Historical Saison Band 104

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SKANDAL UM MISS SELINA von LAURA MARTIN

Selina kann es nicht fassen: Ihr unnahbarer Arbeitgeber Lord Westcroft hat sie geküsst! Dabei ist sie nach Yorkshire gekommen, um sich als Gouvernante um seine verwaisten Nichten zu kümmern. Ist er doch nicht so unfreundlich, wie sie zuerst geglaubt hat? Noch bevor sie ihre Meinung ändern kann, schockiert er sie mit einem skandalösen Angebot, das keine vornehme junge Dame je annehmen könnte …

EIN EARL AUF ABWEGEN von DIANE GASTON

Nein, er möchte auf keinen Fall der zukünftige Earl von Foxgrove werden! Da ist sich Lucas Johns-Ives sicher. Um dem Titel und der Verantwortung zu entgehen, arbeitet er unerkannt in den schottischen Highlands. Wer hätte ahnen können, dass er ausgerechnet dort der bezaubernden Mairi Wallace begegnet? Um sie für sich zu gewinnen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich seiner Vergangenheit zu stellen …


  • Erscheinungstag 30.12.2023
  • Bandnummer 104
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518017
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

LAURA MARTIN, DIANE GASTON

HISTORICAL SAISON BAND 104

1. KAPITEL

„Fünf Minuten die Auffahrt entlang, von wegen“, sagte Selina leise zu sich selbst, dann verzog sie ärgerlich das Gesicht, weil sie wieder in eine Pfütze getreten war. Der Kutscher hatte abgelehnt, sie noch näher zum Haus zu bringen, hatte nur die Stofftasche mit ihren Habseligkeiten vom Kutschbock geworfen und mit gekrümmtem Finger auf das rostige eiserne Tor gezeigt.

Bisher waren es zwanzig Minuten. Zwanzig lange Minuten, in denen sie gegen den Wind ankämpfte, der ihre Röcke gegen die Beine peitschte. Zwanzig Minuten im kalten Nieselregen, der langsam alle Kleider durchdrang. Zwanzig Minuten, in denen sie ihre Entscheidung bereute, für die neue Stellung so weit in den Norden gefahren zu sein. Hier kannte sie niemanden, das Wetter war unwirtlich und die Einheimischen waren unfreundlich und argwöhnisch.

Nach der nächsten Kurve kam endlich das Haus in Sicht. Es war groß und bestand aus einem Mittelteil und zwei geschwungenen Seitenflügeln. Die graue Steinfassade wirkte wettergegerbt und ziemlich verwittert und ungepflegt. Auf einer Seite waren die Mauern von Efeu bedeckt, das bereits in die Fenster hineinwuchs.

„Zu Hause ...“, sagte sich Selina mit einem dumpfen Angstgefühl in der Magengrube. Es sah nicht wie ein Zuhause aus, in dem sie gern leben wollte.

Sie blieb stehen, weil sie keinen Schritt mehr gehen konnte. Vielleicht sollte sie gleich wieder nach London zurückkehren. Gewiss gab es in der Agentur noch weitere Stellungsangebote an weniger abgelegenen Orten, wo vielleicht auch die Umgebung etwas einladender war. Sie umklammerte ihre kleine Geldbörse. Leider war die Rückkehr nach London keine Option. Die mageren Ersparnisse des vergangenen Jahres hatte sie für die Kutschfahrt nach Yorkshire ausgegeben und sich außerdem ein neues Kleid gekauft, um einen guten Eindruck auf ihren neuen Dienstherrn zu machen.

Lord Westcroft. Ein Mann, über den sie nicht viel hatte herausfinden können, obwohl sie sich überall umgehört hatte.

Der Regen nahm an Stärke zu. Die Tropfen prasselten auf die Kapuze ihres Umhangs und tropften von der Kante hinab. Sie konnte es nicht länger hinausschieben – sie musste weitergehen und die Familie kennenlernen, mit der sie wahrscheinlich die kommenden Jahre verbringen würde.

Selina zog an ihren Stiefeln, die im Matsch stecken geblieben waren, als sie stehen blieb. Diese Bewegung brachte sie aus dem Gleichgewicht, ihre Stiefel begannen nach vorn zu rutschen. Sie ruderte heftig mit beiden Armen, um ihr Gleichgewicht zu halten, aber es war zu spät.

Mit dem Hinterteil zuerst landete sie in der größten Pfütze weit und breit. Einen Moment lang blieb sie verdutzt sitzen und konnte es kaum fassen, wie kalt das Regenwasser war, das ihren Rock durchtränkte. Es war unglaublich, wie schnell dieser schreckliche Tag noch viel schlechter geworden war.

Sie schauderte und rappelte sich auf. Ihre Röcke waren tropfnass und verschmutzt. Nun sah sie nicht mehr aus wie eine ehrbare Gouvernante, die gekommen war, um ihre Stelle im Haus eines Mitglieds des britischen Hochadels anzutreten.

„Kopf hoch, Rücken gerade“, sagte sich Selina. So hatte ihre verstorbene Mutter sie stets ermahnt. Und sie hatte sie gelehrt, dass man Menschen in die Augen sehen sollte, selbst wenn sie hochmütig auf einen herabblickten.

So selbstbewusst wie möglich trat sie vor die Haustür. Als sie die Hand nach dem schweren eisernen Türklopfer ausstreckte, fühlte sie sich beobachtet und hielt inne. Sie schaute hoch und sah gerade noch zwei kleine Gesichter hinter einem Fenster in der oberen Etage verschwinden. Sie sahen sehr bleich aus, beinahe geisterhaft, und Selina fragte sich, wie oft ihre künftigen Schutzbefohlenen wohl an die Sonne gingen. Blinzelnd schaute sie zu den dicken Wolken am Himmel. Vielleicht gab es hier oben im Norden nicht genug Sonnenschein.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, ließ Selina den eisernen Türklopfer zweimal fallen. Die Schläge dröhnten laut, die Tür erzitterte, dann blieb es erst einmal still. Selina hörte nur noch den Regen auf die Pfützen fallen.

„Was wollen Sie?“, fragte eine mürrische alte Frau, die durch einen kleinen Türspalt spähte. Sie schaute Selina von oben bis unten an und schüttelte den Kopf. „Betteln verboten.“

„Ich bin aber keine ...“, protestierte Selina. Knarrend fiel die Tür vor ihrer Nase wieder ins Schloss. Entrüstet klopfte Selina mehrmals schnell hintereinander. Das konnte kein Diener ignorieren, weil es den Hausherrn stören würde.

„Weg mit dir“, schimpfte die alte Frau, als sie die Tür erneut öffnete. Sie streckte eine dürre Hand aus und stieß Selina ein Stückchen die Stufen hinab.

„Was ist das für ein Lärm?“ Die tiefe Stimme aus dem Dunkel hinter der Tür klang verärgert und ungeduldig.

„Ich habe ihr gesagt, sie soll sich wegscheren“, sagte die Magd. „Und ich habe ihr gesagt, dass Bettler hier nicht willkommen sind.“

Selina öffnete den Mund, um zu protestieren und zu sagen, wer sie war, doch sie hielt inne, als ein großer Mann in der Tür auftauchte, der vermutlich Lord Westcroft war. Er war hochgewachsen und hatte breite, starke Schultern. Seine Miene war ärgerlich, als er sie abschätzig von oben bis unten ansah und ihr schmutzbedecktes Kleid zur Kenntnis nahm. Sie fühlte sich unbehaglich unter diesem kritischen Blick.

„Gebt ihr in der Küche etwas zu essen“, befahl er und wandte sich ab.

Erst, als er schon fast in der Dunkelheit verschwunden war, fand Selina ihre Stimme wieder. „Lord Westcroft“, rief sie, und offenbar klang ihre Stimme so kultiviert, dass er stehen blieb.

„Hör auf, den Master zu belästigen“, sagte die Dienerin barsch. „Geh zum Hintereingang.“

Diesmal setzte Selina schnell genug einen Fuß in die Tür. Die schwere Tür schlug schmerzhaft dagegen, aber sie wollte sich nicht noch einmal abwimmeln lassen.

„Lord Westcroft“, sagte sie mit entschlossener Stimme. „Mir ist kalt, ich bin nass und müde. Von der Agentur wurde mir gesagt, dass Sie sehr dringend nach einer Gouvernante suchen. Wenn Sie also verhindern wollen, dass ich mich jetzt umdrehe und mit der nächsten Kutsche nach London zurückfahre, sollten Sie mich hereinbitten und mir den Weg zum nächsten Kaminfeuer zeigen.“

Matthew erschrak. Die Frau vor ihm sah zwar nicht so aus, denn ihre Kleider waren schmutzig und die Frisur unter der Kapuze vom Wind zerzaust, doch sie sprach wie eine Gouvernante. Es war die richtige Mischung aus Befehl und Missbilligung, und als er sich zu ihr umdrehte, hielt er sich gleich etwas gerader. Am liebsten hätte er sie sofort ins Haus gezogen und sie angefleht, nirgendwo anders hinzugehen.

Doch er hielt sich zurück. Obwohl er seinen Titel erst seit sehr kurzer Zeit innehatte, wusste er, dass er nicht bitten durfte, schon gar nicht vor den Dienstboten.

„Miss Salinger?“, fragte er, als ihm der Name aus dem Brief von der Agentur wieder einfiel. Er war von Herzen dankbar dafür gewesen, nachdem er zwei lange Monate nach einer Gouvernante für die unglücklichen Mädchen in seiner Obhut gesucht hatte.

„Erfreut, Sie kennenzulernen, Lord Westcroft“, sagte die zierliche Frau vor ihm, obwohl ihre Stimme nicht gerade erfreut klang. Er schaute sie genauer an und stellte fest, dass unter dem Schmutz ihre Kleidung von guter Qualität war. Sie hatte klare helle Haut und ihr Haar, soweit er es unter der Kapuze des Umhangs erkennen konnte, war glänzend und gesund. Wie konnte er sie nur für eine Bettlerin halten?

„Kommen Sie mit in mein Studierzimmer“, sagte er und zeigte zu dem düsteren Korridor. „Dort brennt ein Feuer, und das Zimmer ist warm.“

„Ich danke Ihnen.“

Sie folgte ihm, doch sie bewegte sich steif, und ihre Röcke hinterließen eine nasse Spur auf dem Boden hinter ihr.

„Gouvernanten, die wie Bettlerinnen aussehen … wie soll man den Unterschied erkennen“, hörte er die Haushälterin Mrs. Fellows brummen. Er hatte sie zusammen mit dem Inventar dieses Hauses geerbt.

„Treten Sie ein und wärmen Sie sich“, sagte Matthew. Er sah zu, wie Miss Salinger zu dem verschnörkelten Kamin ging. Für einen kurzen Moment hatte er befürchtet, sie würde ihre Drohung wahr machen und sofort nach London zurückfahren. Er hätte es ihr nicht verdenken können nach der Begrüßung, die sie hier erfahren hatte. Oder nachdem sie die Fassade des Hauses gesehen hatte. Menresa House stand isoliert am Rande des Moors und machte keinen besonders einladenden Eindruck.

„Ich muss mich für mein Aussehen entschuldigen“, sagte Miss Salinger endlich. „Der Kutscher weigerte sich, mich weiter zu befördern als bis zum Tor, und die nasse Auffahrt war tückisch glatt.“ Sie verzog ein wenig das Gesicht und berührte die Haarsträhnen, die unordentlich ihr Gesicht umrahmten. Sie wandte sich ihm zu und lächelte ein wenig. „Ich bin in eine Pfütze gefallen.“

Als sie zu ihm aufblickte, spürte er ein jähes Verlangen nach ihr. So etwas hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Rasch beherrschte er das Verlangen und auch den Wunsch, sich ihr hübsches Gesicht und die weichen Kurven ihres Körpers näher anzuschauen. Er hatte Angst, sie mit einem unpassenden Blick zu vertreiben.

„Hoffentlich war Ihre Fahrt nicht zu beschwerlich“, sagte er und fragte sich, wie lange er sich wohl höflich mit der neuen Gouvernante unterhalten musste, bevor er sie nach oben zum Kinderzimmer bringen und ihr offiziell die Verantwortung für seine beiden Nichten übertragen konnte. Die Verantwortung hatte schwer auf ihm gelastet in den vergangenen zwei Monaten, und er konnte es kaum erwarten, sie abzugeben.

Miss Salinger schaute ihn direkt an. Ihre Augen waren dunkel, und auf ihren Lippen lag die Andeutung eines Lächelns. Fast, als spüre sie, wie ungeduldig er war, obwohl er es sorgfältig verbarg.

„Hier sind wir sehr weit entfernt von London“, sagte sie.

„Sie sind wohl zum ersten Mal in Nord-Yorkshire?“

„Ja.“ Sie schauderte und schaute an ihm vorbei aus dem Fenster. „Ich bin noch nicht viel herumgekommen.“

„Und Sie kommen aus London?“

„Cambridge. Entschuldigen Sie, Lord Westcroft, es sieht so aus, als wären Sie jetzt gern woanders.“

Er runzelte die Stirn und fragte sich, woran sie wohl bemerkt hatte, wie dringend er sie nach oben schicken wollte.

„Die Kinder freuen sich darauf, Sie kennenzulernen“, log er geschickt.

Als er ihre neuen Schützlinge erwähnte, sah er einen Funken in ihren Augen aufleuchten.

„Erzählen Sie mir von ihnen“, sagte sie, nahm den tropfnassen Umhang ab und hängte ihn sich über den Arm. Unter dem Mantel trug sie ein schlichtes graues Kleid. Es war einer Gouvernante angemessen – aus dunklem Stoff, mit langen Ärmeln und so unauffällig wie nur möglich. Dennoch konnte es Miss Salingers schmale Taille und ihre schön geschwungenen Hüften nicht völlig verbergen.

„Priscilla ist neun – ein stilles, zurückhaltendes Mädchen, das gern liest und musiziert. Theodosia ist sieben …“ Er hielt kurz inne, weil er überlegen musste, wie er den Charakter seiner jüngeren Nichte möglichst diplomatisch beschreiben sollte. „Sie ist lebhaft und wissbegierig, will alles über die Welt erfahren und ist gern draußen im Freien.“

„Das klingt entzückend. Haben sie schon viel Unterricht gehabt?“

„Ein wenig.“ Eigentlich wusste er es nicht so genau. Vor dem Tod seines Bruders vor fast einem Jahr hatte er nicht einmal gewusst, dass er Nichten hatte. Das Zerwürfnis in der Familie hatte die Kommunikation auf das Notwendigste beschränkt. Sein Bruder hatte die Geburt seiner Töchter offenbar nicht als wichtige Information angesehen. Matthew seinerseits hatte die Freiheit von jeglicher Verantwortung gutgeheißen.

Aber jetzt nicht mehr, dachte er grimmig. Nun konnte er sich nicht mehr entziehen. Er war nun der Earl und somit Vormund seiner Nichten. Ihm oblag die Verantwortung für das Anwesen und alle seine Bewohner.

„Ich werde Sie nach oben bringen, damit Sie die Mädchen kennenlernen können. Später zeigt Mrs. Fellows Ihnen Ihr Zimmer“, sagte er und streckte die Hand aus. Er nahm ihr den immer noch tropfenden Umhang ab und streifte dabei kurz ihre Hand. Ihre Haut war sehr weich im Gegensatz zu seinen rauen Händen. Sie zuckte zusammen und schaute ihn misstrauisch an. Sofort trat er einen Schritt von ihr zurück. „Hier entlang.“

Er legte ihren Umhang im Hausflur ab und führte Miss Salinger über die elegant geschwungene Haupttreppe hinauf in den ersten Stock. Von dort ging es über eine sehr viel engere und weniger prächtige Treppe zur zweiten Etage, wo die Kinderstube war. Sie folgte ihm mit wenigen Schritten Abstand, hielt die Hände züchtig verschränkt und schaute sich alles genau an. Sie strahlte eine ruhige Energie aus. So etwas brauchte dieses Haus dringend.

Vor der Kinderstube blieb er stehen und wappnete sich innerlich gegen das, was dort drinnen vor sich gehen mochte.

„Geh weg“, rief eine tonlose Stimme, als er die Tür öffnete.

Das Kinderzimmer war aufgeräumt, fast zu ordentlich. Die beiden Mädchen saßen nebeneinander vor dem Fenster und schauten hinaus in den Regen.

„Kinder, dies ist Miss Salinger, eure neue Gouvernante.“

Theodosia wollte sich umdrehen, aber ihre Schwester hinderte sie daran. Das erregte Matthews Unmut. Er wusste, dass die Mädchen noch trauerten und wahrscheinlich noch lange brauchen würden, bis sie wieder etwas wie Glück empfinden würden. Doch Unhöflichkeit würde er nicht dulden.

„Kommt her und begrüßt eure neue Gouvernante“, sagte er tadelnd.

Langsam standen beide Mädchen auf. Priscilla warf ihm einen missmutigen Blick zu, warf ihr blondes Haar zurück über die Schultern und blickte die schlammbefleckte Gouvernante trotzig an.

„Guten Tag“, sagte Miss Salinger. „Ich freue mich, euch beide kennenzulernen, Lady Priscilla, Lady Theodosia.“

„Sind Sie zu Fuß gekommen?“, fragte Priscilla in hochmütigem Ton. „In diesem Regen?“

„Nur vom Ende der Auffahrt“, sagte Miss Salinger. Angesichts ihrer Gelassenheit wollte Matthew am liebsten sofort gehen und ihr alles Weitere überlassen.

„Das war töricht.“

„Es war leider notwendig“, sagte die Erzieherin achselzuckend. „Und ein kleines bisschen Schmutz hat noch keinem geschadet.“

Priscilla runzelte die Nase, aber Matthew sah, dass ihre Schwester ein wenig schmunzelte.

„Ich freue mich darauf, euch kennenzulernen“, sagte Miss Salinger. „Morgen überlegen wir, was ihr gern lernen würdet.“

„Wir dürfen es uns aussuchen?“ Theodosia trat vor. Ihre Augen glänzten. „Ich möchte Bogenschießen lernen – alle tapferen Krieger können mit einem Bogen umgehen.“

„Ich bin nicht sicher, dass Miss Salinger das gemeint hat.“

Theodosia schmollte, doch aus dem Augenwinkel sah Matthew, dass die Gouvernante dem kleinen Mädchen zublinzelte. Sie war ihrer Aufgabe anscheinend mehr als gewachsen, im Gegensatz zu ihm. Er konnte sich endlich in den Hintergrund zurückziehen und sich in den kommenden Wochen mit dem Haus und dem Anwesen beschäftigen. Wenn die Mädchen sich erst an Miss Salinger gewöhnt hatten, würde er endlich zurück nach Indien fliehen können – dorthin, wo er hingehörte.

2. KAPITEL

Selina kämmte ihre Haare und seufzte zufrieden. Ihr erster Eindruck von Manresa House war zwar nicht gerade gut gewesen, aber als sie in ihr Zimmer kam, stand dort eine große Badewanne mit dampfend heißem Wasser. Selina konnte sich vor dem Dinner den Schmutz von Körper und Haaren spülen.

Rasch steckte sie ihre immer noch feuchten Locken fest und begutachtete sich in dem kleinen Spiegel. Sie war blass und sah müde aus nach der langen Fahrt, und ihr Gesicht wirkte schmaler, als sie es in Erinnerung hatte.

Sie beschloss, keine melancholischen Gedanken zuzulassen und nicht mehr über ihr gewohntes Leben nachzudenken. Also stand sie auf, strich ihr Kleid glatt und ging nach unten zum Dinner. Heute Abend würde sie mit Lord Westcroft speisen und wollte die Gelegenheit nutzen, um mit ihm über die Erziehung der Mädchen zu sprechen. Außerdem würde sie versuchen, ein wenig mehr über die Kinder zu erfahren, denn die nächsten Mahlzeiten würde sie wahrscheinlich immer im Kinderzimmer einnehmen.

Im vergangenen Jahr hatte Selina gelernt, fast geräuschlos zu gehen. Sie war sich stets bewusst gewesen, dass sie sich im Haus anderer Leute aufhielt, und wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Auf dem Weg zum Salon blieb sie kurz vor der Tür stehen. Lord Westcroft war bereits dort. Er stand an einem der großen Mahagonitische und beugte sich über etwas, das darauf ausgebreitet war. Für einen Moment sah sie ihm zu. Er war sehr konzentriert und hatte eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen, während er mit einem Finger eine Linie auf dem Papier nachzog.

Plötzlich schaute er auf und blickte sie direkt an. Selina fühlte Hitze in ihren Wangen aufsteigen, weil er sie beim Zuschauen erwischt hatte, aber sie zwang sich zum Lächeln. Als sie spürte, dass er sie musterte, legte sie eine Hand an die Kehle. Im vergangenen Jahr hatte sie diese schützende Geste recht oft gebraucht. Nicht alle Dienstherren hielten den gebührenden Abstand ein.

„Miss Salinger“, sagte er mit undurchdringlicher Miene.

„Guten Abend.“ Selina versank in einen tiefen Knicks. Auf dem Weg in das Zimmer hinein sah sie das Dokument, das ihn so gefesselt hatte. Es war eine große, gut gezeichnete Landkarte. Verschiedene Farben kennzeichneten verschiedene Kontinente und verschnörkelte Buchstaben bezeichneten die Ozeane. Neben der Karte lag ein kleinerer abgegriffener Atlas auf dem Tisch. Anscheinend verglich er die Karten miteinander. „Ich störe Sie hoffentlich nicht.“

„Ich nehme mir Zeit zum Essen“, sagte er barsch. Es war offensichtlich, dass er die nächste Stunde als Pflichtveranstaltung ansah, um die Übergabe der Verantwortung für seine Mündel zu besprechen, doch dann würde er sich wieder der Aufgabe widmen, die er vermutlich für wichtiger hielt.

Selina war es recht so. Sie konnte direkt zur Sache kommen, wenn nötig. Offenbar wollten sie beide dasselbe – das Wohlergehen der beiden traurigen kleinen Mädchen sicherstellen. Wenn Lord Westcroft nicht genug Zeit für Unterhaltungen hatte, würde sie die Zeit beim Essen dazu nutzen, um so viel wie möglich über ihre beiden Schutzbefohlenen herauszufinden. Und vielleicht auch ein wenig über den Mann, der die Verantwortung für diese Kinder trug.

„Gehen wir?“ Er reichte ihr seinen Arm.

Selina zögerte, denn sie war es nicht gewohnt, so viel Respekt entgegengebracht zu bekommen. In ihrer letzten Stelle als Gouvernante des Sohns von Lord und Lady Gilchrist hatte man sie wie eine Dienerin behandelt. Sie stand dort stets im Schatten, niemand sprach direkt mit ihr.

Sorgfältig platzierte sie ihre Hand auf seinem Unterarm und ließ sich in das Speisezimmer geleiten. Es war prachtvoll, aber etwas heruntergekommen wie der Rest des Hauses. Der düstere Raum wurde nur von zwei Kerzen schwach erleuchtet. Als Lord Westcroft sie beim Hervorziehen des Stuhls mit seinem Arm streifte, erstarrte Selina, doch ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass es unabsichtlich geschehen war.

Sobald sie saßen, erschien ein Diener mit zwei Tellern. Er stellte sie behutsam vor ihnen ab, um die dünne Suppe nicht zu vergießen.

„Ich sollte Ihnen ein wenig von Priscillas und Theodosias Vorgeschichte erzählen“, sagte Lord Westcroft und hob den Löffel. Er kam also gleich zur Sache. Selina war ein wenig irritiert. Dem Mann konnte es ganz offensichtlich nicht schnell genug gehen, sie loszuwerden. Doch eigentlich war es genau das, was sie wollte – eine höfliche und rein formelle Beziehung zu ihrem Dienstherrn.

„Bitte.“

„Ich kann nicht behaupten, dass ich die Mädchen gut kenne“, sagte er steif. „Ihre Mutter starb vor zwei Jahren. Ihr Vater, mein verstorbener Bruder, folgte ihr vor neun Monaten nach. Zu der Zeit hielt ich mich in Indien auf und brauchte mehrere Monate für die Rückreise nach England. Ich habe mit den Kindern nur knapp neun Wochen zusammengelebt.“

Lange genug, um die beiden kennenzulernen, wenn er gewollt hätte.

„Sie haben viel durchgemacht“, sagte Selina. Wie nicht anders zu erwarten, wenn man beide Eltern kurz hintereinander verloren hatte.

„So ist es. Sie trauern, aber sie brauchen trotzdem Grenzen. In der Zeit, bis ich in England ankam, kümmerte sich eine ältere Verwandte um sie, die sie leider verwildern ließ. Die beiden kommen nicht gut damit zurecht, dass sie sich jetzt wie junge Damen benehmen sollen.“

„Kinder“, korrigierte ihn Selina ruhig.

„Entschuldigung?“

„Nun, es sind Kinder, keine jungen Damen. Nur allzu schnell werden sie junge Damen sein, aber im Moment sind sie noch Kinder.“

Lord Westcroft blickte sie mit kühlem Blick an, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung.

„Selbst Kinder sollten ein gewisses Maß an Wohlverhalten an den Tag legen.“

Selina senkte den Kopf. Es war richtig, dass Kinder Grenzen und Regeln für ihr Gedeihen brauchten. Aber nur, wenn die Erziehung begleitet wurde von Liebe und Lob.

„Wie wünschen Sie, dass ich die beiden anspreche? Mit ihrem Titel oder nur mit den Vornamen?“

„Es sind Kinder. Ich denke, die Vornamen genügen“, sagte er mit einem kurzen Nicken. „Sie werden die Kinder in Mathematik, Geschichte und Musik unterrichten.“

Sie wartete, aber mehr kam nicht.

„Was ist mit Kunst? Literatur? Natur?“

Lord Westcroft sah sie mit stahlhartem Blick an. „Es ist mir gleichgültig, womit Sie die Mädchen den ganzen Tag beschäftigen, solange sie eine anständige Grundausbildung erhalten.“

„Ausbildung wofür?“, fragte Selina freundlich nach.

„Was meinen Sie?“

„Nun, was ich die Kinder lehre, hängt davon ab, wie ihre Zukunft aussehen soll. Wenn Sie vor allem wünschen, dass sie die Blicke der angesehensten Gentlemen in der Umgebung anziehen, dann müssen sie sich auf Musik, Tanzen und Haushaltsführung konzentrieren. Wenn Sie sich eine andere Zukunft für sie vorstellen, sind vielleicht andere Fächer wichtiger.“

Sein Schweigen zog sich in die Länge. Selina merkte, dass sie zu weit gegangen war. Es war ihr erster Tag, und schon riskierte sie, entlassen zu werden und in Schande nach London zurückzukehren. Sie hatte den unnahbaren Lord Westcroft nur ein wenig provozieren wollen, um seine harte Fassade durchlässiger zu machen. Er sollte einsehen, dass die kleinen Mädchen nicht nur eine Belastung waren, sondern lebende, atmende Menschen mit ihren eigenen Träumen und Wünschen.

„Bleiben Sie für den Anfang bei Mathematik, Geschichte und Musik“, sagte er schließlich. „Wenn sie diese Gebiete beherrschen, dürfen sie gern auch andere Interessen verfolgen.“ Es war eine wohlüberlegte Antwort, gemessen und diplomatisch, und Selina empfand einen ersten Anflug von Respekt für den Mann vor ihr. Er hatte ihre Herausforderung angenommen und pariert.

Der Diener brachte den nächsten Gang herein – appetitlich aussehende Scheiben von Hühnerfleisch mit diversem Gemüse.

„Ich werde die Mädchen jeden Sonntagnachmittag in meinem Studierzimmer empfangen, um mich über ihre Fortschritte zu informieren.“

„Einmal die Woche?“

„Ja. Sonntags.“

„Gewiss wollen Sie sie öfter als einmal wöchentlich sehen? Um etwas mit ihnen zusammen zu tun, um sie kennenzulernen?“

„Es sind Kinder, Miss Salinger. Und für so etwas haben sie Sie.“

„Aber ich bin nur eine Gouvernante und werde dafür bezahlt, mich um sie zu kümmern. Sie sind ihre Familie.“

Lord Westcroft legte seine Gabel ab und schwieg wieder ausdauernd.

„Bevor der Brief kam, der mich über den Tod meines Bruders unterrichtete, wusste ich nicht einmal, dass Priscilla und Theodosia existierten“, sagte er gemessen. „Sie kennen mich nicht. Wir mögen Blutsverwandte sein, aber wir haben keine gemeinsamen Erlebnisse, nichts, das uns verbinden würde.“

„Aber …“, begann Selina, doch Lord Westcroft hob gebieterisch die Hand, um sie zu stoppen.

„Ich will sie einmal die Woche am Sonntag sehen, um mich zu überzeugen, dass sie lernen, was sie sollen, und dass sie gut versorgt werden. Für die übrige Zeit sind sie in Ihren Händen, Miss Salinger.“

Seine Stimme klang gefühllos und seine Worte waren so endgültig, dass Selina nicht mehr widersprach. Sie fragte sich, was diese Familie so voneinander entfremdet hatte, dass Lord Westcroft nicht einmal von der Existenz seiner Nichten gewusst hatte.

„Ich werde tun, was Sie wünschen, Lord Westcroft“, sagte Selina ruhig. Dies und noch viel mehr.

Leise tappte Matthew über den Flur. An den Füßen trug er nur Socken, weil er die Schuhe zuvor ausgezogen hatte, um es sich bequemer zu machen. Das Haus war still, beinahe unheimlich still, nur gelegentlich hörte er die Fenster knarren. Draußen schrie irgendwo eine Eule, und ein dunkler Schatten streifte die Fenster, als etwas durch die Nacht flog.

Matthew fühlte sich unruhig, wie schon seit neun Wochen. Es lag daran, dass er wieder in Manresa House war, dem einzigen Ort, an den er niemals hatte zurückkehren wollen. Jedes Zimmer war voller Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte. Jeder Winkel, jede Ecke drohte ihn zurückzuziehen in die Zeit, als er noch ein verwundbarer junger Knabe war. Wenn es nach ihm ginge, würde er das Gebäude abreißen lassen, die Steine vernichten, aus denen es erbaut war, und damit auch die Erinnerungen, die darin steckten.

„Es ist doch nur ein Haus“, ermahnte er sich leise. Er durfte es nicht zerstören, so gern er auch wollte. Es war ein vertrauter Ort für Priscilla und Theodosia, reich an Erinnerungen für seine Nichten. Hoffentlich waren es glücklichere als seine eigenen. Er wollte ihnen nach allem anderen nicht auch noch ihr Zuhause wegnehmen.

Leise öffnete er die Tür zur Bibliothek und trat hinein. Sofort fiel die Spannung von ihm ab, wie immer, wenn er diesen Raum mit der gewölbten Decke betrat. Als er noch ein Kind war, war hier sein ganz eigener Raum gewesen, seine Zuflucht. Weder seine Eltern noch sein älterer Bruder interessierten sich für die vielen Tausend Bücher, die in den Regalen standen. Er spürte, dass er zu lächeln begann, als er die vertrauten Titel auf den Lederrücken der Bücher las. Er konnte nicht einschlafen, aber er würde sich wenigstens nicht langweilen.

Matthew nahm gerade ein Buch zur Hand, als er hinter sich ein leises Hüsteln vernahm. Für eine Sekunde zog sich ihm das Herz in der Brust zusammen, jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, bereit zum Kampf. Es brauchte eine weitere Sekunde, bis sein Verstand ihn davon abhielt, herumzufahren und zuzuschlagen. Er war in Sicherheit. Weder ein menschenfressender Tiger noch eine todbringende Schlange würde hier über ihn herfallen.

Langsam drehte er sich um und runzelte ein wenig die Stirn.

„Bitte verzeihen Sie mir, Lord Westcroft“, sagte Miss Salinger mit geröteten Wangen. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich glaubte, dass jeder im Haus bereits schlafen gegangen sei, und hoffte, Sie hätten nichts dagegen, wenn ich mir ein Buch ausborgen würde.“

Natürlich war es die Gouvernante. Gerade einmal sieben Stunden hier und schon ein Dorn im Auge.

Unfair, schalt er sich.

„Wandern Sie oft mitten in der Nacht in fremden Häusern umher ohne Kerze?“, fragte er mit sehr leiser Stimme.

„N…nein“, stotterte sie.

Er fühlte ein fast perverses Vergnügen beim Anblick ihres Unbehagens und beobachtete, wie ihre Lippen sich auf der Suche nach den nächsten Worten bewegten. Es waren volle Lippen, die sogar in der Dunkelheit rosig aussahen. Sicherlich hatten schon viele Männer im Laufe der Zeit davon geträumt.

„Ich habe gelernt, dass man niemals eine brennende Kerze in eine Bücherei mitnehmen darf.“

„Von wem haben Sie das gelernt, Miss Salinger?“ Er hielt es für unwahrscheinlich, dass seine neue Gouvernante in einem Haus aufgewachsen war, das groß genug für eine Bibliothek war.

„Mein Vater.“

Als sie nicht weitersprach, nickte er langsam. „Vernünftiger Mann. Hatte er auch eine Meinung zu dem besten Zeitpunkt, eine Bibliothek aufzusuchen?“

„Der Mond scheint hell genug, um etwas zu erkennen“, sagte Miss Salinger und hob ein wenig das Gesicht.

In diesem Moment tauchte der Mond hinter den dicken Wolken auf und schien zum Fenster herein. Er beleuchtete nicht nur die Bücher, sondern auch Miss Salingers weißes Nachthemd, das unter ihrem locker zusammengebundenen Schlafrock hervorblitzte. Es war nur ein kleines Stückchen Stoff zu sehen, aber es genügte.

Matthew schluckte. Blinzelte. Sie war eine attraktive junge Frau, groß und mit schönen Rundungen. Zu dieser Nachtzeit trug sie die Haare offen, ihre dunklen Locken wallten wie ein Wasserfall über ihre Schultern und umrahmten ihr hübsches Gesicht.

„So ist es“, sagte er leise.

Sie bewegte sich ein wenig, und er konnte sehen, wie das Nachtgewand sich kräuselte und eine Andeutung ihrer Kurven darunter preisgab.

Matthew schloss die Augen und zählte bis fünf. Er war schon sehr lange ohne Frau.

„Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?“ Er rückte etwas zur Seite, damit er sie nicht direkt ansah.

„Noch nicht. Ich habe mir gerade erst die Titel angesehen. Es ist wirklich eine schöne Bibliothek.“

Er murmelte zustimmend und schaute ihre Lippen an, während sie sprach. Es waren rosige Lippen, die zum Küssen geradezu einluden.

Doch diesen Gedanken ließ er sofort fallen. Miss Salinger war viel zu wichtig, um eine Tändelei auch nur in Erwägung zu ziehen. Er durfte nichts riskieren, das sie abschrecken könnte. Neun Wochen lang hatte er auf eine Gouvernante gewartet. Neun Wochen emotionaler Qualen, während die kleinen Mädchen oben sich immer mehr von ihm zurückzogen.

„Vielleicht kann ich Ihnen helfen, etwas zu finden.“ Umso schneller würde Miss Salinger sich in ihr Zimmer zurückziehen. Weit weg von ihm. „Was hätten Sie denn gern?“

„Vielleicht einen Klassiker. Die Ilias oder Odyssee.“

Die Frau hatte einen guten Literaturgeschmack. Bei einer Gouvernante nicht verwunderlich.

„Hier sind sie …“ Er griff in das Regal und zog zwei Bücher hervor. „… Entscheiden Sie später, welches Sie zuerst lesen möchten.“

„Vielen Dank.“ Miss Salinger lächelte. Sie streifte ihn mit den Fingern, als er ihr die Bücher übergab. Ihre weiche Haut an seinen schwieligen Händen. Fast wäre er zurückgezuckt, aber er gab vor, es nicht zu bemerken.

„Gute Nacht, Miss Salinger“, sagte er und trat zur Seite, damit sie an ihm vorbei zur Tür gehen konnte. Er schaute ihr nach und bemerkte das verführerische Schwingen ihrer Hüften unter dem formlosen, praktischen Nachtmantel.

„Gib mir Kraft“, murmelte er in sich hinein.

„Entschuldigung?“

„Schlafen Sie gut.“

Mit einem letzten Lächeln in seine Richtung verschwand sie und ließ ihn mit seinen eindeutig unritterlichen Gedanken allein.

3. KAPITEL

„Ein bisschen Regen hat noch niemandem geschadet“, sagte Selina in ruhigem, aber festem Ton und zog die beiden Mädchen aus dem Kinderzimmer.

„Alle, die nicht auf der Arche waren, mussten sterben“, sagte Priscilla und warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Diesen kleinen Nieselregen kann man wohl kaum mit der Sintflut vergleichen.“

Vier Stunden – länger hatten sie nicht im Schulzimmer durchgehalten. Selina hatte ihr Bestes getan, Lord Westcrofts Vorschriften zu befolgen und die Mädchen Mathematik und Geschichte zu lehren. Es war eine Katastrophe. Monatelang hatten die Kinder tun und lassen können, was sie wollten, ohne Struktur und Disziplin. Wie konnte sie nur so dumm sein anzunehmen, dass sie dies an einem Tag ändern konnte.

„Mäntel an!“, sagte sie schließlich und nahm ihren eigenen Umhang vom Haken an der Tür. Eine der Mägde hatte gute Arbeit geleistet und den schlimmsten Schmutz ausgebürstet.

„Wenn wir Fieber bekommen, wird unser Onkel aber nicht erfreut sein“, murrte Priscilla. Mit ihren neun Jahren war sie die schwierigere der beiden Schwestern. Sie war still, lehnte aber grundsätzlich alles ab und widersprach allem, was Selina tat, ohne dafür einen Grund zu haben. Es würde noch einige Zeit dauern, ihr Vertrauen zu gewinnen. Selina musste ihr zeigen, dass sie nicht plötzlich wieder von hier verschwinden würde und dass sie bereit war, mit ihr gemeinsam eine Zukunft aufzubauen. Theodosia war fröhlicher und williger. Sie hatte eine unerschöpfliche Energie, aber leider nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne.

Selina spähte aus der Vordertür und begann erfreut zu lächeln, als sie in den Himmel sah.

„Seht nur, der Nieselregen hat auch aufgehört. Ich kann sogar schon ein Stückchen blauen Himmel sehen.“

Skeptisch schaute Priscilla die grauen Wolken an, aber sie sagte nichts mehr.

„Können Sie uns auch Reiten beibringen?“, fragte Theodosia. „Mama hat uns nie reiten lassen und Vater war viel zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Ich hätte so gern ein eigenes Pferd.“ Dann sah sie etwas, das ihre Gedanken offenbar in eine andere Richtung lenkte. „Bogenschießen … Sie haben versprochen, es uns zu zeigen. Dürfen wir? Werden Sie es uns zeigen? Bitte, sagen Sie Ja.“

Priscilla schnaubte. „Sie ist eine Gouvernante, Thea, kein Soldat.“

„Aber sie hat es versprochen.“

„Alle versprechen ständig irgendetwas.“

Selina sah, wie die Kleine sich auf die Lippe biss bei den harten Worten ihrer Schwester.

„Hatte euer Vater einen Bogen und Pfeile, Theodosia?“ Selina konzentrierte sich auf die jüngere Schwester.

„Ja. Hinten im Stall. Er hat auch eins von diesen großen Ziel-Dingern.“ Hoffnung war plötzlich in ihrer Stimme hörbar. „Heißt das, Sie werden es uns beibringen?“

„Versprochen ist versprochen“, sagte Selina.

Theodosia legte ihre kleine Hand in Selinas große und drückte sie. Selina hoffte, es würde ein Anfang sein, um eine Beziehung mit den beiden traurigen kleinen Mädchen aufzubauen.

„Das ist schmutzig“, stellte Priscilla fest, als Selina die Zielscheibe aus der Stallecke holte. „Und voller Spinnweben.“

„Ein bisschen Schmutz schadet nicht.“

„Erzählen Sie das den vielen Menschen, die an der Beulenpest gestorben sind“, murrte Priscilla.

„Das lag an den Ratten. Das hier ist nur Schmutz.“

Ohne Rücksicht auf ihre schmerzenden Muskeln beförderte Selina die schwere Zielscheibe nach draußen auf die Wiese hinter dem Haus. Sie stellte sie sorgfältig auf, dann ging sie zurück in den Stall, um den Bogen und den Köcher mit Pfeilen zu holen. Eifrig schnatternd tanzte Theodosia ihr um die Füße, doch Priscilla blieb, wo sie war, und beobachtete alles mit der hochmütigen Verachtung einer Neunjährigen.

„Der Bogen ist schwer“, sagte Selina und wog die Waffe in den Händen. „Er wurde für eine viel größere Person gemacht, also dürft ihr nicht enttäuscht sein, wenn ihr ihn kaum bewegen könnt.“

„Ich bin stark“, sagte Theodosia. „Ich esse mein Gemüse immer auf.“

Priscilla schnaubte. „Ich esse mein Gemüse fast immer auf“, korrigierte sich Theodosia.

„Ich verrate dir ein Geheimnis“, flüsterte Selina ihr zu. „Ich esse nie Möhren, und ich kann Kohl nicht ausstehen.“

Theodosia kicherte.

„Hast du schon einmal mit Pfeil und Bogen geschossen?“

„Nein, aber ich kann es bestimmt sehr gut.“

„Können Sie es denn überhaupt, Miss Salinger?“, fragte Priscilla herausfordernd. „Es ist keine normale Fähigkeit für eine Gouvernante. Und wenn Sie nicht wissen, wie man damit umgeht, sollten Sie es uns besser nicht lehren.“

Schweigend nahm Selina den Bogen und zupfte an der Sehne, um die Spannung zu überprüfen. Sie wählte einen Pfeil aus, prüfte die Spitze und das Ende, bevor sie ihn am Bogen anlegte. Sie nahm sich Zeit, brachte sich in Position, hob den Bogen und ließ den Pfeil los. In einer perfekten Linie flog er auf die Zielscheibe zu und traf das Ziel mit einem befriedigenden dumpfen Geräusch. Nicht ganz in der Mitte, aber nicht weit davon entfernt.

Die Mädchen sahen sie bewundernd und ungläubig an.

„Machen Sie das noch mal“, flüsterte Theodosia.

Selina wählte einen neuen Pfeil, wiederholte alle Schritte und ließ ihn zur Zielscheibe fliegen. Wieder ein Treffer, noch ein begeistertes Kreischen von Theodosia.

„Wo haben Sie das gelernt?“, wollte Priscilla wissen.

„Von meinem Vater.“

„Hab ich doch gesagt“, sagte Theodosia zu ihrer Schwester. „Ich hab doch gesagt, sie würde es uns beibringen.“

„Kommt her.“ Theodosia kam näher, doch Priscilla blieb zurück. Sie hatte zwar ein kleines neugieriges Funkeln in den Augen, doch die Ältere wollte nicht fasziniert sein und sich auch nicht beteiligen.

Sie braucht ihre Zeit, sagte sich Selina. Es konnte Wochen dauern, bis sie das notwendige Vertrauen aufgebaut hatte, aber es würde sich lohnen. Für heute genügte es, dass Priscilla interessiert zusah und sich nicht noch mehr abkapselte. Vielleicht würde sie sich dann irgendwann erlauben, auch ihren Spaß zu haben.

„Wenn man einen Bogen hält, ist Sicherheit am allerwichtigsten“, sagte Selina und zeigte auf die Pfeile auf dem Boden. „Es sind tödliche Waffen, und man muss sie stets mit dem größten Respekt behandeln.“

Matthew blätterte im Kontobuch, um sich die neuesten Berichte und Zahlen zu den Frachtschiffen anzusehen, die kürzlich in London angedockt hatten. Als er ein freudiges Quieken von draußen hörte, hielt er inne. Neun Wochen lang hatte er allein die Verantwortung für seine Nichten getragen, und in dieser Zeit hatte er sie nie lachen gehört.

Er wandte sich wieder dem Bericht zu, doch kaum hatte er drei Wörter gelesen, drang ein weiterer Jubelschrei an seine Ohren. Er stand auf und ging zum Fenster. Vermutlich spielten die Mädchen und Miss Salinger irgendein Spiel, Nachlaufen oder Verstecken vielleicht. Er fand solche Spiele zwar erzieherisch nicht wertvoll, aber gelegentlich musste Bewegung an der frischen Luft den Schultag unterbrechen, das sah selbst er ein.

Doch als er nun aus dem Fenster schaute, verschlug es ihm fast den Atem. Mitten auf der Wiese stand Miss Salinger, die Arme von hinten um Klein-Theodosia geschlungen, und zeigte ihr, wie man einen Bogen hielt. Das Kind zog konzentriert die Brauen zusammen, spannte die Sehne und ließ den Pfeil los. Er flog immerhin ein paar Fuß durch die Luft, bevor er sich ein gutes Stück vom Ziel entfernt in den Boden bohrte.

Für einen etwas zu langen Augenblick schaute Matthew sich Miss Salingers Figur an, bevor er aufsprang und aus dem Studierzimmer eilte. Irgendjemand musste sie aufhalten. Bogenschießen war gefährlich und nichts für Amateure. Und schon gar nicht durfte es Kindern beigebracht werden von einer Person, die nicht wusste, was sie tat.

So schnell er konnte, rannte er über die Wiese und war in weniger als einer Minute am Ort der Schießstunde.

„Einatmen und spannen“, sagte Miss Salinger gerade zu Theodosia und half dem Kind, die Sehne zurückzuziehen. „Ausatmen, zielen und loslassen.“

„Halt“, rief er, als er die vor Anstrengung zitternde Hand seiner Nichte die Sehne spannen sah. Er war sicher, sie würde sich in den Fuß schießen.

Theodosia erschrak und machte eine halbe Drehung. Matthew sah, dass die Gouvernante erschrocken die Augen aufriss, als sie rutschte und der Bogen ihr entglitt. Der Pfeil löste sich und flog in einem Bogen auf ihn zu. Matthew versuchte zurückzuspringen, aber er war zu langsam. Er schrie schmerzlich auf, als der Pfeil sich in seinen Stiefel bohrte.

Niemand bewegte sich. Dann bewegten sich alle gleichzeitig. Miss Salinger legte vorsichtig den Bogen in größerer Entfernung von den Pfeilen ab, dann ging sie vorwärts. Matthew nahm an, sie wollte ihm zu Hilfe eilen, aber zu seinem Erstaunen sah er, dass sie sich vor Theodosia hinkauerte.

„Lord Westcroft geht es gut“, sagte sie und strich dem Mädchen die Haare aus dem Gesicht. „Es war ein Unfall, weiter nichts. Und sein Fehler, nicht deiner.“

Sein Fehler?

Er sah seine Nichte nicken. Ihr kleines Gesicht war blass, und zu seiner Überraschung nahm Miss Salinger das Mädchen in die Arme.

„Komm zu deiner Schwester, Priscilla“, sagte Miss Salinger mit sanfter Stimme. „Nimm ihre Hand und halte sie, während ich nach Lord Westcroft sehe.“

Erst, als sie überzeugt war, dass den Kindern nichts passieren konnte, kam sie auf ihn zu.

„Danke für die schnelle Hilfe“, murmelte er.

„Sarkasmus steht Ihnen nicht“, sagte sie heiter. „Und der Pfeil hatte kaum noch Kraft.“

„Trotzdem haben Sie mir in den Fuß geschossen.“

„Und ich bin sicher, dass der Pfeil kaum Ihren Fuß geritzt hat.“

Ungläubig sah er sie an.

„Es war reines Glück“, brummte er.

„Ich bin sicher, Sie haben schon Schlimmeres erlebt.“

„Darum geht es nicht.“ Er konnte kaum fassen, dass diese englische Gouvernante ihn gerade über Gleichmut belehrte.

„Sie hätten nicht so schreien dürfen“, sagte sie resolut. „Kommt, Kinder, wir bringen euren Vormund ins Haus.“

„Sollten wir nicht zuerst den Pfeil herausziehen?“ Theodosia schaute interessiert über Miss Salingers Schulter.

Die Gouvernante biss sich auf die Lippe und schaute auf den langen Pfeil, der aus seinem Stiefel herausragte.

„Hat er das Leder durchbohrt? Haben Sie Schmerzen?“

„Ein wenig.“

„Ich fürchte, wenn ich jetzt daran ziehe, wird das Blut in den Stiefel laufen“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Er sah, dass sie besorgt war, und begriff, dass ihre harsche Art von eben nur dazu gedacht war, die Mädchen zu beruhigen.

„Wenn Sie mir Ihren Arm geben, stütze ich mich auf dem Rückweg zum Haus darauf. Dort können wir ihn dann herausziehen“, sagte Matthew.

Er erwartete, dass sie ihm ihren schlanken Arm anbieten würde, stattdessen schob sie ihren ganzen Körper unter seinen Arm und richtete sich auf. So konnte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Schultern stützen. Es war eine irgendwie intime Position, und durch die Mäntel spürte Matthew ihre Körperwärme. Etwas regte sich in ihm, etwas lange Unterdrücktes und Ursprüngliches.

„Ihr geht voraus, Kinder“, sagte Miss Salinger, und sie folgten ihrer Anweisung.

Beim Gehen spürte Matthew, dass sich die scharfe Pfeilspitze tiefer in seinen Fuß bohrte. Er biss die Zähne zusammen und ging etwas schneller, um bald im Haus anzukommen. Sie traten durch die Vordertür. Mrs. Fellows hielt die Tür auf. Ihr anfangs erschrockenes Gesicht wurde wieder mürrisch, als sie sah, dass niemand ernsthaft verletzt war.

„In mein Studierzimmer“, sagte Matthew und alle zusammen gingen in den bedrückend aussehenden, düsteren Raum, den er als privates Studierzimmer nutzte. Miss Salinger half ihm, sich in einen der Armsessel zu setzen, und kniete sich vor ihn hin.

„Wir brauchen heißes Wasser und etwas, um die Wunde zu verbinden“, wies sie Mrs. Fellows an, die hinter ihnen hergekommen war.

Die alte Haushälterin schlurfte hinaus und murmelte etwas Unverständliches.

„Vielleicht könntet ihr schnell mal zur Küche laufen, Kinder“, sagte Miss Salinger über die Schulter. „Lord Westcroft wird etwas Süßes haben wollen, wenn wir mit dem Verbinden fertig sind. Bittet die Köchin, etwas zuzubereiten.“

„Sie denken an alles, nicht wahr?“, sagte er leise, als die beiden Mädchen zögerlich das Zimmer verließen. Obwohl er immer noch verärgert war wegen des Pfeils in seinem Fuß, musste er sie widerwillig bewundern. Auf geschickte Weise hatte sie verhindert, dass die Kinder in dieser Situation hysterisch reagierten.

„Soll ich ihn nun herausziehen?“, fragte sie und sah ihn von unten her durch ihre langen dunklen Wimpern an. Er wusste, dass es nicht sinnlich gemeint war. Dass sie ihn nicht verführen wollte. Und doch floss das Blut schneller durch seinen Körper bei diesem Blick.

Er nickte und hielt sich an den Armlehnen fest. Sie zog mit ihrer ganzen Kraft. Matthew spürte, dass die Pfeilspitze sich kurz bewegte, doch mehr auch nicht.

Sie biss sich wieder auf die Lippe. Mittlerweile kannte er diese Geste – und auch seine Reaktion darauf.

„Erlauben Sie, bitte“, sagte er. Irgendwie fand er den Umgang mit der körperlichen Nähe zu seiner Gouvernante schwieriger als den mit dem Schmerz im Fuß.

Matthew ergriff den Pfeil und zog daran. Er glitt aus dem Fuß und durch das Leder seines Stiefels.

„Gut gemacht“, sagte Miss Salinger, als gratuliere sie einem Zehnjährigen zu seiner schönen Schrift. „Nun nehmen wir Ihren Stiefel ab und wir können sehen, wie schwer die Verletzung ist.“

Vorsichtig zupfte Matthew an dem Leder und zog dann den Stiefel und die Socke aus. Er schaute sich den Fuß an. Blut sickerte aus einer glücklicherweise kleinen Wunde. Er bewegte die Zehen, was einen scharfen Schmerz auslöste, aber seine Bewegungen schienen nicht behindert zu sein.

„Entschuldigung, ich …“, hauchte Miss Salinger.

Matthew sah, wie bleich sie plötzlich geworden war und wie glasig ihre Augen aussahen. Gerade noch rechtzeitig sprang er aus dem Sessel und fing sie auf, bevor sie zu Boden sank.

Ihr schlaffer Körper hing schwer in seinen Armen, und er brauchte ein paar Sekunden, um sie vorsichtig auf den Boden zu legen.

„Was hast du mit Miss Salinger gemacht?“, schrie Theodosia, als sie hereinkam. Die Kleine ging mit erhobenen Fäusten auf ihn los. Matthew hatte nicht gewusst, dass sie so wild sein konnte.

„Sie ist ohnmächtig geworden. Nur ohnmächtig“, wiederholte er. Theodosia blieb stehen, aber sie schaute ihn immer noch wütend an.

„Pfeil auf den Master geschossen, Gouvernante liegt ohnmächtig auf dem Boden. Wie weit ist es mit diesem Haus gekommen?“ Mit einem Fläschchen in der Hand kam Mrs. Fellows ins Zimmer. Sie schob Matthew beiseite und wedelte mit dem Fläschchen vor Miss Salingers Nase.

Wie durch Zauberei begannen die Augenlider der Gouvernante zu flattern, und sie öffnete die Augen.

„Oh, ich bitte um Verzeihung“, sagte sie und legte eine Hand vor den Mund, als sie aufzustehen versuchte.

„Bleiben Sie liegen“, befahl er. Sein scharfer Ton brachte ihm finstere Blicke aller Übrigen im Zimmer ein. „Sonst fallen Sie gleich wieder um.“

Trotz seiner Worte rappelte sich Miss Salinger zum Sitzen auf, dann schloss sie kurz die Augen. Theodosia ging auf sie zu und schien sich beschützend über ihre neue Gouvernante werfen zu wollen.

„Alle raus“, befahl Matthew. „Mrs. Fellows, bringen Sie die Kinder in ihr Zimmer.“

„Aber …“, protestierte Theodosia.

„Keine Widerrede. Nach oben. Sofort.“

Eine Minute später war er allein mit Miss Salinger.

„Es tut mir leid, dass ich in Ohnmacht gefallen bin“, sagte sie offensichtlich verlegen. „Ich habe den Anblick von Blut noch nie ausgehalten.“

Sie sah so jung aus, als sie dort auf dem Boden saß. Matthew erkannte, dass sie kaum über zwanzig Jahre alt sein konnte, trotz ihrer Autorität bei den Kindern.

Schweigend stand er auf und humpelte dorthin, wo Mrs. Fellows das Wasser und die Stoffstreifen abgestellt hatte. Sorgfältig säuberte er die Wunde im Fuß. Sie war etwa einen halben Zoll tief, aber es schien nichts Wichtiges verletzt worden zu sein. Erst, als alles ordentlich verbunden war, drehte er sich wieder zu Miss Salinger um.

Sie kämpfte sich auf die Beine, und für einen Moment befürchtete er, sie würde wieder umfallen. Darum sprang er auf sie zu und hielt sie am Arm fest.

„Danke“, sagte sie leise und schaute ihm zum ersten Mal richtig in die Augen. Für einige Sekunden hielt sie seinem Blick stand. Ihre Augen waren dunkelgrün, groß und ernst. Augen, um sich darin zu verlieren.

Er hätte sie gern an sich gezogen, ihre vollen Lippen mit seinen bedeckt, ihren Körper an seinen gedrückt. Für einen Moment bildete er sich ein, sie käme ihm entgegen und öffnete ihre Lippen ein wenig für ihn, doch dann richtete sie sich gerade auf und trat zurück. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Blick zu Boden gerichtet.

„Ich entschuldige mich“, sagte sie. „Für den Schuss auf Sie.“

Er hätte fast gesagt, dass kein großer Schaden entstanden sei, dass Unfälle nun mal passieren, und hätte sie umarmt. Doch das wäre der Weg ins Verderben. Sie war eine Gouvernante, seine Angestellte. Er musste sie beschützen, nicht verführen.

„Sie hätten die Kinder niemals in Gefahr bringen dürfen“, sagte er barsch.

Miss Salinger schaute erstaunt zu ihm auf und brauchte offenbar einige Sekunden, um sich anzupassen an seinen veränderten Tonfall.

„Bevor Sie plötzlich auftauchten, war alles völlig sicher“, sagte sie ruhig und gelassen. „Jeder Dummkopf weiß doch, dass man sich nicht unerwartet an jemanden annähern darf, der eine geladene Waffe in der Hand hat. Und erst recht darf man nicht schreien, wenn gerade ein Pfeil abgeschossen wird.“

„Priscilla und Theodosia sollten eigentlich Mathematik, Geschichte und Musik lernen, nicht, wie man jemanden mit einer tödlichen Waffe umbringt.“ Er merkte selbst, wie hölzern das klang, aber sein Verteidigungsmechanismus schlug an, und er konnte sich nicht anders helfen.

„Es sind Kinder. Man kann von ihnen nicht erwarten, dass sie jede Minute des Tages arbeiten. Sie brauchen frische Luft, Spaß und ein bisschen Freude im Leben.“ Sie hielt inne und atmete tief ein. „Bitte entschuldigen Sie mich, Mylord. Ich muss zu meinen Schutzbefohlenen zurück.“ Sie eilte aus dem Zimmer und drehte sich erst wieder um, als sie sicher durch die Tür geschritten war. „Vielleicht finden Sie ja noch genug Zeit, um Theodosia zu sagen, dass Sie nicht böse auf sie sind. Dass sie nichts falsch gemacht hat.“

Bevor er noch etwas sagen konnte, war sie im dunklen Flur verschwunden. Er blieb allein zurück. Und fühlte sich verunsichert.

4. KAPITEL

Selina drehte sich zurück zur Tafel und verzog ihr Gesicht wie zu einem stummen Schrei. Die Mädchen konnten es nicht sehen, weil sie ihnen den Rücken zuwandte. Seit vier Tagen war sie nun in Manresa House. Der Ausdruck auf Priscillas traurigem kleinem Gesicht hatte sich in dieser Zeit nicht verändert. Das Kind beobachtete mit kritischen Blicken alles, was sie tat, so als wünsche sie sich, sie werde aufgeben und fortgehen. Selina brauchte eine neue Idee, wie sie das kleine Mädchen aus seiner Reserve locken könnte, damit sie wieder am Leben teilnehmen und einen Teil der Wut loslassen konnte, die sie stets mit sich herumtrug.

Mit einer ausholenden Bewegung wischte Selina die Namen der Tudor-Könige und – Königinnen von der Tafel. Sie wollte etwas Neues versuchen.

„Was ist eigentlich Geschichte?“, fragte sie ihre Schülerinnen.

Die beiden kleinen Mädchen schauten sie leicht überrascht an.

„Alles über Könige und Königinnen und Schlachten“, schlug Theodosia vor.

„Langweilige Sachen, die irgendwelchen Menschen vor langer Zeit passierten“, sagte Priscilla und schaute Selina herausfordernd an. Die Neunjährige testete sie, das wusste sie. Die ganze Zeit versuchte sie bereits, sie zu provozieren, damit sie sie anschrie oder die Geduld verlor. Wahrscheinlich wäre Priscilla dann bestätigt in ihrer Abneigung gegen ihre Gouvernante.

„Manchmal scheint es so, nicht wahr?“, sagte Selina. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor die beiden. „Schlachten und Hochzeiten und Bündnisse. Alles betraf Leute, die schon lange tot sind und ganz anders lebten als wir heute.“

„Warum müssen wir es dann lernen?“, fragte Priscilla herausfordernd.

„Weil ich davon ausgehe, dass man von den Menschen, die vor unserer Zeit lebten, etwas lernen kann. Ein Feldherr kann alte Schlachten studieren und daraus lernen, welche Taktiken er vermeiden oder anwenden sollte. Könige und Königinnen können auf ihre Vorfahren zurückblicken und herausfinden, welche Politik etwas Gutes bewirkte und welche Entscheidungen unbeliebt waren.“

„Und was ist mit normalen Leuten wie uns?“, fragte Priscilla. „Ich glaube nicht, dass ich einmal Königin von England werde. Oder Feldherr.“

Selina lächelte. Diese Frage hatte sie erwartet.

„Ich möchte, dass ihr für unser nächstes Projekt etwas über eure eigene Geschichte aufschreibt. Sucht euch eine Erinnerung aus – egal, ob glücklich oder traurig – und schreibt darüber.“

Beide Mädchen sahen sie ausdruckslos an. Innerlich musste Selina seufzen. Sie hatte so etwas schon einmal versucht, bevor sie diese Stelle annahm. Der kleine Junge, den sie betreute, wurde geradezu erstickt von seiner Familie. Jegliche Kreativität, jeder freie Gedanke wurde ihm ausgetrieben durch einen geistlosen und eng begrenzten Lehrplan.

„Priscilla, denke an deine Lieblingsfigur in der Geschichte, an eine Person, die du bewunderst …“

Nach längerer Zeit antwortete ihre Schülerin endlich. „Königin Elizabeth.“

„Sehr gut. Als Königin Elizabeth noch jung war und niemals geglaubt hätte, selbst einmal Königin zu werden – glaubst du, dass sie auf die Idee gekommen wäre, dass sich später einmal die Historiker in jede Kleinigkeit ihres Lebens vertiefen würden?“

Selina sah, dass Priscilla anscheinend allmählich begriff, worauf sie hinauswollte.

„Niemand kann wissen, wohin sein Lebensweg führen wird.“ Selina dachte an die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass sie sich jetzt in diesem Schulzimmer in Yorkshire aufhielt. „Eines Tages könntest du so erfolgreich sein, dass die Menschen etwas über deine Geschichte erfahren wollen.“ Sie gab den Mädchen Zeit, darüber nachzudenken, dann sollten sie mit dem Schreiben beginnen.

„Ich schreibe darüber, wie Papa in den See fiel, als er Colin retten wollte“, sagte Theodosia schmunzelnd.

„Colin?“

„Unseren Hund. Er war sehr ungezogen und rannte immer wieder weg.“

„Das klingt nach einer wundervollen Geschichte. Priscilla?“

Die Ältere schaute stumm auf die leere Seite und biss sich auf die Lippe.

„Du brauchst es mir nicht zu erzählen“, sagte sie leise. „Schreibe es einfach auf.“

Kopf hoch, Rücken gerade, sagte sich Selina, als sie zaghaft vor Lord Westcrofts Zimmertür stand. Heute war kein Sonntag, an dem sie ihm normalerweise vom Fortschritt der Kinder berichten sollte. „Lächerliche Regel“, murmelte sie, um sich Mut zu machen.

Trotz seiner gelegentlich unwirschen Art hielt sie Lord Westcroft nicht für einen schlechten Menschen. Sie glaubte sogar, gelegentliche Funken von Zuneigung in seinen Augen gesehen zu haben, wenn er mit seinen Nichten zusammen war. Aber er wusste offenbar überhaupt nicht, wie er sich in Gegenwart der Kinder verhalten sollte.

Sie klopfte an und wartete auf seine Erlaubnis, bevor sie eintrat.

Im Studierzimmer war es düster, obwohl es erst später Nachmittag war. Einige Kerzen brannten. Lord Westcroft saß hinter seinem Schreibtisch und konnte seinen Unmut kaum verbergen.

„Miss Salinger“, begrüßte er sie. Er stand auf und zeigte auf einen Stuhl. Vermutlich hatten seine guten Manieren über den offensichtlichen Wunsch gesiegt, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Selina setzte sich bequem hin. Was sie ihm sagen und zeigen wollte, würde eine Weile dauern.

„Gibt es ein Problem?“ Er zog die dunklen Brauen missmutig zusammen.

„In gewisser Weise …“, sagte Selina zögernd und hielt die beschriebenen Seiten noch fester. Sie sagte sich, dass sie keinen Vertrauensbruch beging, denn Lord Westcroft war Priscillas Vormund und musste als solcher alles erfahren, was das Wohlergehen des Mädchens betraf. „Ich wies die Mädchen an, eine kleine Geschichte aus ihrer eigenen Vergangenheit zu schreiben. Sie sollten etwas auswählen, das ihnen wichtig war, und sich vorstellen, sie schrieben es für eine zukünftige Leserschaft, die sich für ihr Leben interessiert.“ Sie machte eine kurze Pause.

„Fahren Sie fort“, sagte Lord Westcroft. Er war offenbar nicht sonderlich interessiert, aber immerhin hatte er sie nicht aus dem Zimmer gewiesen.

„Theodosia schrieb eine lustige kleine Anekdote über ihren Vater, der in den See fiel, als er versuchte, den Hund zu retten.“

Ein kleines Lächeln huschte über Lord Westcrofts Gesicht, aber schnell zeigte er wieder seinen üblichen ungeduldigen Ausdruck.

„Priscilla schrieb etwas ziemlich Verstörendes …“ Selina gab ihm die Blätter, die sie auf ihrem Schoß hielt. „Besser, Sie lesen es selbst.“

Stirnrunzelnd nahm Lord Westcroft die Seiten und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Während er las, schaute sich Selina im Zimmer um. Es war wirklich ziemlich bedrückend hier. Die Wände waren dunkel getäfelt, und dichte Vorhänge vor den Fenstern hielten das Tageslicht zurück. Selina schaute zurück zu Lord Westcroft und beobachtete ihn. Sie wartete darauf, dass er die Stelle erreichte, an der Priscilla über den Tod ihrer Mutter schrieb. Und über das, was danach geschah.

Er las schweigend und legte die Blätter erst nieder, als er das Ende erreicht hatte. Dann atmete er lange aus und betrachtete den Text noch einen Moment länger, bevor er aufschaute.

„Sie könnte es sich ausgedacht haben“, sagte er, aber sie hörte, dass er es selbst nicht glaubte.

„Wissen Sie, wie ihre Mutter starb?“

„Nein. Ich war zu der Zeit in Indien und hatte seit Jahren nichts von meinem Bruder gehört. Ich wusste nicht einmal, dass sie gestorben war, bis der Brief mich erreichte, mit dem man mich hierherrief, um mein Erbe und die Vormundschaft zu übernehmen.“

„Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.“

„Ein großer.“ Er betrachtete sie mit seinen dunklen Augen. Die Intensität seines Blicks beunruhigte sie. „Haben Sie Priscilla danach gefragt?“

„Nein. Die beiden gaben mir die Aufsätze kurz vor ihrem Essen, und ich bin sofort damit zu Ihnen gekommen, nachdem ich es gelesen hatte.“

Selina konnte sehen, dass viele Gedanken Lord Westcroft durch den Kopf gingen. Wahrscheinlich wünschte er sich, dass sie allein damit umgegangen wäre, ohne ihn zu behelligen. Doch so einfach wollte sie ihn nicht davonkommen lassen. Als ihr Vormund war er die einzige Konstante im Leben der Kinder. Gouvernanten kamen und gingen, aber er war der wichtigste Mensch in ihrem Leben, auf den sie sich verlassen mussten.

„Jemand sollte mit ihr darüber sprechen“, sagte er.

„Ich frage mich …“, sagte Selina kaum hörbar. Sie hatte einen kühnen Vorschlag, der auch sehr leicht fehlschlagen konnte.

„Fahren Sie fort.“

„Ich glaube, Priscilla will uns testen, besonders mich. Sie hätte über jedes beliebige Thema schreiben können. Doch sie wählte den Suizid ihrer Mutter und die schreckliche Tatsache, dass sie gezwungenermaßen außerhalb des Kirchhofs begraben wurde, wo sie für immer als Sünderin gebrandmarkt ist.“

„Wie kann das ein Test für Sie sein?“

„Weil Priscilla überzeugt ist, dass ich der Feind bin …“ Sie machte eine Pause. „Vielleicht sind wir auch beide der Feind. Sie verhält sich ungezogen und aufsässig. Ich glaube aber nicht, dass sie wirklich so sein will. Dies ist ihre Art, die Hand nach uns auszustrecken. Wenn wir es ignorieren oder uns falsch verhalten, wird sie sich immer tiefer in sich selbst zurückziehen.“

„Sie haben schon viel darüber nachgedacht“, sagte Lord Westcroft. Selina war nicht sicher, ob sie in seiner Stimme Bewunderung oder Skepsis hörte.

„Es ist meine Aufgabe“, sagte Selina leidenschaftlich. „Und die Kinder brauchen jemanden, der sich um sie kümmert.“

Eisiges Schweigen folgte, als er die Bedeutung ihrer Worte begriff.

„Was schlagen Sie vor, Miss Salinger?“, fragte Lord Westcroft kalt.

„Ich glaube, wir sollten mit ihnen zum Grab ihrer Mutter gehen. Ihren Schmerz anerkennen und etwas dagegen unternehmen.“

„Wir?“

„Ja, wir.“

Lord Westcroft lehnte sich im Sessel zurück. Endlich sagte er: „Ich kann morgen Vormittag zwei Stunden erübrigen. Wir nehmen die Kutsche.“

„Ich danke Ihnen“, sagte Selina und erhob sich. Sie hatte ihr Ziel erreicht, obwohl sie sich mehr Emotionen von Lord Westcroft gewünscht hätte.

Langsam, ganz langsam, sagte sie sich. Sie mussten mehr Zeit miteinander verbringen, und morgen würde vielleicht ein Anfang sein.

5. KAPITEL

„Lady Theodosia“, sagte Lord Westcroft und half seiner jüngeren Nichte in die Kutsche. „Lady Priscilla.“ Selina folgte nach ihnen und war überrascht, als er auch ihr die Hand entgegenstreckte. Sie spürte seine Wärme und einige Schwielen auf der Handfläche. Mit diesen Händen hatte er viel gearbeitet, auch wenn er inzwischen einen Titel trug.

„Miss Salinger.“ Als er ihr in die Augen schaute, stockte Selina...

Autor

Laura Martin
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Diane Gaston
Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten.

In ihrer Kindheit...
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