählungen lauschen konnte.

Aber jetzt, wo Morren um ihr Leben kämpfte, konnte er sie damit vielleicht trösten. Es war ein Trost, bei dem er sie nicht zu berühren brauchte.

Die Geschichte von Dagda und Eithne kam ihm in den Sinn, so, wie er sie Jahr für Jahr den anderen erzählt hatte. Er setzte die ganze Kraft seiner Stimme ein, um Morrens Schmerz zu mildern. Und ganz allmählich hörte sie auf zu zittern.

„Der große Dagda war ein guter Gott, der die Ernte beschützte und für Fruchtbarkeit sorgte“, begann Trahern. „Aber eines Tages sah er eine schöne Frau, die er begehrte, wie noch keine zuvor. Ihr Name war Eithne.“

Trahern wrang ein nasses Tuch aus und legte es Morren auf die Stirn, sorgsam darauf bedacht, sie nicht mit den Händen zu berühren. Er erzählte seine Geschichte so kunstfertig er nur konnte und nutzte jede Nuance seiner Stimme, um ihre Aufmerksamkeit gefangen zu halten.

Er sprach davon, wie der Gott Eithne verführte und sie ihm einen Sohn gebar. Er erzählte, bis er fast heiser war. Als der Morgen graute, beendete er seine Geschichte.

Zitternd kämpfte Morren gegen das Fieber an, das immer heftiger von ihr Besitz ergriff. Mit schmerzverzerrtem Gesicht warf sie sich auf der Matratze hin und her.

„Du wirst doch jetzt nicht aufgeben wollen“, beschwor Trahern sie.

„Ich will nicht sterben“, flüsterte sie und beugte sich vor, um von dem Wasser zu trinken, das er ihr anbot. Ihre Haut war heiß, ihr Körper schlaff und kraftlos. „Ich muss für meine Schwester sorgen.“

Sie hob den Blick und sah ihn an. Ihre Augen waren von einem tiefen Blau. Es war die Farbe des Meeres. Trahern entdeckte in ihnen eine Kraft, die seiner eigenen in nichts nachstand.

„Du wirst auch nicht sterben“, sagte er.

„Trahern“, beschwor sie ihn. „Wenn meine Schwester zurückkehrt, sag ihr nichts von dem Kind.“

Auf alles war er gefasst gewesen, aber nicht darauf. „Gewiss weiß sie es schon.“

„Ich … habe es vor ihr verheimlicht. Jilleen weiß, was mir in der Nacht des Überfalls angetan wurde. Sie muss nicht auch noch von dem Kind wissen … sie ist doch erst dreizehn.“

„Sie ist alt genug. Und sie wird sich um dich kümmern müssen, wenn das hier vorbei ist.“ Er konnte schließlich nicht ewig bei ihr bleiben.

„Bitte“, flüsterte sie. „Sag ihr nichts.“

Unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust. „Das kann ich dir nicht versprechen.“

2. KAPITEL

Der nächste Morgen und auch der Nachmittag vergingen, und immer noch gab es kein Zeichen von ihrer Schwester. Die Sorge um sie zermarterte Morren, und sie versuchte Trahern davon zu überzeugen, sich auf die Suche nach Jilleen zu machen.

„Sie ist doch noch fast ein Kind“, drängte sie ihn. „Sie hätte sich nicht allein auf den Weg machen dürfen.“ Ihre eigenen Ängste kehrten mit aller Macht zurück und quälten sie. Immerfort musste sie daran denken, was ihrer kleinen Schwester alles zustoßen konnte. „Du musst sie zurückbringen.“

„Warten wir noch einen Tag.“ Trahern verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will dich nicht allein zurücklassen, wenn es dir so schlecht geht.“

„Bitte, Trahern! Ich habe solche Angst um sie!“

„Ich mache mich erst auf die Suche, wenn es dir besser geht.“ Er bot ihr getrocknetes Fleisch und einen Apfel an. „Versuch, etwas zu essen.“

Sie zwang sich, ein Stückchen von dem Fleisch zu probieren. „Wieso bist du zurückgekommen?“ Das Fleisch war zäh und schmeckte fade, und sie brachte es kaum herunter.

„Ich bin hier, um ihren Tod zu rächen.“

Sie wusste, dass er Ciara meinte. „Wie hast du es erfahren?“

„Ihr Bruder sandte mir die Nachricht. Ich will jetzt alles wissen.“

Morren sah in sein wutverzerrtes Gesicht und schwieg. Manche Dinge blieben besser im Verborgenen.

„Erzähle es mir“, befahl er. „Du warst doch dabei.“

„Nein.“ Sie sah keinen Grund, ihn zu quälen. Es würde nichts an Ciaras Schicksal ändern.

Zornig sah er sie an. „Ich habe ein Recht zu wissen, was mit ihr geschah. Wir waren einander versprochen.“

Sie erwiderte ruhig seinen Blick und schwieg weiter.

„Alles will ich wissen“, drängte er. „Ich will es meinen Feinden zehnfach heimzahlen.“ Sein wilder Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte.

„Morgen“, murmelte sie. „Bring mich nach Glen Omrigh zurück und hilf mir, Jilleen zu finden. Dann erzähle ich dir, was du wissen willst.“

„Du erzählst es mir jetzt.“

„Und wenn nicht?“, höhnte sie. Nichts, was er sagte, konnte ihr noch Angst einjagen. Was sollte ihr noch Schlimmeres geschehen, als ihr sowieso schon zugestoßen war?

Wütend stürmte Trahern nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu. Als er fort war, rollte Morren sich auf ihrem Lager zusammen. Die Schmerzen hatten ein wenig nachgelassen, aber sie fühlte sich immer noch benommen. Sie griff nach einem weiteren Stück Fleisch und zwang sich, es zu essen.

Du musst leben, befahl sie sich. Für Jilleen.

Sachte strich sie mit den Händen über ihren Bauch. Als sie die weiche, eingesunkene Bauchdecke fühlte, versetzte es ihr einen Stich. Würde sie nach den starken Blutungen je wieder ein Kind bekommen können?

Aber es war auch nicht wichtig. Welcher Mann würde sie nach dem, was vorgefallen war, noch haben wollen! Und sie verspürte auch kein Verlangen danach, dass ein Mann sie jemals wieder anrührte.

Langsam schob Morren die Füße an den Rand des Lagers. Ob sie wohl die Kraft hatte aufzustehen? Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Bettkante und stellte vorsichtig die Füße auf den Boden.

Da öffnete sich die Tür. Abrupt blieb Trahern, beladen mit Brennholz, auf der Schwelle stehen. „Lass das. Du bist viel zu schwach.“

Er machte einen Schritt auf sie zu. Unwillkürlich zuckte Morren zurück und kroch wieder auf das Lager.

„Ich tu dir nichts“, beteuerte er. „Aber wenn du zu früh aufstehst, wirst du es niemals bis Glen Omrigh schaffen.“

Er ging zum Herd und warf noch mehr Holz ins Feuer. Scheinbar mühelos stapelte er dann die Eichenscheite zu einem kleinen Haufen.

„Ich habe doch nur Fieber. Das geht schnell wieder vorbei“, meinte sie.

Trahern kauerte neben der Feuerstelle und sah zu Morren hin. „Du sagtest, deine Mutter wäre eine Heilerin gewesen. Wie hätte sie dich denn jetzt behandelt?“

„Vermutlich mit Tee aus Himbeerblättern. Oder Weidenrinde, wenn das Fieber zu sehr steigt.“

Er zuckte die Schultern. „Ich habe weder Himbeerbüsche noch Weiden gesehen, als ich Wasser holen ging. Tut mir leid.“

„Das macht nichts“, behauptete sie.

Einen Augenblick lang hörte Trahern mit dem Holzstapeln auf. Die Flammen beleuchteten seinen Kopf, und Morren fragte sich, warum er sich wohl die Haare so kurz geschnitten und den Bart geschoren hatte. Seine Kleidung war kaum besser als die eines Leibeigenen. Wie es schien, lag ihm nichts an seinem Aussehen.

Er trauert um Ciara, dachte sie. Er hatte sie geliebt.

Während sie ihn so genau betrachtete, überlegte sie, weshalb so ein ungestümer, heißblütiger Mann eine ganze Nacht an ihrer Seite ausharrte und ihr Geschichten erzählte. Mit seiner tiefen Stimme war es ihm gelungen, trotz des verzehrenden Fiebers, das sie schüttelte, bis zu ihr durchzudringen. Er hatte sie damit im Innersten berührt und ihr etwas geschenkt, an dem sie sich festhalten konnte. Sie ließ den Blick über sein Gesicht schweifen. Es trug tiefe Furchen und war von Erschöpfung gezeichnet. Er hatte überhaupt nicht geschlafen. Um ihren Schmerz zu lindern, hatte er ihr die ganze Nacht lang seine spannenden Geschichten erzählt. Tief in ihrem Innern war sie ihm dankbar dafür.

„Wo sind die anderen?“, fragte er. „Deine Leute, meine ich.“

„Jilleen und ich haben niemanden mehr. Unsere Eltern sind tot.“

Er drehte sich um und hielt ihr erneut etwas von dem Essen hin. „Wie lange seid ihr schon hier?“

Ohne rechten Appetit griff sie nach einem der Äpfel. „Seit dem Überfall im Frühsommer.“

„Und seitdem seid ihr beiden allein?“

„Ja.“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich weiß nicht, wie viele der O’Reillys überlebten.“ Der einzige Mensch, den sie nach jener Nacht in ihrer Nähe haben wollte, war Jilleen. Nach ihrer Flucht war sie weder zum cashel noch zur St Michael’s Abbey zurückgekehrt. Niemand sollte etwas von ihrer Schande erfahren.

„Wenn wir deine Schwester gefunden haben, solltest du in Glen Omrigh bleiben“, meinte Trahern ruhig. „Es ist nicht gut für euch beide, so allein zu leben.“

Schweigend rollte Morren den Apfel zwischen den Handflächen hin und her. Sie wollte nicht an die Zukunft denken. Von einer Stunde zur anderen leben, zu mehr war sie nicht fähig. „Ich werde schon einen Ort für uns finden. Irgendwo.“

Er betrachtete sie nachdenklich. „Wie viel weißt du von der Heilkunst deiner Mutter? Deine Kenntnisse könnten für einen anderen Clan von großem Nutzen sein.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenne Pflanzen und Bäume und weiß, wozu sie gut sind. Aber ich bin keine Heilerin.“ Von ihren Clansleuten war sie oft um Rat gefragt worden, wenn die Ernte zu misslingen drohte. Ihre Gabe war es, Pflanzen wachsen zu lassen.

Draußen fuhr der Wind durch die Bäume. Morren verkroch sich unter der Decke. Sie spürte, dass das Wetter sich änderte.

„Du solltest deinen Mantel umlegen“, riet sie Trahern. „Es wird bald regnen.“

Wie zur Bestätigung hörten sie das sanfte Plätschern der Tropfen. Kurz darauf rann der Regen durch das undichte Dach, und auf dem Lehmboden bildeten sich die ersten Pfützen. Aber er kühlte Morrens Gesicht und linderte das Fieber.

„Hier, nimm das andere Ende“, sagte Trahern und breitete seinen Mantel aus. „Wir werden ihn uns teilen, bis der Regen wieder aufhört.“

Sie machte keine Anstalten, sich die Hälfte des Mantels zu nehmen. „Die Nässe macht mir nichts aus.“

„Sie ist aber nicht gut für dich. Du wirst dir eine Erkältung holen. Dann geht es dir noch schlechter als jetzt.“ Er setzte sich neben das Lager und hielt ihr den anderen Zipfel des Mantels hin.

Morren rutschte so weit wie möglich fort von ihm. Es war ihr unangenehm, dass er sich über sie beugte.

„Ich habe nicht vor, dich anzurühren“, knurrte er mürrisch. „Was ist schon Schlimmes dabei, wenn wir beide uns vor dem Regen schützen.“

Ohne ihr Widerstreben zu beachten, warf er einen Teil des Mantels über sie. Morren nahm den Stoff von ihrem Gesicht und hielt ihn schützend über ihren Kopf. Der Mantel roch nach Trahern. Er roch nach Mann. Ein Geruch, der ein Gefühl der Sicherheit vermittelte. Der Stoff war noch warm von seinem Körper, und nicht nur das Fieber war daran schuld, dass sie auf einmal heiße Wangen bekam.

Trahern sah sie nicht an, sondern starrte in das knisternde Feuer der Herdstelle. Sein Gesicht war feucht vom Regen, und sie bemerkte die Bartstoppeln an seinem Kinn.

Früher, als sein dunkles Haar ihm noch bis auf die Schultern reichte und ein Bart sein Kinn bedeckte, hatte sie ihn für gut aussehend gehalten.

Jetzt hatte er jede Spur von diesem Mann an sich ausgelöscht. Kalt und hart geworden, hatte er keinerlei Ähnlichkeit mehr mit ihm. Und trotzdem war er die ganze Nacht nicht von ihrer Seite gewichen, hatte sie kein einziges Mal allein gelassen. Das war nicht das Verhalten eines Ungeheuers. Aber das eines Mannes, den sie nicht verstand.

Morren überlief ein Schauer, als sie an seine hingebungsvolle Liebe zu Ciara dachte. Sie hatte damals den Eindruck gehabt, als gäbe es für ihn keine andere Frau auf der Welt. Sie selbst hatte er sicher noch nicht einmal bemerkt.

„Ich erinnere mich daran, wie du letztes Jahr zum ersten Mal in den cashel kamst“, sagte sie. „Du bist die ganze Nacht wach geblieben und hast deine Geschichten erzählt.“

Er blickte ernst, und sie fragte sich, ob sie nicht besser geschwiegen hätte.

„Ja, damals war ich noch ein Barde.“

„Und du bist den ganzen Winter über bei uns geblieben. War es wegen Ciara?“

Er nickte. Dann setzte er sich auf und warf den Mantel ab. Sie sah, dass er barfuß war, und fragte sich, was wohl mit seinen Schuhen passiert sein mochte.

„Versuch zu schlafen, Morren. Wenn es dir morgen besser geht, werden wir uns auf die Suche nach Jilleen machen.“ Er legte sich wieder hin und breitete den Mantel über sie beide. Sie konnte in seinen Augen lesen, wie erschöpft er war. Seit zwei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen.

„Ich schwöre, dass ich dich nicht anrühren werde“, fügte er noch hinzu, als er ihren Blick auffing.

Seltsamerweise glaubte sie ihm. Er hatte keinerlei Interesse an ihr, und sie spürte, wie sie sich in seiner Gegenwart entspannte.

„Du solltest aber auch schlafen“, schlug sie vor. „Wegen mir hast du dich letzte Nacht nicht ausruhen können.“

Er sah sie an. „Jemand musste über dich wachen“, meinte er fürsorglich. „Und ich bin keine Gefahr für dich, das verspreche ich dir.“

Seinen Mantel zum Schutz über den Kopf gezogen, rollte sie sich auf die andere Seite der Bettstatt. Die entsetzliche Angst, die sie umklammert gehalten hatte, schien endlich ein wenig nachzulassen.

Vielleicht war sie bei Trahern wirklich in Sicherheit.

Es war ein paar Stunden vor Anbruch der Dämmerung, als Trahern ihr unterdrücktes Weinen hörte. Morren, die mit dem Rücken zu ihm lag, hatte sich ganz in den Mantel verkrochen. Ihre Schultern zuckten. Trahern war sofort hellwach.

„Morren?“, flüsterte er. „Hast du Schmerzen?“

Sie rührte sich nicht, aber ihr Schluchzen klang nun ein wenig gedämpfter. „Nur ein schlechter Traum. Sonst nichts.“

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es wunderte ihn kaum, dass sie von Albträumen heimgesucht wurde. Aber Worte konnten ihr in ihrem Leid nicht helfen.

„Und dein Fieber?“

Sie rollte sich herum und sah ihn an. Das weizenblonde Haar klebte an ihren Wangen. Ihr Aussehen ließ vermuten, dass sie eine sehr schlimme Nacht verbracht hatte. „Es ist besser.“ Er glaubte ihr nicht und streckte die Hand aus, um ihre Stirn zu befühlen.

Sofort duckte Morren sich weg, und er ließ die Hand sinken. Es schmerzte ihn, dass sie noch nicht einmal eine so harmlose Berührung von ihm ertragen konnte.

„Mir geht es gut“, versicherte sie. „Wir müssen uns heute auf die Suche nach Jilleen machen.“

Ihr Gesicht hatte zwar ein wenig Farbe bekommen, wie er im Schein des Herdfeuers erkennen konnte, aber er hätte sie trotzdem lieber einen Tag länger auf dem Lager gesehen. Wenn sie sich überanstrengte, ging es ihr bestimmt rasch wieder schlechter. „Ich weiß, dass du dich besser fühlst. Es wäre mir aber lieber, du bliebest hier. Ich versorge dich noch mit Essen, Wasser und Feuerholz, bevor ich mich auf die Suche nach deiner Schwester mache.“

Morren sah ihn fest an. „Wenn du ohne mich gehst, folge ich dir, sobald du fort bist. Sie ist meine Schwester, und ich muss wissen, ob sie in Sicherheit ist.“ Mit störrischer Entschlossenheit reckte sie das Kinn vor und versuchte aufzustehen. „Ich werde sie suchen. Ob mit dir oder ohne dich.“

Trahern richtete sich jetzt auch auf. Dabei fiel ihm auf, dass seine Füße unter der Decke waren. Irgendwann in der Nacht musste Morren ihn zugedeckt haben. So viel Fürsorge hatte er von ihr nicht erwartet.

Er stand auf und ging zu dem Bündel mit den Kleidern, das er am Abend zuvor entdeckt hatte. Er fand darin ein Oberkleid von dunkler Farbe. Der Wollstoff war rau und kratzig, aber er würde Morren wärmen.

Wenn er ihr erst einmal geholfen hatte, ihre Schwester zu finden, würde er die beiden irgendwohin bringen, wo sie in Sicherheit waren. Vielleicht zu einem anderen Clan, falls die O’Reillys ihre Wallburg noch nicht wieder aufgebaut hatten.

Erneut packte ihn kalte Wut, als er an den brutalen Überfall dachte, den die O’Reillys erleiden mussten. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum die Lochlannach versucht hatten, einen ganzen Clan auszulöschen. Viehdiebstahl war eine Sache, aber dieses Morden überstieg seine Vorstellungskraft.

Er musste herausfinden, was dahintersteckte. Wenn er dann seine Feinde gefunden hatte, würde er Ciaras Tod rächen und Morren und Jilleen in Sicherheit bringen. Das hatte er sich geschworen.

Trahern griff nach seinem Vorratssack aus Leder und begann, ihn mit dem Messer in Stücke zu schneiden. Aus den Lederstücken fertigte er grobe Schuhe, fütterte sie mit Stroh aus und gab Morren das eine Paar. Zum Festbinden bot er ihr die Schnüre seiner Tunika an. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Mantel. „Leg ihn dir um. Du musst dich warm halten.“

„Es ist zu kalt“, protestierte sie. „Du brauchst ihn selbst. Ich kann den Mantel benutzen, der auf dem Bett lag.“

„Nimm beide. Du musst es wärmer haben als ich.“ Als sie ihm erneut widersprechen wollte, nahm er den Mantel und warf ihn ihr einfach zu. Und wenn er ihn ihr selbst umbinden müsste, er würde schon dafür sorgen, dass sie ihn trug.

„St Michael’s Abbey liegt einige Meilen im Westen“, fuhr er fort. „Dort werden wir Rast machen.“

„Wegen mir müssen wir keine Rast einlegen.“ Morren stand vom Bett auf. Das wollene Kleid schlotterte ihr um den mageren Körper. Trahern war überzeugt, dass sie den Weg nach Glen Omrigh niemals schaffen würde. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob sie das Kloster erreichen konnten, ohne dass sie zusammenbrach.

Aber um ihrer Schwester zu helfen, zwang sie sich vermutlich, über ihre Kräfte hinaus durchzuhalten. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Für seine Brüder würde er schließlich das Gleiche tun. Wenn ein Familienmitglied ihn brauchte, dann schleppte er sich durch halb Irland und wenn er noch so schwach und erschöpft war.

„Ich werde die Mönche um Pferde bitten“, sagte er, wobei er nicht erwähnte, dass er sich über den Verlust seines Pferdes Barra ärgerte. Aber mit etwas Glück bekam er es vielleicht zurück. „Auf einem Pferd ist es leichter für dich.“

Sie schien einverstanden und ging zur Tür. Er hielt sie zurück und bot ihr einen Becher Wasser und etwas zu essen an. „Bevor du das hier nicht gegessen hast, machst du keinen Schritt vor die Tür.“ Das getrocknete Fleisch sah zwar alles andere als appetitanregend aus, aber es war besser als nichts. Morgen würde er auf die Jagd gehen müssen.

Morren trank das Wasser und knabberte an dem Fleisch. Seiner Meinung nach aß sie nicht genug. Aber dass sie überhaupt etwas zu sich nahm, war immerhin ein Anfang. Als sie fertig waren, verließen sie das halb verfallene Haus und machten sich auf den Weg. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, bot er ihr an: „Sag mir, wenn du dich schwach fühlst. Dann werden wir rasten.“

„Es geht mir gut“, behauptete Morren.

Trahern hätte ihr gerne vorgeschlagen, sich auf ihn zu stützen, aber er wusste, dass sie ablehnen würde. Sie gingen den Hügel hinab. Er konnte ihren Atemhauch in der kühlen Morgenluft sehen. Vorsichtig schritt Morren über die am Boden liegenden Blätter und suchte an den Baumstämmen Halt.

Sie war grau im Gesicht, grau wie der Himmel, und mehr als einmal stolperte sie. Als sie den Platz erreichten, wo er zwei Nächte zuvor sein Lager aufgeschlagen hatte, sah sie aus, als drohte sie im nächsten Moment ohnmächtig zu werden.

„Willst du wirklich weitergehen?“

„Ich muss.“

Ihre Antwort gefiel ihm nicht. Ohne viel zu fragen, hob er sie hoch und trug sie auf seinen Armen. „Stell dir einfach vor, du gehst selbst.“

Voll Panik schlug sie um sich. „Lass mich herunter.“

„Wenn ich das mache, brichst du zusammen. So sind wir schneller.“ Sie würden in St Michael’s um Obdach bitten müssen. Den Gedanken, bis nach Glen Omrigh zu gehen, hatte er bereits aufgegeben. Morren würde diese Reise nie und nimmer schaffen können.

Er merkte, dass sie sich völlig verkrampfte, und blieb stehen. „Ich weiß, du willst nicht, dass ich dich trage. Aber versuche, noch eine Stunde durchzuhalten, dann erreichen wir das Kloster.“

Sie vermied es, ihn anzusehen, doch sie gab ihren Widerstand auf.

Morren wog fast nichts, und es machte Trahern keine Mühe, sie zu tragen. Wie überhaupt ein Mann eine so zarte Frau wie Morren überfallen und ihr Gewalt antun konnte, das würde er nie verstehen.

Sie hatte ein Gesicht, das den meisten Männern auf den ersten Blick nicht auffallen würde. Es war weich und ohne besondere Merkmale. Aber ihre blauen Augen überraschten ihn. Auch wenn sie jetzt matt blickten und Morren krank war, lag eine große Kraft und Entschlossenheit darin.

„Wurde das Kloster auch von den Lochlannach überfallen?“, fragte er. Er musste wissen, ob ihnen noch weitere Gefahren drohten.

„Soweit ich weiß, waren wir in unserem cashel die einzigen Opfer.“ Morren wandte den Blick zum Horizont, wo die sanften Hügel in Berge übergingen. „Ich verstehe immer noch nicht, warum sie uns überfallen haben. Wir lebten doch so lange in Frieden mit ihnen. Einige unserer Frauen heirateten sogar Nordmänner.“

Trahern trug sie auf den Armen über den schmalen Pfad. Er hatte nichts getan, das sie erschreckt hätte, und trotzdem schien sie sich nicht entspannen zu können.

„Erzähle mir den Rest der Geschichte“, bat sie leise. „Die von Dagda und Eithne.“

Zu erzählen tat ihm gut. Es war eine Ablenkung, die sie beide nötig hatten. Er fuhr dort fort, wo er aufgehört hatte. Und während er erzählte, fiel auf einmal die Anspannung von Morren ab, und sie schien endlich ruhiger zu werden.

„Als Oengus zum Mann wurde, wollte sein Vater Dagda seinem Sohn ein Stück Land übergeben. Das Land, das er ihm geben wollte, gehörte aber einem Mann namens Elcmar. Und so geschah es, dass er und seine Männer während des Samhain-Festes angriffen.

Als er Elcmar besiegt hatte, verlangte Oengus, das Land für einen Tag und eine Nacht zu regieren. Danach würden sie beide zu Dagda gehen und fragen, wer das Land rechtmäßig besitzen sollte.“

Morren war immer noch still, aber Trahern sah, wie ihre Gesichtszüge sich entkrampften, während er weiter an seiner Geschichte webte. Und als er von Oengus’ List sprach, spielte ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel.

„Als beide Männer vor Dagda traten, entschied der Gott, dass das Land von nun an rechtmäßig Oengus gehören sollte. Denn an Samhain spielt die Zeit keine Rolle. Und wer während dieses Festes ein Land für einen Tag und eine Nacht regierte, der regierte es für alle Zeit und Ewigkeit.“

Als er geendet hatte, tauchten am Horizont die Mauern von St Michael’s auf. Sie waren keine Meile mehr vom Kloster entfernt. Trahern setzte Morren ab. „Willst du den Rest des Weges gehen, oder soll ich dich wieder tragen?“, fragte er. Er vermutete, dass sie vor den Mönchen nicht den Eindruck erwecken wollte, schwer krank zu sein. Aber wenn ihre Kraft nicht reichte, dann war es für ihn keine Anstrengung, sie auch noch den Rest des Weges zu tragen.

„Ich gehe lieber“, antwortete sie.

Flankiert von einem Rundturm, ragten die steinernen Mauern des Klosters auf einer Anhöhe über der Landschaft auf. Bogenfenster, so hoch wie ein Mann groß war, zierten das Gebäude. Am Fuß des Hügels wand sich ein Fluss wie ein silbernes Band durch die Landschaft.

Morren wickelte sich fester in ihren Mantel ein, weil ihr kalt war. „Du willst mich hier im Kloster lassen, nicht wahr?“

„Du bist nicht kräftig genug, um es bis zum cashel zu schaffen.“ Das Beste war, sie im Schutz der Kirche zurückzulassen. So wäre für ihre Sicherheit gesorgt. „Ich werde deine Schwester finden und sie zu dir zurückbringen.“

„Ich möchte es ja gerne glauben, aber ich tue es nicht.“

„Hältst du mich für einen Mann, der sie im Stich lässt?“, fragte er zornig. Anscheinend traute sie ihm tatsächlich so etwas zu. „Ich war doch derjenige, der sie fortschickte, um Hilfe zu holen. Also muss ich sie dir jetzt auch wiederbringen.“

„Jilleen ist nur ein kleines Mädchen. Für dich ist sie nichts als eine Fremde.“ Morren seufzte. Sie traute ihm immer noch nicht. „Und was ist, wenn die Lochlannach sie gefunden haben?“

„Hör auf, dir solche Gedanken zu machen. Wir wissen nicht, warum sie nicht zurückgekommen ist. Aber ich verspreche dir, ich werde sie finden.“

„Du bist ein Barde, kein Krieger.“

Trahern machte einen Schritt auf sie zu, seine Größe eine unausgesprochene Warnung. Morren sah ihn an, und er legte die Hand auf sein Schwert. „Glaub mir, Morren, ich weiß zu kämpfen. Und ich kann mich verteidigen.“ Jahrelang hatte er mit seinen Brüdern zusammen trainiert. Obwohl er jetzt bereits zu den Älteren gehörte, so hatte er doch nichts von seinem Können eingebüßt. Wenn überhaupt, dann waren seine Instinkte eher noch ausgeprägter.

Morrens blaue Augen blickten unsicher, und sie senkte die Lider. Nun gut, er war es eben nicht gewöhnt, dass Frauen ihm misstrauten.

„Wäre ich in jener Nacht dort gewesen, dann wäre jetzt jeder einzelne der Nordmänner tot. Sie hätten weder dir noch Ciara etwas angetan.“

Mutlos ließ Morren die Schultern hängen. „Ich wünschte, es wäre so gewesen.“ Sie sah ihn dabei nicht an, und er wusste, dass Worte sie nicht überzeugen konnten. Schließlich raffte sie seinen langen Mantel enger um sich und ging weiter.

Schweigend schritten sie nebeneinander her, bis sie die aus Steinen errichtete Kapelle erreichten. Trahern wollte schon eintreten, als er prüfend die Luft einzog. Mit einem Mal drang ein beißender Brandgeruch zu ihnen her.

Sie eilten den Hügel hinauf. Trahern sah in einiger Entfernung dicke Rauchschwaden aufsteigen. Dort befand sich das von den Nordmännern zerstörte cashel. Waren sie erneut über die Wallburg hergefallen?

„Sie sind zurück!“ Morren, die leichenblass geworden war, presste die Hände auf den Mund.

Trahern drängte sie zurück in Richtung Kapelle. Aus dem Innern konnte er den Gesang der Mönche hören. „Bleib du bei den Brüdern. Ich sehe mir die Sache etwas näher an.“

Morren protestierte: „Nein! Sie werden dich erschlagen.“

„Sie werden mich nicht anrühren.“ Trahern überprüfte seine Waffen und warf ihr einen letzten Blick zu. „Ich will herausfinden, warum sie zurückgekommen sind. Und was sie wollen.“

„Sei vorsichtig“, beschwor sie ihn.

Er nahm ihre Hand. „Warte hier auf mich, Morren. Bei Sonnenuntergang bin ich zurück.“

3. KAPITEL

Geisterhaft ragten die Überreste von Glen Omrigh aus dem verkohlten Gras. Die hölzernen Palisaden waren schwarz verbrannt und teilweise zerstört, die Luft war von beißendem Rauch erfüllt.

Trahern verbarg sich hinter einem dichten Busch und beobachtete die Silhouetten der beiden Berittenen. Wegen des hügeligen Geländes hatte er lange gebraucht, um das Dorf zu erreichen. Jetzt begann die Sonne bereits unterzugehen.

Die Eindringlinge waren gekleidet wie Lochlannach. Dem Aussehen nach waren es Wikinger. Große Fibeln aus Bronze hielten ihre langen Mäntel an den Schultern, und wenn der Größere von ihnen auch keine Rüstung trug, so ahnte Trahern, dass er ein ernst zu nehmender Gegner war. Sein Kamerad war etwas kleiner und sein Haar von einem dunkleren Blond. Trahern packte den Knauf seines Schwertes und überlegte, ob er wohl allein mit ihnen fertigwerden könnte. Nicht unmöglich, aber gefährlich.

Eine der Hütten brannte immer noch. Orangefarbene Flammen züngelten über das Dach. Rauch stieg hoch in die Luft. Sein beißender Geruch hing über dem ganzen cashel.

Aufmerksam beobachtete Trahern, wie die beiden Männer an den übrig gebliebenen Hütten entlanggingen und sie durchsuchten. Außer den beiden sah er keinen einzigen Menschen. Wer von den O’Reillys überlebt hatte, war offenbar aus dem cashel geflohen.

Trahern behielt die Hand am Schwert, denn die Männer kamen jetzt näher. Ihre Gesichter drückten Unmut aus, und er hörte, wie sie sich in ihrer nordischen Sprache stritten.

Es war klar, dass die beiden niemanden angreifen oder irgendetwas stehlen wollten. Ganz im Gegenteil, die Männer sahen zornig aus, gerade so, als wären sie empört über das, was sie hier sehen mussten.

Dicht an den Boden gepresst, schob Trahern sich näher. Trockenes Gras kitzelte sein Gesicht, die Erde war kalt und feucht. Als er die äußere Palisade erreicht hatte, kroch er zu den Resten einer niedergebrannten Hütte, von wo aus er besser sehen konnte.

Das Pferd, auf dem einer der Reiter saß, war ihm vertraut. Es war Barra, sein Schlachtross, für das er ein kleines Vermögen bezahlt hatte. Der Rauch jagte dem Rappen Angst ein, und er tänzelte nervös hin und her. Wenn es dem Lochlannach nicht bald gelang, Barra unter Kontrolle zu bringen, würde er auf seinem Hinterteil landen.

Trahern hätte die beiden Männer gerne angegriffen und sich sein Pferd zurückgeholt, aber sein Verstand riet ihm davon ab. Was er brauchte, waren Antworten auf seine Fragen, und diese Männer würden ihn zu diesen Antworten führen.

Nach kurzer Zeit verließen die Nordmänner die Siedlung und ritten nach Westen. Trahern war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihnen zu folgen, und dem Bedürfnis, im cashel nach Jilleen O’Reilly zu suchen. Er glaubte zwar, dass die Angreifer sie mitgenommen hatten, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein.

Rasch sah er noch einmal über die Schulter zu den beiden Männern zurück und stürzte dann in Richtung des cashel. Dicker Rauch drang ihm in die Lungen, von den Brandherden stieg große Hitze auf. Ihm blieb nur wenig Zeit für seine Suche, wenn er den Männern folgen wollte.

Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Nahe dem äußeren Tor lag einer der Schuhe, die er Jilleen gegeben hatte. Ob sie ihn mit Absicht hatte fallen lassen oder nicht, spielte keine Rolle. Es war der Beweis, dass sie hier gewesen war. Und er wusste jetzt, wer sie mitgenommen hatte.

Trahern umklammerte sein Schwert. Die Lochlannach würden sich für ihre Tat verantworten müssen.

Er hob den Schuh auf und rannte zum Weg zurück, den Männern hinterher. Schon nach einer halben Meile fand er den anderen Schuh. Er lag auf dem Weg, den die Berittenen genommen hatten.

Von einer Anhöhe aus konnte er die sich entfernenden Gestalten der Nordmänner entdecken. Sie ritten in Richtung der Wikingersiedlung, die an der Küste lag. Er war schon einmal dort gewesen. Bis Anbruch der Nacht würde er sie allerdings nicht erreichen können, jedenfalls nicht ohne Pferd.

Fluchend stellte er fest, dass ihm nichts weiter übrig blieb, als zurückzukehren. Er musste sich von den Mönchen ein Pferd leihen.

Wütend und mit seiner Geduld am Ende, machte er sich auf den Rückweg zum Kloster. Und während er wieder seine eigenen Schuhe anzog, plante er in allen Einzelheiten, wie er die Reihen der Wikingerkrieger durchbrechen würde.

Der Abt versprach Morren die Gastfreundschaft von St Michael’s, und ein älterer Mönch, Bruder Chrysoganus, führte sie in das angrenzende Gästehaus des Klosters. Freundlich lächelnd begann er, Wasser in ein Becken zu gießen. Als Morren erkannte, dass er ihr als Willkommensgeste die Füße waschen wollte, gebot sie ihm freundlich Einhalt.

„Vergebt mir, Bruder Chrysoganus, aber ich ziehe es vor, mir die Füße selbst zu waschen.“ Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass irgendjemand sie berührte, selbst wenn es der Sitte entsprach.

Der alte Mann schien über ihre Worte erstaunt zu sein, aber er gab der Bitte nach. „Wenn du es so wünschst.“ Als er ihr das Becken reichte, fügte er hinzu: „Ich muss jetzt mit den anderen zum Gebet. Solltest du später noch etwas brauchen, musst du es nur sagen.“

Morren nickte und begann, die Schuhe aufzuschnüren, die Trahern für sie gemacht hatte. Dann stellte sie die Füße in das warme Wasser. „Ich danke Euch, Bruder.“ Nachdem er gegangen war, badete sie ihre Füße in dem angenehm warmen Wasser und blieb so eine Weile sitzen.

Die Glocken läuteten, und durch die hohen Fenster der Kapelle drang der auf- und absteigende Gesang der Mönche bis zu ihr. Die schlichten Klänge hatten etwas Tröstliches. Trotzdem begann Morren zu zittern, als schreckliche Bilder vor ihrem inneren Auge aufstiegen.

Dunkle Erinnerungen senkten sich auf sie herab, Gesichter von Männern blickten sie höhnisch an. Morren versuchte, die Visionen zu verdrängen, aber der Albtraum des Überfalls kehrte zurück. Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie senkte den Kopf. Gott helfe ihr, sie konnte es nicht ertragen. Sie legte die Hände auf ihren jetzt flachen Bauch. Kälte umgab sie und schien sie zu ersticken.

Du darfst nicht mehr daran denken, ermahnte sie sich. Du musst alles vergessen.

Sie schloss die Augen, hob die Füße aus dem Wasser und sank auf die Knie. Die Kälte sog sie auf. Sie brachte die Gefühllosigkeit zurück, die Morren brauchte, um zu überleben. Niemand war da gewesen, um sie zu retten. Es hatte kein Erbarmen gegeben. Was hatte sie verbrochen, dass sie ein solches Schicksal verdiente?

Das Schlimmste war, dass sie irgendwann aufgehört hatte, sich zu wehren. Sie hatte nur dagelegen, in den dunklen Himmel gestarrt und darauf gewartet, dass es vorbei war. Scham stieg in ihr auf. Sie hätte kämpfen müssen! Mit Fäusten und Zähnen – mit allem.

Stattdessen hatte sie Gott um den Tod angefleht.

Ihr Blick fiel auf die groben Schuhe neben der Schüssel. Trahern hatte sie für sie angefertigt, weil er nicht wollte, dass sie unter der Kälte litt. Beim Gedanken an seine Fürsorge schnürte ihr etwas die Kehle zu.

Wahrscheinlich würde er nicht wiederkommen. Auch wenn er geschworen hatte, bei Sonnenuntergang zurück zu sein. Warum sollte er sein Versprechen halten?

Morren ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich aufzustehen. Sie verließ die Gästekammer und schleppte sich zu dem einzigen Ort, der ihr etwas Trost und Ablenkung bot: der Klostergarten.

Die Beete im kleinen Innenhof des Klosters waren sauber geharkt und frei von jedem Unkraut. Einige Kohlköpfe hatte man noch nicht geerntet, und es wuchsen auch noch verschiedene Kräuter. In einer Ecke, hinter den Apfelbäumen, entdeckte sie einen aufgegebenen, von Unkraut überwucherten Garten. Vielleicht wollten die Mönche ihn nicht länger nutzen, aber sie sehnte sich so sehr danach, etwas Nützliches zu tun.

Während der nächsten Stunden beschäftigte Morren sich damit, die Beete zu säubern und die Pflanzen, die sich dazu eigneten, als Düngung unter die karge Erde zu graben. Vielleicht würden ja die Mönche im Frühling Verwendung für das Beet haben. Den Winter über musste die Erde ruhen, aber im Frühjahr konnte sie eine gute Ernte hervorbringen, wenn sich jemand darum kümmerte.

Die Arbeit lenkte sie trotz allem nicht von ihren Sorgen um Trahern ab. Gut möglich, dass der cashel gerade in diesem Moment erneut überfallen wurde. Trahern war allein. Und ganz gleich, wie stark er war, die Lochlannach würden ihn töten, wenn sie ihn fanden.

Der Gedanke ließ sie noch unruhiger werden, und sie schickte ein stummes Gebet um sein Wohlergehen zum Himmel. Trahern war kaum mehr als ein Fremder für sie, aber er hatte ihr das Leben gerettet. Wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte, wäre sie verblutet.

Sie wünschte nur, er hätte ihre Schwester nicht um Hilfe fortgeschickt. Jilleen war ihre Familie, ihre einzige Gefährtin. Ohne sie hatte sie niemanden mehr.

Entschlossen riss Morren das Unkraut aus, als könnte sie so auch ihren eigenen Zorn und ihre Ängste ausreißen. Sie sehnte sich danach, zum cashel zurückzukehren, um sich mit eigenen Augen das Maß der Zerstörung anzusehen. Aber das würde ihr Körper nicht mitmachen. Sie war noch zu schwach. Selbst jetzt musste sie immer wieder gegen Schwindelanfälle ankämpfen, bei denen alles vor ihren Augen zu verschwimmen drohte.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen waren, aber zur rechten Zeit brachte Bruder Chrysoganus ihr eine einfache Mahlzeit aus Brot und Käse. „Ich dachte, du würdest vielleicht gerne etwas essen.“

„Ich danke Euch, Bruder.“ Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und merkte, dass sie hungriger war, als sie geglaubt hatte. „Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass ich hier arbeite.“

Chrysoganus stützte sich schwer auf seinen Stock und begutachtete ihre Bemühungen. „Überhaupt nicht. Wir haben diese Ecke brachliegen lassen. Aber jetzt, wo du sie wieder gesäubert hast, werden wir schon eine Verwendung dafür finden. Ich danke dir für deine Arbeit.“ Er sah sich die Erde genauer an. „Meine Hände rupfen das Unkraut nicht mehr so leicht, wie ich es gerne möchte. Oft müssen die jüngeren Brüder die Gärtnerarbeiten erledigen.“

Sein Dank tat Morren gut, und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Sie besaß nichts, was sie dem Kloster als Dank für die Gastfreundschaft anbieten konnte. Ihr Geschick im Umgang mit Pflanzen war alles, was sie geben konnte.

„Das Unkraut habe ich dort auf einen Haufen geworfen“, sagte sie. „Bedeckt es mit Blättern. Und im Frühling mischt Ihr dann alles, zusammen mit Dung, unter die Erde“, riet sie ihm. „Euer Garten wird Euch eine gute Ernte bringen.“

Sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. „Wird er das, ja?“

Sie legte die schmutzigen Hände in den Schoß und nickte. Dann schnitt sie das Thema an, vor dem sie solche Angst hatte. „Ist das Feuer im cashel inzwischen erloschen?“

Chrysoganus’ Lächeln erstarb. Er ließ sich auf einer steinernen Bank am Rand des Gartens nieder. „Nein, noch nicht. Wir wissen nicht, wer das Feuer gelegt hat. Aber es muss heute in den frühen Morgenstunden geschehen sein.“

„Nicht alle starben bei dem Überfall“, sagte Morren langsam. „Wieso kamen die Überlebenden nicht hierher zu Euch?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es auch nicht. Wir hatten das Gästehaus vorbereitet, denn wir erwarteten sie. Aber du und dein Begleiter, ihr seid die Einzigen, die gekommen sind.“

Wie konnte es sein, dass niemand von ihnen im Kloster Schutz gesucht hatte? Die Angst, die sie bis jetzt unterdrückt hatte, stieg jäh wieder in ihr auf. Sie wollte daran glauben, dass sie Jilleen zurück nach Hause bringen würde, damit sie beide wieder ihren Platz im Leben finden und neu anfangen konnten. Wahrscheinlicher aber war, dass es kein Zuhause mehr gab.

Sie sah in die mitfühlenden braunen Augen von Bruder Chrysoganus. „Der Mann, der mich begleitet, Trahern MacEgan, sucht meine Schwester. Er versprach, bei Sonnenuntergang zurück zu sein.“

„Ich werde dafür sorgen, dass eine Unterkunft für ihn vorbereitet wird.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete der Mönch sich von ihr, erhob sich von der Bank und ging.

Nachdem er fort war, stand Morren auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie fühlte sich immer noch schwach. Sie zwang sich, zur höchsten Erhebung des Klostergeländes zu gehen. Denn sie wollte ihr Zuhause sehen, selbst wenn es zerstört war.

Jeder Schritt war eine Qual. Als sie endlich die Kuppe des Hügels erreicht hatte und hinunterblickte, sah sie einen Reiter mit dem Speer in der Hand herangaloppieren.

Es war aber nicht Trahern.

Gunnar Dalrata wusste, dass er verfolgt wurde. Es war pures Glück gewesen, dass er die Bewegung im Gras bemerkte, sonst wäre ihm der Eindringling gar nicht aufgefallen, der sie von außerhalb des cashels beobachtete.

Er packte seinen Speer fester und sah zu seinem Bruder hinüber. Hoskuld schien nichts bemerkt zu haben. Gunnar blieb ein paar Schritte zurück. Und als er sich umschaute, entdeckte er den Läufer.

Ein Ire. War er ein Überlebender der O’Reillys?

Zuerst dachte Gunnar daran, Hoskuld zu alarmieren, aber wozu? Der Ire hatte nichts getan, außer sie zu beobachten. Vielleicht suchte er nach dem Mädchen, das sie gestern mitgenommen hatten.

Inzwischen hatten sie den Hügel erklommen, und der Mann folgte ihnen immer noch. Ob er vorhatte, ihnen zu Fuß bis zur Siedlung hinterherzulaufen? Als Gunnar nach einiger Zeit wieder über die Schulter blickte, sah er, dass der Mann auf der Spitze des Hügels stehen geblieben war. Einen Augenblick später machte er kehrt und verschwand.

Gunnar brachte sein Pferd neben das von Hoskuld. „Jemand folgt uns. Ich will wissen, warum.“

„Soll ich mit dir kommen?“

„Nein. Der Mann ist zu Fuß, und soweit ich sehen kann ohne Waffen. Ich will ihm nur ein paar Fragen stellen.“

„Bring ihn mit“, schlug Hoskuld vor.

Gunnar grinste. „Vielleicht.“ Er trieb sein Pferd an und galoppierte davon. Er war schon dabei, den Iren zu überholen, als er zufällig aufsah. Der Mann lief jetzt auf das Kloster zu, und Gunnar konnte auch sehen, warum. Auf dem Hügel vor der Abtei stand eine Frau. Sie wartete auf den Mann. Als Gunnar an ihm vorbeiritt, sah er die jähe Angst und Wut auf seinem Gesicht.

Jetzt war Gunnars Neugier geweckt. Wenn er Antworten auf seine Fragen haben wollte, dann war es wohl das Beste, in der Nähe des Klosters auf den Mann zu warten. Den Speer fest in der Hand, ritt er den Hügel zu St Michael’s hoch.

Nun konnte er die Frau aus der Nähe sehen. Sie hatte blondes Haar und war von einer stillen Schönheit. Ihr Anblick würde in jedem Mann den Wunsch wecken, ihr Kämpfer zu werden, dachte er. Als sie ihn erblickte, floh sie.

Gunnar wendete sein Pferd und hielt den Speer wurfbereit. Wenn der Ire auftauchte, würde er ihn bereits erwarten.

Mit langen Schritten eilte Trahern den Hügel hinauf. Die Wut verlieh ihm eine Kraft, die er sonst nicht gehabt hätte. Bei Gott, wenn der Wikinger Hand an Morren gelegt hatte, würde er ihn umbringen.

Es war die längste Meile seines Lebens. Die Angst beflügelte seine Schritte. Und das schlechte Gewissen, weil er fortgegangen war. Großer Gott, er hätte Morren nicht hier zurücklassen dürfen.

Er erreichte die Spitze des Hügels und sah noch, wie Morren in Richtung Kapelle eilte. Gott sei Dank, sie war vernünftig genug zu verschwinden. Er spürte die eigene Erschöpfung kaum, als er jetzt auf den wartenden Reiter zustürzte. Ganz im Gegenteil, eine unbändige Energie schien durch seine Adern zu strömen. Er packte den Speer des Mannes und zerrte den Wikinger von seinem Pferd.

Sein Feind war ungefähr gleich stark wie er. Trahern verzog vor Schmerz das Gesicht, als der andere ihn mit aller Kraft zu Boden schlug.

„Ich mag es nicht, wenn man mich verfolgt“, meinte der Mann mit starkem nordischem Akzent und versuchte, Trahern niederzuringen.

„Ich auch nicht“, knurrte Trahern und befreite sich mit einem heftigen Stoß. Der Wikinger stellte verblüfft fest, dass sie beide gleich groß waren. Dabei besaßen nur wenige Männer seine Körpergröße und noch weniger verfügten über seine Kraft.

Mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte er den anderen. Im gleichen Augenblick erkannten beide, wie ähnlich sie sich waren.

„Du bist einer von uns, oder?“, knurrte der Fremde. „Das hatte ich nicht erwartet.“

Wütend zog Trahern sein Schwert. „Ich bin kein verdammter Lochlannach!“

„Dann hast du dich aber lange nicht mehr angeschaut.“ Der Mann zog jetzt auch sein Schwert. „Warum folgst du mir?“

„Wo ist das Mädchen?“, gab Trahern zurück und ging zum Angriff über. Der Nordmann parierte seinen Schlag.

Der nächste Hieb zielte auf Traherns Kopf, aber er sprang rasch zur Seite, während er gleichzeitig gekonnt mit der eigenen Waffe den Schlag ablenkte.

„Wahrscheinlich meinst du die, die wir gestern in dem cashel fanden“, erwiderte der Mann. „Sie ist in unserer Siedlung. Aber ich weiß nicht, ob ich dir erlaube, uns dorthin zu folgen. Nicht nach dem Willkommen, das du mir hier bereitest.“ Mit gezücktem Schwert stürzte er sich auf Trahern.

Der wehrte den Schlag ab und griff ebenfalls an. Er konzentrierte sich jetzt nur auf den Kampf, erwiderte Schlag für Schlag. Schweiß glänze auf seiner Stirn, aber es gelang ihm, den Mann zurückzudrängen.

Voll Befriedigung sah er, wie seine Klinge die Schulter des Gegners ritzte. Ein halbes Jahr hatte er hierauf gewartet. Es war ihm gleich, dass sie auf heiligem Boden standen, dass es eine Sünde gegen Gott war, hier zu kämpfen. Dieser Mann hatte Unschuldige erschlagen, Unschuldige wie Ciara. Er hatte Frauen vergewaltigt. Er verdiente es zu sterben.

Da erblickte er Morren hinter dem Wikinger. Sie kam langsam näher. Das weite Gewand hing in Falten um ihren mageren Körper, mit ihren Händen umklammerte sie den geborgten Umhang. Die Kapuze war ihr vom Kopf geglitten und enthüllte ihr goldblondes Haar. Angst und Entsetzen lagen auf ihrem Gesicht.

Ihr Anblick gab Trahern neue Kraft. Er richtete einen brutalen Hieb gegen die Waffe seines Feindes, und schon flog dessen Schwert in hohem Bogen durch die Luft und landete im Gras. Der verblüffte Gesichtsausdruck des Mannes wandelte sich zu einem Ausdruck düsterer Resignation, als Trahern ihn bei den Haaren packte und ihm das Schwert an die Kehle hielt.

Den zornerfüllten Blick auf Morren gerichtet, fragte Trahern: „Ist das der Mann, der dich entehrte?“

4. KAPITEL

Alles Blut war aus Morrens Gesicht gewichen. Das Leben des Wikingers hing von ihrer Antwort ab.

„Nein“, flüsterte sie. Und dann lauter: „Er ist keiner von denen. Er war nicht hier in jener Nacht.“ Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen, damit Trahern ihr glaubte.

Sein stahlharter Blick schien sie durchbohren zu wollen. „Lüge nicht. Er verdient den Tod für das, was er getan hat.“ Die Klinge lag immer noch an der Kehle des Nordmanns.

„Ich lüge nicht.“ Sie hatte Angst, näher zu kommen, aber sie zwang sich dazu. Als sie nur noch eine Armeslänge von den beiden entfernt war, blieb sie stehen. „Lass ihn gehen, Trahern“, bat sie.

Es war klar, dass er nicht die geringste Lust dazu hatte. Sie trat noch einen Schritt heran. „Bleib, wo du bist“, fauchte er sie an.

In seinem Gesicht konnte sie kein Mitleid erkennen, und sie fürchtete, dass er ihr gar nicht zuhörte. Sie erwiderte den Blick seiner grauen Augen und wartete darauf, dass er endlich die Wahrheit ihrer Worte erkannte. Es stand auf Messers Schneide. In Trahern kämpfte die Lust zum Töten mit seiner Vernunft.

„Lass ihn laufen“, wiederholte sie.

Die Zeit schien stillzustehen. Endlich ließ Trahern das Schwert sinken. Er stieß den Mann zur Seite und steckte die Waffe in die Scheide.

Erleichtert atmete Morren auf. Der Wikinger wischte sich das Blut von der Schulter und schenkte ihr einen dankbaren Blick. „Ich verdanke dir mein Leben, meine Hübsche.“

Sie spürte das Interesse, das sich hinter seinem Kompliment verbarg. Mit seinen grauen Augen und dem blonden Haar hätte der Lochlannach bei vielen Frauen sicher als ansehnlich gegolten.

Das galt aber nicht für sie. Sie interessierte kein Mann mehr. Ganz besonders kein Wikinger.

„Wer bist du, und warum warst du in dem cashel?“, fragte sie.

„Ich bin Gunnar Dalrata. Und wir waren auf Befehl unseres Häuptlings dort.“ Er warf Trahern einen Blick zu und wischte wieder Blut von seiner Schulter. Die Wunde schien aber nicht tief zu sein. Der Mann schenkte ihr jedenfalls kaum mehr Beachtung als einem Kratzer. „Wir suchten nach Überlebenden, wie zum Beispiel dem Mädchen, das wir gestern fanden.“

„Jilleen“, keuchte Morren. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Wohin habt ihr sie gebracht?“

„Wir nahmen sie mit zu unserem longphort, unserem Lager“, sagte Gunnar. „Du kannst gerne mitkommen zu ihr. Ich werde für deinen Begleitschutz sorgen.“

„Morren wird nirgendwohin mit dir gehen.“ Trahern stellte sich beschützend neben sie. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines Schwertes, jederzeit bereit, sie zu verteidigen. Er sah aus, als würde er den Wikinger eher in Stücke hauen, als ihn freizugeben.

„Das Mädchen, das ihr gefunden habt, ist meine Schwester“, sagte Morren zu Gunnar. „Bitte, lasst sie gehen. Sie hat nichts Böses getan.“

„Sie ist keine Gefangene“, widersprach Gunnar. „Wir wollten nur nicht, dass sie alleine herumläuft. Und als sie nach unserer Heilerin fragte, nahmen wir sie mit.“ Er musterte Morren jetzt mit besorgtem Blick.

Sie schlang die Arme um sich und schwieg, denn sie wollte nichts erklären. Auch wenn sie kaum noch blutete, war sie nicht mehr dieselbe wie früher. Sie fühlte sich ausgehöhlt, so, als wäre sie innen ganz leer.

Der Tag hatte seinen Tribut von ihr gefordert. Obwohl sie keine Schwäche zugeben wollte, musste sie sich doch eingestehen, dass die Heilung nicht so schnell voranschritt, wie sie es sich wünschte. Und was noch schlimmer war, Trahern schien es zu spüren.

Seine Worte waren für sie bestimmt, auch wenn er Gunnar dabei unverwandt ansah. „Bei Anbruch der Morgendämmerung begeben wir uns zu dem Lager und holen Jilleen.“

„Wir sollten jetzt mit ihm gehen“, drängte Morren.

„Du bist zu schwach für die Reise. Warte noch eine weitere Nacht ab.“ Trahern warf Gunnar einen finsteren Blick zu. „Außer, du möchtest, dass ich mit ihm zurückgehe.“

Sie zögerte. Der Gedanke, Jilleen noch eine Nacht lang allein zu lassen, gefiel ihr nicht, zumal sie nicht wusste, ob es ihrer Schwester gut ging oder nicht. Auf der anderen Seite war sie ziemlich sicher, dass Trahern sich mit seinem leicht reizbaren Temperament schnell in tödliche Gefahr bringen würde.

„Sie ist unverletzt“, sagte Gunnar jetzt. „Ich schwöre es.“

Morren betrachtete den Lochlannach misstrauisch. Er schien die Wahrheit zu sagen. Mit seinen grauen Augen erwiderte er offen ihren Blick. „Der Rest des O’Reilly-Stammes hat bei uns Zuflucht gesucht“, fügte er hinzu und warf einen angewiderten Blick auf die Kirche hinter ihnen.

Die Mönche hatten ihr Gebet beendet und verließen gerade nacheinander langsam die Kirche. Als der Abt die kleine Gruppe erblickte, beschleunigte er seine Schritte. Als müsste er Dämonen abwehren, griff er nach dem großen Kreuz, das ihm vor der Brust hing.

Flankiert von einigen Mönchen, die ihn wie eine stumme Schutztruppe umgaben, blieb er mit zornigem Gesicht vor ihnen stehen. Morren zog sich ein paar Schritte zurück.

„Ich kehre zum longphort zurück und sage ihnen, dass ihr kommen werdet“, meinte Gunnar und pfiff sein Pferd herbei. Den Abt begrüßte er mit keinem Wort, nur mit einem kurzen, abweisenden Nicken.

„Ich will mein Pferd zurück“, warf Trahern ein, bevor der andere aufsteigen konnte.

Spöttisch verzog der Nordmann die Lippen. „Dann komm und hol es dir.“

Eine Wolke verdeckte die Nachmittagssonne und tauchte das Gesicht des Abtes in Schatten. Trahern senkte den Kopf. „Verzeiht, Vater.“

Der Abt kreuzte die Arme vor der Brust. „Auf geheiligtem Boden Blut zu vergießen ist eine Sünde.“

Der tadelnde Ton des Priesters schien Traherns Wut wieder anzufachen, und Morren zog sich noch weiter von der Gruppe zurück.

Trahern überragte den kleineren Abt um einiges. Er fixierte den Mönch mit einem stahlharten Blick seiner grauen Augen. „Ich habe ihn verschont.“

Unverwandt starrten die beiden Männer sich an. Dann machte der Abt das Zeichen des Kreuzes. Es sieht eher wie eine Absolution aus und nicht wie ein Segen, dachte Morren.

„Es gibt immer noch Hass in deinem Herzen.“

„Und der wird dort auch bleiben, bis der Letzte von ihnen tot ist.“ Als Trahern sich umwandte, erkannte Morren den Schmerz hinter seinem Zorn.

Es tat ihr weh zu sehen, wie verbissen er sich nach Rache sehnte. Und sie bezweifelte, dass er sich auch nur das Geringste um seine Seele scherte.

Er ist genauso verloren wie ich.

Für den Rest des Abends sprach Trahern kaum ein Wort mit Morren. Bei Gott, er wusste nicht, was mit ihm geschah. Ihm war, als stünde er neben sich, als wäre er zu einem Mann geworden, dem nichts mehr etwas bedeutete. Fast hätte er den Nordmann umgebracht, und das nur wegen dessen Herkunft.

Es schien gar nicht wichtig zu sein, dass Gunnar Dalrata in jener Nacht des Überfalls nicht dabei gewesen war. Alles an dem Mann störte ihn wie Sand in einer offenen Wunde.

Unschuldige Frauen hatten bei jenem Überfall leiden und sterben müssen. Und schuld daran waren Männer wie Gunnar. Im Blutrausch hatte er sich nur noch rächen wollen, wollte nur noch töten. Aber Morrens Stimme hatte diesem Wahnsinn ein Ende gemacht und das wilde Tier in ihm beruhigt.

Er setzte sich an den niedrigen Holztisch in der Mitte des Raums. Das Innere des Gästehauses war nicht groß. Aber es gab sechs Strohmatratzen, drei auf jeder Seite. Der Tisch trennte sie voneinander.

Auf dem Tisch standen die Reste ihres Mahls. Stirnrunzelnd stellte Trahern fest, wie wenig Morren gegessen hatte. Kaum genug, um ein Kind am Leben zu erhalten, geschweige denn eine erwachsene Frau.

Am liebsten wäre er schon heute Nacht dem Lochlannach nachgejagt, aber Morren hätte die Reise unmöglich überstanden. Wenn er mehr als fünf Meilen riskierte, würde sie mit Sicherheit zusammenbrechen.

Schweigend ging sie zu einer Matratze an der gegenüberliegenden Wand und legte sich mit dem Rücken zu ihm hin. Sie war so zierlich und zerbrechlich, und er wusste, welche Ängste sie quälten. Aber trotz ihrer körperlichen Schwäche war sie fest entschlossen, zu ihrer Schwester zu gehen.

Trahern goss Wasser in eine Holzschale und spritzte es sich ins Gesicht. Es lief über seine stoppeligen Wangen. Er konnte fühlen, dass seine Kopfhaare gewachsen waren. Die meisten irischen Männer waren stolz auf ihr Haar und ihre Bärte. Am liebsten hätte er alles abrasiert.

Er wollte keine Wärme, keine Annehmlichkeiten – nur die kalte Erinnerung an das, was er verloren hatte.

Mit seinem Messer schabte er sich über die Wangen. Dass er sich dabei hin und wieder schnitt, kümmerte ihn nicht. Denn so wirkte er furchteinflößender und anders als die anderen. Ein Mann, dem man nicht trauen konnte. Und wenn sein verändertes Aussehen andere von ihm fernhielt – umso besser.

Als er fertig war, legte er das Messer auf den Tisch. Seine Klinge funkelte im Licht. Ein paar Blutspuren waren darauf zu sehen. Sein Blut. Aber das war ihm egal.

Erneut goss er Wasser in die Schale, tauchte die Hände hinein und spritzte es sich ins Gesicht, um das Blut fortzuwaschen. Der Rest Wasser in der Schale schwappte noch ein wenig hin und her, dann glättete sich die Oberfläche und gab sein Spiegelbild wieder. Er sah seine zornigen Züge, sah das Monster, das nur noch für die Gewalt lebte. Er erblickte einen Mann, dem es gleich war, ob er lebte oder starb. Ein Mann, der aussah wie einer der Wikinger.

Trahern hätte die Schale am liebsten quer durch den Raum geschleudert. Er wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Es waren wilde Mörder, keine Menschen. Er hasste es, dass er ihnen ähnlich sah.

Eigentlich hätte es ihn nicht überraschen dürfen, denn sein Großonkel Tharand war ein Lochlannach und auch der Vater seiner Mutter. Trotzdem hatte er sich nie mit den Fremden verglichen. Doch als er mit Gunnar kämpfte, schaute er zum ersten Mal nicht auf seinen Gegner hinunter. Sie waren gleich groß, hatten die gleiche Gestalt. Und das beunruhigte ihn mehr, als er zugeben wollte.

Wie konnte er nur in Betracht ziehen, Morren in das Wikingerlager zu bringen? Sie hatte wirklich genug erdulden müssen. Das Beste wäre, sie hier zu lassen, wo sie den Männern nicht begegnen musste, die sie so verletzt hatten.

Aber dann würde er nie erfahren, wer diese Kerle waren. Ohne Morren konnte er sie nicht identifizieren. Trahern spielte zähneknirschend mit seinem Dolch, dann steckte er ihn in die Scheide. Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste sie mitnehmen.

Verstohlen riskierte er einen Blick auf die schlafende Gestalt an der Wand. Wie ein Geist schien Morren gefangen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Sie behauptete zwar, sie wolle leben, um für ihre Schwester zu sorgen, aber Trahern fragte sich, ob sie jemals wieder ihre innere Ruhe finden würde.

Jetzt drehte sie sich um. Dabei fiel ihr das goldblonde Haar wie ein Schleier über die Wange. Noch im Schlaf umklammerten ihre Hände die Decke. Es war, als versuchte sie immer noch, sich zu verteidigen.

Er fragte sich, ob es ihr wohl lieber wäre, wenn er weit weg von ihr schlief? Oder vielleicht doch besser nahe bei ihr? Dann konnte er für ihre Sicherheit sorgen, wenn weitere Gäste kamen.

Um nicht gleich eine Entscheidung treffen zu müssen, verbrachte er einige Zeit damit, die Schüsseln fortzuräumen und den Tisch von den Essensresten zu säubern. Eine tiefe Stille legte sich über das Kloster, in dem jetzt alle Mönche schliefen bis zur Vigil, die in ein paar Stunden begann.

Trahern entschied sich für die von Morren am weitesten entfernte Matratze. So war es ihr bestimmt lieber, und sie würde ruhiger schlafen. Er streckte sich aus, schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

In Gedanken sah er Ciaras Gesicht vor sich. Ihr Geist verfolgte ihn, und das Lächeln auf ihren Lippen zerriss ihm das Herz.

Ich liebe dich, hatte sie ihm an jenem Morgen noch ins Ohr geflüstert, ehe er zu seiner Reise aufbrach. Und er küsste sie zum Abschied, ohne zu wissen, dass er sie zum letzten Mal in seinen Armen hielt. Warum hatte er ihr nicht gesagt, wie sehr er sie liebte? Jetzt würde sie es nie mehr erfahren.

Unruhig wälzte er sich auf der Matratze hin und her. Als er sich umdrehte, merkte er, dass Morren ihn beobachtete.

„Ich kann nicht schlafen“, gestand sie. „Ich habe es versucht, aber ich mache mir zu große Sorgen wegen Jilleen.“

Trahern stand auf und ging zu ihr. Sorgfältig darauf bedacht, Morren nicht zu berühren, streckte er sich auf einer der Matratzen neben ihr aus. Den Kopf in die Hand gestützt, sah er sie an. „Fürchtest du dich davor, die Lochlannach zu besuchen?“

Sie nickte ernst. „Ja. Ich weiß, Gunnar behauptet, Jilleen sei keine Gefangene. Aber wenn das stimmt, warum kam sie dann nicht zurück? Warum schickten sie nicht ihre Heilerin?“

„Ich weiß es nicht. Wir werden es morgen herausfinden.“ Er sah, dass ihre blauen Augen voll Sorge blickten. „Wenn du dich hier sicherer fühlst und lieber bleiben willst … Ich verspreche dir, ich bringe Jilleen zurück.“

Morren setzte sich auf, zog die Knie eng an ihren Körper und legte die Stirn darauf. „Du solltest nicht allein gehen.“ Aus der Art, wie sie seinem Blick auswich, erkannte Trahern, dass sie ihm nicht traute. Sie glaubte nicht, dass er Wort halten würde.

„Ich wünschte, ich wäre kräftiger“, fuhr sie fort. „Ich fürchte nur, je länger ich warte, desto gefährlicher wird es für Jilleen. Hätte sie nicht versucht, Hilfe für mich zu holen, wäre sie nie fortgegangen.“

„Morgen“, versprach Trahern. „Morgen holen wir sie.“ Eine leise Wut stieg in ihm auf. „Wir hätten Gunnar als Geisel behalten sollen“, knurrte er.

„Nein. Es war richtig, dass du ihn freigelassen hast.“ Sie sah ihn an. „Außerdem glaube ich nicht, dass die Mönche das erlaubt hätten.“

„Nein?“, erwiderte er mit einem verhaltenen Lächeln. „Eine großzügige Spende an das Kloster hätte sie vielleicht auf diesem Auge blind gemacht.“

Morren schüttelte den Kopf. Es lag jetzt ein weicherer Zug um ihren Mund. Sie glaubte wohl, dass er scherzte. Auch wenn das nicht ganz stimmte, so entspannte sich die Situation doch ein wenig. „Gunnar steht in deiner Schuld“, fügte sie hinzu. „Das mag uns Sicherheit garantieren.“

„Die Lochlannach besitzen keine Ehre.“

Sie wollte etwas sagen, zog es aber vor zu schweigen. Gerade so, als hätte sie ihm widersprechen wollen, dann aber ihre Meinung geändert.

Trahern lehnte sich zurück und starrte zur Decke. „Es gefällt mir nicht, dass ich dich dorthin bringen soll. Ich denke immer noch, du solltest hier im Kloster bleiben.“

„Ich werde es schon schaffen. Mit jedem Tag werde ich kräftiger.“

Er hielt das nicht für genug. „Wir werden uns Pferde leihen. Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr schicke ich dich zurück.“ Er war davon überzeugt, jeden Angreifer so lange in Schach halten zu können, bis Morren in Sicherheit war.

Sie streckte sich wieder auf der Matratze aus. Trahern wunderte sich plötzlich, warum die Mönche sie beide allein in dem Gästehaus übernachten ließen. Die Situation erschien ihm zu anstößig. Sie waren so nah beieinander, dass er Morrens Duft riechen konnte, ein Duft nach Rosmarin, der ihn verwirrte. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er sie immerfort ansah. Sie hatte weiche Gesichtszüge, klare blaue Augen, und langes blondes Haar fiel ihr über die Schultern. Ihre Nase war ein wenig schief, und diese kleine Unvollkommenheit lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Mund.

Er zwang sich, woanders hinzusehen, stand auf und ging zum Feuer. Während er mehr Torf auflegte, bekam er seine umherschweifenden Gedanken wieder unter Kontrolle. Was war nur los mit ihm? Wahrscheinlich lag es daran, dass er seit Ciara bei keiner Frau mehr gelegen hatte. Schließlich war er kein Mönch, der es gewohnt war, die Gelüste seines Körpers zu unterdrücken.

„Geht es dir gut?“, fragte Morren und richtete sich wieder auf.

„Ja.“ Er stocherte im Feuer herum, das eigentlich gar nicht mehr angefacht werden musste. „Ich wollte nur sichergehen, dass das Feuer für den Rest der Nacht genug Nahrung hat.“

Trahern kehrte zu seiner Matratze zurück und legte sich auf den Bauch. Er tat sein Bestes, Morren zu ignorieren, aber er merkte, dass sie immer noch wach war.

„Ich würde dich ja gerne um eine deiner Geschichten bitten“, murmelte sie. „Aber ich sehe, dass du müde bist.“

Schlaf war das Letzte, an das er im Augenblick dachte. „Morgen früh vielleicht.“ Er hätte durchaus mit der Geschichte von Eithne und Dagda fortfahren können, aber das hätte die Bindung zu ihr nur verstärkt. Tatsächlich wollte er nicht, dass sie ihn mit diesen blauen Augen anschaute. Auch wenn er nicht vorhatte, sie anzurühren, so konnte er nicht leugnen, dass sie schön war.

„Durch das Schwert“, sagte sie leise.

„Wie?“

„Ciara. Du fragtest mich doch, wie sie starb. Und ich versprach, es dir zu sagen, wenn du meiner Schwester hilfst.“

Trahern krallte die Finger in die Matratze. Die Brust wurde ihm eng. Er brachte kein Wort heraus. Ihm war, als würde ein Felsbrocken ihn zermalmen. Aber sein Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, war größer als seine Scheu davor.

„Sie wurde von einem ihrer Schwertträger erschlagen“, sagte Morren. „Ich glaube nicht, dass er sie töten wollte. Aber sie rannte gerade hinter dem Mann vorbei, als er mit dem Schwert ausholte.“

„Hat sie gelitten?“ Er musste es fragen, auch wenn er sich vor der Antwort fürchtete.

„Es ging schnell.“

Die Worte brachten ihm ein wenig Erleichterung, aber er klammerte sich immer noch an seine Matratze. Wenn Ciara schon hatte sterben müssen, so musste sie doch wenigstens nicht leiden, auch wenn er alles darum gegeben hätte, sie wieder bei sich zu haben.

„Danke“, sagte er leise. Und er meinte es auch so. Seine Vorstellungskraft hatte ihn mit Bildern ihres Todes gequält. Er hatte sich danach gesehnt zu wissen, was wirklich geschehen war. Die Wahrheit zu hören machte es ihm etwas leichter, das alles zu ertragen.

„Sie war eine Freundin von mir“, fügte Morren hinzu. „Du hast sie glücklich gemacht. Sie sprach oft davon, wie sehr sie dich liebte.“

Die unsichtbare Faust schloss sich fester um sein Herz. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er musste hier raus.

Wortlos riss er die Tür auf und stolperte in die Dunkelheit hinaus. Im Mondlicht ragte ein einsames Kreuz in den Nachthimmel.

Er fiel davor auf die Knie. Der Schmerz über seinen Verlust ließ ihn nach Atem ringen. Vielleicht würde er morgen sterben, wenn er die Bastarde tötete, die ihr das Leben genommen hatten. Aber bei Gott, es kümmerte ihn nicht.

Trahern wusste nicht, ob Minuten oder Stunden verstrichen waren, als er spürte, dass Morren hinter ihm stand. In einer tröstenden Geste legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Er ahnte, welche Überwindung sie diese Berührung kostete.

„Geh wieder ins Gästehaus“, sagte er. „Ich komme gleich.“

Leicht drückte sie seine Schulter und gehorchte.

Aus einiger Entfernung hörte Trahern die Schritte der Mönche, die zur Vigil in die Kapelle zurückkehrten.

Am nächsten Morgen fühlte Morren sich besser, und sie zweifelte nicht daran, dass sie dieses Mal den Ritt überstehen konnte. Mit dem Versprechen, sie in einigen Tagen wieder zurückzubringen, hatte Trahern sich bei den Mönchen zwei Pferde ausgeborgt.

Während sie immer weiter nach Süden ritten, beobachtete Morren, wie sich die unterdrückte Wut auf Traherns Gesicht abzeichnete. Er sprach kein Wort. Es sah aus, als würde er sich unablässig mit seinen Plänen und Strategien beschäftigen.

Dass Rachegelüste ihn verzehrten, zeigte sich nur allzu deutlich in seinen angespannten Zügen. Er schien fest daran zu glauben, dass er die Lochlannach finden würde, die für den Überfall verantwortlich waren, und dass Morren die schuldigen Männer benennen konnte.

Sie schauderte. Auch wenn die Männer für ihre Tat den Tod verdienten, wollte sie auf keinen Fall diejenige sein, die sie dazu verdammte. Unwillkürlich ritt sie langsamer. Sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen ihrem eigenen Wunsch nach Rache und dem Verlangen zu vergessen.

Trahern zügelte sein Pferd und drehte sich besorgt um. Er reichte ihr den Wasserschlauch. „Du siehst blass aus. Willst du nicht lieber umkehren?“

„Nein. Es geht mir gut.“ Es war nicht die körperliche Schwäche, die sie bekümmerte. Es war ihre Angst vor dem, was geschehen mochte, wenn sie den longphort erreichten.

Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, gab sie Trahern den Trinkschlauch zurück und nahm die Zügel wieder auf. „Es ist nicht mehr weit. In weniger als einer Stunde werden wir da sein.“ Bevor er widersprechen konnte, trieb sie ihr Pferd an und zwang ihn, ihr zu folgen. Welche Gefahr auch immer auf sie lauerte, sie durfte Jilleen nicht im Stich lassen.

Trahern holte auf und ritt neben ihr her. Er hatte ihr zwar nicht widersprochen, aber sie merkte, dass er sie heimlich betrachtete. Wo er sich rasiert hatte, zierten einige Schnitte seine Haut. Mit seiner Größe und seinem wilden Aussehen würde er selbst auf die Wikinger ziemlich einschüchternd wirken, da war sie sich sicher.

Aber sie hatte auch eine andere Seite an ihm kennengelernt. Letzte Nacht war er bis zum Ende der Vigil draußen geblieben. Der erbarmungslose Krieger war verschwunden gewesen. An seiner Stelle hatte sie einen Mann vor sich gesehen, den der Kummer auffraß. Etwas in ihr wollte ihn trösten, und ohne lange nachzudenken, hatte sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt.

Seine Haut war warm gewesen, sein Muskeln hart und fest. Erschrocken war er zurückgezuckt. Als er sah, dass sie es war, entspannte er sich.

Fast hatte sie ihre Hand wieder zurückziehen wollen. Stattdessen drückte sie zart seine Schulter. Sie tat es aus einem Impuls heraus, aus dem momentanen Gefühl des Mitleids. Als sie wieder zu ihrem Lager zurückgekehrt war, brannten ihre Wangen vor Verlegenheit. Ob er verstand, dass sie ihm nur ihre Freundschaft hatte anbieten wollen, nicht mehr?

Verbittert hielt sie ihr Gesicht in den Wind und starrte zum Horizont. Sie wusste nur zu gut, dass sie für immer zerstört war. Kein Mann würde eine Frau wie sie mehr haben wollen.

Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Früher hatte sie davon geträumt, Mutter zu werden. Sie hatte sich vorgestellt, wie es wäre, wenn weiche Ärmchen sich um ihren Hals legten und eine zarte Kinderwange sich an ihre schmiegte.

Morren spürte die Qual ihrer inneren Leere wie einen körperlichen Schmerz. Und dann verwandelte sich dieser Schmerz in einen heftigen Zorn.

Diese Männer hatten ihr die Möglichkeit genommen, je wieder Kinder zu bekommen. So hatte sie es bisher noch nie gesehen.

Fest umklammerte sie die Zügel. Ihre Wut, die sich nun ungehindert Bahn brach, prallte gegen den Schutzschild ruhiger Gelassenheit, den sie um sich aufgebaut hatte.

Denk nicht daran. Schick es zurück in die Vergangenheit, wo es hingehört.

Doch als sie Traherns dunklem Blick begegnete, entdeckte sie in seinen Augen ihr eigenes Spiegelbild.

5. KAPITEL

Der longphort lag einige Meilen landeinwärts von Beanntraí am Flussufer, der Südwestküste zugewandt. Heftig schlugen die Wellen des blauen Wassers ans Ufer, und in der Ferne ragte dunkles Gebirge empor. Auch wenn die Anlage schon vor Jahrhunderten errichtet worden war, hatten die Wikinger sie stetig vergrößert und der Siedlung neue Außengebäude aus Stein hinzugefügt.

Trahern musterte den longphort mit den Augen eines Angreifers und suchte nach Schwachstellen. Von ihrem erhöhten Beobachtungspunkt aus konnte er in das Innere der Festung sehen. Drei kreisförmige Außenmauern mit tiefen Rinnen zwischen jedem Graben boten mehrfachen Schutz vor Angriffen.

Die Langhäuser im Innern waren in Vierecken angelegt, jede Wohnstätte bildete ein Quadrat. Die meisten lagen auf erhöhten Plattformen, um einer Überflutung zu entgehen.

Bei näherem Hinsehen entdeckte Trahern mindestens ein Dutzend Männer, die auf der äußeren Palisade Stellung bezogen hatten. Es würde nicht leicht sein, dort einzudringen.

Aber das mussten sie ja auch nicht. Gunnar hatte sie doch eingeladen, angeblich, damit sie mit den Überlebenden zusammentreffen konnten. Traherns Misstrauen wuchs. Er hatte sich geschworen, Morren beim kleinsten Anzeichen von Gefahr sofort zurückzuschicken.

Er brachte sein Pferd an ihre Seite. „Bist du bereit?“

„Ja.“ Auf ihrem Gesicht las er eine neu erwachte Willenskraft. Sie war noch nicht wieder ganz gesund, aber bereit, für ihre Schwester zu kämpfen.

Bevor sie losreiten konnte, griff Trahern ihr in die Zügel. „Bleib dicht bei mir. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst. Sag es mir, wenn du einen der Verbrecher erkennst. Ich werde mich dann um ihn kümmern.“

Er übernahm die Führung und deckte sie so mit seinem Körper. Die Luft war eisig, aber Trahern spürte die Kälte nicht. Er dachte an die Männer, die Ciara ermordet und Morren vergewaltigt hatten, und Rachegelüste wärmten sein Blut. Sie würden für ihre Verbrechen mit dem Leben büßen.

Als sie die erste äußere Mauer erreichten, hoben die Wächter in stummer Drohung ihre Speere. Doch dann entdeckten sie Morren und schienen zu zögern.

Trahern hielt am ersten Tor an. Die Nachricht von ihrer Ankunft hatte sich sicher bereits herumgesprochen. Die Hand fest um den Knauf seines Schwertes geschlossen, wartete er ruhig ab.

Die feindlichen Wächter ließen ihn nicht aus den Augen. Er sie auch nicht.

Es dauerte eine ganze Zeit, bis Gunnar endlich auftauchte. Der Wikinger hatte zwar ebenfalls die Hand am Schwert, aber es schien ihn nicht zu kümmern, dass er zu Fuß war, während Trahern und Morren den Vorteil hatten, zu Pferd zu sitzen.

„Wie ich sehe, habt ihr euch doch entschlossen zu kommen“, begrüßte er sie. „Deine Schwester erwartet dich im Haus meines Bruders“, fügte er mit einem Seitenblick auf Morren hinzu.

Deren Mund wurde zu einem schmalen Strich. Es hatte den Anschein, als würde sie Gunnar am liebsten mit einer Waffe durchbohren. „Ich möchte Jilleen sofort sehen.“

„Dann folgt mir“, erwiderte Gunnar. Er rief zwei ältere Jungen herbei und trug ihnen auf, sich um die Pferde zu kümmern.

Trahern sprang ab und streckte die Arme aus, um Morren aus dem Sattel zu helfen. Bewusst hielt er sie nicht länger als unbedingt nötig, aber Morrens Gesicht zeigte Erleichterung, als er sie losließ.

Ohne ihn ein einziges Mal anzusehen, raffte sie ihren Umhang um sich, als könnte sie so alle bösen Erinnerungen abwehren.

Es schmerzte Trahern, dass diese Frau sich so sehr in ihr Inneres verkroch, und sein Zorn erwachte aufs Neue. Er hielt sich dicht an Morrens Seite und achtete nicht auf die Blicke, die ihnen folgten. Keiner sprach sie an. Ihre Ankunft verlief unter angespannter Stille.

„Morren.“ Ein junger Mann nickte ihr grüßend zu. Wahrscheinlich einer der O’Reillys, vermutete Trahern.

Beim Klang der Stimme zuckte Morren zusammen und wurde rot. Sie hielt den Blick gesenkt, als hätte sie Angst vor dem, was der Mann vielleicht noch sagen könnte.

Sie folgten Gunnar, der sie tiefer in den longphort hineinführte. Andere Clanmitglieder sprachen Morren an. Sie alle schienen überrascht, sie zu sehen. Wussten sie, was mit ihr in jener Nacht des Überfalls geschehen war? Es hatte nicht den Anschein.

Trahern nahm sich vor, allein mit den Überlebenden zu sprechen. Er wollte herausfinden, warum sie jetzt mitten unter den Wikingern lebten. Es war verblüffend, aber sie zeigten keinerlei Angst oder Furcht. Sie benahmen sich, als hielten sie sich bei Verwandten oder Freunden auf und nicht bei Feinden.

Er verstand das einfach nicht. Misstrauisch starrte er auf die O’Reillys und fragte sich, was sie ausgerechnet hierher geführt hatte.

Schließlich erreichten sie eines der Langhäuser im Zentrum des longphort, und Gunnar führte sie hinein. Ein Feuer wärmte den Raum, und aus einem abgedeckten Topf stieg der frische Duft nach Brot. Zwei Männer waren in ein Gespräch vertieft, und eine ältere Frau mit sehr wachsamem Blick saß bei Jilleen.

Als Morren ihre Schwester entdeckte, rannte sie auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. Zuerst rührte Jilleen sich nicht. Doch dann klammerte sie sich an Morren und begann zu weinen. Stumm strömten ihr die Tränen über das Gesicht.

„Geht es dir gut?“, wollte Morren wissen. „Haben sie gut für dich gesorgt?“ Jilleen nickte mit blassem Gesicht.

Ohne die ältere Frau aus den Augen zu lassen, trat Trahern näher. „Was ist geschehen?“

„Gunnar fand sie, wie sie in Glen Omrigh umherirrte“, unterbrach ihn die Frau voller Zorn. „Wie konntet ihr ein junges Mädchen allein losschicken? Wisst ihr nicht, was ihr alles hätte zustoßen können?“

Er kannte das Risiko, aber er hatte doch keine andere Wahl gehabt. Hätte er Morren allein gelassen, wäre sie verblutet. Wie auch immer, er verspürte keine Lust, sich ausgerechnet vor einer Lochlannach zu rechtfertigen. Und so verbiss er sich die Antwort. „Wer bist du?“

„Ich bin Katla Dalrata“, erwiderte die Frau. Feine Linien zogen sich um ihre Augen. Trahern vermutete, dass sie nur wenig älter war als er selbst. Sie legte die Hand auf Jilleens Schulter. „Ihr solltet dankbar sein, dass wir sie gefunden haben.“

Er erkannte die Schelte als das, was sie war – die Sorge um Jilleens Wohlergehen. Deswegen war er auch nicht beleidigt und beließ es dabei.

„Es tut mir so leid, Morren.“ Noch mehr Tränen strömten über Jilleens Wangen. „Sie wollten mich nicht gehen lassen.“

„Still! Alles ist gut. Ich bin wieder gesund.“ Morren zog ihre Schwester erneut tröstend in ihre Arme. „Trahern hat sich um mich gekümmert.“

Sie warf ihm einen Blick zu, und in ihren Augen lag die stumme Bitte, nichts zu sagen. Trahern nickte schweigend. Er hatte nicht vor, einem dreizehn Jahre alten Mädchen noch mehr Gewissensbisse zu machen.

Die glühende Liebe zu ihrer Schwester konnte er nur zu gut verstehen. Hier ging es um Familienbande, die niemand zerstören konnte. Morren schaute ihn immer noch unverwandt an, während sie mit ihrer Schwester flüsterte und ihr tröstend den Rücken streichelte. In ihrem Blick lag eine tiefe Dankbarkeit. Bis jetzt hatte ihr Gesicht noch nie einen so weichen Ausdruck gezeigt. Zudem hatte es etwas Farbe gewonnen, und er ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich ihren Mund betrachtete, der plötzlich seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Trahern fühlte, wie seine Wangen heiß wurden, und wandte sich rasch Gunnar zu. „Wieso kamen die O’Reillys hierher? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit den Lochlannach etwas zu tun haben wollen.“

„Nachdem wir erfahren hatten, was geschehen war, boten wir ihnen unsere Hilfe an“, verteidigte sich der Wikinger. „Das Feuer hatte die meisten ihrer Wohnstätten zerstört, und wir gaben ihnen einen Ort, wo sie bleiben konnten.“

Einen Augenblick lang zweifelte Trahern, dass er die Wahrheit sagte. „Ich habe dich gestern bei dem cashel gesehen. Ihr branntet doch die verbliebenen Hütten nieder, oder etwa nicht?“

Der Wikinger leugnete es nicht. „Wenn das alte Holz weg ist, kann man sie leichter wieder aufbauen. Unser Häuptling befahl uns, die Trümmer zu verbrennen, damit Ordnung ist.“

Trahern erschien das alles verdächtig einfach. „Wenn das stimmt, warum habt ihr es dann nicht schon vor Monaten gemacht? Warum habt ihr bis jetzt damit gewartet?“ Dafür gab es keinen vernünftigen Grund.

„Zuerst waren nicht genügend O’Reillys da“, meinte Gunnar, und Trahern konnte seinem Gesicht den unterdrückten Zorn ansehen. Es schien ihn zu ärgern, dass er sich rechtfertigen musste. „Es waren nur drei, dann trafen die anderen Überlebenden hier ein. Jeden Tag sind wir dorthin gegangen, und es kehrten immer mehr zurück.“

„Und wie viele O’Reillys sind jetzt hier?“

„Ungefähr ein Dutzend.“ Gunnars Blick wurde hart. „Ob du uns unsere guten Absichten glaubst oder nicht, spielt keine Rolle. Auf jeden Fall haben wir beschlossen, ihnen zu helfen.“

„Sie hätten doch auch zum Kloster gehen können“, wandte Trahern ein.

„Stimmt“, pflichtete Gunnar ihm bei. „Aber sie zogen es vor, es nicht zu tun. Sie wollten dem Abt keinen Dank schulden.“

„Warum nicht?“

„Noch mehr Abgaben“, war alles, was Gunnar darauf erwiderte. Seine Hand griff nach der Streitaxt an seinem Gürtel. „Genug der Fragen. Ihr habt das Mädchen gefunden. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie nehmen und gehen.“

„Ich will die Männer finden, die für den Überfall verantwortlich sind. Ich will sie ihrer gerechten Strafe zuführen“, erwiderte Trahern und legte die Hand an den Griff seines Schwerts. „Glaub mir, wenn sie zu deinen Clansleuten gehören, werde ich sie finden.“

Oder Morren. Der Gedanke, dass sie ihren Vergewaltigern gegenübertreten musste, schmerzte ihn. Dieses Erlebnis sollte ihr eigentlich erspart bleiben.

„Unsere Leute haben nichts damit zu tun“, beteuerte Gunnar. „Und wir haben bereits Männer ausgeschickt, die in den Nachbarsiedlungen Nachforschungen anstellen.“

„Warum? Wenn du die Wahrheit sprichst, geht es euch doch nichts an.“

„Wenn meine Clansleute des Versuchs beschuldigt werden, einen irischen Clan auszulöschen, dann geht uns das etwas an. Der Frieden zwischen uns ist schon zerbrechlich genug.“

„Und das nicht ohne Grund.“

Verärgert schüttelte Gunnar den Kopf und stieß die Tür auf. „Die O’Reillys vertrauen darauf, dass wir ihnen helfen wollen. Du solltest es auch tun.“

Einem Lochlannach würde er noch nicht einmal einen Hund anvertrauen. Aber das sagte Trahern lieber nicht laut. So, wie die Lage war, würde er Morren und ihre Schwester jedenfalls so schnell wie möglich von hier fortschaffen.

„Langsam frage ich mich, ob Gunnar nicht doch die Wahrheit sagt“, flüsterte Morren Trahern zu, als sie am Abend zusammen mit den anderen Lochlannach beim Abendessen saßen. „Ich habe hier keinen einzigen der Männer entdecken können, die in jener Nacht dabei waren.“

Sie musterte die Gesichter der Wikinger. Doch die, die sie seit dem Überfall in ihren Träumen verfolgten, befanden sich nicht darunter. Noch etwas beruhigte sie ein wenig: Die Überlebenden ihres Clans schienen völlig unbesorgt. Viele ihrer Leute hatten die Angreifer mit eigenen Augen gesehen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass einer von ihnen sich hier aufhielt.

Trotzdem konnte sie sich nicht richtig entspannen und suchte unermüdlich nach den Gesichtern der Unbekannten. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Und vor Hunger.

Trahern hatte kaum etwas von seinem Essen angerührt. Er beobachtete die Wikinger, als würde er jeden Augenblick einen Angriff erwarten. „Ich traue ihnen nicht.“

Mit der Spitze seines Dolchs spießte er ein Stück Fisch auf. „Diese Siedlung liegt dem Dorf am nächsten. Bestimmt war jemand von hier in die ganze Sache verwickelt.“

Seine finstere Beharrlichkeit jagte Morren Schauer über den Rücken. Etwas in ihr wollte gerne glauben, dass sie und ihr Clan hier in Sicherheit waren.

„Ich hoffe, dass du dich irrst.“ Seine düstere Stimmung wirkte nicht gerade aufmunternd auf sie. Um sich abzulenken, aß sie den Rest ihres Fischs und trank den süß vergorenen Met.

Jilleen, die neben ihr saß, sprach kaum ein Wort. Obwohl sie jetzt schon einige Stunden zusammen verbracht hatten, war ihre Schwester weiterhin schweigsam und in sich gekehrt. Sie wirkte wie ein Schatten ihrer selbst.

Kein einziges Mal hatte sie einen der anderen angesehen. Morren wurde klar, dass es ein Fehler von ihr gewesen war, ihre Schwester zu verstecken. Dadurch hatte sie es ihr nur schwerer gemacht, zu den Überlebenden zurückzukehren.

Sie spürte Gewissensbisse in sich aufsteigen. Aber sie durfte sich jetzt keinen unnützen Grübeleien hingeben. Sie musste sich um Jilleen kümmern und darum, dass sie beide auf die bestmögliche Art weiterlebten. Ihre Eltern waren tot, also war es nun ihre Aufgabe, sich um die Zukunft zu kümmern.

Allein die Vorstellung jagte ihr Angst ein. Um sich abzulenken, griff sie nach einem kleinen Honigkuchen, der mit getrockneten Apfelstückchen verziert war. Die knusprige Kruste schmolz auf der Zunge, und der Geschmack der Äpfel vermischte sich mit der Süße des Honigs. Genießerisch schloss Morren die Augen. Es war lange her, dass sie etwas so Gutes zu essen bekommen hatten.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag ein völlig anderer Ausdruck auf Traherns Gesicht. Sein Mund war nur noch eine schmale Linie, und sein Blick hatte sich verschleiert. Sie sah, wie seine Hände den Rand des niedrigen Tisches umklammerten. „Was ist?“, fragte sie und errötete unwillkürlich.

„Nichts.“ Er wandte sich ab, und blickte wieder so zornig drein wie zuvor.

Wahrscheinlich verdirbt seine schlechte Laune ihm die Freude am Essen, überlegte Morren. Sie blickte sich um und bemerkte, dass Katla sie beobachtete. Obwohl die Nordfrau sich heftig über Trahern geärgert hatte, schenkte sie Morren ein warmes Lächeln. Mit ihren grauen Augen sah Katla sie freundlich an. Sie trug ein karmesinrotes Gewand mit einer hellbraunen Schürze, die mit goldenen Gewandnadeln an dem Kleid befestigt war. Über ihrem Arm hing ein graues Umschlagtuch.

Autor

Anne Obrien
Anne O’Brien ist in Yorkshire, England geboren und hat die meiste Zeit ihres Lebens dort verbracht. Als eine leidenschaftliche Leserin mochte sie Historische Romane am liebsten. Sie las vor ihrer eigenen Karriere als Schriftstellerin die Regency Romane von Georgette Heyer, Dorothy Dunnet, Jean Plaidy and Philippa Greogory. Mit diesen Leseerfahrungen...
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