Historical Lords & Ladies Band 76

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LORD THEOS SCHÖNSTES GESCHENK von LUCY ASHFORD
Der Duft von Tannengrün erfüllt das Herrenhaus. Obwohl ihr Arbeitgeber, der attraktive Lord Theo, kein Interesse an Besinnlichkeit zeigt: Haushälterin Jenna hat sich fest vorgenommen, ihm die schönste Zeit des Jahres zu bereiten. Und tatsächlich scheint sein Herz zu tauen, an Weihnachten raubt er ihr gar einen heimlichen Kuss. Jenna träumt von mehr. Doch würde ein Mann wie er wirklich eine Dienstbotin heiraten?

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  • Erscheinungstag 01.11.2019
  • Bandnummer 76
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737269
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Ashford, Michelle Styles

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 76

1. KAPITEL

Dezember 1817

Die Landschaft wirkte ausgesprochen trostlos. Theo zügelte sein Pferd und ließ den Blick umherschweifen, in der Hoffnung, dass er in den Nebelschleiern irgendetwas erkennen konnte, das kein flaches Moorland war. Vielleicht hätte er dem angenehmen Leben in London nicht ausgerechnet im Dezember den Rücken kehren sollen.

Vielleicht aber – Theos graue Augen verengten sich – hätte er dafür auch keinen besseren Monat wählen können.

Am vergangenen Abend, nach zwei Tagen Reise im strömenden Regen, war er mit seinem treu ergebenen Burschen Henry endlich in dem hügeligen Kurort Buxton angekommen. Am Morgen hatte Theo beschlossen, allein weiterzureisen, und Henry mit der Kutsche nach London zurückgeschickt, da sein hohes Gefährt ganz eindeutig für die Straßen in Derbyshire nicht geeignet war.

Henry hatte die Kutsche sorgfältig untersucht und anschließend einen Blick auf die düster wirkenden Berge geworfen, die Englands höchste Stadt umgaben.

„Wenn ich Sie wäre, Mylord, würde ich mir überlegen, ob Sie das nicht auch tun sollten“, bemerkte er finster.

„Was? Nach London zurückkehren?“

„Genau. An Ihrer Stelle hätte ich mich gar nicht erst auf dieses aberwitzige Unterfangen eingelassen.“

Theo Lord Dalbury – etwa ein Meter achtzig groß, muskulös und schlank – blickte den recht kleinen Mann amüsiert an. „Das gefällt mir so an dir, Henry. Du strotzt förmlich vor Optimismus und Respektlosigkeit. Aber lass dir gesagt sein, ich werde heute nach Northcote Hall reiten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Henrys zusammengepresste Lippen verrieten, dass es seiner bescheidenen Meinung nach durchaus Theos letzte Tat sein könnte. Klugerweise beschränkte er sich jedoch darauf, seinem Herrn, der bereits damit beschäftigt war, die wasserdichten Satteltaschen auf dem großen, gemieteten Rotschimmel zu befestigen, eine gute Reise zu wünschen. „Wann kehren Sie nach London zurück, Mylord?“

„Bald, Henry. Sehr bald!“

Danach war Theo in die Wildnis aufgebrochen, ohne genaue Vorstellung, in welcher Richtung sein Ziel lag oder was ihn dort erwartete. Das allerdings war keine neue Erfahrung für ihn, sondern zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben.

Vor langen Jahren, nach dem Tod seines Vaters, hatte er eine Baronie geerbt: ein kleines Anwesen, das ihm ein bescheidenes Einkommen und wenige Pflichten bescherte. Und das war ein Glück, da Theo als Offizier in Wellingtons Armee ohnehin nicht viel Zeit in England verbrachte. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages in Waterloo hatte er sich gemeinsam mit seinem alten Armeefreund Gilly auf Reisen begeben. Kairo, Konstantinopel und viele weitere Städte hatten sie besucht, denn Zuhause wartete nichts und niemand auf ihn.

Zumindest hatte er das gedacht.

Drei Monate zuvor war Theo – inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt, schlank und gebräunt von seinen Reisen – nach London zurückgekehrt und hatte den Brief eines Anwalts vorgefunden, der ihm mitteilte, dass sich seine Zukunftsaussichten beträchtlich verändert hatten. Aus diesem Grund befand er sich nun im Dezember in der einsetzenden Abenddämmerung in den Hügeln von Derbyshire, mit nichts als unaufhörlich prasselndem Regen zur Gesellschaft. Und was die Straßen betraf …

„Nennen Sie das etwa Straße, Mylord?“, hatte Henry am vergangenen Tag höflich gefragt, als die Karriole wieder mal in einem Schlagloch feststeckte. Wohin man auch blickte, gab es nichts weiter als Schlamm. Und Schafe. Und endlos erscheinende graue Mauern, die sich über die düster wirkenden Hügel zogen.

Seufzend trieb Theo sein Pferd weiter und fragte sich, ob er überhaupt noch in die richtige Richtung ritt. Der Nebel verdichtete sich, ebenso wie die Dunkelheit; er konnte kaum noch die Straße vor sich erkennen, ganz zu schweigen irgendein Anzeichen, dass hier jemand lebte.

Halt! Was war das? Unvermittelt tauchten ein paar winzige Lichter vor ihm auf und hüpften durch die Finsternis. Was um Himmels willen ging da vor? Im Krieg hatte er ähnliche Lichtpunkte in den Sümpfen von Spanien gesehen – Irrlichter, wie sie die Soldaten nannten. Der gelehrte junge Leutnant versuchte den Leuten zu erklären, dass sie durch Sumpfgase entstanden. Die Einwohner und Soldaten hielten jedoch an ihrem Glauben fest, es seien die Geister der Verstorbenen.

Beruhigend tätschelte er sein Pferd, das sich vor den Lichtern ebenso fürchtete wie die Soldaten, und zog vorsichtig seine Pistole hervor. Da vernahm er plötzlich Stimmen. Kinderstimmen.

Erstaunt senkte Theo die Waffe und lenkte den Rotschimmel behutsam in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Der Nebel teilte sich kurz und die Lichtpunkte waren deutlicher zu erkennen. Tatsächlich – in einiger Entfernung sah er ungefähr ein Dutzend Kinder durch das Moor stapfen. Das Kleinste trug an einem Seil befestigte Einweckgläser, in denen Talgkerzen brannten.

Von wegen Geister der Toten. Ein paar ältere, größere Kinder zogen einen zweirädrigen Karren hinter sich her. Was um Himmels willen taten sie hier draußen zu dieser späten Stunde? Vermutlich wollten sie irgendeinen Unfug anstellen. Ganz offensichtlich kannten sie sich aber gut aus und wussten, wohin sie gingen. Und das war mehr, als man von ihm behaupten konnte. „Hey!“, rief er und ritt auf sie zu. „Hey!“

Sie drehten sich um. Die Kleinen blickten ihn verängstigt an, und ein paar wollten sogar davonlaufen. Das größte Kind, ein Junge in einem langen Mantel und mit Mütze, rief ihnen mit heller Stimme nach: „Halt! Lauft nicht weg. Er ist keiner von ihnen! Bleibt hinter mir – wir wollen rausfinden, was er will!“

Keiner von ihnen. Verwundert steckte Theo die Pistole weg. Was in Teufels Namen ging hier vor sich?

Die Hände tief in den Taschen vergraben, kam der Junge misstrauisch näher. Und Theo erkannte unvermittelt, wie sehr er sich geirrt hatte. Das war kein Junge, sondern ein Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, mit zerzaustem blonden Haar, das unter der schmuddeligen Jungenmütze hervorlugte. Sie hatte eine Himmelfahrtsnase und große braune, von dichten Wimpern umrahmte Augen. Ja, sie trug tatsächlich einen sackartigen, viel zu großen alten Mantel, Männerhosen und Stiefel. Aber sie war eindeutig eine Frau, auch wenn sie sich im Gegensatz zu all den anderen Frauen, die er kannte, große Mühe gab, diese Tatsache zu verbergen.

„Was soll das heißen – ich sei keiner von ihnen?“, fragte er scharf und beugte sich aus dem Sattel zu ihr hinunter.

Herausfordernd erwiderte sie seinen Blick. Sie war auffallend attraktiv und … nur ein Mädchen vom Lande, Theo. Beherrsch dich.

„Die Kinder haben gedacht, Sie wollen uns die Stechpalmen, die wir bei Hob Hurst’s Gate gesammelt haben, wieder abnehmen“, erklärte sie und deutete auf den Karren. Theo ließ den Blick zu dem Karren schweifen und entdeckte, dass er tatsächlich randvoll mit dornigen Zweigen beladen war. „Dort hängen die schönsten Beeren dran“, fuhr sie fort. „Hewitt und seine gierigen Freunde wollen sie aber immer für sich selbst, um sie auf dem Markt in Buxton zu verkaufen. Doch sie gehören allen. Jeder Dorfbewohner hat das Recht, sie für Weihnachten zu schneiden.“

Weihnachten. Sentimentaler Unfug, dachte Theo bei sich. „Und wohin karrt ihr die kostbaren Zweige?“

Sie zögerte.

„Sagen Sie’s ihm, Miss Jenna!“, drängte eines der Kinder. Ihre anfängliche Angst war großäugiger Neugier gewichen. „Sagen Sie es ihm!“

„Na schön.“ Sie antwortete jedoch nur widerwillig, was Theo nicht entging. „Vor Weihnachten schneiden wir immer Stechpalmenzweige für alle Häuser im Dorf und für den Pestbrunnen.“

Theo stockte der Atem. „Den Pestbrunnen?“

Sie nickte mit ungerührter Miene. „Während die Pest hier wütete, blieb nur das Wasser in diesem Brunnen sauber. Daher dekorieren die Dorfbewohner zum Dank den Brunnen jedes Jahr im Dezember …“ Ihr musste aufgefallen sein, dass sich seine Augen bei dem Wort „Pest“ verengt hatten, denn sie fügte fast mitleidig hinzu: „Keine Sorge. Das ist Hunderte Jahre her. Wohin sind Sie unterwegs? Die Straße nach Buxton befindet sich in einer ganz anderen Richtung.“

„Von dort komme ich eigentlich. Aber offensichtlich habe ich mich verirrt.“

„Und wohin wollen Sie?“

Zurück nach London, in mein behagliches Stadthaus … Nein. Das nicht. Zum Teufel, der Grund dieser Reise bestand schließlich darin, London zu entfliehen! Deshalb hatte er sie ja überhaupt erst unternommen.

Theo setzte sich im Sattel zurecht; der Nebel drang unangenehm kalt durch seinen Kapuzenmantel. „Ich bin auf dem Weg nach Northcote Hall.“

Er sah die Überraschung in den Gesichtern des Mädchens und der Kinder. „Warum?“, fragte sie. „Die alte Dame ist verstorben. Außerdem hat sie sich ohnehin nie im Herrenhaus aufgehalten.“

„Ich weiß, dass sie verstorben ist“, sagte Theo milde. „Aus genau diesem Grund bin ich ja hier.“

Das Mädchen trat zurück; flackernd erhellte das Kerzenlicht ihre hohen Wangenknochen und die großen, erschrocken blickenden Augen. „Sie sind der neue Lord?“

„Ja.“ Was für ein Empfang. Seufzend holte Theo ein paar Münzen aus seiner Tasche hervor. „Hier. Zwei Schillinge. Die könnt ihr euch teilen, wenn ihr mich zum Herrenhaus bringt.“

Beim Anblick des Geldes fingen die Kinder aufgeregt an zu schnattern, aber das Mädchen Jenna reckte nur trotzig das Kinn. Theo versuchte nicht darauf zu achten, wie sich das Männerhemd unter dem offenen Mantel über ihren kleinen, vollen Brüsten spannte. „Wir wollen Ihr Geld nicht!“, verkündete sie. „Aber wenn Sie wirklich der neue Lord sind, dann sage ich Ihnen, was wir stattdessen gerne hätten: Das Versprechen, dass wir alle jeden Winter Stechpalmen bei Hob Hurst’s Gate schneiden dürfen!“

Allmählich wurde Theo ärgerlich. „Warum bittet ihr denn nicht Hob Hurst selbst darum?“ Entsetzt wichen die Kinder zurück. Himmel, was hatte er denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?

„Ihr Versprechen brauchen wir“, erwiderte das Mädchen mit fester Stimme. „Ist das zu viel verlangt?“

Ja. Ja, ganz bestimmt! Pestbrunnen, Stechpalmen, eine Schar Laternen tragender kleiner Heiden; Theo kam sich allmählich vor wie in einer völlig irrwitzigen Posse!

Und dann, ganz plötzlich, überstürzten sich die Ereignisse – mit katastrophalen Folgen. Ein schwarz-weißer Hütehund tauchte mit wütendem Gebell aus dem Nichts auf und raste auf Theo zu.

Das Mädchen lief ihm nach. „Bess!“, rief sie. „Es ist alles in Ordnung. Platz, Mädchen, Platz!“

Zu spät; das Pferd bäumte sich bereits in Panik auf. Theo wusste, die schlagenden Hufe konnten leicht mehrere kleine Kinder tödlich treffen, und gab sich größte Mühe, das Tier von ihnen abzuwenden, was ihm auch gelang. Doch dann buckelte der Rotschimmel noch einmal heftig, warf ihn aus dem Sattel und verschwand in der Dunkelheit.

Jenna rannte zu dem am Boden liegenden Mann und blickte voller Entsetzen auf ihn hinunter. „Bess“, schalt sie den Hund, der jaulend um ihn herumschnüffelte. „Oh, Bess, was hast du nur angerichtet?“

Als der Mann auf seinem großen Pferd in der Dunkelheit aufgetaucht war, hatte sie ihn für einen neuen Widersacher gehalten. Einen arroganten Mann und noch dazu ihr neuer Lord …

Er war vom Pferd gefallen, mehr nicht. So groß und stark, wie er war, würde er sich von dem Sturz gewiss schnell erholen. Und dann würde er sich hier wie ein König aufführen und über ihr aller Leben bestimmen, wie Adelige das immer taten.

Aber … sein Gesicht. Das vergaß man nicht so leicht – die lange, gerade Nase und der Mund, der, wenn er lächelte, sicher jeden bezauberte. Sein Haar war dunkel und widerspenstig; ein Bartschatten lag auf seinen schmalen Wangen und …

Und Männer bedeuteten immer Ärger. Am besten ging man ihnen um jeden Preis aus dem Weg. Sie widerstand dem unerklärlichen Drang, ihm das dunkle Haar aus der Stirn zu streichen, und wandte sich mit fester Stimme den Kindern zu. „Jed und Simkin, ihr helft mir, ihn auf den Karren zu heben. Ihr anderen nehmt die Stechpalmenzweige heraus – vorsichtig! – und bringt sie ins Dorf.“

„Was haben Sie denn mit ihm vor, Miss Jenna?“

„Ich werde ihn natürlich nach Northcote Hall bringen.“

Wo man ihn erwartete. Das wusste sie nur zu gut.

Eine holprige Fahrt in einem Karren konnte dem Neuankömmling wohl nicht schaden und würde ihn dorthin bringen, wo er hingehörte.

2. KAPITEL

Theo verspürte ein sehr hartes, sehr unbequemes Rütteln und Holpern im Rücken. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er auf einem Handkarren lag und in den Vorhof eines alten Herrenhauses gebracht wurde.

Ach du lieber Himmel! Das Gut war völlig heruntergekommen, wie er dank einiger schwach erleuchteter Fenster erkennen konnte. Uralte Schornsteine scharten sich auf steilen Giebeldächern und dichter Efeu rankte wild wuchernd an einem alten Steinturm hinauf.

Die Erinnerung flutete zurück. Die Kinder. Das Mädchen Jenna – eine Landpomeranze im Männermantel und sichtlich wütend auf ihn. Der bellende Hund, der aus den Büschen schoss, worauf sein Pferd ihn abgeworfen hatte.

Er rappelte sich auf. Das Mädchen sagte mit klarer Stimme: „Da sind wir, Mylord. Northcote Hall.“

Theo hievte sich vom Karren, streckte die Glieder, um sich zu vergewissern, dass er sich nichts gebrochen hatte, und betastete vorsichtig die Beule an seinem Hinterkopf. Soweit er erkennen konnte, waren die Kinder mitsamt ihren Laternen und abgeschnittenen Zweigen inzwischen verschwunden. Nur einer der jungen Kerle lungerte noch neben dem Karren herum. Und das Mädchen natürlich und – der Hund.

Dieser verflixte Hund.

Das Mädchen hatte offenbar seine Gedanken an seiner Miene abgelesen, denn sie sagte: „Das mit Bess tut mir leid – sie hat gedacht, Sie würden uns bedrohen, wissen Sie. Aber wir haben Sie sicher hierher gebracht, und deshalb werden Sie Ihr Versprechen doch jetzt auch einhalten?“

Theo schwirrte der Kopf. Zögernd sagte er: „Das hängt davon ab, was …“

Sofort veränderte sich ihre Miene. Ein empörter Ausdruck trat in ihre Augen und sie ballte die Fäuste. „Sie wollen Ihr Wort brechen!“

„Schon gut“, sagte er kurz angebunden. Er wusste nicht einmal, was er versprochen haben sollte, falls er überhaupt etwas versprochen hatte. Dumpf erinnerte er sich, dass es irgendwie um Stechpalmenzweige gegangen war, oder Brunnen oder irgendetwas ähnlich Ländliches. „Schon gut.“

Er vernahm, wie sich die große Eingangstür öffnete, und drehte den Kopf. Der Hund – Bess – knurrte leise. Stirnrunzelnd griff Theo nach seiner Pistole und beobachtete, wie ein schwarzbärtiger Mann in grober Kleidung in den Hof hinaus trat.

„Was zum Donnerwetter … Herrgott noch mal, du bist das!“ Er blickte das Mädchen finster an. „Was zum Teufel willst du denn hier?“

Das Mädchen verharrte reglos, bleich aber stolz. Der Hund drängte sich wachsam an ihre Seite. „Ich bringe Ihnen jemanden“, antwortete sie. „Jemanden, den Sie erwartet haben, Hewitt.“

Theo runzelte die Stirn. Das Mädchen kannte und verachtete Hewitt ganz offensichtlich, und nun wurde der Mann wiederum aschfahl. „Zur Hölle, doch nicht etwa Lord Dalbury!“

Theo trat nach vorn, um ihm mit einem vernichtenden Blick Respekt einzuflößen. „Ja, ganz genau. Und wer in Dreiteufelsnamen sind Sie?“

Die Antwort übernahm das Mädchen für ihn. Zornerfüllt drehte sie sich zu Theo um: „Das ist Joseph Hewitt; er verwaltet angeblich Northcote Hall. Was auch erklärt, weshalb das Anwesen so heruntergekommen ist, Mylord.“

In Hewitts Miene spiegelte sich Wut. „Du kleines …“

Theo brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen und wandte sich dem Mädchen zu. „Und Sie sind?“ Schon seit einer Weile war ihm aufgefallen, dass sie sich für ein Mädchen vom Land außergewöhnlich gewählt ausdrücken konnte.

„Ich bin Jenna Brook“, antwortete sie mit fester Stimme. „Ich lebe mit meiner Mutter in Northcote Village, eine halbe Meile von hier.“

„Und sie ist eine verfluchte Unruhestifterin“, murmelte Hewitt.

Mit blitzenden Augen blickte sie den Mann an. „Ich habe mit Seiner Lordschaft geredet, Hewitt. Er bestätigt übrigens, was ich Ihnen schon immer gesagt habe: Das Land bei Hob Hurst’s Gate gehört der Allgemeinheit. Jeder hat das Recht, für das Weihnachtsfest dort Stechpalmen zu schneiden! Ist Aggie hier?“

Im selben Augenblick kam eine füllige, grauhaarige Frau mit einer riesigen Schürze über dem Kleid und einer weißen Haube auf dem Kopf aus dem Haus gelaufen. „Miss Jenna, ich hab Bess gehört und … oh!“

Ihr Blick fiel auf Theo.

„Lord Dalbury“, sagte Jenna rasch, „das ist Aggie, die Haushälterin. Aggie, du wirst dich doch gut um Seine Lordschaft kümmern, nicht wahr?“

Die Haushälterin knickste errötend. „Oh, Mylord! Herzlich willkommen. Wenn Sie mir bitte folgen würden …“

Theo heftete sich an ihre Fersen, doch er warf dem Mädchen noch einen letzten Blick zu und bemerkte, dass sie wieder mit Hewitt angefangen hatte zu zanken.

„Sie haben gewusst, dass er kommt“, beschuldigte sie den Verwalter. „Trotzdem haben Sie sich auf Ihrer faulen Haut ausgeruht und der armen Aggie das Leben schwer gemacht, als sie hier für ein wenig Gemütlichkeit sorgen wollte …“

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass er tatsächlich mitten im Winter hier aufkreuzen würde!“, murmelte Hewitt. „Ich hab gedacht, du und Aggie wolltet mir mal wieder einen Streich spielen und hab angenommen, der Brief Seiner Lordschaft käme von euch!“

„Wenn Sie jemals richtig lesen gelernt hätten, dann hätten Sie auch ganz genau gewusst, was in dem Brief steht. Und ich hoffe, Seine Lordschaft findet schon bald heraus, was für ein unglaublicher Lump Sie sind“, erwiderte Jenna zornig und ging zu dem wartenden Jungen hinüber.

Gemeinsam zogen sie den Karren aus dem Hof auf die Straße und gingen davon. Der schwarz-weiße Hund trottete hinter ihnen her.

Was da wohl dahintersteckt? dachte Theo und grübelte darüber, warum das Mädchen so aufgebracht, ja, geradezu autoritär mit Hewitt umgesprungen war. In der Halle nahm er sich die Zeit, sich ein wenig umzusehen, und ließ den Blick über die gewölbte Decke und den Steinboden schweifen. Es war kühl und auch ganz eindeutig feucht. Die wenigen brennenden Kerzen erleuchteten Möbel und Wandteppiche, die so alt und schäbig wirkten wie das Gebäude selbst.

Aggie sagte befangen: „Ich hab es so sauber gehalten, wie ich konnte, Mylord! Aber das ist ziemlich schwierig … Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, ich werde schnell den Kamin in Ihrem Schlafgemach anheizen.“ Nach diesen Worten eilte sie die große Treppe hinauf.

„So eine Unverschämtheit.“ Hewitt schlenderte mit mürrischer Miene herein. Der Geruch von Tabak und Brandy drang aus seinen Poren. „Dieses Mädchen, Jenna, sie stiftet ständig Unruhe im Dorf, Mylord“, sagte er. „Ihre Mutter ist Ausländerin; sie kommt aus Deutschland.“

„Aus Deutschland?“, fragte Theo überrascht.

„Ja. Kam her, um sich zu nehmen, was sie kriegen kann.“ Hewitt sprach nun lauter. „Sie war eine kleine Hure und ihre Tochter schlägt denselben Weg ein. Sie sollten kein Wort glauben, das aus ihrem Mund kommt!“

„Ich will Feuer in den Kaminen, Hewitt“, unterbrach Theo ihn unwirsch. „Hier ist es eiskalt. Und Sie sind der Verwalter, nicht wahr? Ich möchte die Haushaltsbücher sehen, und zwar sofort. Einschließlich der Pachtbücher.“

„Jetzt? Aber …“

„Sofort, bitte.“

Leise grummelnd trottete Hewitt davon.

Kurz darauf kam Aggie wieder herunter. Im Gegensatz zu Hewitt war sie eifrig bemüht, ihm alles recht zu machen. „So, jetzt wird es in Ihrem Schlafgemach bald schön warm sein, Mylord. Soll ich Ihnen einen Imbiss im Speisezimmer anrichten? Ich könnte Suppe aufwärmen, und vielleicht möchten Sie kalte Lammpastete dazu?“

„Das klingt wunderbar“, sagte Theo. „Danke. Hat sich Lady Hasledene denn nie auf dem Anwesen aufgehalten?“

„Nein, Mylord“, antwortete Aggie. „In den ganzen vergangenen zehn Jahren nicht. Nur ihr Anwalt hat sich ab und zu sehen lassen. Deshalb ist es auch so … Nun ja, die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten.“

Sie führte ihn zu seinem Schlafgemach hinauf – einem kalten Zimmer mit dunkel verkleideten Wänden, das fast völlig von einem antiken Himmelbett eingenommen wurde. Hastig huschte sie umher und zündete Kerzen an. „Ist Ihnen das Zimmer recht, Sir?“, fragte sie beklommen.

Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Ich hab schon an schlimmeren Orten übernachtet, Aggie, das können Sie mir glauben.“

„Wir haben gehört, dass Sie Offizier in der Armee waren, Mylord. Aber …“ Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr, „… waren Sie mit der alten Dame eng verwandt? Wir wussten gar nicht, dass sie Familie hatte.“

„Die hatte sie auch nicht“, sagte Theo. „Aber sie war mit meinem Vater bekannt.“ Er streifte den dicken Mantel ab und legte ihn über einen Stuhl.

„Aha, verstehe, Mylord.“ Aggie ging nach unten. Entgegen ihrer Worte verstand sie offensichtlich rein gar nichts. Und damit war sie nicht die Einzige, denn auch Theo hatten die Geschehnisse der vergangenen Wochen verblüfft.

Kurz gesagt: Nachdem Theo mit seinem Freund Gilly nach England zurückgekehrt war, hatte er festgestellt, dass ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen worden war, und zwar von einer exzentrischen, sehr alten aristokratischen Jungfer namens Lady Hasledene. Sie war keine Blutsverwandte, allerdings die Patin von Theos lang verstorbenem Schwerenöter von einem Vater.

Theo selbst hatte Lady Hasledene nur einmal in einem seiner Diensturlaube getroffen. Damals weilte er in London und sie hatte ihn um einen Besuch in ihrem Stadthaus am Grosvenor Square gebeten. Entweder er oder seine Uniform musste dabei großen Eindruck auf sie gemacht haben. Denn nun gehörte das Stadthaus ihm, zusammen mit einem ansehnlichen Vermögen und diesem Anwesen in Derbyshire namens Northcote Hall. Ihr Testament verfügte ganz klar:

Für Theo, den Sohn meines Patenkindes, der ganz eindeutig alle Eigenschaften besitzt, die ein englischer Gentleman vorweisen sollte …

Ein englischer Gentleman? Theo hielt sich eher für einen typischen Soldaten. Wie bei vielen seiner Kameraden hatte die Tatsache, dem Tod ständig ins Auge blicken zu müssen, dazu geführt, dass er einen ungezügelten Lebensstil pflegte, vor allem, was Geld und Frauen anbetraf. Da er kein großes Vermögen besaß, war es ihm mit der Ehe nie eilig gewesen. Eigentlich hatte er im kommenden Frühjahr wieder auf Reisen gehen wollen, aber nun …

Nun war alles anders. Er wusch sich rasch und ging anschließend wieder nach unten, um allein an dem großen Eichentisch vor dem schwach glimmenden Holzfeuer zu speisen. Nach einer Weile kam Aggie zum Abräumen und fragte ihn, ob sie noch etwas für ihn tun könne. Er warf einen Blick auf die schmuddeligen Haushaltsbücher, die vermutlich Hewitt für ihn auf den Tisch gelegt hatte, und antwortete: „Ja, ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Wer ist das Mädchen, das mich hergebracht hat?“

Sofort versteifte sich Aggie. „Nur ein Mädchen aus dem Dorf, Mylord. Ein gutes Mädchen, gleich, was Hewitt über sie behauptet!“

„Warum verabscheuen sie und Hewitt sich so sehr?“

Wieder zögerte sie, bevor sie antwortete. „Mr. Hewitt, Mylord, hat er Ihnen etwas erzählt?“

Ja, dass sie die Tochter einer Hure sei und denselben Weg einschlagen würde wie ihre Mutter … „Was soll er denn gesagt haben?“, fragte Theo bemüht gleichgültig.

„Ich bezweifle, dass er Ihnen die Wahrheit erzählen würde, Mylord“, antwortete Aggie grimmig. „Tatsache ist, dass Miss Jennas Mutter früher einmal Haushälterin in Northcote Hall gewesen ist. Aber als der alte Lord vor zehn Jahren gestorben ist, hat Hewitt Miss Jenna und ihre liebe Mutter hinausgeworfen! Lord Northcote hat immer dafür gesorgt, dass Hewitt sich nicht zu viel herausnahm und ihn in seine Schranken gewiesen, verstehen Sie. Aber nach seinem Tod gab es für Hewitt kein Halten mehr. Miss Jenna war so ein reizendes kleines Mädchen. Ich bin früher hier Köchin gewesen, Mylord, bis ich die Stelle der Haushälterin übernommen habe. Und mein Sohn Rob – ein guter Kerl, aber ein wenig langsam, Mylord – erledigt die schweren Arbeiten. Ich wüsste nicht, wo wir hingehen sollten, falls …“

„Sie werden Ihre Stellung nicht verlieren, Aggie“, versicherte Theo.

„Aber Mr. Hewitt …“

„Ich denke“, unterbrach Theo mit eisiger Stimme, „dass ich in dieser Angelegenheit mehr zu sagen habe als er.“

„Das will ich hoffen, Mylord“, antwortete Aggie. „Das hoffe ich sogar sehr! Ich habe gehört, Ihr Pferd ist weggelaufen. Mein Rob wird es gleich morgen früh für Sie einfangen, keine Sorge!“

Beim Gedanken an das endlos weite, verlassene Moor hob Theo die Augenbrauen. Aggie bedachte ihn mit zögerndem Lächeln, knickste und verließ, die Arme voller Geschirr, das Zimmer.

Theo nahm sein Brandyglas, setzte sich vor den Kamin und gab sich seinen Gedanken hin. Jennas Mutter war also Lord Northcotes Haushälterin gewesen und eine Ausländerin. Ihre deutsche Herkunft erklärte vielleicht in gewisser Weise, warum das Mädchen ihn derart verwirrte.

Schon beim ersten Anblick, als sie in Stiefeln und dem langen Männermantel durch den Schlamm gestapft war, das blonde Haar ungebändigt über den Schultern, hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt. Besonders ihr ausdrucksstarkes Gesicht, das so zornig und doch so verletzlich wirkte, bezauberte ihn.

Allerdings war sie nur eine junge Frau vom Land, die sich etwas darauf einbildete, dass ihre Mutter Haushälterin im Herrenhaus gewesen war. Aber dennoch – wie konnte Lady Hasledene die Verwaltung von Northcote Hall einem Mann wie Hewitt anvertrauen?

Warum hatte sie ausgerechnet ihm – Theo – ihr Vermögen und diesen alten, steinernen Kasten hinterlassen, den sie nicht einmal besuchen wollte?

Weil sie so launisch und exzentrisch war, wie es wahrhaft reiche Leute nun mal sind. Deshalb. In den vergangenen Monaten hatte Theo schnell herausgefunden, dass die Welt ganz anders aussah, wenn man Geld besaß … aber nicht unbedingt besser. Vorher hatte er keine Sorgen gehabt. Nun war er reich, besaß ein gut investiertes Vermögen, ein Stadthaus in London mit zahlreichen Dienstboten und wurde von Speichelleckern und Bettlern geradezu belagert.

Was die Frauen anbelangte – nun, Theo und sein Freund Gilly hatten so manches Herz gebrochen, daran bestand kein Zweifel. Die Ehe von Theos Eltern war nicht sehr glücklich verlaufen. Sein Vater hatte seine Mutter durch seine Trunksucht, seine Hurerei und das Verspielen seines Vermögens früh ins Grab gebracht.

Für mich kommt eine Heirat nicht infrage, hatte sich Theo deshalb immer geschworen. Zumindest solange nicht, bis ich mir die Hörner ausreichend abgestoßen habe.

Seit September konnte er sich jedoch die heiratswilligen Damen und ihre hartnäckigen Mütter kaum noch vom Hals halten. Gilly hatte ihm einen praktischen Ratschlag gegeben: „Sag ihnen einfach, dass du nicht zu haben bist, alter Junge. Geh diesen Frauen aus dem Weg. Du hast ja noch bis zum Frühjahr Zeit, ehe die Saison richtig anfängt.“

Im Herbst hatte Theo jedoch auf unangenehme Weise herausgefunden, dass einige eifrige Eltern das Debüt ihrer Töchter einfach vorverlegten, um sich einen Vorteil vor den Debütantinnen des Frühjahrs zu verschaffen. All diese Damen im heiratsfähigen Alter hatten ein Auge auf Theo geworfen. Und die Schlimmste von allen war Lady Celia.

Törichterweise hatte er sich dazu überreden lassen, den Novemberball ihrer Eltern zu besuchen. Noch törichter war allerdings, dass er den Fehler begangen hatte, diese geistlose, affektierte junge Dame in den Wintergarten zu begleiten, angeblich um nach ihrer vermissten Katze zu suchen. Ausgerechnet eine Katze! Er verabscheute Katzen. Dann hatte sie plötzlich behauptet, ihr Kleid hätte sich verfangen, und ihn gebeten, es wieder zu richten. An diesem Punkt hatte Theo beschlossen, sich sehr hastig aus dem Staub zu machen – und im selben Moment war Lady Celias Mutter hereingeplatzt und …

„Ich reise nach Derbyshire“, hatte er Gilly später an diesem Abend verkündet, während sie missmutig bei einem Glas Brandy zusammensaßen.

„Derbyshire!“ Sein Freund hatte entsetzt gewirkt. „An diesen trostlosen, hinterwäldlerischen Ort! Warum denn um Himmels willen, Theo? Oder kann man dort gut jagen?“

„Ich habe kein Interesse an der Jagd.“ Theo zuckte die Schultern. „Ich hab ein Anwesen dort, sagt man mir jedenfalls. Außerdem ist Derbyshire sehr, sehr weit entfernt von London.“

Gilly runzelte die Stirn. Gleich darauf leuchtete sein Gesicht auf. „Indien ist auch sehr weit von London entfernt. Wie wär’s stattdessen mit Indien?“

Theo hatte widerstrebend abgelehnt. „Vorher sollte ich dennoch besser mal auf dem Anwesen in Derbyshire nach dem Rechten sehen.“

Nun war er also da, und je eher er die Angelegenheiten hier in Ordnung gebracht hatte, desto eher konnte er dieses verfallene Relikt von einem Haus wieder verlassen. Als Aggie sich erkundigte, ob er noch etwas benötigte, sagte er ihr deshalb, dass er eine Weile beim Feuer sitzen und die Bücher prüfen wolle.

„Wo ist Hewitt?“, fragte er. „Ich würde gerne die Eintragungen mit ihm durchgehen.“

Sie antwortete nur zögernd. „In der Bierschenke im Dorf, Mylord. Dort geht er gewöhnlich gegen neun Uhr hin. Er wird bald zurückkommen, aber …“

Dann würde er betrunken sein, nahm Theo an, und ganz gewiss nicht in der Lage, irgendetwas zu besprechen. „Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche, Aggie. Bis morgen früh.“

„Dann eine gute Nacht, Mylord.“

Eine gute Nacht? Theo hätte lieber mit Wellingtons Armee in den Bergen von Spanien campiert, aber immerhin war er weit entfernt von London und Lady Celia.

Mit grimmiger Miene wandte er sich wieder den Haushaltsbüchern zu. Seine Konzentration ließ jedoch zu wünschen übrig, denn immer wieder tauchte Jennas Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Sie faszinierte ihn, und zwar nicht nur, weil sie schön war. Sie weckte auch Theos Neugier.

Ihre verschiedenen Besorgungen hatten Jenna lange aufgehalten und die Nacht war schon hereingebrochen, als sie sich auf den Weg nach Northcote Village machte – allein. Viele Gedanken beschäftigten sie, während sie den vertrauten Weg nach Hause lief.

Jenna hatte so sehr gehofft, dass die Ankunft des neuen Lords in Northcote Hall altes Unrecht wieder gut machen würde. Aber das war dumm von ihr gewesen. Ebenso dumm wie das flatterige Gefühl in ihrem Bauch, das in ihr aufgestiegen war, als sie Lord Dalbury nach seinem Sturz vom Pferd am Boden liegen sah. Sie hatte Mitleid verspürt und noch etwas anderes – eine unbestimmte Angst –, als sie ihn mit Jeds und Simkins Hilfe auf den Karren gehievt hatte.

Er war so groß, so männlich. Ja, definitiv ein gutaussehender Mann, und die Herzen der Mädchen im Dorf würden ihm gewiss zufliegen. Aber Seine Lordschaft würde Northcote Hall zweifellos so bald wie möglich den Rücken kehren. Warum sollte er auch bleiben? Außerdem bedeuteten Männer nichts als Ärger – wie das Schicksal ihrer armen Mutter zur Genüge bewies.

Fast war sie zu Hause angelangt. Das Cottage lag ein wenig abseits von der Straße und es gab einen Garten mit Gemüse und einigen Apfelbäumen, in dem sie auch ihre Hühner hielten. Die Eier und das Gemüse brachten ihnen, zusammen mit den wunderschönen Handarbeiten ihrer Mutter, genug ein, um für ihren Unterhalt aufzukommen. Seit zehn Jahren lebten sie nun schon dort und sie hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden …

Unvermittelt schreckte sie auf. Lieber Himmel, die Luft roch nach Rauch. Dann sah sie die Flammen hinter den Bäumen auflodern. Sofort fing sie an zu laufen.

Denn die Flammen, deren heller goldener Schein sie nun ganz deutlich wahrnehmen konnte, schlugen prasselnd aus dem, was von ihrem Zuhause noch übrig war.

3. KAPITEL

Um elf Uhr gab Theo das Warten auf Hewitt auf und ging zu Bett. Fast sofort schlief er ein, doch eine kurze Weile später wachte er wieder auf und fragte sich benommen, wo in aller Welt er sich befand. Dann fiel es ihm wieder ein: Northcote Hall, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, dort war er. Aber was zum Teufel hatte dieser Lärm im Hof zu bedeuten? Er blickte auf seine Uhr. Halb zwölf. Sein Kopf schmerzte immer noch von dem Sturz, doch entschlossen, herauszufinden, was da vor sich ging, stieg er in seine Hose und lief zum Fenster.

Hewitt. Er und seine Freunde veranstalteten diesen Höllenlärm, ganz offensichtlich waren sie betrunken. Dann entdeckte er das Mädchen. Jenna.

Sie trug wieder den Männermantel. Der fahle Mondschein fiel auf ihr langes, offenes blondes Haar. Sie hatte die Hände geballt und stritt mit den Männern – mit allen fünf.

„Ich habe auf Sie gewartet, Hewitt“, hörte er sie sagen. Sie sagte noch mehr, aber Theo konnte es nicht genau verstehen. Irgendetwas über ihre Mutter und ihr Cottage …

„Du bist also hergekommen, um dich an Seine feine Lordschaft ranzumachen, was?“, stichelte Hewitt. Seine laute Stimme drang klar verständlich zu Theo hoch. „Vermutlich hast du schon dieselben schmutzigen Tricks auf Lager wie deine Mutter, od…?“

Abrupt brach er ab. Das Mädchen hatte sich auf ihn gestürzt und ihn geschlagen. Und sie hätte ihn wieder geschlagen, wenn Hewitts Kumpane sie nicht zurückgezogen hätten, dachte Theo, während er rasch sein Hemd zuknöpfte.

„Sie sind ein übler, einfältiger Mensch, Hewitt!“, schrie sie und wehrte sich heftig gegen die Griffe seiner Kameraden. „Und ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie damit nicht durchkommen werden!“

„Oh, ich werde alles abstreiten, meine Hübsche“, hörte Theo ihn in drohendem Ton erwidern. „Und jetzt werde ich dir zeigen, was mit dir passiert, wenn du dich für was Besseres hältst …“

„Nein! Fassen Sie mich ja nicht an!“

Aber Hewitt war bereits dabei, sich den Mantel auszuziehen, und seine Freunde hielten sie grinsend noch fester.

Gute Güte. Das Mädchen stand im Begriff, vergewaltigt zu werden! Eilig zog Theo die Stiefel an und rannte die Treppe hinunter und hinaus in den Hof. „Sagen Sie Ihren Freunden, Sie sollen sofort Miss Brook loslassen, Hewitt“, stieß er atemlos hervor.

Hewitts Männer waren bereits zurückgewichen, doch Hewitt war ein sturer Bock. „Sie fordert es doch förmlich heraus, Mylord! Sie hat hier auf mich gewartet …“

„Sie hat darauf gewartet, sich von Ihnen belästigen zu lassen? Und das soll ich glauben? Verschwinden Sie von hier, Sie alle!“ Hewitts Freunde schlichen bereits auf ihre angebundenen Pferde zu, doch Hewitt war viel zu betrunken und in seinem Rausch gefährlich. Theo erkannte sofort, dass er wütend war und überlegte, ob er seinem neuen Herrn die Stirn bieten sollte.

„Ich meine es ernst, Hewitt“, sagte Theo warnend. „Ich will, dass Sie hier verschwinden, auf Nimmerwiedersehen. Sie sind hiermit entlassen.“

„Das können Sie nicht machen!“ Hewitt musterte ihn mit zornigem Blick, die Fäuste bereits geballt. „Sie eingebildeter, feiner Pinkel, Sie …“

Theo verpasste ihm einen so heftigen Faustschlag, dass Hewitt zu Boden ging. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, waren seine Freunde bereits auf und davon, in der Dunkelheit verschwunden. Hewitt rieb sich das schmerzende Kinn und murmelte: „Meine Sachen …“

„Ich werde sie in den Hof stellen lassen“, sagte Theo schroff. „Sie können morgen kommen und sie abholen, falls Sie sich trauen.“

Schwer atmend und den Mann stumm zum Teufel wünschend, sah Theo dem davonreitenden Hewitt nach, bis ihm unvermittelt bewusst wurde, dass Jenna immer noch neben ihm stand und ihn aufmerksam beobachtete.

„Er kämpft mit fiesen Tricks“, sagte sie tonlos. „Nehmen Sie sich in Acht.“

„Um Himmels willen“, erwiderte Theo verärgert. „Sie glauben doch nicht etwa, dass ich Angst vor ihm habe? Was wollten Sie um diese Zeit überhaupt noch hier? Kein Wunder, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten!“

„Ich bin hergekommen, um ihn zur Rede zu stellen. Er hat unser Haus niedergebrannt.“ Sie blickte herausfordernd zu Theo hoch.

„Er hat was?“

„Er hat das Cottage in Brand gesteckt. Ich bin hergekommen, um ihm zu sagen, dass ich weiß, er steckt dahinter. Aber vermutlich interessiert das eh niemanden.“

„Sind Sie sicher, dass er dafür verantwortlich ist?“

Sie runzelte die Stirn. „Wer sonst? Aber ich habe keine Beweise – dafür ist er zu gerissen.“

Theo konnte sich vorstellen, dass ihre Vermutung zutraf, aber es würde schwer werden, sie zu beweisen. Zumindest war ihr ein wenig Gerechtigkeit widerfahren, weil dieser Schuft sein Heim und seinen Lebensunterhalt nun ebenfalls verloren hatte. „Wie ich hörte, ist Ihre Mutter früher hier Haushälterin gewesen …“

Sofort versteifte sie sich wieder. „Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Aggie. Sie sagte, Ihre Mutter wurde nach Lord Northcotes Tod vor zehn Jahren entlassen. Sicher hätte Lady Hasledene nicht gewollt, dass sie ihre Stellung und ihr Heim verliert, oder?“

Jenna zuckte die Schultern. „Lady Hasledene wusste vermutlich nicht einmal, dass es meine Mutter gibt. Meine Mutter wurde entlassen und Hewitt übernahm das Regiment.“

Ihr zu weiter Mantel fiel auseinander und Theo stach erneut ins Auge, wie zierlich sie in dem weiten Hemd und der Hose wirkte. Das schwache Licht aus den Fenstern fiel auf ihre bleichen Wangen und betonte die dunklen, dichten Wimpern …

Hewitt hatte behauptet, ihre Mutter sei eine Hure gewesen und Jenna würde denselben Weg einschlagen. Die Bemerkung erregte Theos Neugier, doch er bezwang sie sofort.

Die junge Frau bedeutete ganz klar Ärger. Außerdem war es verflixt kalt hier draußen, besonders wenn das eigene Heim gerade niedergebrannt war. „Was wird nun aus Ihnen? Wo werden Sie und Ihre Mutter leben?“

„Wir sind bei einem Nachbarn untergekommen.“

„Sind Sie den ganzen Weg hierher gelaufen?“

„Ja, und ich laufe auch wieder zurück.“ Sie knöpfte ihren Mantel zu. „Meine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen.“

Kein Wunder. Verflucht, er war nicht hergekommen, um sich neue Probleme aufzuhalsen. In knappem Ton sagte er: „Richten Sie ihr aus, dass ich vor meiner Abreise eine neue Unterkunft für Sie beide finden werde.“

Ihr Blick flog zu ihm. „Sie reisen ab?“

„Ja, sehr bald.“

„Noch vor Weihnachten?“

„Wahrscheinlich.“ Ganz sicherlich. „Aber Ihnen wird es dennoch gut gehen“, versicherte er.

Sie sah ihn an, als wolle sie fragen: Und woher in aller Welt wollen Sie das wissen? Dann zuckte sie wieder die Schultern und verschwand mit schnellen Schritten in der Nacht.

Verdammt. So spät sollte sie nicht allein unterwegs sein, aber ganz offensichtlich war er der Letzte, den sie in ihrer Nähe wissen wollte. Unvermittelt bemerkte Theo einen jungen, kräftigen Mann, der mit besorgtem Blick aus dem Haus gelaufen kam.

„Rob?“, fragte er schroff.

„Ja, Mylord. Das bin ich.“

„Geh Miss Brook nach, bitte. Sieh zu, dass ihr nichts passiert.“

Rob nickte und lief davon. Gedankenverloren ging Theo in sein Zimmer zurück. Der Ausdruck in Jennas Gesicht, als er ihr von seiner Abreise erzählte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.

Zum Teufel, warum fühlte er sich so schuldig? In einigen Tagen hätte er die Angelegenheiten hier sicher geregelt. Ein erster Schritt war bereits gemacht, indem er Hewitt gefeuert hatte. Weihnachten – immerzu redeten alle davon, aber für Theo war Weihnachten eine Tortur, die man am besten so schnell wie möglich hinter sich brachte. Das Fest weckte viel zu viele schmerzvolle Erinnerungen.

Er wünschte, er wäre mit Gilly nach Indien gefahren. Das wäre weitaus besser für seinen Seelenfrieden gewesen.

Jenna lief eilig nach Hause. Nach Hause? Sie hatte kein Zuhause mehr. Ihre ganze Welt war eingestürzt. Vom ersten Augenblick an war ihr klar gewesen, dass nur Hewitt das Feuer gelegt haben konnte, weil er sich für ihre Bemerkung zu Lord Dalbury rächen wollte. Trotz ihrer Angst musste sie jedoch stark bleiben. Männer wie er ergötzten sich an der Furcht der anderen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es das Beste gewesen war, ihn vor dem Herrenhaus zur Rede zu stellen. Allerdings hatte sie auch dummerweise die schwache Hoffnung gehegt, dass nun alles besser werden würde. Aber nein.

Hewitt war zwar entlassen worden, aber Lord Dalbury wollte nicht bleiben. Und … irgendjemand folgte ihr. Mit wild trommelndem Herzen wirbelte sie herum. „Rob! Oh, Rob. Zum Glück bist es nur du.“

„Seine Lordschaft hat mir aufgetragen, dir zu folgen, Jenna!“ Rob war ein Freund, ein Spielkamerad aus ihrer Kindheit. „Er hat sich Sorgen um dich gemacht. Er scheint nett zu sein. Vielleicht wird ja jetzt alles besser für uns!“

„Wie denn, Rob?“ Verzweifelt blickte sie ihn an. „Wie soll es denn besser werden, wenn er abreisen will?“

Ihre Mutter wartete bereits mit tränenüberströmten Wangen und voller Angst in dem Schuppen, den ein Nachbar ihnen als Unterschlupf zur Verfügung gestellt hatte. Jenna beruhigte sie rasch. „Alles wird gut, Mama.“ Bald schon war ihre Mutter auf der alten Strohmatratze in der Ecke eingeschlafen.

Jenna hingegen lag noch lange wach, aufgewühlt und die Gedanken in Aufruhr. Lord Dalbury wollte sie wieder verlassen – außerdem hatte er in gewisser Weise unwissentlich dafür gesorgt, dass sie sich in einem noch größeren Schlamassel befand als zuvor. Denn ihretwegen hatte Hewitt seine Stellung verloren, und dafür würde er sich ganz gewiss rächen wollen.

4. KAPITEL

Was in Gottes Namen ist das? Theo fuhr abrupt aus dem Bett hoch, ging zum Fenster und zog die abgenutzten Vorhänge zurück. Die Kirchenglocken – zwar eine halbe Meile entfernt, aber weithin hörbar – läuteten zur Messe. Es war zwar Sonntag, aber so wie es aussah, würde er hier niemals ausschlafen können.

Er ging zum Waschtisch, wusch sich mit dem kalten Wasser und fragte sich, was Gilly und seine anderen Freunde in London wohl gerade trieben. Vermutlich hatten sie sich vor Kurzem erst ins Bett begeben, nachdem sie den Samstagabend in diversen vergnüglichen Etablissements verbracht hatten.

„Gehen Sie zur Kirche, Lord Dalbury?“, fragte Aggie schüchtern, als sie ihm ein wenig später im Speisezimmer gebratenen Speck und Eier servierte. „Die Dorfbewohner können es kaum erwarten, Sie kennenzulernen, und freuen sich schon darauf.“

Das könnte sich schnell ändern, wenn sie erfahren, dass ich diesem verfallenen alten Haus so schnell wie möglich den Rücken zukehren will, dachte Theo.

Rob hatte zwar wundersamerweise Theos Mietpferd wieder gefunden – auf dem Farmgelände eines Pächters –, aber Theo beschloss dennoch, zu Fuß zur Kirche zu gehen, um sich in der Umgebung umzusehen. Er stahl sich in eine der hinteren Bänke, gerade als das erste Lied gesungen wurde.

Ob Jenna unter den Kirchgängern weilte? Sein Blick glitt während der Messe immer wieder über die Gläubigen, doch er entdeckte sie nicht. Das war indes verständlich. Wenn einem gerade erst das Haus abgebrannt war, würde man Gott am nächsten Morgen wohl nicht unbedingt dafür danken wollen, vermutete er.

Kaum dass der letzte Segen ausgesprochen war, verließ er die Kirche und spazierte über den dahinterliegenden alten Friedhof. Vor Lord Northcotes Grab blieb er stehen. Theo wusste bereits, dass der alte Lord nicht verheiratet gewesen war und keine Kinder oder Verwandten hatte außer seiner entfernten Cousine Lady Hasledene. Umso mehr verwunderte ihn das, was er sah … Theo bückte sich, um das frische Gebinde aus Stechpalmen und Efeuzweigen auf dem Grabmal näher in Augenschein zu nehmen. Zwischen den grünen Zweigen wand sich Winterjasmin. Die kleinen gelben Blüten verbreiteten einen süßen Duft in der grauen Winterluft.

Die Gemeinde strömte inzwischen aus der Kirche. Der Vikar und die etwas betuchteren Einwohner eilten zu ihm hinüber, um den neuen Lord von Northcote Hall zu begrüßen. Die anderen beäugten ihn nur aus der Ferne. Plötzlich sah er Jenna mit ihrer Mutter aus der Kirche treten. Die Ähnlichkeit war verblüffend; sie zeigten dieselbe stolze Haltung, die gleichen hohen Wangenknochen, doch in Augen- und Mundwinkel der Mutter hatten sich tiefe Sorgenfalten gegraben.

Jenna sagte etwas zu ihr, beschwichtigte sie. Falls sie ihn gesehen hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie zu einer kleinen Gruppe Frauen hinüber. Ihre Mutter, die frühere Haushälterin von Northcote Hall, blieb an der Kirchenmauer stehen. Sie wirkte so zerbrechlich, dass Theo den Eindruck gewann, der leiseste Lufthauch könne sie ohne Mühe wegwehen.

Kurz entschlossen ging er zu ihr hinüber. „Ich habe mit Bedauern von dem Brand in Ihrem Haus vernommen“, sagte er.

„Lord Dalbury?“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Sie müssen Lord Dalbury sein. Meine Tochter hat mir erzählt, dass Sie uns helfen wollen. Sie hat außerdem gesagt, dass Sie Hewitt entlassen haben. Darüber bin ich froh. Er ist ein böser Mensch …“

Sie hatte eine melodische Stimme, in der immer noch ein Hauch ihrer deutschen Wurzeln mitschwang. Theo fragte sich, ob Jenna ihr auch erzählt hatte, dass der brutale Kerl sie am vergangenen Abend angreifen wollte. „Es tut mir leid, dass Northcote Hall so lange nicht mehr von seinem Eigentümer besucht worden ist“, sagte er.

„Seit dem Ableben von Lord Northcote ist niemand mehr hier gewesen. Aber Sie sind ja so schnell nach dem Tod der alten Lady gekommen. Das ist ein gutes Omen für die Zukunft, Mylord!“

Jenna kam zu ihnen herüber und half ihrer Mutter, den Mantel zu schließen. „Lord Dalbury wird bald wieder abreisen, Mama. Sein Zuhause ist in London.“

Theo sah, wie die Hoffnung in den Augen der Frau erstarb. „Bevor ich gehe“, sagte er, „werde ich einen Ersatz für Hewitt als Verwalter finden, einen anständigen Mann. Und ich werde einen Anwalt in Buxton beauftragen, nach dem Rechten zu sehen.“

„Das hat Lady Hasledene auch getan“, informierte ihn Jenna tonlos. „Der Anwalt ist ein Schuft und steckt mit Hewitt unter einer Decke.“

Unvermittelt stieg Ärger in Theo auf. Woher nahm sich dieses arme Mädchen vom Land das Recht, von vornherein zu behaupten, er würde nachlässig handeln? „Nun, ich werde mich darum kümmern, dass zukünftig alles seinen rechten Gang geht.“

„Das werden Sie wohl von London aus tun müssen, da Sie ja so bald schon wieder abreisen.“

„Ich bleibe noch ein paar Tage, um mir einen Eindruck von dem Anwesen zu verschaffen“, erwiderte er kühl. „Morgen will ich mir die Höfe der Pächter ansehen.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und bedachte ihn mit amüsiertem Lächeln. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht wieder verloren gehen, Lord Dalbury?“

„Wenn Sie mich begleiten, gewiss“, antwortete er.

Wieso zum Teufel hatte er das denn nun gesagt? Innerlich verfluchte er sich selbst. Sie sah ihn überrascht an, und das war auch kein Wunder. „Das meine ich ernst“, fuhr er fort. „Sie könnten mir den Weg zeigen, und unterwegs könnten wir nach einem geeigneten Cottage für Sie und Ihre Mutter Ausschau halten.“

Sie zögerte, vermutlich versuchte sie, sich über seine Motive klar zu werden. Verflucht, die würde er auch zu gerne kennen. Nun ja, es war sicherlich nützlich, dass sie sich hier zurechtfand und mit allen bekannt war. Und – vielleicht könnte er sie dafür entlohnen. Ja, genau. Er würde sie für ihre Zeit entlohnen …“

„Also gut“, sagte sie schließlich.

Er nickte. „Soll ich Sie an der Kirche abholen; morgen zur Mittagszeit?“

„Wenn Sie möchten.“

Er war sich bewusst, dass die Leute ihm nachsahen, als er ging. Sicher stellten sie allerlei Vermutungen an, und die würden nur noch wilder werden, wenn er die Bauern am darauffolgenden Tag in Begleitung von Jenna aufsuchen würde … Verflucht. Zwar könnte er hier viel Gutes bewirken, und dennoch erschien es ihm plötzlich besser gewesen zu sein, er wäre gar nicht erst aufs Land gereist.

Am darauffolgenden Morgen ließ Theo sich von Aggie im Herrenhaus herumführen und machte sich in Gedanken Notizen über die nötigen Reparaturen. Durch den alten Turm führte sie ihn allerdings nicht und lachte nur, als er sich danach erkundigte. „Ach, dort oben gibt es nichts Interessantes, nur Staub und Spinnweben!“

Rob lenkte ihn gleich darauf mit der Nachricht ab, dass der Gig bereitstünde. Theo beschloss, sich weitere Fragen für später aufzuheben, und machte sich auf den Weg, um Jenna abzuholen.

Insgesamt gab es fünf Bauernhöfe; sie klapperten einen nach dem anderen ab und Jenna erzählte ihm unterwegs von den dort lebenden Familien und welches Unrecht ihnen durch Hewitt widerfahren war.

„Hewitt hat die Pacht immer zwei Mal pro Jahr oder sogar noch öfter erhöht“, erklärte Jenna mit verschlossener Miene. „Außerdem hat er den Bauern die Ernte zu niedrigen Preisen abgekauft und sie dann für mehr als das Doppelte verkauft und den gesamten Profit eingesteckt. Er hat Bauer Fairlies Tochter als Dienstmädchen eingestellt und dann versucht, sie …“

„Ich kann es mir vorstellen“, unterbrach Theo grimmig.

„Das will ich hoffen, Mylord“, antwortete sie gelassen.

Die Farmer waren alle sehr erfreut, ihn zu sehen, und ihre Gesichter strahlten noch mehr, als sie hörten, dass Hewitt nicht mehr als Verwalter tätig war.

„Dem Himmel sei Dank“, sagte die Frau eines stämmigen Mannes. „Kümmern Sie sich jetzt persönlich um das Anwesen, Mylord?“

Alle sahen ihn hoffnungsvoll an.

Jenna antwortete darauf mit klarer, fester Stimme: „Bedauerlicherweise muss Lord Dalbury schon bald nach London zurückkehren.“

„Aber Sie bleiben doch über Weihnachten?“

„Ich fürchte nein“, antwortete Theo.

Darauf machten sie lange Gesichter.

Theo fiel auf, dass alle Jenna mochten. Sie hatten davon gehört, dass ihr Cottage abgebrannt war, und murmelten finster ihren Verdacht, wer dafür verantwortlich war. Manchmal kamen Kinder dem Gig entgegen gelaufen, wenn sie in die Höfe rollten, und er glaubte, einige der kleinen Gesichter von der Stechpalmenmission wiederzuerkennen. Bei Hob Hurst’s Gate, erinnerte er sich.

„Wer ist eigentlich Hob Hurst?“, fragte er Jenna, nachdem sie die letzte Farm hinter sich gelassen hatten. Die Sonne ging bereits unter und aus Osten wehte ein kühler Wind.

„Hob Hurst? So nennen die Einheimischen einen schelmischen Kobold, der nur Streiche im Sinn hat. Wie Hewitt schon sagte, sind die Menschen hier in ihrem Herzen Heiden.“ Sie deutete in die Ferne. „Von hier aus können Sie die Stelle sehen. Die Felsen auf dem westlichen Gipfel sind Hob Hurst’s Haus. Und Hob Hurst’s Gate liegt im Feld darunter. Dort werden im Frühjahr Arbeitsmärkte veranstaltet.“

„Arbeitsmärkte?“

„Die Bauern heuern Arbeiter für die Saison an. Hob hilft angeblich nachts bei der Arbeit, wenn alle schlafen …“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Sicher halten Sie uns für ziemlich primitiv und rückständig, Mylord. In London können Sie Ihre Freunde mit diesen Geschichten unterhalten.“

Ihr herausfordernder Blick sandte ein warnendes Prickeln durch seine Adern. Verflucht. Die Landluft wirkte sich offenbar auf seinen Verstand aus. Tatsächlich fand er das Mädchen sehr reizvoll, mit ihren vollen Lippen und der bleichen Haut …

„Ich bezweifle, dass meine Freunde an solchen ländlichen Ritualen interessiert wären“, erwiderte er kühl. Warum nur bereitete ihm die Absicht, Northcote Hall wieder zu verlassen, solch lächerliche Gewissensbisse? Um Himmels willen, er konnte es gar nicht abwarten, von hier fortzukommen.

Wie er zugeben musste, bedauerte er es jedoch ein wenig, von Miss Jenna Brook Abschied nehmen zu müssen.

Plötzlich rief er aus: „Ein Cottage, wir haben uns noch gar nicht um ein Cottage für Sie und Ihre Mutter gekümmert …“

„Machen Sie sich keine Mühe, Lord Dalbury“, erwiderte sie steif. „Wir finden schon etwas.“

„Sie müssen mir wenigstens erlauben, Sie für Ihre Zeit heute zu entlohnen!“

Schweigen. Die zarte Farbe in ihren Wangen verriet Theo, dass er einen weiteren Schnitzer begangen hatte.

„Würden Sie bitte anhalten?“

„Wie bitte?“, fragte er.

„Ich sagte, würden Sie bitte anhalten? Und Sie müssen mich auch nicht bezahlen, danke.“

Er zog die Zügel an, weil sie sich bereits anschickte, aus dem Gig zu springen. Ihre Miene ließ ihn deutlich wissen, dass er sie gekränkt hatte. Verflucht. „Aber Sie könnten das Geld doch sicher gut gebrauchen, nicht wahr?“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Aggie hat erzählt, dass Sie einen Kleinbauernhof besessen haben und Ihre Mutter sich etwas Geld mit Näharbeiten dazu verdiente. Aber nun haben Sie alles im Feuer verloren … Wovon wollen Sie leben?“

Sie schaute von der Straße zu ihm auf und sagte: „Lassen Sie es mich so ausdrücken, Mylord. Hätten Sie sich nicht herabgelassen, hierher zu kommen, wüssten Sie nicht einmal, dass ich existiere, ganz zu schweigen von unserer Not. Darf ich Ihnen daher vorschlagen, nach London zurückzukehren und sich wieder ihrer segensreichen Unwissenheit hinzugeben – das würde alles so viel einfacher für Sie machen!“

„Verdammt, Sie können doch nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen. Das ist mindestens eine Meile …“

„Oh, ich ziehe es aber vor, zu laufen!“, entgegnete sie honigsüß. Sprach’s und schritt, ihre hübsche Kehrseite reizvoll wiegend, davon.

Wollte sie ihn damit etwa absichtlich reizen? Wohl kaum. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihm hielt.

„Zum Teufel!“, fluchte Theo verwirrt.

Vor dem Abendessen wollte Theo sich notieren, was er über die Farmen erfahren hatte, aber Aggie überfiel ihn mit der Nachricht, dass man einen Brief für ihn abgegeben habe. Sie reichte ihm das Schreiben mit mehlbestäubten Fingern und er öffnete es stirnrunzelnd.

Ungläubig las er den Brief einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal. Er kam von Lady Celias Mutter:

Mein lieber Lord Dalbury,

Seine Gnaden, der Duke of Devonshire, hat uns freundlicherweise eingeladen, die Weihnachtsfeiertage in Chatsworth House zu verbringen. Da wir erfuhren, dass Northcote Hall nur sieben Meilen entfernt liegt, freuen wir uns sehr, Ihnen auf dem Weg zu Seiner Gnaden einen Besuch abzustatten.

Wir werden am 24. etwa zur Mittagsstunde in Begleitung einiger Freunde bei Ihnen eintreffen und am späten Nachmittag nach Chatsworth weiterreisen …

Theo legte die freie Hand auf den Kopf. Celias Mutter hatte oft mit ihrer noblen Bekanntschaft in Devonshire geprahlt, aber er hatte es ignoriert.

Verflixt. Ihnen einmal aus dem Weg zu gehen, wie er es in London getan hatte, mochte als Zufall durchgehen. Ihnen zwei Mal aus dem Weg zu gehen, würde geradewegs nach Absicht aussehen und brüskierend wirken. Außerdem würde sie eine Antwort angesichts der Tatsache, dass der 24. nur noch fünf Tage entfernt war, nun ohnehin nicht mehr rechtzeitig erreichen. Ihm blieb wohl keine andere Wahl, als noch eine Weile an diesem gottverlassenen Flecken Erde auszuharren. Aber wie nur sollte er seine Besucher gebührend empfangen, so ganz ohne Personal, abgesehen von Aggie und ihrem Sohn?

In diesem Augenblick kam ihm plötzlich eine Idee.

Am nächsten Morgen ritt Theo ins Dorf, um Jenna aufzusuchen. Verwundert hatten die Nachbarn ihm Auskunft gegeben, als er sich nach dem Weg erkundigte. Schließlich entdeckte er sie beim Wäscheaufhängen in einem Hof, der zu einem Haus gehörte, das man eher als Hütte bezeichnen konnte. „Miss Brook“, sagte er. „Wie es scheint, werde ich bald einige unerwartete Besucher empfangen müssen.“

Die Wintersonne tupfte Jennas offenes blondes Haar und die cremig weiße Haut. Ihre weiten Kleider ließen Theo ihre bezaubernden Rundungen erahnen. Sie sollte nicht derlei Arbeit erledigen, dachte er unwillkürlich und runzelte die Stirn. Und sie sollte nicht so ein formloses altes Kleid tragen.

Plötzlich kam der Hund, der sein Pferd erschreckt hatte – Bess –, aus dem Haus gestürmt und bellte ihn an.

„Ruhig, Bess!“, rief Jenna scharf. Das Tier legte sich zu ihren Füßen, ließ Theo aber nicht aus den Augen.

Jenna legte die Wäscheklammern zur Seite und meinte ruhig. „Unerwartet? Diese Besucher haben sich also selbst eingeladen, Mylord? Ist das nicht ein wenig dreist?“

„Das ist es“, stimmte Theo zu. „Sie bleiben nicht über Nacht …“, wofür er von ganzem Herzen dankbar war, „… aber Aggie schafft die Arbeit nicht allein. Da habe ich mich gefragt, wo Ihre Mutter doch Haushälterin war, ob Sie beide nicht ins Herrenhaus ziehen und uns aushelfen könnten? Ich habe ja bereits gestern erwähnt, dass ich Ihnen vor meiner Abreise gerne ein …“, er blickte auf ihre gegenwärtige Unterkunft, „… anständiges Zuhause besorgen möchte.“

Sie wurde sehr still. „Sie meinen, wir sollen nach Northcote Hall ziehen?“

„Ja“, antwortete er. „Ist der Vorschlag denn so abwegig? Ich biete Ihnen lediglich an, was Sie zuvor auch schon hatten. Eine Unterkunft und eine Arbeit, als Hilfe für Aggie.“ Himmel, er wagte es nicht, noch einmal über Geld zu sprechen.

Sie war sehr bleich geworden. „Meine Mutter kann nicht mehr viel arbeiten, es geht ihr nicht gut …“

„Ich erwarte nicht, dass sie etwas tut“, unterbrach er sie. „Wenn Sie es für nötig halten, können Sie zusätzliches Personal einstellen. Es ist ein rein zweckmäßiges Arrangement, Miss Brook. Ich habe nicht vor, Ihnen Almosen anzutragen. Außerdem erspart mir das die Mühe, für Sie und Ihre Mutter ein Cottage zu suchen.“

Verflixt, das klang sehr selbstsüchtig. Da sie seine großzügig gemeinten Angebote bisher jedoch jedes Mal als herablassend empfunden hatte, wusste er nicht, was er sonst sagen sollte. „Wir werden alles ausführlich besprechen“, fuhr er fort, „wenn Sie ins Herrenhaus gezogen sind.“

„Morgen?“

„Warum nicht? Je eher, je besser.“

Sie sah immer noch verstört aus. „Kann Bess mitkommen?“

„Wie bitte?“

„Wir können sie nicht zurücklassen. Normalerweise benimmt sie sich vorbildlich, und sie wird Ihnen auch gewiss keinen Ärger machen, denn Sie hegen ja ohnehin die Absicht, abzureisen.“

„Aber ich … Oh, na schön, von mir aus.“

Theo verließ das Dorf mit dem Gefühl, dass die Dinge nicht ganz so gelaufen waren, wie er es geplant hatte.

Sie hätte sich zumindest ein wenig dankbar zeigen können, dachte er.

5. KAPITEL

Am nächsten Morgen arbeitete Theo die vernachlässigten Bücher durch und wies Rob anschließend an, sein Pferd zu satteln. Bei einem Ausritt wollte er sich einen Eindruck über sein Anwesen verschaffen. Ein kalter Nieselregen ließ jedoch das trostlose Moorland noch trostloser wirken, und Theo kehrte nach einer Weile mit dem Bedürfnis nach trockener Kleidung und einem lodernden Feuer zurück.

Kaum hatte er das Haus betreten, blieb er wie angewurzelt stehen. Er war nur etwa zwei Stunden, höchstens drei, fortgewesen, aber die Böden schimmerten feucht und nirgendwo war auch nur noch ein Staubflöckchen zu sehen. Die alten Eichenmöbel glänzten frisch poliert. Außerdem fand sich überall Grünzeug. Selbst die Kaminsimse schmückten Eibenzweige und Pinienzapfen. Konnte man den lauernden Weihnachtsfeiertagen denn nirgendwo entkommen?

Er bemerkte zwei Mädchen mit großen Schürzen, die ihm von der Tür zur Küche verstohlene Blicke zuwarfen, und dann tauchte Jenna auf. Unvermittelt stockte ihm der Atem. Sie hatte ihr langes blondes Haar hochgesteckt, was ihr hübsches Gesicht und die hohen Wangenknochen betonte. Um ihre Taille wand sich eine Schürze, die dafür sorgte, dass das formlose graue Kleid ihre schlanke und doch weibliche Figur reizvoll umspielte.

Himmel, da war er erst wenige Tage von London fort und schon fing er an, den Verstand zu verlieren. Denn warum sonst sollte er wohl dieses schlichte Mädchen vom Land bezaubernd finden?

„Sie sind gekommen, wie ich sehe“, stellte er fest.

Autor

Michelle Styles
Obwohl Michelle Styles in der Nähe von San Francisco geboren und aufgewachsen ist, lebt sie derzeit mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Hunden, zwei Katzen, Enten, Hühnern und Bienenvölkern unweit des römischen Hadrianswalls im Norden Englands. Als begeisterte Leserin war sie schon immer an Geschichte interessiert, darum kann sie sich...
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Michelle Styles
Obwohl Michelle Styles in der Nähe von San Francisco geboren und aufgewachsen ist, lebt sie derzeit mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Hunden, zwei Katzen, Enten, Hühnern und Bienenvölkern unweit des römischen Hadrianswalls im Norden Englands. Als begeisterte Leserin war sie schon immer an Geschichte interessiert, darum kann sie sich...
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