Historical Saison Band 12

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Die geheimnisvolle Viscountess von Gaston, Diane
Todesmutig rettet Adam Vickery, Marquess of Tannerton, die junge Marlena aus der herbstlich stürmischen See. Noch ahnt er nicht, welch gefährliches Geheimnis die schöne Schiffbrüchige quält. Da hat er sich schon Hals über Kopf in sie verliebt …

Herbststurm der Gefühle von Andrew, Sylvia
Sanft weht der Herbstwind die Blätter von den Bäumen, als Alexandra die Kirche betritt, um Lord Richard Deverell das Jawort zu geben. Aber in ihrem Herzen tobt ein Sturm. Aufgebracht schimpft sie Richard einen Verbrecher, kaum dass sie ihm ewige Liebe geschworen hat …

Der Heiratsantrag des Majors von Justiss, Julia
Die schöne Jenna ist für Major Garrett Fairchild wie eine Schwester. Bis er sie an einem der letzten warmen Tage beim Bad im Fluss überrascht. Der Anblick ihres Liebreizes weckt überraschende Sehnsucht in ihm. Doch noch liegt ein Schatten auf seinem Herzen …


  • Erscheinungstag 28.07.2012
  • Bandnummer 0012
  • ISBN / Artikelnummer 9783864946714
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Gaston, Sylvia Andrew, Julia Justiss

Historical Saison, Band 12

DIANE GASTON

Die geheimnisvolle Viscountess

Hat das Schicksal ihr diesen Mann gesandt? Zitternd schmiegt die junge Marlena sich an Adam Vickery, Marquess of Tannerton, der sie nach ihrem Schiffbruch aus der Irischen See gerettet hat. Doch auch wenn es ihr das Herz bricht, muss sie Adam wieder von sich stoßen. Denn jeder, der ihr hilft, gerät selbst in Lebensgefahr …

SYLVIA ANDREW

Herbststurm der Gefühle

Nicht das Liebesglück lässt Alexandra an diesem schönen Herbsttag vor den Traualtar treten, sondern der brennende Wunsch nach Rache. Kaum hat sie den Hochzeitsschwur geleistet, beschuldigt sie ihren frisch angetrauten Ehemann Lord Richard Deverell, ihre Familie ruiniert zu haben …

JULIA JUSTISS

Der Heiratsantrag des Majors

Wenn Jenna in die traurigen Augen von Major Garrett Fairchild blickt, wünscht sie sich so sehr, mit ihrer Liebe sein Herz zu heilen. Doch seinen Heiratsantrag scheint er ihr einzig aus Gründen der Vernunft zu machen. Wird er seine treulose ehemalige Verlobte nie vergessen? Jenna kann keinen Mann heiraten, der ihre Gefühle nicht erwidert …

1. KAPITEL

Oktober 1818

Der Sturm tobte wie eine wilde Bestie. Unter seinen heftigen Attacken ächzte und knarrte das Schiff, als bettelte es um Gnade. Auch die Schreie der Mannschaft, die verzweifelt versuchte, die Takelage zu retten, ließen keinen Zweifel an der Bedrohlichkeit der Lage.

Adam Vickery, Marquess of Tannerton, von seinen Freunden nur Tanner genannt, sah ebenso wie die anderen Passagiere im Frachtraum des Postschiffs dem eigenen Ende entgegen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen und zog Bilanz über sein Leben.

Er empfand es als unzulänglich. Er hatte keinerlei Spur in der Welt hinterlassen, keinen Sohn gezeugt, der seinen Titel und seine Ländereien erbte, kein Kind, das seinen Stammbaum fortführte. Er hatte nichts anderes getan, als das zu verwalten, was sein Vater, sein Großvater und all die Marquesses of Tannerton vor ihnen aufgebaut hatten. Wenn er ganz ehrlich war, konnte er nicht einmal behaupten, sich intensiv darum gekümmert zu haben. Andere erledigten diese Arbeit für ihn – seine Verwalter und Sekretäre. Sie schufteten, während er selbst sich mit Glücksspiel, Sport und Frauen vergnügte.

Ein lautes Krachen ertönte, und ein dumpfer Schlag erschütterte das ganze Schiff. Eine Frau wimmerte. Tanner öffnete die Augen und sah, dass sie ein Kleinkind und ein Baby an ihre Brust drückte. Der Frachtraum war voller Frauen, die wie sie vor Angst zitterten, und voller Männer, die wie er selbst ihre Hilflosigkeit verfluchten. Gegen den Sturm gab es kein Mittel, nichts, was die See beruhigt und die Balken des Schiffs zusammengehalten hätte.

Sein Blick fiel auf eine Frau, die nicht weinte und sich auch nicht ängstlich zusammenkauerte. Scheinbar furchtlos stand sie neben einem Bow Street Runner. Die Lederfesseln um ihre Handgelenke verrieten, dass sie eine Gefangene war. Schon vor Stunden, am Beginn seiner Reise von Dublin nach Holyhead, war sie ihm aufgefallen, weil sie trotz ihrer misslichen Lage eine solche Würde ausstrahlte. Welches Verbrechen mochte sie begangen haben, das ihre Eskortierung aus Irland rechtfertigte? Er war in zu düsterer Stimmung gewesen, um sie danach zu fragen. Jetzt wünschte er, mit ihr gesprochen oder sie wenigstens angelächelt zu haben. Sie machte einen ebenso einsamen Eindruck wie er.

Als der Wind immer heftiger wurde, hatte der Bootsmann alle Passagiere in den Frachtraum gebracht. Er hatte ihnen gesagt, dass sie in der Nähe der walisischen Küste seien. Die Küste war felsig und tückisch, darüber hatte der Mann allerdings kein Wort verloren.

Was ist schlimmer? überlegte Tanner. In den kalten Tiefen der Irischen See zu ertrinken oder gegen eine schroffe Felswand geschleudert zu werden?

Beides bedeutete den Tod.

Als der Sturm noch heftiger wurde, schaute der Bootsmann ein zweites Mal herein. „Alles wird gut“, beteuerte er. Keiner der Passagiere glaubte ihm. Tanner las es ihnen von den Augen ab. Es ging ihm ja selbst nicht anders. Er beobachtete einen Mann, der eine Miniatur aus der Tasche holte und sie betrachtete – das Porträt eines geliebten Menschen, den er nie wiedersehen würde, jemand der bald trauern würde.

Wer würde um den Marquess of Tannerton trauern? Sein Freund Pomroy würde ab und an in Erinnerung an ihn das Glas zu einem Trinkspruch erheben. Eine oder zwei ehemalige Geliebte behielten ihn vielleicht in guter Erinnerung. Möglicherweise dachten der Duke of Clarence und sogar der Prinzregent noch eine Weile an ihn. Algernon, seinem leichtlebigen Cousin, würde es davor grauen, den Titel und die damit verbundenen Pflichten zu erben. Tanner fuhr sich über das Gesicht und bedauerte, dass er Algernon nie an die Kandare genommen und ihm gezeigt hatte, wie einfach alles war.

Er bemerkte, dass der Bow Street Runner auf und ab ging, während die Gefangene dem Mann einen verächtlichen Blick zuwarf.

Hatte sie jemanden, der um sie trauerte?

Sie stand erhobenen Hauptes da, und ihre aufsehenerregenden Augen wirkten wach und aufmerksam. Der Gedanke, was das Meer ihr antun, wie es ihren Körper aufschwemmen und ihm jede Farbe nehmen würde, schien ihm unerträglich.

Tanner sah zur Seite und versuchte, das schreckliche Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben, aber immer wieder wurden seine Blicke zu ihr hingezogen.

Sie war groß und schlank und hatte ebenso dunkles Haar und durchdringend blaue Augen wie die Frau, die ihn vor einem Jahr eine kurze Zeit lang fasziniert hatte. Hier endete die Ähnlichkeit allerdings auch schon. Rose O’Keefe hatte die richtige Wahl getroffen, als sie sich für seinen ehemaligen Sekretär Jameson Flynn entschieden hatte. Flynn hatte der Vauxhall-Sängerin angeboten, sie zu heiraten, was Tanner niemals getan hätte. Außerdem liebte Flynn sie.

Im Grunde klang es fast komisch. Sie hatte dem Sekretär gegenüber dem Marquess den Vorzug gegeben. Allerdings verspürte er keine Verbitterung darüber. Rose hatte den besseren Mann gewählt.

Er ließ den Kopf sinken. Es war ihm nicht um Roses Liebe gegangen, sondern darum, einem Rivalen ein Schnippchen zu schlagen. Am Ende waren deshalb drei Menschen gestorben. Drei Leben, die er auf dem Gewissen hatte.

Er hatte Flynn und Rose das Dublin Theatre gekauft. Auch wenn er damit die Zerstörung, die er in Gang gesetzt hatte, nicht wiedergutmachen konnte, stellte es dem Paar wenigstens die Mittel zur Verfügung, um ein neues Leben zu beginnen. Es war das Mindeste, was er tun konnte. Er war zu ihrer Eröffnungsvorstellung nach Dublin gereist, und jetzt überquerte er erneut die Irische See in diesem Holyhead-Postschiff, das auf England zusteuerte.

Planmäßig hätte es bereits vor Stunden anlegen sollen, aber der Sturm behinderte die Fahrt, und es wurde immer später. Er zog seine Uhr aus der Tasche. Es war schon fast neun.

Erneut war von oben ein erschütterndes Krachen zu vernehmen. Tanner schob die Uhr wieder in die Tasche und sah die Gefangene an. Ihre Existenz und sein eigenes leeres Leben schienen sich dem Ende zuzuneigen.

Die Tür sprang auf, und der durchnässte Bootsmann rief: „Alle an Deck! Zu den Booten! Frauen und Kinder zuerst!“

Die Totenglocke. Der Kapitän hielt das Schiff für verloren. Jetzt blieb keine andere Möglichkeit mehr, als zu versuchen, das Leben der Frauen und Kinder zu retten.

Es gab tränenreiche Abschiedsumarmungen. Ein paar Männer drängelten sich vor die Mütter und Kinder. Tanner stieß sie zurück. Mit vollem Körpereinsatz hielt er den Frauen den Weg frei. Die Gefangene war die letzte Frau, die aus der Tür ging. Der Bow Street Runner schob sie grob vor sich her. Der Mann hätte ihr wenigstens die Fesseln abnehmen können. Was spielte es jetzt noch für eine Rolle? Zumindest hätte sie dann in Freiheit sterben können.

Tanner kam als Letzter an Deck. Aus allen Richtungen peitschten ihm Wind und Regen entgegen. Der Schiffsmast stand nicht mehr stolz und aufrecht da, sondern lag wie ein umgeknickter Ast auf dem Deck.

Tanner stieg über Holzstücke und Überreste der Takelage. Ein Fass rollte auf ihn zu. Er sprang zur Seite und verlor auf der glitschigen Oberfläche beinahe das Gleichgewicht. Mehrmals musste er nach allem greifen, was in seine Nähe geriet, um nicht zu fallen.

Er bahnte sich seinen Weg zu den Beibooten. Sofort packte er mit an und half dabei, Frauen und Kinder über den Bordrand zu heben, wo sie von den Besatzungsmitgliedern, die in den Booten standen, in Empfang genommen wurden. Ein Blitz erhellte die Schatten des Ufers, das angesichts einer See, die wie ein Kessel giftigen Gebräus schäumte, unerreichbar schien. Die hilflosen Passagiere in den wild hin und her schwankenden Booten erwartete eine fürchterliche Fahrt.

Lass diese Leute überleben, betete er.

Er half einem Kind und dessen Mutter über den Bordrand. Dies war das letzte Boot, und die Besatzung begann bereits, es ins Wasser hinunterzulassen. Tanner streckte die Arme nach der gefangenen Frau aus, die den anderen den Vortritt gelassen hatte. Gerade wollte er sie über den Bordrand heben, als der Bow Street Runner sie beiseiteschubste, sodass sie auf das Deck fielen, und anstelle der Frau in das Boot sprang. Tanner rappelte sich hoch, doch es war zu spät. Das Boot war schon im Wasser, und die Besatzung ruderte aus Leibeskräften, um fortzukommen.

„Bastard!“, schrie Tanner. Der Wind heulte so laut, dass er sein eigenes Wort kaum verstand.

Zorn und Angst standen der Gefangenen ins Gesicht geschrieben. Tanner ergriff ihren rechten Arm und zog sie auf die Beine.

„Das Schiff bricht auseinander!“, schrie der Bootsmann im Vorbeilaufen.

Tanner sah sich rasch um. Einige Mitglieder der Mannschaft banden sich an Holzstücke.

„Kommen Sie!“, schrie er und zog die Frau mit sich.

Tanner riss Segeltuch von der Takelage und band sie an einem Teil des zerbrochenen Masts fest. Verdammt wollte er sein, wenn dieser Schurke von einem Bow Street Runner überlebte und sie nicht. Er knotete sich neben ihr am Holz fest und legte einen Arm um sie. Das Schiff stieß gegen Felsen.

Unter gewaltigem Krachen und Getöse brach das Schiff auseinander. Das Stück Mast, an das sie sich klammerten, wurde wie ein Federball in die Luft geschleudert, bevor sie in das schäumende Wasser stürzten.

Der Aufschlag betäubte Tanner, aber die eisige Kälte beim Eintauchen brachte ihn schockartig wieder zu Bewusstsein. Das Wasser war schwarz wie Tinte, und er wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Doch nach wie vor hielt er die Frau mit einem Arm fest. Er hatte sie nicht verloren.

Das Holz begann aufzusteigen, als ob es ebenso darum kämpfte, an die Oberfläche zu gelangen. Tanner stieß sich mit aller Kraft hoch. Seine Lungen brannten vor Atemnot.

Als sie die Wasseroberfläche durchbrachen, war der Schock beinahe so groß wie beim Eintauchen in die eisigen Fluten. Hustend rang Tanner nach Luft. Zu seiner Erleichterung hörte er, dass die Frau dasselbe tat. Sie hatte überlebt.

Dann brach eine Welle über ihnen zusammen und riss sie mit sich. Tanner gelang es noch, Atem zu holen, bevor sie wieder ganz vom Wasser umschlossen waren. Erneut tauchten sie auf, wurden weitergeschleudert und dann in die Tiefe gezogen.

Als sie wieder an die Oberfläche schnellten, rief Tanner: „Sind Sie verletzt?“

„Nein“, schrie sie.

Er hielt sie noch fester, als die nächste Welle auf sie zurollte. Wenn die See sie nicht verschlang, würde die Kälte sie umbringen.

Die Welle riss sie weit mit sich. Durch einen Schleier aus Regen und Meerwasser erspähte Tanner die Küste, doch dazwischen lagen zerklüftete Felsen, die wie spitze Zähne aus dem Wasser ragten. Eine weitere Welle überrollte sie und dann die nächste. Das Tuch löste sich und wurde fortgeschwemmt. Die Frau konnte sich nicht mehr am Maststück halten. Tanner musste sich zwischen dem Holz und der Frau entscheiden. Er ließ die Frau nicht los.

Ihre Röcke zogen sie beide nach unten, und die gefesselten Handgelenke machten ihr das Schwimmen unmöglich. Tanner kämpfte, um sie über Wasser zu halten, während sie den Felsen immer näher kamen.

Die nächste Welle schleuderte sie gegen einen schroffen Stein. Beim Aufprall schrie sie laut auf. Eine andere Welle schmetterte sie gegen den nächsten Felsen. Tanner versuchte, die Frau mit seinem Körper vor den Stößen abzuschirmen, aber das Wasser wirbelte sie zu schnell herum. Er verlor das Gefühl in Armen und Beinen und fürchtete, er könne sie nicht länger festhalten.

Nicht noch ein Menschenleben, dessen Ende ich zu verantworten habe! Das würde er nicht ertragen.

Er prallte gegen einen Felsen, und alles wurde schwarz.

Als Tanner die Augen öffnete, spürte er nassen Sand auf einer Wange. Das Rauschen der Wellen hallte in seinen Ohren wider, und die Schaumkronen schienen ihm zuzuzwinkern. Er befand sich auf festem Boden. Festem und zuverlässigem Boden.

Die Frau! Er hatte sie verloren. Fluch über ihn, er hatte sie losgelassen. Die Verzweiflung traf ihn mit derselben Wucht, wie es zuvor die sturmgepeitschten Wellen der Irischen See getan hatten. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und seine Seele schmerzte vor Schuldgefühlen. Er hatte sie losgelassen.

Ein Licht leuchtete auf, das sich rasch hin und her bewegte. Plötzlich spürte er Hände, die seine Kleidung durchsuchten und in seinen Taschen wühlten.

Er packte eine der tastenden Hände, und der Dieb zog ihn bei dem Versuch, sich loszureißen, auf die Beine. Tanner konnte ihn nicht mehr festhalten und fiel in den Sand zurück. Der Mann trat ihm gegen die Rippen. Tanner rollte weg, um den Tritten auszuweichen, aber der Mann trat weiter zu.

„Dein Geld“, knurrte der Mann, während er nicht aufhörte, ihm Tritte zu versetzen.

An den englischen Küsten wimmelte es von Strandräubern – Leuten, die darauf hofften, dass ein Schiff zerschellte, sodass sie alles an sich reißen konnten, was an Land gespült wurde. Tanner hatte sich nie träumen lassen, jemals einem solchen Menschen zu begegnen.

Er rollte sich zusammen, um sich vor den gnadenlosen Stiefeltritten zu schützen. Plötzlich brach der Mann über ihm zusammen. Tanner schob ihn von sich und setzte sich aufrecht hin.

Vor ihm stand die Frau, ein langes Holzstück in den zitternden und nach wie vor gefesselten Händen.

Marlena Parronley starrte auf den niedergestreckten Unmenschen, der ihren Retter derartig brutal attackiert hatte. Sie hatte den Schurken mit all ihrer verbliebenen Kraft getroffen.

Vielleicht hatte sie diesmal tatsächlich einen Mann getötet.

Tannerton ging unter Schmerzen in die Hocke, sah zu ihr auf und hielt sich schwer atmend die Seiten.

Marlena hatte Tannerton sofort erkannt, als sie ihn an Bord des Schiffes gesehen hatte. Bei ihm hatte jedoch nichts darauf hingewiesen, dass er sich an sie erinnerte.

Gott sei Dank.

In ihrer ersten und einzigen Londoner Saison war er bei vielen Festivitäten zugegen gewesen, aber er war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Marquess, und sie war nur die Tochter eines Barons, noch dazu eines schottischen. Dennoch waren Eliza und sie in diesen berauschenden Tagen seinetwegen sehr aufgeregt gewesen. Sie hatten ihn Tanner genannt, als ob sie Aufnahme in jenen Zirkel engster Freunde gefunden hätten, der ihn umgab. Mit vorgehaltenen Fächern hatten sie nach dem attraktiven Marquess Ausschau gehalten, der so groß war und dessen braunes Haar immer ein wenig zerzaust wirkte. Und dann seine Augen! Seine moosgrünen Augen hatten es ihnen angetan. Eliza und sie hatten alle erdenklichen Möglichkeiten ersonnen, wie sie ihn treffen könnten, und hatten sich nicht getraut, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.

Freilich hatte sie sich damals nicht vorstellen können, dass sie sich eines Tages mit ihm inmitten eines Sturms auf einem auseinanderbrechenden Schiff befinden würde.

„Glauben Sie, dass ich ihn getötet habe?“

Tanner legte zwei Finger an den Hals des Mannes. „Er lebt.“

Erleichtert atmete sie auf.

Tanner rappelte sich hoch.

„Sind Sie verletzt?“, erkundigte er sich.

Marlena schüttelte den Kopf. Er schien sie tatsächlich nicht zu erkennen. Er versuchte, ihre Lederfesseln zu lösen. Schon auf dem Schiff waren ihre Handgelenke wund gescheuert. Jetzt waren sie von der Kälte so betäubt, dass sie keinen Schmerz spürte. Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper.

Endlich fielen die Fesseln in den Sand, und sie war frei. Marlena rieb sich die Handgelenke, aber sie hatte kein Gefühl mehr in den Händen.

„Wir müssen dringend ins Warme.“ Er blickte sich um.

Sie befanden sich in einer Felsbucht mit ein wenig Sand. Steile schwarze Klippen umschlossen sie wie die Mauern eines Gefängnisses.

„Da dieser Kerl es geschafft hat, hierherzugelangen, kommen wir auch von hier weg“, sprach Tanner ihr Mut zu.

Sie nickte, aber mit einem Mal schien alle Kraft von ihr abzufallen. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, so tief war die Kälte in ihre Knochen gedrungen.

Tanner hob die Laterne des Strandräubers auf und ging an den Wänden ihres Felsengefängnisses entlang. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen. Eine gewaltige Welle wurde ans Ufer gespült und erfasste ihre Füße, aber sie starrte nur wie betäubt auf das schäumende Wasser, das ihre Knöchel umschloss. Er eilte zu ihr, ergriff sie am linken Arm und zog sie vom Wasser weg.

Ein Mal hatte er mit ihr getanzt. Eliza und sie hatten den Maskenball von Lady Erstine besucht, nachdem sie viele Stunden damit zugebracht hatten, Kostüme auszuwählen. Eliza war grün vor Neid, weil Tanner mit mir getanzt hat, erinnerte sich Marlena.

„Bleiben Sie bei mir“, forderte er sie auf.

Er entdeckte einen Spalt zwischen zwei Felsen, ergriff ihre linke Hand und zog sie hindurch. Dann kletterten sie kleinere Felsen hoch, die eine natürliche Treppe bildeten. Als sie zu guter Letzt den oberen Rand der Klippe erreichten, befanden sie sich auf grasigem Farmland. Der Sturm war endlich weitergezogen, aber in seinem Sog blies ein kalter Wind, der dafür sorgte, dass sich ihre Kleider wie Eis anfühlten.

In einiger Entfernung konnten sie ein Licht erkennen. „Ein Bauernhaus“, sagte Tanner. „Beeilen Sie sich.“

Marlena fühlte sich benommen. Sie mochte es, wenn er den Arm um sie legte, doch sie fand es gar nicht angenehm, wenn er sie drängte, weiterzugehen.

Sie näherten sich dem Licht, aber ihr Geist war wie vernebelt, und sie wollte nur noch schlafen. „Schlaf“, flüsterte sie.

„Nein.“ Unvermittelt legte er sie sich über die Schulter und trug sie.

Sie erreichten das Häuschen, in dessen Fenster eine einsame Kerze brannte. Tanner pochte gegen die Tür. „Helfen Sie uns! Machen Sie auf!“

Wenig später öffnete ein grauhaariger Mann im Nachthemd die Tür.

„Rasch. Sie muss dringend ins Warme“, erklärte ihm Tanner.

„Oh“, sagte der Mann. „Kommen Sie herein.“

Tanner trug sie ins Haus und stellte sie vor einem Kamin auf die Beine. Die Hitze, die von den glühenden Scheiten in der Feuerstelle ausging, fühlte sich nach der betäubenden Kälte schmerzhaft an.

„Bringen Sie Decken!“, befahl Tanner dem Mann. „Ich muss sie warm bekommen.“

Der Mann wankte in ein anderes Zimmer, und Tanner begann, ihr die Kleidung auszuziehen.

Plötzlich spürte Marlena, dass trockene Wolle ihre Schultern umgab und Tanner sie auf einen Lehnstuhl setzte.

Der alte Mann schürte die Glut, sodass es noch heißer wurde und sie vor Schmerzen zusammenzuckte.

„Meine Frau und mein Sohn sind beim Wrack“, sagte der Mann.

Ja, erinnerte sich Marlena dunkel, während sie von Schüttelfrost erfasst wurde. Sie war auf einem berstenden Schiff gewesen. Sie erinnerte sich an den Schock, im eisigen Wasser zu versinken.

Eine Katze strich schnurrend an ihren Beinen entlang. „Katze“, flüsterte sie, ohne jemanden direkt anzusprechen, und ihre Lider wurden immer schwerer.

Marlena erwachte unter dicken Decken in einem warmen Bett. Sie hatte keine Kleidung an, nicht einmal ein Unterhemd. Neben ihr, ebenfalls nackt und sie fest im Arm haltend, lag der Marquess of Tannerton.

2. KAPITEL

Die Frau neben ihm fühlte sich endlich warm an, nachdem Tanner schon befürchtet hatte, die Kälte würde den Sieg davontragen. Er ließ die linke Hand an ihrem Rücken hinuntergleiten und genoss es, ihre seidige Haut unter seinen Fingerspitzen zu spüren. Er hatte sie aus den Fluten gerettet. Gott sei Dank.

Im Zimmer waren plötzlich Geräusche zu vernehmen, und mit einem Aufschrei löste sich die Frau von ihm.

Blitzartig richtete er sich auf.

Die Frau zog sich eine Decke bis zum Kinn hoch und umklammerte sie. Morgenlicht drang in das kleine Zimmer, und drei Augenpaare starrten sie und Tanner an. Es waren der runzlige Mann, der ihnen am Vorabend die Tür geöffnet hatte, eine ebenso runzlige alte Frau und ein stämmiger jüngerer Mann.

„Zum Teufel, was tun Sie hier?“, brummte Tanner.

Die Zuschauer wichen einen Schritt zurück. Der alte Mann lächelte unterwürfig. „Meine Frau und mein Sohn sind zurück.“

Tanner starrte sie an. „Sie stören unsere Privatsphäre.“

In Wahrheit waren er und die Frau die Eindringlinge. Tanner hatte dem alten Mann kaum eine andere Möglichkeit gegeben, als ihnen das Bett zu überlassen, das er sonst gewiss mit der alten Frau teilte. In der Nacht hatte Tanner an nichts anderes denken können, als die Frau in Decken zu hüllen und sie mit seinem Körper zu wärmen. Er hatte ihre Kleidung auf einem Haufen im ersten Zimmer liegen lassen und sie in die Schlafkammer getragen, nachdem er dem Alten befohlen hatte, ihm alle Decken zu bringen, die er besaß.

Der jüngere Mann rieb sich den Kopf und zuckte plötzlich zusammen. Tanner standen die Haare zu Berge. Er hätte schwören können, dass der Sohn des Alten der Angreifer vom Strand war. Er runzelte die Stirn. Ihr Zufluchtsort kam ihm mit einem Mal eher wie die Höhle des Löwen vor.

Rasch fasste er sich wieder. „Was tun Sie hier?“, fragte er erneut und überprüfte, ob er noch seinen goldenen Siegelring trug und ob sich die Geldbörse, die er klugerweise aus seinem nassen Gehrock gezogen hatte, noch neben ihm unter der Decke befand. Er hielt die Geldbörse hoch. „Suchten Sie danach?“

„Wir wollten nur nachsehen, ob Sie irgendwas brauchen.“ Die alte Frau lächelte einfältig.

„Alle drei auf einmal?“, spottete Tanner.

Der Sohn sah ihn verärgert an.

Tanner warf einen Blick auf seine Begleiterin, die noch immer zusammengekauert unter der Decke saß. Er wandte sich wieder den anderen zu. „Lassen Sie uns allein“, kommandierte er.

Die beiden Alten huschten auf die Tür zu. Ihr Sohn folgte ihnen widerwillig, wobei er sich erneut an den Kopf fasste.

„Wir brauchen unsere Kleidung“, fügte Tanner hinzu.

Die Frau blieb im Türrahmen stehen. „Ihre Sachen sind immer noch feucht, Mylord. Ich habe sie nach draußen in die Sonne gehängt. Da werden sie schnell trocken.“

„Gut.“ Tanners Ton wurde eine Spur versöhnlicher. „Behandeln Sie uns gut, dann werden Sie dafür belohnt.“

Der Sohn lächelte. „Haben Sie noch weitere Wünsche, Mylord?“

„Bereiten Sie uns etwas zu essen.“

Der Mann verbeugte sich und schloss die Tür hinter sich.

„Die dachten wohl, sie könnten meine Geldbörse stehlen“, murmelte Tanner und rieb sich das stoppelige Kinn. Er brachte es nicht über sich, die Frau mit dem Verdacht, den er gegen den Bauernsohn hegte, zu beunruhigen. „Wie geht es Ihnen, Miss? Ist alles in Ordnung?“

Sie bewegte sich unter der Decke, als müsse sie überprüfen, ob alle Körperteile noch funktionstüchtig seien. „Ich habe ein paar Schrammen, aber ansonsten bin ich unverletzt.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und sah dann rasch zur Seite. Tanner wurde bewusst, dass er von der Taille aufwärts nackt war. Darunter ebenfalls, aber die Decken verhüllten seine untere Hälfte. Er griff nach der obersten Decke, zuckte zusammen und hielt sich eine Hand an die Rippen.

„Sie sind verletzt?“, fragte sie besorgt und streckte eine Hand aus, die sie jedoch sofort wieder zurückzog.

Er schaute an sich hinunter. Blaurote Flecken überzogen seinen Oberkörper. „Nichts von Belang“, widersprach er, obgleich ein stechender Schmerz ihm erneut fast den Atem nahm.

Tanner sah wieder zu ihr hin und musste über die eigenartige Situation grinsen. Immerhin wachte er nicht jeden Morgen nackt mit einer ebenfalls unbekleideten Frau in den Armen auf, deren Namen er nicht kannte. Er lächelte. „Ich glaube fast, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.“ Er machte eine höfliche Verbeugung oder zumindest etwas Ähnliches, wenn man bedachte, dass er zur Hälfte unter einer Decke im Bett saß. „Ich bin Tannerton, der Marquess of Tannerton. Meine Freunde nennen mich nur Tanner, und Sie darf ich nun wohl zu diesem Kreis zählen.“ Er lächelte.

Ihre blauen Augen funkelten im Morgenlicht. „Marquess … Mylord …“ Sie senkte den Blick.

„Tanner“, korrigierte er sie freundlich. „Und Sie sind …?“

Er hatte den Eindruck, sie würde fieberhaft nach einer Antwort suchen.

„Ich bin Miss Brown, Sir.“

Das war ein weitverbreiteter Name, und er hätte schwören können, dass es nicht ihr richtiger Name war.

„Miss Brown“, wiederholte er.

Sie zog an ihrer Decke, als ob sie sicherstellen wollte, dass nichts von ihrem Körper zu sehen war. „Wissen Sie etwas über die anderen auf dem Schiff? Hat jemand überlebt?“

Er sah sie fest an. „Sie meinen den Bow Street Runner?“

Sie schaute zur Seite und nickte.

Er gab einen verächtlichen Laut von sich. „Ich hoffe, der Teufel hat ihn geholt.“

Sie sah ihn wieder an. „Hat jemand überlebt?“

„Ich weiß nichts von den anderen“, antwortete er und versuchte, nicht an die Frauen und Kinder zu denken. „Wir waren allein am Strand, bis auf den Mann, der versucht hat, mich auszurauben.“ Der Mann, der vermutlich gerade das Zimmer verlassen hat. „Wir haben es bis hierher in dieses Bauernhaus geschafft. Ich brachte den Alten dazu, uns das Bett zu überlassen, und muss eingeschlafen sein.“

„Ich verdanke Ihnen mein Leben, Sir“, flüsterte sie.

Sie sah ihn mit ihren blauen Augen an, und es war, als ob ihr Blick etwas in ihm veränderte. Er zog die oberste Decke zur Seite und band sie sich um die Taille. Dann stand er vom Bett auf. „Ich werde nach unserer Kleidung sehen.“ Er drehte sich zur Tür.

„Einen Augenblick, Sir“, sagte sie atemlos. „Was wissen diese Leute über uns?“

„Ich habe ihnen nicht erzählt, dass Sie eine Gefangene waren, wenn Sie das meinen.“

Erleichtert atmete sie auf.

„Gestern Abend habe ich nur den alten Mann gesehen. Ich fürchte, ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Meine Manieren lassen wirklich zu wünschen übrig.“

„Gut“, sagte sie.

„Gut?“ Er hob die Brauen.

„Sagen Sie ihnen nicht, wer Sie sind. Ein Marquess ist wertvoll. Es könnte sein, dass Sie sich freikaufen müssen.“

Sie ist scharfsinnig, dachte er bei sich. Er hatte überlegt, diese Leute mit seinem Titel einzuschüchtern, aber jetzt sah er ein, dass es klüger war, seine Identität nicht preiszugeben.

Er drehte seinen Siegelring nach innen und legte eine Hand auf den Türknauf. „Ich werde schweigen wie ein Grab.“ Die Anspannung wich aus ihrem hübschen Gesicht.

Sie lächelte, und er ging aus dem Zimmer, wobei er die Decke an der Hüfte festhielt.

Als er den Raum verlassen hatte, brauchte Marlena einen Moment, um sich zu sammeln. Es war, als ob seine Präsenz noch nachwirkte. Eliza und sie waren zu naiv gewesen, um sich den Marquess of Tannerton ohne Kleidung vorzustellen, aber jetzt konnte sie nur feststellen, dass er spektakulär aussah. Sie hatte beim Aufwachen lediglich einen flüchtigen Blick auf seinen Körper geworfen, doch der Anblick ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Er war wie eine zu Leben erwachte griechische Statue, aber nicht marmorkalt, sondern warmherzig und freundlich.

Gewiss erkannte er in ihr nicht die berüchtigte verschwundene Viscountess, die für so viele Schlagzeilen gesorgt hatte. Und sicherlich erinnerte er sich auch nicht an die kindliche Miss Parronley, die ihm vor langer Zeit bei Almack’s vorgestellt worden war.

Solange er sie nicht erkannte, war sie frei. Und so sollte es auch bleiben.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie angeschwemmt worden waren, aber vermutlich war sie Schottland näher, als sie je zu hoffen gewagt hatte. Dort wollte sie untertauchen. Natürlich musste sie in eine Stadt gehen, um nicht aufzufallen. Edinburgh schien ihr groß genug. Wer würde dort nach der verschwundenen Viscountess suchen? Alle würden sie für tot halten. Verschollen auf dem Grund des Meeres.

Zunächst hatte sie geglaubt, in Irland sicher zu sein. Eliza und sie hatten sich diesen Plan ausgedacht, wobei sie die Rolle der Gouvernante für Elizas Kinder spielte. Nicht einmal Elizas Ehemann hatte Verdacht geschöpft. Drei Jahre lang hatte sie ein sicheres Leben geführt, bis Elizas Bruder zu Besuch kam. Die Schuldeneintreiber im Nacken, war Geoffrey gekommen, um seine Schwester anzubetteln.

Marlena hätte sich vor ihm versteckt oder wäre geflohen, wenn Eliza und die Kinder nicht schwer krank zu Bett gelegen hätten. Sie brachte es nicht über sich, sie im Stich zu lassen. Als Geoffrey sie bei der Pflege der Kranken sah, erkannte er sie sofort. Er verschaffte sich das benötigte Geld, indem er den Aufenthaltsort der verschwundenen Viscountess verriet.

Längst war Geoffrey nach London zurückgekehrt, als Marlena vor Elizas frischem Grab auf dem Friedhof stand und die richterlichen Beamten und der Bow Street Runner kamen, um sie festzunehmen.

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Wenigstens haben wir die Kinder wieder gesund gepflegt, Eliza.

Sie erhob sich vom Bett und wickelte sich eine der Decken wie eine Tunika um den Körper. Das Zimmer war winzig und karg. Da es keinen Spiegel gab, versuchte sie, sich im Fensterglas zu sehen, doch die Sonne blendete sie. Sie spürte, wie zerzaust ihr Haar war und wie stark es nach Meerwasser roch. Bestimmt sehe ich furchtbar aus, dachte sie. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Locken.

Die Tür öffnete sich, und die alte Frau trat ein, wobei der Geruch von kochendem Haferbrei ins Zimmer drang.

„Ihr Mann wies mich an, Ihnen Kleidung zu geben, Madam. Ihre Kleider sind zerrissen und lassen sich nicht mehr flicken.“ Sie reichte Marlena die Strümpfe, die als Einzige heil geblieben waren. „Ich habe genau das Richtige für Sie.“ Die Frau wühlte in einer hölzernen Truhe, die in einer Zimmerecke stand. „Außerdem habe ich einen guten Haferbrei für Sie gekocht.“

Marlena zog die Strümpfe an. Haferbrei klang in ihren Ohren wie Ambrosia.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie zu der Frau. „Wie heißen Sie?“

„Ich bin Mrs Davies, Madam.“ Die Frau beugte sich noch immer über die Truhe.

„Mrs Davies, wo befinden wir uns, wenn ich fragen darf?“

Die Frau schaute hoch. „Ungefähr eine Meile von Llanfairynghornwy entfernt.“

Marlena blinzelte. Sie hatte keine Ahnung, wo dieser Ort lag, und sah sich auch außerstande, den Namen zu wiederholen. „Hält dort die Postkutsche?“

„Nein, den nächsten Postgasthof gibt es in Cemaes.“

„Wie weit ist das weg?“, erkundigte sich Marlena.

„Etwas mehr als fünf Meilen, Madam.“

Fünf Meilen schaffe ich zu Fuß, dachte Marlena.

„Wollen Sie denn nicht nach Holyhead?“, fragte die Alte.

Holyhead war der Zielhafen des verunglückten Schiffs.

„Doch. Wie weit ist es bis nach Holyhead?“, erkundigte sich Marlena.

„Etwa zehn Meilen in die andere Richtung geht’s zu einer Fährstation. Sie werden eine Fähre brauchen, um nach Holyhead zu gelangen, Madam.“

Marlena nickte. Nach Holyhead wurden vermutlich alle gebracht, die das Unglück überlebt hatten. Daher war es der letzte Ort, an den sie wollte.

Die Alte zog ein Unterkleid und ein Schnürmieder hervor und warf ihr die beiden Kleidungsstücke zu. Marlena begann sofort, sich anzuziehen. Als Nächstes reichte ihr die Frau ein verwaschenes blaues Kleid.

Das Kleid war aus feiner Wolle und stammte gewiss nicht aus den Beständen der Bäuerin. Obgleich Marlena größer war als die meisten Frauen und Mrs Davies um mehr als einen Kopf überragte, war das Kleid lang genug. „Vielen Dank. Es passt gut“, sagte sie.

Mrs Davies ging auf die Tür zu.

Marlena hielt sie mit einer weiteren Frage auf. „Ich würde mich sehr gern waschen. Würde es Ihnen große Mühe bereiten, mir Wasser zu bringen?“

Die Alte verdrehte die Augen, nickte jedoch und verließ das Zimmer.

Was hätte Marlena nicht alles für ein heißes Bad gegeben, um sich das Salz von der Haut zu waschen! Sie würde sich wohl oder übel mit einer kurzen Waschung über einer Schüssel begnügen müssen. Nachdenklich durchschritt sie die Kammer. Sie konnte noch heute bis Cemaes laufen. Aber was würde sie dann tun? Sie besaß nichts.

Ich muss Tanner um Geld bitten, entschied sie. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde.

Es klopfte an der Tür. Tanner kam mit einer Waschschüssel herein. Dabei hatte er sich wie ein Diener ein Handtuch über den rechten Arm gelegt. Er trug seine eigene Kleidung.

„Sind Ihre Sachen schon trocken?“

„Trocken genug.“ Er stellte die Schüssel auf der kleinen Kommode ab und zog einen Kamm aus der Tasche. „Ich dachte mir, Sie würden sich vielleicht darüber freuen. Ich habe ihn gewaschen, obwohl ich den Eindruck habe, dass diese Leute recht reinlich sind.“

Sie nahm ihn entgegen. „Oh, vielen Dank!“ Sofort begann sie, ihre Haare zu kämmen. „Haben die Leute Ihnen etwas über das Schiffswrack erzählt?“

Er schüttelte den Kopf. „Unsere Gastgeber sind sehr verschwiegen. Der Sohn ist wieder aus dem Haus. Ich vermute, diese Leute sind Strandräuber.“

Wie der Mann, der Tanner angegriffen hatte, der Mann, dem sie auf den Kopf geschlagen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich ganz genau daran, und dennoch war es wie ein düsterer Traum.

Er begab sich zur Tür. „Benötigen Sie sonst noch etwas?“

„Meine Schuhe“, erwiderte sie. „Aber bitte gehen Sie noch nicht.“ Sie holte tief Luft. „Ich muss Sie fragen … oder genauer gesagt bitten, mich ziehen zu lassen.“

Er hob die Brauen.

Sie fuhr rasch fort: „Mrs Davies – die alte Frau – sagt, dass es einen Ort mit einem Postgasthof gibt, der nur fünf Meilen entfernt liegt. Sie können nach Holyhead weiterreisen, aber bitte lassen Sie alle glauben, ich sei tot. Bitte, ich will nur nach Hause, das ist alles, was ich mir wünsche.“ Es war nicht alles, was sie sich wünschte. Sie brauchte Geld, aber sie würde nur danach fragen, wenn er ihrer Flucht zustimmte.

Er lehnte sich gegen die Tür. „Wo ist Ihr Zuhause?“

„Schottland“, antwortete sie wahrheitsgemäß, und sofort stand ihr das Bild von Parronley House vor Augen, das Sinnbild einer sorgenfreien Kindheit.

Er sah sie durchdringend an. „Sie klingen gar nicht wie eine Schottin.“

„Ich war in England auf der Schule.“ Das stimmte ebenfalls. Sie hatte das Belvedere House in Bath besucht, wo sie auch Eliza kennengelernt hatte. Ebenso wie viele andere Mädchen hatte sie sich eifrig bemüht, alle Spuren eines schottischen Akzents aus ihrer Sprache zu verbannen.

Er hielt sich eine Hand gegen die Rippen. „Sagen Sie mir, weshalb der Bow Street Runner Sie nach England bringen sollte.“

Marlena dachte sich rasch eine Geschichte aus, wobei sie Anleihen bei einem Roman machte, den Eliza und sie einst gelesen hatten. „Ich war die Gesellschafterin einer alten Dame und wurde beschuldigt, ihren Schmuck gestohlen zu haben.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Aber Sie waren es nicht?“

„Natürlich war ich es nicht.“ Weder hatte sie Schmuck gestohlen noch sonst ein Verbrechen begangen. „Ich wurde zu Unrecht beschuldigt, aber ich konnte meine Unschuld nicht beweisen. Ihr Sohn hat die Juwelen in meinem Zimmer versteckt.“ Wie sehr sie sich wünschte, nur des Diebstahls von Schmuck und nicht des Gattenmords bezichtigt zu werden. „Ich floh nach Irland, aber man hat diesen Bow Street Runner hinter mir hergeschickt.“

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. Seine Augen waren noch immer so moosgrün, wie sie es von damals in Erinnerung hatte. „Man hat einen ungewöhnlichen Aufwand betrieben, um Sie zu fassen.“

Sie lächelte matt, während sie sich die Details des Romans in Erinnerung rief. „Nicht alle Juwelen wurden sichergestellt. Der Sohn Ihrer Ladyschaft hatte bereits einiges verkauft. Er tat jedoch so, als ob er alles in seiner Macht Stehende täte, um die fehlenden Schmuckstücke zurückzubekommen, und ließ mich bis nach Irland verfolgen.“

In Wahrheit hatte ihr eigener Cousin Howard Wexin ihren Gatten ermordet und ihr die Schuld in die Schuhe geschoben. Während ihrer Saison in London hatte ihr Cousin sogar zum engeren Kreis des Marquess of Tannerton gehört. Das war zwar sieben Jahre her, aber es war gut möglich, dass Tanner noch immer mit ihm befreundet war.

„Bei wem waren Sie angestellt?“, wollte er wissen.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, erwiderte sie. „Ich flehe Sie an, lassen Sie mich gehen. Lassen Sie alle in dem Glauben, ich sei tot.“

Er wich ihrem Blick nicht aus, schwieg jedoch und rührte sich nicht. Panik erfasste sie.

„Wie wollen Sie weiterkommen?“, fragte er schließlich.

Sie holte tief Luft. „Ich würde Sie um etwas Geld bitten.“

„Erst waschen Sie sich und essen in Ruhe. Wir sollten beide diesen Ort verlassen, und dann werden wir weitersehen.“ Er öffnete die Tür und ging hinaus.

Nur mühsam beruhigte sie sich. Er hatte zwar nicht zugesichert, ihr zu helfen, aber es hatte auch nicht geklungen, als ob er sie ausliefern wolle. Ihr blieb keine andere Wahl als abzuwarten.

Marlena wusch sich und flocht ihre Haare zu einem langen Zopf. Als sie auf Strümpfen aus dem Schlafzimmer kam, vertrieb der Duft von Haferbrei alle anderen Gedanken. Sie nahm Tanner gegenüber an einem kleinen Tisch Platz. Die alte Frau stellte einen Essnapf vor ihr ab. Marlena zitterte die rechte Hand, als sie ihren Löffel in den dampfenden Brei eintauchte. Zunächst verbrannte sie sich den Mund. Beim nächsten Löffel blies sie vorher, dennoch aß sie, so schnell sie konnte. Tanner löffelte das Essen mit dem gleichen Heißhunger.

Als sie aufgegessen hatten, wandte sich Tanner an die beiden Alten, die sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatten. „Bringen Sie mir meine Stiefel und die Schuhe meiner Frau. Außerdem braucht sie einen warmen Umhang. Ich möchte Sie bitten, uns unverzüglich in die nächste Stadt zu bringen.“

„Holyhead?“, fragte Mr Davies. „Da kommen Sie nur mit einer Fähre hin.“

Tanner zog seine Geldbörse hervor und nahm eine Goldmünze heraus. „Auch gut.“

Die Augen des Alten weiteten sich, als er die Münze sah. Sofort setzten seine Frau und er sich in Bewegung und ließen Tanner und Marlena allein.

Marlena schaute ihn ängstlich an. „Ich werde nicht nach Holyhead gehen. Bitte lassen Sie mich zurück.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich lasse Sie nicht allein.“ Er beugte sich zu ihr vor. „Holyhead ist auch nicht mein Ziel. Aber wir sollten diese Leute besser in dem Glauben lassen.“

Ihr wurde plötzlich ganz warm, und am liebsten hätte sie ihn vor Dankbarkeit umarmt. „Mrs Davies sagte mir, Cemaes liege fünf Meilen von hier.“

„Dann machen wir uns nach Cemaes auf.“ Er lächelte.

Arlan Rapp saß vor dem Kaminfeuer eines Gasthauses in Llanfwrog und nippte an seinem heißen Apfelwein. Er überlegte, was er als Nächstes tun sollte.

Er konnte erst nach London zurückkehren und sich die Belohnung für seine Arbeit abholen, wenn er sicher war, dass die Viscountess Corland wie die meisten Passagiere und Mannschaftsmitglieder ertrunken war und nicht durch irgendein Wunder überlebt hatte.

Die verschwundene Viscountess war wieder verschwunden. Das gibt fette Schlagzeilen, überlegte er.

Er starrte ins Feuer und wägte ab, welche Möglichkeiten ihm blieben. Obwohl er ihren Platz im letzten Boot eingenommen hatte, fühlte er sich nicht schuldig. Er hätte sie ohnehin nur noch dem Henker übergeben. Die Viscountess hatte ihren Gatten aus Eifersucht ermordet. Es war allgemein bekannt, dass ihr Ehemann mit jeder Frau schlief, deren er habhaft werden konnte. Die Viscountess war auf frischer Tat ertappt worden. Ihr Cousin hatte sie überrascht, als sie mit blutiger Schere in den Händen neben Corlands Leiche gestanden hatte.

Während das Holz im Kaminfeuer knisterte, sah sich Rapp nach der Bedienung um. Er war hungrig und völlig erschöpft von der schlaflosen Nacht, in der er aus dem Meer gezogen worden war und man ihn zusammen mit einer Handvoll anderer Überlebender in dieses Gasthaus gebracht hatte.

Niedergeschlagen dachte Rapp an die Frauen und Kinder in seinem Boot. Die meisten waren nicht stark genug gewesen, um sich festzuhalten, als die Wellen über sie hinweggespült waren.

Mit einem Mal wollte er nur noch nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern. Es war richtig gewesen, dass er die Chance genutzt hatte, sich zu retten.

Soweit er wusste, hatten nur acht Passagiere und ein paar Besatzungsmitglieder überlebt. Die verschwundene Viscountess war nicht darunter. Wenn ihr Körper auf dem Grund der See lag, wurde er vielleicht niemals ans Ufer gespült. Rapp verfluchte den Sturm. Ohne den Beweis, dass sie umgekommen war, würde Wexin ihm kein Geld geben.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als Nachforschungen anzustellen, um sicherzugehen, dass sie sich unter den Toten befand.

Endlich stellte die Bedienstete einen Teller mit Brot und dicken Schinkenscheiben vor ihm ab.

Dankbar nickte er. „Bringen Sie mir Papier, Feder und Tinte“, bat er sie.

Er musste einen Brief an Wexin schreiben und ihm das Schiffsunglück melden, und auch an seine Frau, der er sagen wollte, dass er sie liebe und dass sich seine Rückkehr nach London verzögern würde.

3. KAPITEL

Als das alte Pferd von Mr Davies den Karren vor das Haus zog, war Tanner längst aufbruchsbereit. Er trat zur Seite und ließ Miss Brown beim Hinausgehen den Vortritt. Der Umhang, den die alte Frau für sie herausgesucht hatte, war stark abgetragen, aber Tanner hoffte, dass er zumindest warm hielt.

Mrs Davies folgte ihnen. „Sie versprachen, uns zu bezahlen, Sir.“

Er drehte sich zu ihr um. „Ich zahle, sobald Ihr Mann uns dort absetzt, wo wir es möchten.“ Zielstrebig ging er weiter.

Sie hastete hinter ihm her. „Woher sollen wir wissen, ob Sie tatsächlich zahlen? Ihre Frau verschwindet mit meinen Kleidern. Wir können es uns nicht leisten, unser Hab und Gut wegzugeben.“

Abrupt hielt er an, und die alte Frau stolperte beinahe gegen ihn. „Sie sollten auf mein Wort als Gentleman vertrauen.“ Er kletterte neben den alten Mann auf die Kutschbank. Dann reichte er Miss Brown die Hände und zog sie hoch. Als sie neben ihm Platz nahm, hätte er am liebsten den Arm um sie gelegt. Er verspürte das Verlangen, sie zu berühren und die Erinnerung an ihre nackte Umarmung wach zu halten. Ihre Haut war sanft und warm gewesen. Ihre femininen Kurven hatten so perfekt in seine Arme gepasst, als wären sie eigens dafür geschaffen.

Er wusste nicht, wie viel von ihrer Geschichte glaubwürdig war, aber der Schlag sollte ihn treffen, wenn er sie einfach dem nächsten Gericht übergab. Egal was sie getan hatte, sie hatte genug dafür bezahlt durch das, was dieser abscheuliche Bow Street Runner sie hatte erleiden lassen, indem er sie zum Sterben zurückließ. Aus seiner Sicht reichte allein das aus, um ihr die Freiheit zuzugestehen.

Ihr Leben gerettet zu haben entlastete sein geplagtes Gewissen. Er würde sie in Sicherheit bringen, um einen Teil seiner Schuld wiedergutzumachen.

„Fahren Sie los“, befahl er dem Alten.

Mr Davies hob die Zügel, und das Pferd setzte sich in Bewegung.

„Sorg dafür, dass er zahlt!“, rief Mrs Davies ihrem Mann hinterher.

Schwerfällig zog das Pferd den Karren am Gemüsegarten vorbei, in gemächlichem Tempo erreichten sie die Straße. Das Bauernhaus lag nun ein gutes Stück hinter ihnen.

Tanner wandte sich an Mr Davies. „Bringen Sie uns nach Cemaes.“

Überrascht zuckte der Mann zusammen. „Cemaes liegt nördlich. Sie wollten doch in den Süden, zur Fähre nach Holyhead.“

„Wir wollen nach Cemaes“, erwiderte Tanner.

Mr Davies schüttelte den Kopf. „Ganz sicher wollen Sie nach Holyhead.“

Tanner lief es kalt den Rücken hinunter. Er hätte wetten können, dass der Alte auf der Straße zur Fähre einen Hinterhalt geplant hatte. Tanner hielt die Goldmünze hoch, die in der Sonne glänzte. „Wenn Sie sich dieses Geldstück verdienen wollen, bringen Sie uns nach Cemaes.“ Er steckte die Münze wieder ein. „Wenn nicht, werden wir von hier aus zu Fuß gehen.“ Tanner erhob sich.

Mr Davies signalisierte ihm, sich wieder hinzusetzen. „Ich werde Sie nach Cemaes bringen“, brummte er und wendete Pferd und Karren in Richtung Norden.

Die Straße war noch immer matschig vom Regen und schlängelte sich durch weites Ackerland an kleinen Bauernhäusern wie dem der Davies’ vorbei. Hin und wieder konnte Tanner das Meer sehen, das an diesem Tag friedlich wirkte wie ein schlummerndes Ungeheuer, das sich satt gefressen hat. Der Alte sprach kein Wort. Miss Brown klammerte sich an den Sitz, während der Karren über die zahllosen Unebenheiten holperte. Auch sie war schweigsam.

Tanner wünschte sich, ihren wahren Namen und den der Leute, deren Juwelen sie angeblich gestohlen hatte, zu erfahren. Wenn sie ihm vertraute, konnte er ihr helfen. Selbst wenn sie des Deliktes schuldig war, ließ sich das Problem mit Leichtigkeit aus der Welt schaffen. Geld, Macht und Einfluss galten meist mehr als Gerechtigkeit. Wenn er den Sohn für die Schmuckstücke entschädigte, würde das den Diebstahl so gut wie ungeschehen machen.

Tanner genoss es, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht zu spüren, die frische Meeresbrise einzuatmen und sich an der friedlichen Landschaft zu erfreuen.

Als die Sonne im Zenit stand, fuhren sie an einer Mühle vorbei, deren Flügel sich im Wind drehten. Tanner griff nach seiner Uhr. Sie war nicht mehr da.

Ruckartig drehte er sich zu Mr Davies. Wahrscheinlich hatte er ihm die Uhr gestohlen. „Ich frage mich gerade, wie spät es ist“, sagte er.

Der Alte schnalzte mit der Zunge und warf Tanner einen nervösen Blick zu.

Tanner starrte wieder auf die Straße. Soll der Mann doch ruhig die Uhr behalten, dachte er. Als Bezahlung für sein Bett. Tanner hätte dem Mann für dieses warme Bett vermutlich alles gegeben. Für sie. Um sie vor dem Tod durch Unterkühlung zu retten, sie davor zu bewahren, dass die stürmische See doch noch Sieger blieb.

Zwei Stunden vergingen, die Tanner wie eine Ewigkeit vorkamen, bis endlich die Dächer und der Kirchturm einer Ortschaft in Sichtweite gerieten.

Sie erreichten die ersten weißen Häuser, die von Herbstblumen umgeben waren. Geschäftig liefen einige Leute umher.

Marlena legte eine Hand auf Tanners linken Arm und sah ihn ernst an. „Können wir hier anhalten?“

Er wandte sich an den alten Mann. „Mr Davies, Sie können uns hier absetzen.“

Der Alte hob die buschigen Brauen. „Bis zum Postgasthof ist es nicht mehr weit.“

„Umso besser“, erwiderte Tanner freundlich. „Dann ist es nur noch ein kleiner Spaziergang für uns. Halten Sie bitte an.“

Mr Davies zuckte die Achseln und zog an den Zügeln, woraufhin sein Pferd stehen blieb. Tanner kletterte von der Kutschbank, streckte Miss Brown die Hände entgegen und hob sie auf die Straße. Dann reichte er Mr Davies die Goldmünze. Der riss sie rasch an sich, als fürchtete er, Tanner würde es sich noch einmal anders überlegen. Ohne ein Wort des Abschieds hob der Mann die Zügel, und das alte Pferd trottete weiter. Bestimmt gönnt er sich im Gasthof eine Erfrischung, dachte Tanner.

„Sie haben ihm das Geldstück gegeben.“ Missbilligung lag in Miss Browns Tonfall.

Tanner schoss einen Kiesel auf die Straße. „Ja. War das zu viel?“

„Das möchte man meinen“, erwiderte sie. „Die Hälfte wäre schon mehr als großzügig gewesen.“

Er legte den Kopf zur Seite. „Vermutlich haben Sie recht. Insbesondere, da der Mann mir meine Uhr gestohlen hat und sein Sohn höchstwahrscheinlich der Strandräuber ist, den Sie niedergeschlagen haben.“

Sie erbleichte. „Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.“ Die Empörung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Wie schäbig von diesen Leuten, die Gelegenheit so schändlich auszunutzen.“

Was für eine seltsame Reaktion für eine Diebin, dachte Tanner. „Nun, es ist vorbei …“ Er schaute sich um. „Warum wollten Sie hier abgesetzt werden?“

„Ich wollte in Ruhe mit Ihnen reden.“ Nervös sah sie ihn an. „Ich kann nicht in diesen Postgasthof gehen und sagen, ich sei Miss Brown, eine Gefangene, die das Schiffsunglück überlebt hat. Ich muss mir etwas anderes ausdenken.“

Tanner nickte. Ihm war es zunächst nur darum gegangen, einen Gasthof mit gutem Essen und bequemen Betten zu finden. Viel weiter hatte er noch nicht gedacht. Er war es nicht gewohnt, bei Reisen vorausschauend zu planen. In der Regel wurde alles von seinem Butler oder seinem Sekretär organisiert.

„Außerdem kann ich nicht als Begleiterin des Marquess of Tannerton durch die Gegend spazieren.“

Er fühlte sich ein wenig wie ein verschmähter Verehrer. „Wäre das zu skandalös?“

„Es wäre zu leichtsinnig. Als Marquess of Tannerton erregen Sie überall großes Aufsehen. Wenn ich mit Ihnen gesehen werde, richtet sich die Neugier auch auf mich, und das kann ich mir nicht leisten. Ich muss entkommen, ohne dass jemand auf mich aufmerksam wird.“

Die Frau schaut offensichtlich nie in den Spiegel, dachte Tanner. Ganz sicher konnte sie nirgendwo hingehen, ohne aufzufallen.

„Ich verstehe.“ Er nickte und versuchte, sich nicht durch ihren Anblick ablenken zu lassen. „Was schlagen Sie vor?“

An einer kleinen Brücke, die über einen Bach führte, blieben sie stehen. Weit und breit war niemand zu sehen. „Ich muss meiner eigenen Wege gehen. Ich will, dass alle denken, ich sei ertrunken. Wenn man mich für tot hält, wird keiner nach mir suchen.“ Ihre Stimme klang leise und verzweifelt. „Ich möchte Sie um etwas Geld bitten.“

Nichts wäre leichter für ihn gewesen, als ihr den Inhalt seiner Geldbörse zu überlassen. Um sich brauchte er sich keine Sorgen machen. Sogar an diesem entlegenen Ort würde jemand dem Marquess of Tannerton Kredit geben, genug, um eine Postkutsche zu nehmen, die ihn zurück nach London brachte.

Sie wurde kreidebleich. „Verzeihen Sie meine unverschämte Bitte“, flüsterte sie. „Sie haben schon mehr als genug für mich getan.“

Sie wandte sich von ihm ab und wollte sich entfernen.

Er hielt sie am rechten Arm fest. „Warten Sie, ich habe einen besseren Vorschlag. Kommen Sie mit mir nach London. Ich habe genügend Einfluss, um die Angelegenheit für Sie in Ordnung zu bringen.“

Sie wich einen Schritt zurück. „Nein!“ Dann holte sie tief Luft. „Nein“, wiederholte sie noch einmal leiser. „Ich danke Ihnen, aber … aber Sie irren sich. Ich stecke in Schwierigkeiten, die …“ Sie sprach nicht weiter.

„Egal in welchen Schwierigkeiten Sie sich befinden, ich kann Ihnen gewiss helfen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Sie ahnen nicht …“ Erneut brach sie mitten im Satz ab. „Es ist sicherer für mich, unterzutauchen. Alle werden mich vergessen, und ich kann ein neues Leben beginnen.“

Wie konnte sie nur denken, dass er sie vergessen würde? „Sie können nicht allein reisen“, wandte er ein.

„Natürlich kann ich das.“ Sie schaute nachdenklich zur Seite. „Ich werde mich als Gouvernante ausgeben, die auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle ist. Wer würde das infrage stellen?“

Ihm gefiel die Idee überhaupt nicht. Für einige Männer war eine Gouvernante ohne Begleitung eine leichte Beute. „Man würde Sie fragen, bei wem Sie angestellt wurden.“

„Dann denke ich mir eben Antworten aus.“

Sie entglitt ihm. Er erinnerte sich an den schrecklichen Augenblick, als er am Ufer aufgewacht war und gedacht hatte, er habe sie losgelassen. Ebenso wenig wie zu diesem Zeitpunkt wollte er sich jetzt damit abfinden, sie zu verlieren. Selbstverständlich konnte er einfach zu seinem komfortablen Leben in London zurückkehren. Aber wie konnte er sich jetzt noch daran erfreuen, wo er wusste, dass diese Frau hilflos und allein war?

Erneut ergriff er ihren rechten Arm und hielt sie fest, wie er es inmitten der tosenden See getan hatte. „Ich gebe Ihnen das Geld, und Sie sind nicht verpflichtet, es mir zurückzuzahlen. Für mich ist es eine unbedeutende Summe. Aber hören Sie mir gut zu. Ich fürchte, der einsilbige Mr Davies sitzt genau jetzt im Gasthaus und wird nach einem Krug Bier gesprächig. Er wird jedem erzählen, dass wir Eheleute sind. Das haben er und seine Frau aus unserem Auftreten geschlossen, und ich habe sie in dem Glauben gelassen. Oder haben Sie den beiden etwas anderes erzählt?“

Sie schüttelte den Kopf.

Er fuhr fort: „Davies wird allen erzählen, wir seien Überlebende des Schiffsunglücks, ein Ehemann und seine Frau. Wenn wir jetzt so tun, als ob wir einander fremd wären, erregen wir Verdacht.“

Sie nickte. „Ja, das stimmt.“

Er atmete auf. „In dieser Stadt sollten wir als Eheleute auftreten.“

„Als Eheleute?“ Besorgnis lag in ihren Augen.

Das bedeutete auch, ein Zimmer zu teilen. Tanner sehnte sich danach, wieder mit ihr in den Armen zu erwachen und zu wissen, dass sie in Sicherheit war.

Er bemerkte ihr Zögern, und ihm wurde klar, dass ihr die Aussicht, mit ihm das Bett zu teilen, nicht so verlockend schien wie ihm.

„Ich werde die Situation nicht ausnutzen“, versicherte er so ernst wie möglich.

Sie sah ihn mit ihren strahlend blauen Augen an, die so blau waren wie der Himmel über ihr. „Gut, für heute Nacht sind wir Mann und Frau.“

Er hielt ihr den rechten Arm zum Einhaken hin. „Wir sollten uns eine Geschichte ausdenken, oder nicht? Wir brauchen Namen, und um ehrlich zu sein, Brown erscheint mir keine gute Wahl.“

„Warum?“, fragte sie.

„Das ist die Art von Name, die ein Gentleman gegenüber einem Gastwirt angibt, wenn er seine wahre Identität nicht preisgeben möchte.“ Er zwinkerte.

Sie lächelte. „Ist das so?“

„Ja.“ Er lachte. „Suchen Sie einen anderen Namen aus.“

„Smith?“, fragte sie ironisch.

Er rollte mit den Augen und lachte. „Mir fällt auch gerade nichts Gutes ein.“

„Ich habe eine Idee“, sagte sie. „Wie wäre es mit Lir? Lir ist der Gott des Meeres in der irischen Mythologie.“

Tanner schaute sie spöttisch an. „Sie kennen sich mit irischer Mythologie aus?“

„Ich habe in Irland gelebt.“

„Und wie buchstabiert sich das? Wie Shakespeares King Lear?“

Sie erwiderte seinen mokanten Blick. „Sie kennen Shakespeare?“

Er lachte.

Ihre Augen funkelten. „Ausnahmsweise können wir es wie King Lear schreiben.“

Tanner freute sich über ihre Heiterkeit. Die erste Nacht, die sie gemeinsam durchlebt hatten, war voller Schrecken gewesen. Diese sollte friedlich und glücklich werden. Er schwor sich, dafür zu sorgen.

„Dann bin ich Adam Lear. Adam ist mein echter Vorname.“ Er hoffte, dass sie ihm ihren Vornamen verriet, damit er zumindest eine winzige Wahrheit über sie wusste.

Sie schwieg.

Enttäuscht holte er Luft. „Vermutlich brauche ich auch einen Beruf.“

Marlena genoss ihren gemeinsamen Spaziergang zum Gasthaus, bei dem sie sich eine plausible Geschichte ausdachten. Der Marquess of Tannerton wurde zu Mr Adam Lear, Stallmeister im Dienste von Viscount Pomroy, Tanners bestem Freund.

Seit ihrer Londoner Saison hatte Marlena nicht mehr an Pomroy gedacht. Sie hatte ihn als vergnügungssüchtigen Schürzenjäger in Erinnerung. Hinter vorgehaltenen Fächern hatten Eliza und sie über seine Possen gelacht, aber sie hatten nie für ihn geschwärmt wie für seinen Freund Tanner. Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt noch sehr unerfahren gewesen waren, schien es ihnen zu leichtsinnig, sich auf Pomroy einzulassen.

Unglücklicherweise hatte ihre Menschenkenntnis sie bei Corland im Stich gelassen. Zu spät war sie hinter die wahre Natur ihres Gatten gekommen.

Während Marlena neben Tanner herging, fühlte sie sich fast wieder wie das sorgenfreie Mädchen, das jeden Augenblick seiner Saison genoss. Tanner brachte sie zum Lachen – erstmals seit Elizas Erkrankung. Stell dir nur vor, Eliza! Ich bin mit dem Marquess of Tannerton verheiratet. Wenn auch nur zum Schein und unter falschem Namen.

Die Realität holte sie ein, als sie Mr Davies’ Pferd an der Tränke vor dem Gasthaus erblickte. Sie war die verschwundene Viscountess, die verzweifelt versuchte, ein weiteres Mal zu fliehen. Sie war weder die Gattin des Marquess of Tannerton noch die einfache Mrs Lear. Sie war nicht einmal Miss Brown. Sie galt als Mörderin, und wenn Tanner als ihr Helfer erwischt wurde, würde ihn dieselbe Strafe ereilen wie sie – der Galgen.

Aufmunternd drückte Tanner ihre linke Hand, während sie auf die Tür des Gasthofs zugingen. „Wie fühlen sie sich, Mrs Lear?“

„Ein wenig nervös, Mr Lear“, erwiderte sie.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte er.

Sie hielt ihn zurück. „Tanner“, flüsterte sie.

Er warf ihr einen warnenden Blick zu. „Ich heiße Adam.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Solche Fehler durfte sie kein zweites Mal machen. „Verhalten Sie sich nicht wie ein Marquess.“

Er sah sie erstaunt an.

„Kommandieren Sie die Leute nicht herum“, fügte sie erläuternd hinzu.

Fragend legte er den Kopf zur Seite. „Kommandiere ich die Leute herum?“

Sie nickte.

Der Gastwirt kam auf sie zu. „Guten Tag! Sind Sie die Eheleute, die das Unglück überlebt haben?“

Mr Davies hatte in der Tat über sie geredet.

„Ja, das sind wir“, antwortete Tanner reserviert. „Und wir brauchen ein Zimmer für die Nacht.“

„Sofern Sie eins frei haben“, ergänzte Marlena.

Der Gastwirt lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden dafür sorgen, dass Sie es bequem haben. Sollten Sie hungrig sein, gibt es in der Schankstube Essen. Wir haben gebratenen Seelachs. Nach Ihrem schrecklichen Erlebnis würden wir Sie gern dazu einladen.“

Seine Freundlichkeit rührte Marlena.

„Vielen Dank“, sagte Tanner. Er lachte. „Ich hätte auch nichts gegen einen großen Krug Bier einzuwenden.“

Der Wirt klopfte ihm auf die Schulter. „Also Bier. Und für Sie, Mrs …?“

„Mrs Lear.“ Sie räusperte sich. „Ich hätte gern ein Glas Apfelwein, wenn Sie das haben.“

„Natürlich haben wir das“, versicherte der Gastwirt.

Wenig später hatten sie Platz genommen, und die Getränke wurden ihnen serviert. Marlena sah, wie Mr Davies ihnen einen verstohlenen Blick zuwarf, bevor er von seinem Hocker glitt und hinausging.

Eine Frau mit weißer Schürze kam zu ihnen an den Tisch. „Ich bin Mrs Gwynne. Herzlich willkommen in unserem Gasthaus. Mein Mann hat mir gesagt, dass Sie hier sind. Sie sind Überlebende des Schiffsunglücks, nicht wahr?“

„Ja, das sind wir.“ Tanner streckte die rechte Hand aus. „Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Gwynne.“

„Oh, Sie müssen Schreckliches durchgemacht haben!“ Sie schüttelte Tanner und Marlena die Hand. „Was kann ich für Sie tun? Außer Ihnen ein schönes Zimmer zu geben und Ihnen etwas zu essen zu bringen? Sicher benötigen Sie etwas?“

Tanner rieb sich das Kinn, das noch stoppeliger war als am Morgen. Marlena hätte es gern berührt.

„Wir haben nur das, was wir am Leibe tragen“, erklärte Tanner. „Gibt es einen Laden, wo wir das Nötigste kaufen können?“

Die Wirtin tätschelte seinen linken Unterarm. „Natürlich gibt es ein Geschäft. Wenn Sie mir sagen, was Sie brauchen, werde ich alles für Sie holen.“

„Das ist nicht nötig. Ich werde selbst in den Laden gehen.“ Tanner schaute von Marlena zur Wirtin. „Ich habe jedoch an etwas anderes gedacht, das Sie für uns tun könnten.“

„Sagen Sie es nur, Mr Lear. Ich werde es sofort erledigen.“

Er warf Marlena einen fürsorglichen Blick zu. „Ein Bad für meine Frau.“

Marlena war sprachlos. Nichts wünschte sie sich sehnlicher.

Erneut lächelte Mrs Gwynne. „Ich sage den Mädchen sofort, sie sollen das Wasser erhitzen.“

Sie eilte davon, und wenig später wurde ihnen ein leckeres Fischgericht gebracht. Nachdem sie gegessen hatten, zeigte Mrs Gwynne ihnen das Zimmer, in dem ein bequem wirkendes Doppelbett stand. Im Kamin brannte bereits ein Feuer, und es gab ein Fenster zum Hinterhof. Das Beste war jedoch der große Kupferzuber, der mit dampfendem Wasser gefüllt war.

„Neben dem Zuber liegen Handtücher und ein Stück Seife“, erklärte Mrs Gwynne.

„Vielen Dank“, sagte Marlena leise und sah zu Tanner hinüber.

„Ich lasse Sie nun allein“, verabschiedete sich die ältere Frau. „Mr Lear, wenn Sie zum Laden gehen wollen, kann ich Ihnen gern den Weg zeigen.“

„Ich bin gleich unten“, entgegnete er.

Nachdem die Wirtin das Zimmer verlassen hatte, ging Marlena zum Zuber und tauchte ihre Finger in das heiße Wasser.

„Klinge ich noch wie ein Marquess?“, fragte Tanner.

Sie lächelte ihn an. „Sie spielen Ihre Rolle ausgezeichnet.“

Er atmete auf. „Gut. Ich werde Sie jetzt besser allein lassen, damit Sie Ihr Bad nehmen können.“

„Vielen Dank, Lord Tannerton.“

„Adam“, erinnerte er sie.

„Adam“, wiederholte sie leise.

Er holte noch tiefer Luft. „Was soll ich für Sie kaufen?“

„Einen Kamm vielleicht, eine Bürste und Haarnadeln.“

Er lächelte. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

Eigentlich wagte sie nicht, ihn um noch mehr zu bitten. „Handschuhe?“

Er nickte, öffnete die Tür und drehte sich nochmals zu ihr um. „Lassen Sie das Wasser für mich stehen.“

Marlena ging zu ihm. „Verzeihen Sie mir. Das war gedankenlos. Sie sollten zuerst baden. Ich werde warten.“

Er strich ihr über die linke Wange. „Ladies first, Mrs Lear.“

Als sie wieder wusste, wo ihr der Kopf stand, war er schon gegangen.

Arlan Rapp stapfte die Straße von Llanfwrog zum Hufschmied hinunter. Ein hünenhafter Mann mit breiter Brust bearbeitete einen Kupferbarren auf dem Amboss. Das laute Schlagen des Hammers verstärkte Rapps Kopfschmerzen. Er war von einem Ortsende zum anderen gelaufen, aber kaum ein Dorfbewohner gab zu, von dem Schiffsunglück gehört zu haben. Und dabei erinnerte er sich, viele von ihnen gesehen zu haben, als die Überreste des Schiffs an Land gespült worden waren. Gierig hatten sie die angeschwemmten Kisten und Fässer mitgenommen. Nur wenige hatten den Überlebenden geholfen.

Er wartete ab, bis der Schmied das Metallstück ins Wasser getaucht hatte. „Guten Tag, Schmied“, sagte Rapp.

Der Mann schaute hoch. „Brauchen Sie etwas?“

Rapp lächelte, obwohl er eigentlich zu erschöpft war, um sich freundlich zu geben. „Ich brauche nur eine Information.“

Der Hufschmied starrte ihn an.

Rapp räusperte sich. „Ich war auf dem Postschiff, das letzte Nacht gesunken ist. Ich suche nach Überlebenden, insbesondere nach einer Frau, die meine Begleiterin gewesen ist.“

„Darüber weiß ich nichts“, behauptete der Mann.

„Vielleicht haben Sie davon reden hören“, insistierte Rapp. „Ich muss unbedingt wissen, ob sie überlebt hat.“

Der Schmied schüttelte den Kopf und nahm ein anderes glühendes Metallstück aus dem Feuer.

„Ich zahle für jede brauchbare Information“, fügte Rapp hinzu, obgleich er sich nur ungern von seinem nach wie vor feuchten Geld trennte.

Der Schmied legte das heiße Metall auf den Amboss und ergriff den Hammer. „Von Zeit zu Zeit werden Leichen angeschwemmt.“

„Wohin bringt man die Leichen?“, erkundigte sich Rapp, aber der Schmied hatte wieder zu hämmern begonnen, und der ohrenbetäubende Lärm verschluckte jedes Wort. Rapp gab es auf.

Kaum hatte er die Schmiede verlassen, als ihn ein dreckverschmierter Junge am Umhang zog. „Ich zeige Ihnen die Toten.“

Rapp beugte sich hinab, um dem kleinen Lauscher ins Gesicht zu sehen. „Du weißt, wo sie sind?“

Der Junge nickte. „Ja, es sind ungefähr zehn.“

Rapp richtete sich seufzend auf. „Ausgezeichnet, mein Junge. Bring mich hin.“ Der Anblick würde gewiss schrecklich werden, aber falls die Viscountess unter den Toten war, konnte er innerhalb von ein paar Tagen wieder in London sein und seine Belohnung erhalten.

„Das kostet Sie zwei Penny“, forderte der Junge.

Du durchtriebener kleiner Hundesohn, dachte Rapp. Er zog die Münze aus seiner Tasche und zeigte sie dem Jungen. „Bring mich zu den Leichen, und das Zweipennystück gehört dir.“

4. KAPITEL

Die Einkaufsexpedition erwies sich als eine ganz neue Erfahrung. Niemals zuvor hatte Tanner Dinge des alltäglichen Gebrauchs gekauft. Normalerweise schickte er seinen Kammerdiener los, um Rasiermesser, Rasierpinsel, Schuhputzmittel oder Kämme und Zahnbürsten zu beschaffen. Er verweilte so lange wie möglich in dem kleinen Geschäft, damit Miss Brown in Ruhe baden konnte. Der Ladeninhaber und zwei andere Kunden befragten ihn über das Schiffsunglück.

Schließlich verließ er den Laden und trank in der Schankstube einen weiteren Krug Bier. Der Alkohol stimmte ihn heiter, und er dachte an Miss Brown in ihrem Badezuber – an ihre glatte Haut, die jetzt nach Seife duftete.

Als er die Einkäufe zum Zimmer trug, sehnte er sich so danach, seine Schiffbrüchige zu sehen, dass er zwei Stufen auf einmal nahm. Er ging den Flur entlang zur Tür, klemmte sich die Pakete unter einen Arm und klopfte.

„Kommen Sie herein“, rief sie.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür.

Sie war angezogen, saß auf einem Stuhl neben dem Kamin und trocknete ihre langen mahagonibraunen Haare mit einem weißen Handtuch. Er atmete den Duft von Seife ein und wünschte sich nichts mehr, als die Frau zu umarmen und ihren weichen Körper zu spüren.

„Sie waren lange weg“, sagte sie freundlich.

„Ich wollte Ihnen so viel Zeit wie möglich geben.“

Sie wickelte sich das Handtuch um den Kopf. „Ich fürchte, inzwischen ist das Wasser ziemlich kalt geworden.“

Er lächelte sie an. „Es wird nicht so eisig sein wie unser unfreiwilliges Bad im Meer.“

Sie erschauderte. „Nein, gewiss nicht.“ Sie sah ihm direkt in die Augen.

Er musste sich zusammenreißen, um sich von ihrem Blick zu lösen. Andernfalls würde er etwas Dummes tun. „Die Einkäufe“, sagte er und legte die Päckchen auf den Tisch in der Ecke. Eines wickelte er aus und reichte ihr die Bürste und den Kamm, die er gekauft hatte. „Ich nehme an, das können Sie jetzt gebrauchen.“

Sie waren aus einfachem Schildpatt. Tanner dachte daran, wie viele silberne Bürsten und Kämme er seinen Geliebten geschenkt hatte. So feine Dinge gab es im Laden von Cemaes nicht, aber Miss Browns Augen leuchteten vor Freude.

„Oh, wie wundervoll!“, rief sie. „Jetzt kann ich mir die Haare glätten und sie trocken bürsten.“

Niemals war ein Geschenk, das er einer Frau überreicht hatte, auf solche Dankbarkeit gestoßen. Er lächelte, weil er sich über ihre Begeisterung freute. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Haare zu kämmen, um es zu bemerken.

Tanner ging zum Zuber und testete mit einem Finger die Wassertemperatur. Zu Hause würden seine Diener sofort mit Krügen herbeieilen, um heißes Wasser hinzuzufügen.

Den Kamm noch immer in den Händen, erhob sie sich vom Stuhl. „Soll ich Mrs Gwynne bitten, mehr heißes Wasser zu bringen? Ich muss ohnehin nach unten, damit Sie baden können.“

Er wollte nicht, dass sie ging. „Nein, das ist nicht nötig. Außerdem finden die Gwynnes es bestimmt seltsam, wenn Mrs Lear mit nassen Haaren durch die Schankstube spaziert.“ Er berührte eine ihrer schimmernden Strähnen. „Sie wundern sich gewiss, wenn Sie Ihren Gatten verlassen, nur weil er ein Bad nimmt.“

Nachdenklich sah sie ihn an. „Ich glaube, Sie haben recht. Ich werde mich mit dem Rücken zu Ihnen hinsetzen.“ Entschlossen ging sie zu ihrem Stuhl zurück und drehte ihn so, dass die Sitzfläche dem Kamin zugewandt war.

Tanner zog sich Gehrock und Weste aus und legte sie auf das Bett. Dann entledigte er sich seiner übrigen Kleidung. Als er alles ausgezogen hatte, drehte er sich zu Miss Brown, die völlig ins Kämmen ihrer Haare versunken schien.

Er lachte.

Sie hielt inne. „Was amüsiert Sie?“

„Oh, ich musste nur daran denken, dass sich mir normalerweise ein anderer Anblick bietet, wenn ich mich in Gesellschaft einer Frau entkleide.“

Sie begann wieder, sich zu kämmen. „Hatten Sie Gesellschaft von so vielen Frauen, Tanner?“

Er stand direkt hinter ihr, nackt und erregt, und wünschte sich, sie würde sich umdrehen, um zu sehen, wie sehr er sie begehrte. Er wünschte sich, sie würde zu ihm kommen und zulassen, dass er unverzüglich mit ihr schlief. Zum Teufel mit dem Baden!

Solche Gedanken waren gefährlich. Er hatte ihr versprochen, die Situation nicht auszunutzen. „Ich denke, ich habe genug Frauen kennengelernt“, murmelte er und ging zum Zuber. Er zuckte zusammen, als er den rechten Zeh ins Wasser hielt.

Erneut zögerte sie, bevor sie etwas entgegnete. „Vermutlich haben Sie zahllose Mätressen.“

Er runzelte die Stirn, weil sie ihn so einschätzte. „Ich habe eben Glück bei den Frauen.“ Sein Versuch, einen Scherz zu machen, klang in seinen eigenen Ohren hohl. In Wahrheit ließ er sich nie auf mehrere Frauen gleichzeitig ein, und im letzten Jahr war es nichts als eine flüchtige Begegnung gewesen. Im Augenblick stellte er sich sogar die Frage, ob je eine seiner Liebschaften für ihn einen echten Reiz besessen hatte.

Er tauchte ein Bein in das Wasser, das genauso kalt war, wie er vermutet hatte, und zwang sich, das zweite Bein nachzuziehen, bevor er weiter eintauchte.

Er schreckte hoch, als sein empfindlichstes Körperteil mit dem Wasser in Berührung kam. „Ah!“, schrie er auf, als er ein zweites Mal eintauchte, aber diesmal war es, weil seine Rippen schmerzten.

„Ich hätte doch besser nach heißem Wasser fragen sollen“, hörte er Miss Brown besorgt sagen.

„Es lässt sich ertragen“, erwiderte er, obwohl er nicht wusste, ob ihn der Schmerz oder das kalte Wasser mehr plagte.

So schnell er konnte, seifte er sich ein. In seiner Eile entglitt ihm die Seife und fiel ins Wasser. Als er sie endlich zu fassen bekam, rutschte sie ihm wieder aus der Hand, fiel auf den Boden und glitt aus seiner Reichweite.

„Zum Teufel“, murmelte er.

„Haben Sie die Seife fallen lassen?“, fragte sie noch immer mit abgewandtem Gesicht.

„Ja, aber es ist egal. Ich glaube, ich bin sauber genug.“

Sie stand auf. „Ich werde sie Ihnen holen.“

„Das ist nicht nötig“, beteuerte er.

„Es ist kein Problem für mich.“

Bevor er sie davon abhalten konnte, drehte sie sich um. Sie sahen einander an. Dann senkte sie den Blick und suchte nach der Seife, hob sie auf und brachte sie ihm. Er schaute rasch an sich hinunter, doch das Wasser war so trüb, dass es seine untere Körperhälfte verdeckte.

„Hier.“ Sie drückte ihm seelenruhig die Seife in die rechte Hand, als ob sie ihm gerade seinen Hut reichen würde. Nachdem sie sich die Hände an einem der Handtücher abgetrocknet hatte, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück und setzte das Kämmen fort.

Tanner war dunkelrot geworden, wohingegen sie ganz gelassen gewirkt hatte. „Sie verhalten sich nicht gerade wie ein prüdes Fräulein, Miss Brown?“

„Mrs Lear“, verbesserte sie ihn. „Außerdem haben Sie recht. Ich bin zu alt, um mich wie ein Fräulein zu verhalten.“

„Alt“, wiederholte er. „Wie alt sind Sie denn?“

„Das ist eine Frage, die keine Frau gern beantwortet.“

„So alt sind Sie schon?“, fragte er spöttisch.

Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. „Ich bin fünfundzwanzig.“

„Du meine Güte!“, rief er mit gespieltem Entsetzen. „Sie leiden bestimmt schon an Altersschwäche!“

Sie lachte. „Sie wollen mich bloß aufziehen.“

Er mochte ihr Lachen. Außerdem gefiel es ihm, dass sie nicht zum Erröten und ähnlichen Geziertheiten neigte. Er hatte die jungen Debütantinnen nie gut ertragen können, die während der Saison nach London strömten und nach einem Ehemann suchten. Miss Brown erschien ihm viel interessanter.

Obwohl er versuchte, sich auf das Baden zu konzentrieren, dachte er darüber nach, weshalb sie nicht prüde reagierte. Welche Erfahrung hatte sie mit Männern gemacht?

Anhand seiner Gänsehaut wurde ihm mit einem Mal klar, dass er lang genug im kalten Wasser gesessen hatte.

„Ich warne Sie. Ich habe vor, mich zu erheben, und stehe dann in all meiner Pracht vor Ihnen.“ Er begann aufzustehen, hielt jedoch inne. „Vielleicht möchten Sie ja auch hinsehen.“

Er versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, obwohl er sich wünschte, dass sie ihn mit demselben Verlangen ansah, das er für sie empfand.

Aufgrund des kalten Wassers zeigte sich seine Männlichkeit jedoch gerade nicht von der vorteilhaftesten Seite.

„Ich werde wegschauen.“ Sie sah zum Kamin, während er sich abtrocknete und Hemd und Pantalons anzog.

„Es fühlt sich großartig an, wieder sauber zu sein, nicht wahr?“

„In der Tat“, stimmte er zu. „Allerdings wäre ich glücklicher, wenn ich ein frisches Hemd hätte.“ Er ergriff eines der Päckchen und ging zur Kommode, auf der ein Spiegel, eine Kanne und eine Schüssel standen.

Sie ergriff die Bürste und drehte sich zu ihm um. „Riecht es noch nach Meerwasser?“

„Es stinkt wie der Teufel.“ Er wickelte das Päckchen mit den Rasiersachen aus.

Sie reichte ihm die Seife. Ihre langen dunklen Haare fielen in weichen Wellen über ihre Schultern.

Eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Sie senkte den Kopf und ging wieder zu ihrem Stuhl zurück.

Er holte tief Luft und begann, sich das Gesicht einzuseifen. „Glücklicherweise hat mein Diener an dem Tag Zahnschmerzen bekommen, als wir nach Dublin aufbrechen sollten.“

„Ich wollte Sie schon fragen, ob niemand Sie begleitet hat“, sagte sie ernst.

„Nein, niemand.“ Er wandte sich vom Spiegel ab und drehte sich zu ihr.

„Ich bin froh darüber“, murmelte sie.

„Ich auch“, erwiderte er.

Er begann sich zu rasieren. „Pomroy und ich haben uns einmal zwei Wochen lang nicht rasiert. Wir waren in einem meiner Jagdhäuser, aber es hörte gar nicht mehr auf zu regnen. Es gab nichts, was wir hätten tun können, also tranken wir Unmengen Brandy und ließen uns Bärte wachsen.“

Sie schmunzelte. „Ein sportlicher Zeitvertreib.“

„Wir wetteten darum, wem in den zwei Wochen der längere Bart wächst.“ Er lachte. „Ich habe gewonnen.“

„Und wer war damit betraut, das zu messen?“

„Unsere armen Diener.“ Er wirbelte einen Finger herum. „Pomroys Kammerdiener maß meinen Bart und meiner den von Pomroy.“

Er fuhr sich mit dem Rasiermesser an den Wangen entlang, bis er kaum mehr Seife im Gesicht hatte. Dann wusch er sich das Gesicht mit klarem Wasser und trocknete es ab.

Er präsentierte sich ihr. „Wie habe ich das gemacht?“

Zu seiner Überraschung stand sie auf, um ihm über die rechte Wange zu streichen. „Das haben Sie gut gemacht“, murmelte sie.

Der Körperteil, der sich im kalten Bad zurückgezogen hatte, übte nun keinerlei Zurückhaltung mehr. Tanner beugte sich näher zu ihr vor, so nah, dass er die hellen und dunklen blauen Linien in ihren Augen erkennen konnte. Sie hielt inne, ohne die Finger von seiner Wange zu nehmen.

Er wollte ihren Namen in den schwindenden Raum zwischen ihnen hauchen, aber er kannte ihn nicht.

Jemand klopfte laut an der Tür.

„Zum Teufel“, fluchte er leise.

Er ging zur Tür. „Wer ist da?“

„Mrs Gwynne, Sir. Wenn Sie Ihr Bad beendet haben, holen wir den Zuber.“

Autor

Diane Gaston
Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten.

In ihrer Kindheit...
Mehr erfahren
Sylvia Andrew

Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...

Mehr erfahren
Julia Justiss
Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
Mehr erfahren