Jenseits jeder Vernunft

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"Willst du mich in Versuchung führen?", fragte er mit rauchiger Stimme. Tia blickte ihn aus unschuldigen blauen Augen an. "Warum sollte ich das tun?" Eine atemberaubende Schönheit, versteckt hinter Klostermauern! Max Leonelli ist von der jungen Tia auf den ersten Blick fasziniert. Auf dringlichen Wunsch seines Mentors ist er von England nach Brasilien gereist, wo Tia seit ihrer Kindheit in einem Konvent lebt. Er soll die nichtsahnende Millionenerbin einfühlsam mit ihrem neuen Luxusleben vertraut machen - und sie heiraten, damit sie behütet ist! Aber die glühende Leidenschaft, mit der er die bezaubernde Unschuld begehrt, ist jenseits jeder Vernunft …


  • Erscheinungstag 24.04.2018
  • Bandnummer 2332
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710095
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Eigentlich habe ich kein Recht, dich um den Gefallen zu bitten“, sagte Andrew Grayson und schob seinen Rollstuhl näher an das Kaminfeuer heran.

Max Leonelli, der es mit achtundzwanzig Jahren bereits zum Multimillionär gebracht hatte, runzelte die Stirn. „Ich würde dir jeden Gefallen tun“, versicherte er dem gebrechlichen Mann, der ihn als Zwölfjährigen in seinem Haus aufgenommen hatte.

Andrew betrachtete den jüngeren Mann mit stillem Stolz. Natürlich war es längst zu spät, sich einzugestehen, dass er dessen Tante vor Jahren hätte heiraten und den Jungen adoptieren sollen. Der Neffe seiner Haushälterin war als traumatisiertes, ängstliches und misstrauisches Kind in sein Haus gekommen. Doch dem mächtigen Geschäftsmann, der vor ihm stand, war davon nichts mehr anzumerken.

Frauen waren verrückt nach Max. Der hübsche Junge mit den traurigen Augen hatte sich zu einem attraktiven Mann mit olivbrauner Haut, wie gemeißelten Gesichtszügen und herausforderndem Blick gemausert. Max war durch die entbehrungsreiche, schlimme Kindheit härter geworden und galt heute als unnachgiebiger Verhandlungspartner. Aber Andrew war er immer treu ergeben gewesen. Und seit der ältere Mann sich wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hatte, vertrat Max ihn an der Spitze des international erfolgreichen Geschäftsimperiums Grayson Industries. Für Max war es die Feuerprobe gewesen, und er hatte sie wie alles in seinem Leben mit Bravour bestanden.

„Meine Bitte sprengt den üblichen Rahmen“, warnte Andrew.

Die Geheimniskrämerei ließ Max aufhorchen. Normalerweise redete Andrew nicht lange um den heißen Brei herum. „Schieß los …“

Mit rasselndem Atem sog Andrew Luft in die angegriffenen Lungen. „Ich möchte, dass du meine Enkelin heiratest.“

Max starrte den alten Mann ungläubig an. Der Schein des Kaminfeuers ließ seine goldbraunen Augen leuchten wie Bernsteine. „Aber sie lebt in Brasilien. Im Kloster …“

„Im Moment noch. Ich möchte trotzdem, dass du sie heiratest. Nur so kann ich sichergehen, dass sie auch nach meinem Tod beschützt wird“, erklärte Andrew. „Ich hätte gegen ihren Vater vorgehen sollen, als er dem Mädchen verboten hat, mich in England zu besuchen. Aber bis zum letzten Jahr hatte ich noch Hoffnung, er würde eines Tages nach Hause kommen und in meine Fußstapfen treten. Deshalb wollte ich es mir nicht mit ihm verderben. Schließlich ist sie seine Tochter, nicht meine. Und es war sein Recht, zu entscheiden, wo sie aufwächst.“

Max stieß den angehaltenen Atem langsam aus. Er sollte ein Mädchen heiraten, das er noch nie gesehen hatte? Ein Mädchen, das im Kloster aufgewachsen war? Das war tatsächlich eine außergewöhnliche Bitte. Noch nie hatte Andrew ihn um ein solches Opfer gebeten. Und es wäre vermutlich die letzte Bitte, mit der er an ihn herantreten würde. Der alte Mann war schwer krank und hatte nicht mehr lange zu leben. Bei diesem Gedanken brannten Max’ Augen, als wäre er zu nahe ans Feuer getreten.

„Tia ist alles, was ich noch habe. Meine letzte Nachkommin.“ Andrew wandte den Kopf ab. Doch Max hatte gesehen, wie sich sein Blick getrübt hatte. Vermutlich war ihm der Verlust seiner beiden Söhne wieder einmal schmerzhaft bewusst geworden.

Vor drei Jahren war Andrews ältester Sohn Steven verstorben, ohne Kinder zu hinterlassen. Und vor nicht einmal acht Wochen hatte Andrew auch noch erfahren müssen, dass sein jüngerer Sohn Paul in Afrika an einem Herzinfarkt gestorben war. Er war in einem fernen Land begraben worden, ohne sich vorher mit dem Vater auszusöhnen. Tia war Pauls Tochter. Sie entstammte seiner kurzen Ehe mit einem brasilianischen Fotomodell.

„Wir hätten das Mädchen schon vor Jahren zu uns holen sollen.“ Andrew seufzte.

„Ja.“ Max, der etliche Jahre jünger war als Andrews Söhne, hatte nur Steven persönlich kennengelernt. Steven hatte jahrelang für den Vater gearbeitet und war extrem fleißig gewesen, hatte in der Firma allerdings weder eigene Ideen eingebracht noch Verantwortung übernehmen wollen. Paul, das hatte Andrew immer wieder betont, war viel ehrgeiziger gewesen. Aber mit Mitte dreißig hatte er das Handtuch geworfen, weil er sich zum christlichen Missionar berufen fühlte. Er hatte die Verbindung zu seinem Vater kurzerhand gekappt. Auf einer Mission in Brasilien war seine Frau Inez mit einem anderen Mann durchgebrannt und hatte Tochter und Ehemann im Stich gelassen. Paul hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als das Mädchen in die Obhut von Nonnen zu geben. Danach war er weiter durch arme Länder gereist und hatte das Wort Gottes unter den Verzweifelten dieser Erde verbreitet.

„Warum willst du, dass ich sie heirate?“, fragte Max leise.

Andrew seufzte. „Überleg doch mal. Das Mädchen weiß nichts von der modernen Welt. Wenn ich sterbe, wird sie ein Vermögen erben. Die Mitgiftjäger werden sich auf sie stürzen wie Schmeißfliegen. Genauso gut könnte man ein Baby in ein Haifischbecken werfen. Bis sie sich selbst zurechtfindet, wird sie jemanden brauchen, der ihr den Weg weist.“

„Aber sie ist doch kein Kind mehr“, warf Max ein. „Sie ist jetzt wie alt? Einundzwanzig?“

„Fast zweiundzwanzig“, gab der ältere Mann zu. „Aber sie braucht einen sicheren Hafen, wo sie lernen kann, sich in der halsabschneiderischen Welt zu behaupten.“

„Auch wenn sie am Amazonas aufgewachsen ist, kennt sie sich in der modernen Welt vielleicht besser aus, als du denkst.“

„Das bezweifle ich. Und ich werde das Risiko auf gar keinen Fall eingehen, schließlich hängen Tausende von Arbeitsplätzen von der Zukunft meiner Firma ab. Und meinen Angestellten gegenüber trage ich ebenfalls Verantwortung. Ich habe die Mutter Oberin im Kloster kontaktiert. Meine größte Sorge war, dass Tia beschlossen hätte, Nonne zu werden. Aber wie ich erfahren habe, hat sie diesen Wunsch nie geäußert.“

„Warum lebt sie mit über zwanzig dann noch im Kloster?“, fragte Max mit einem Anflug von Spott in der Stimme.

„Angeblich arbeitet sie dort. Du darfst sie nicht vorschnell verurteilen. Sie kennt kein anderes Leben. Paul war immer sehr streng und leider auch frauenfeindlich. Er hat sich einen Sohn gewünscht. In seinen Augen war eine Tochter eine Last und Enttäuschung. Und er war besessen von der Idee, sie von den Einflüssen der modernen Welt abschirmen zu müssen. Er hat wohl gehofft, sie würde eines Tages eine Braut Christi werden.“

„Aber sie hat einen anderen Weg gewählt.“ Max fuhr sich mit der Hand durch die kurzen dunklen Locken und ging zum Couchtisch, um sich einen Whiskey einzugießen. Er konnte Andrews Befürchtungen nur zu gut nachvollziehen.

Als Erbin des Grayson-Vermögens wäre Tia die perfekte Zielscheibe für Mitgiftjäger. Max kannte das aus eigener Erfahrung. Seit er seine erste Million gemacht hatte, liefen ihm die Frauen in Scharen hinterher. Die meisten hatten es nur auf sein Geld abgesehen und hätten sich ihm auch an den Hals geworfen, wenn er alt und hässlich gewesen wäre.

„Dass sie sich gegen ein Leben als Nonne entschieden hat, begrüße ich sehr. Sonst würde sie sicherlich alles, wofür ich mein Leben lang gearbeitet und gekämpft habe, kurzerhand verkaufen und den Erlös dem Kloster stiften.“ Andrew seufzte auf. „Ich bin meinen Angestellten den Erhalt der Firma schuldig. Außerdem möchte ich das Mädchen endlich kennenlernen …“

„Das verstehe ich ja.“ Max presste die Lippen aufeinander. „Aber dafür muss ich sie doch nicht gleich heiraten.“

„Warum bist du mit einem Mal so begriffsstutzig?“, murmelte Andrew leicht ungehalten, während er den jüngeren Mann aus wässrig blauen Augen musterte. „Begreifst du denn nicht, dass ich Tia und dir mein ganzes Vermögen vererben will?“

„Tia und mir?“, wiederholte Max verblüfft.

„Wenn du sie heiratest, bist du endlich Teil der Familie. Mein Imperium wird dir gehören. Denn ganz gleich, wie sich eure Ehe entwickelt, nach meinem Tod wirst du dafür sorgen, dass die Firma weiter wächst und gedeiht. In dieser Hinsicht vertraue ich dir mehr als jedem anderen“, schloss Andrew zufrieden. „Eine Ehe mit Tia wäre auch zu deinem Besten.“

Max, der nie damit gerechnet hatte, auch nur einen Penny von Andrew zu erben, schaute den alten Mann verdutzt an. „Das meinst du doch nicht ernst …“

„Und ob“, versicherte Andrew. „Ich habe mein Testament bereits entsprechend geändert.“

„Du willst mich also bestechen, damit ich sie heirate?“, fragte Max empört.

„Das ist doch keine Bestechung. Nennen wir es lieber einen Anreiz. Natürlich weiß ich, welches Opfer du bringen würdest, wenn du deine Freiheit aufgibst. Und mir ist auch klar, dass du momentan nicht vorhast, zu heiraten und eine Familie zu gründen“, stellte Andrew sachlich fest. „Gott weiß, wie sich Tia in all den Jahren im Kloster entwickelt hat. Dass sie nicht wie die Frauen ist, mit denen du dich sonst in der Öffentlichkeit zeigst, dürfte uns beiden klar sein.“

Max starrte in sein Whiskeyglas und gab keine Antwort. Tatsächlich zeigte er sich nicht mit Frauen in der Öffentlichkeit. Er ging lediglich mit ihnen ins Bett und war an einer festen Freundin nicht interessiert. Keiner seiner unzähligen Affären hatte er je auch nur einen Strauß Blumen geschickt. Denn sonst wären sie noch auf dumme Ideen gekommen oder hätten sich eingebildet, er würde es ernst mit ihnen meinen. Max hatte gern Sex, aber dafür musste er sich nicht an eine Frau binden.

„Andererseits ist mir natürlich klar, dass eure Ehe womöglich nicht von Dauer sein wird. Vielleicht versteht ihr euch nicht und wollt nach einiger Zeit eure Freiheit wiederhaben. Aber ich weiß, dass du dich auch nach einer Trennung um Tia kümmern wirst. Was hast du zu verlieren?“

„Wie ich sehe, hast du alles gut durchdacht“, begann Max. In seinen gleichmäßigen Gesichtszügen spiegelten sich keinerlei Gefühle wider.

„Und du hast nicht von vornherein Nein gesagt“, warf Andrew zufrieden ein.

„Du gehst davon aus, dass Tia mich tatsächlich heiraten würde. Ist das nicht eine gewagte Vermutung?“

„Max, seit du vierzehn bist, eroberst du die Herzen der Frauen im Sturm.“

Max zuckte kaum merklich zusammen. „Ich bin kein Romantiker. Und ich werde ihr ganz bestimmt keine Liebeslügen erzählen. Aber ich lasse mir deinen Vorschlag durch den Kopf gehen. Mehr kann ich allerdings nicht versprechen.“

„Die Zeit läuft mir allmählich davon“, warf Andrew ein. „Ich habe der Mutter Oberin mitgeteilt, dass ich krank bin und dich als meinen Stellvertreter nach Brasilien schicke, damit du Tia abholst und zu mir bringst. Sie scheint sehr um Tias Wohl besorgt zu sein. Sie hat alle möglichen Fragen zu deinem Charakter gestellt und wollte, dass ich mich für dich verbürge.“

„Okay.“ Max hatte das Gefühl, ein Schraubstock würde sich um seinen Kopf legen. Bisweilen überfiel ihn eine üble Migräne. Kopfschmerzen und gelegentliche Albträume waren die einzigen Nachwirkungen, die die schlimmen Erlebnisse seiner Kindheit bei ihm hinterlassen hatten.

„Wer weiß, vielleicht entpuppt sich Tia ja als Liebe deines Lebens“, versuchte Andrew ihm den Vorschlag schmackhaft zu machen. „Sei doch nicht immer so verdammt pessimistisch.“

Max läutete nach Andrews Krankenpfleger und verabschiedete sich von dem alten Mann. Liebe meines Lebens, dachte er auf der Treppe spöttisch. Das konnte auch nur jemandem aus Andrews Generation einfallen, für die die Ehe eine Entscheidung fürs Leben war.

Max war ohne Liebe aufgewachsen. Seine Eltern waren viel zu sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt gewesen, und seine Tante Carina, Andrews ehemalige Haushälterin, hatte Max nach dem Familiendrama lediglich ein Dach über dem Kopf geboten. Carina, die nicht gerade kinderlieb gewesen war, hatte den Sohn ihrer toten Schwester nur zu sich geholt, weil sie es als ihre Pflicht angesehen hatte. Max hatte es seiner Tante nie verübelt, dass sie so kalt zu ihm gewesen war. Er selbst hatte bis heute mit den schrecklichen Erinnerungen an seine Kindheit zu kämpfen und versuchte, sie so gut wie möglich zu verdrängen. Wie viel schwerer musste es da der Schwester seiner Mutter gefallen sein, echte Liebe für den Neffen zu empfinden? Immerhin war er der Sohn eines gewalttätigen Vaters.

Außerdem war da noch dieser unschöne Vorfall gewesen, der Max’ Vertrauen in die Liebe für immer erschüttert hatte. Damals war er keine zwanzig und unsterblich in ein Mädchen verliebt gewesen. Die Geschichte war in einem Drama geendet. Sein angeblich bester Freund hatte heimlich ein Verhältnis mit Max’ großer Liebe gehabt. Sie war schwanger geworden, aber sie und der Freund hatten versucht, Max das Kind unterzujubeln. Seitdem wusste er, was passieren konnte, wenn man den falschen Menschen vertraute.

Max war definitiv nicht auf der Suche nach Liebe. Vielleicht würde sie ihn eines Tages aus heiterem Himmel überfallen, wenn er einen Moment lang nicht aufpasste. Seit dem Fiasko in seiner Jugend war ihm das zum Glück nie wieder passiert. Er stand auf Brünette, die sich ihrer sexuellen Anziehungskraft absolut sicher waren. Aber dass er sich ihretwegen in Tagträumen verlor, das kam nicht vor. Für ihn waren die Frauen lediglich ein Mittel zum Zweck. Dieser Zweck hieß Sex. Da er zudem ein erfahrener Liebhaber war, hatten beide Parteien etwas davon, wie er sich gern einredete. Das musste er, sonst hätte sein Sexleben einen üblen Nachgeschmack hinterlassen.

Mit einer Ehefrau wäre das eine vollkommen andere Geschichte. Allein der Gedanke an eine Ehe trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Eine Frau wäre wie eine Klette. Sie wäre von ihm abhängig und würde seine Unterstützung brauchen.

Natürlich konnte er Andrews Vorschlag einfach ablehnen, oder?

Doch leider ließ Max sich von zwei starken Prinzipien leiten. Das erste war absolute Loyalität, das zweite unbändiger Ehrgeiz. Andrew hatte ihm ein Paket zusammengeschnürt, das ihn in Versuchung führen sollte. Der alte Mann war seit seiner Jugend eine Art Vaterersatz für ihn gewesen. Ihm verdankte er alles. Denn Andrew hatte die teure Ausbildung bezahlt, die es Max und seinem messerscharfen Verstand ermöglicht hatte, an die internationale Spitze aufzusteigen. Natürlich verfolgte Andrew damit auch eigene Interessen, aber Max hatte immer stark von seiner Unterstützung und den wertvollen Tipps profitiert. Wie konnte er ihm da die letzte Bitte ausschlagen?

Außerdem hatte Andrew ihm das Wort Familie wie eine Karotte vor die Nase gehalten. Wenn Max einwilligte, Tia zu heiraten, würde er ein Teil der Grayson-Familie werden. Er war sein Leben lang ein Außenseiter gewesen und hatte sich immer gewünscht, irgendwo dazuzugehören. Aber seine armselige Herkunft allein hatte ihn zu einer Rolle am Rand der Gesellschaft verdammt. Die Schüler des exklusiven Internats, das er dank Andrews Großzügigkeit besucht hatte, stammten allesamt aus besseren Verhältnissen. Um nicht gehänselt zu werden, hatte Max ihnen seine Herkunft verheimlicht. Andrews Versprechen, dass er nach der Heirat zu seiner Familie gehören würde, hatte bei Max einen stärkeren Eindruck hinterlassen, als dem alten Mann vermutlich klar gewesen war.

Es war der reinste Wolkenbruch. Max konnte sich nicht erinnern, jemals derart starke Niederschläge erlebt zu haben. Der strömende Regen, der die Straße in eine fast unpassierbare Piste verwandelt hatte, prasselte auf die Windschutzscheibe des Jeeps, den Max samt Chauffeur für die Strecke von Belém zum Kloster Santa Josepha gemietet hatte.

Im flackernden Scheinwerferlicht erkannte er eine Ansiedlung. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich halb verfallene Gebäude und baufällige Hütten, kreuz und quer in die Landschaft gesetzt. Der Anblick erinnerte an ein Dorf, in dem Menschen auf der Flucht kurzzeitig Unterschlupf fanden. Der Fahrer des Jeeps redete ununterbrochen auf Max ein. Vermutlich erklärte er, warum sich die Leute unter derart primitiven Lebensbedingungen hier niedergelassen hatten. Max verstand nur etwa jedes zehnte Wort. Obwohl er neben seiner Muttersprache Italienisch und dem in seiner Jugend angenommenen Englisch noch etliche andere Sprachen beherrschte, gehörte Portugiesisch nicht dazu.

Plötzlich ragte vor ihnen ein alter weiß getünchter Glockenturm auf. Max lehnte sich nach vorne und spähte durch die Windschutzscheibe. In dem Unwetter konnte er lediglich eine Mauer und die Umrisse einiger flacher Gebäude erkennen.

Estamos aquí … Wir sind da!“, verkündete der Fahrer und wedelte mit der Hand durch die Luft, bevor er vor einem Tor anhielt, den Kopf aus dem Fenster steckte und ein paar Worte auf Portugiesisch schrie. Ein älterer Mann tauchte auf. Er zog die Schultern im strömenden Regen schützend hoch und öffnete das schwere hölzerne Tor im Schneckentempo.

Max unterdrückte ein Gähnen. Doch die ermüdend lange Fahrt hatte sich nicht beruhigend auf ihn ausgewirkt. Im Gegenteil. Das Adrenalin rauschte durch seine Adern, und er hoffte inständig, dass neben der Klosterzelle, die die Mutter Oberin für ihn hergerichtet hatte, eine heiße Dusche und ein Abendessen auf ihn warteten. Hauptsächlich aber war er gespannt darauf, Constancia Grayson kennenzulernen. Er war sich sicher, dass er nur ein paar Sätze mit ihr wechseln musste, um herauszufinden, ob er Andrews letzten Wunsch erfüllen konnte.

Tia, die nicht wusste, dass Max soeben durchs Tor gefahren war, hüllte sich in einen Regenponcho und lief mit einer zerbeulten Blechdose zu den Büschen neben der kleinen Kapelle. Dort wartete ein völlig durchnässter kleiner Hund sehnsüchtig auf sie.

„Teddy“, flüsterte Tia und blickte sich rasch nach allen Seiten um. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Sie ging in die Hocke, stellte den Behelfsnapf hin und streichelte den kleinen Hund, der das Essen gierig in sich hineinschlang.

Im Kloster waren Haustiere verboten. Solange auf der Welt Menschen hungerten, galt es als Sünde, ein Tier, das nicht zum Verzehr gedacht war, durchzufüttern.

Tia redete sich zwar ein, dass sie dem Hund nur von dem Essen abgab, das eigentlich für sie bestimmt war. Trotzdem plagte sie das Gewissen, weil sie den Hund damit an sich band. Zum Wohl des Hundes hatte sie schon verschiedene Dinge getan, für die sie sich schämte. Unter anderem hatte sie den alten Torwächter bestochen, damit er das Loch im Zaun nicht reparierte und Teddy ungehindert auf das Klostergelände gelangen konnte. Und sie hatte gelogen, wenn eine andere Klosterschülerin sie gefragt hatte, ob sie nicht ebenfalls einen streunenden Hund gesehen hätte.

Tia liebte Teddy über alles. Er war das einzige Lebewesen, das ihr jemals ganz allein gehört hatte. Ein Blick auf seine gescheckte Schnauze reichte, um ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Was würde aus Teddy werden, wenn sie nach England ging? Oder würde ihr Großvater am Ende doch nicht Wort halten und sie nach Europa holen? Nach mehr als zwanzig Jahren im Kloster konnte sie sich nicht vorstellen, jemals woanders hinzufahren, geschweige denn, woanders zu leben.

Warum hatte ihr englischer Großvater nach all den Jahren des Schweigens plötzlich beschlossen, sie zu sich einzuladen? War es nicht ein schlechtes Vorzeichen, dass der Mann, der sie aus Brasilien wegbringen sollte, nicht zur vereinbarten Stunde im Kloster erschienen war? Schwester Sancha, die Mutter Oberin, hatte zwar gemutmaßt, dass das schlechte Wetter schuld an der Verspätung sei, aber Tia hatte es nicht überzeugt. Wie oft hatte ihr Vater versprochen, sie eines Tages aus dem Kloster zu holen und mit auf seine Missionsreisen zu nehmen? Bei seinem letzten Besuch, der jetzt über zwei Jahre zurücklag, hatte er dann erklärt, dass er nicht länger für ihren Unterhalt aufkommen könne und sie endlich auf eigenen Füßen stehen müsse. Damals hatte er sie zum gefühlt hundertsten Mal überzeugen wollen, in den Orden einzutreten. Auf ihre Frage, warum sie nicht bei ihm bleiben und ihn unterstützen könne, hatte er geantwortet, dass eine junge, attraktive Frau seine Arbeit nur behindern würde, weil er sich dann in erster Linie um ihre Sicherheit sorgen müsste.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte Tia vom Testamentsvollstrecker erfahren, dass sie keinen Penny erben würde. Paul Grayson hatte ihr lediglich seine Bibel vermacht und die mageren Ersparnisse anderen Missionaren hinterlassen.

Tia hatte es nicht im Geringsten überrascht, dass ihr Vater sie in seinem Testament übergangen hatte. Es war ihr schon immer klar gewesen, dass er sie nicht liebte und sich keinen Deut für sie interessierte. Wie es sich anfühlte, zurückgewiesen und verlassen zu werden, hatte Tia schon in ganz jungen Jahren erfahren. Erst hatte ihre Mutter sie wegen eines anderen Mannes im Stich gelassen, dann hatte ihr Vater sie ins Kloster gebracht. Außerdem hatte er ihr das Geld für eine bessere Schulbildung verweigert, die es ihr erlaubt hätte, eines Tages von ihm und dem Kloster unabhängig zu werden. Schon allein aus diesem Grund würde es ihr das Herz brechen, den armen Teddy seinem Schicksal zu überlassen.

Teddy war auf sie angewiesen. Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie sich vorstellte, wie der Hund nach ihrem Verschwinden noch tagelang zum Kloster laufen und vergeblich auf sein Futter warten würde. Warum war sie nur so selbstsüchtig gewesen und hatte ihn von ihrer Zuwendung abhängig gemacht? Wie groß war seine Chance, jemanden zu finden, der ihm ein Zuhause bot? In den letzten beiden Jahren hatte sich niemand um Teddy gekümmert. Und so hatte sich Tia seiner angenommen und es geschafft, aus dem abgemagerten kleinen Tier ein fröhliches kleines Fellknäuel zu machen. Vermutlich war Teddy von einem der Goldsucher ausgesetzt worden, die es massenhaft in die Berge zog, wo sie dann kein Edelmetall fanden, sondern nur noch das letzte bisschen Geld verloren. Viele der gescheiterten Goldschürfer verschwanden bei Nacht und Nebel und ließen ihre Frauen, Kinder und Tiere zurück.

Nachdem Tia in ihre Klosterzelle zurückgekehrt war, streifte sie den Regenponcho ab und hängte ihn an einen Haken. Ihre Haare waren klitschnass geworden, deshalb löste sie die dicken Zöpfe und kämmte sich die honigblonden Locken, um sie an der Luft trocknen zu lassen. Da es im Kloster um diese Uhrzeit sonst nichts zu tun gab, legte sie sich aufs Bett. Beim Putzdienst in der Schule fand sie in einem der Mülleimer gelegentlich eine Zeitschrift, die ihre einzige Verbindung zur modernen Welt darstellte. Zwar erhielt sie für ihre Dienste ein kleines Taschengeld, aber weit und breit gab es keinen Laden, in dem sie es hätte ausgeben können. Eine Zeit lang hatte sie das Geld gespart, aber dann hatte sie beschlossen, es den armen Frauen aus der Nachbarschaft zu geben, die etliche hungrige Mäuler stopfen mussten. Tia glaubte zu wissen, welche Frau das Geld tatsächlich für Essen und nicht für Alkohol oder Drogen ausgab.

Es klopfte an der Tür, und sie stand auf und öffnete sie. Draußen stand Schwester Mariana und sagte, die Mutter Oberin würde sie in ihrem Büro erwarten.

„Dein Besuch ist endlich da“, verkündete sie lächelnd.

Tia strich sich den leicht zerknitterten Rock glatt, atmete einmal tief durch und machte sich auf den Weg zum Hauptgebäude. Ihr Großvater hatte also doch Wort gehalten. Durfte sie jetzt tatsächlich nach England reisen und Andrew Grayson kennenlernen, der sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, als sie noch ein Baby gewesen war?

„Constancia ist ein freundliches, großzügiges Mädchen, das auf den ersten Blick ruhig und besonnen wirkt“, sagte die Mutter Oberin zu Max. „Dennoch ist sie bisweilen etwas stur, impulsiv und rebellisch. Sie werden sie im Auge behalten müssen, denn sie hat die Angewohnheit, sich über Regeln, die ihr nicht gefallen, hinwegzusetzen. Wie mir zu Ohren gekommen ist, füttert sie auf dem Klostergelände einen Hund durch. Das ist verboten. Allerdings ahnt sie nicht, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin.“

Max’ Blick wanderte über das Gesicht der Nonne. Ihren wachen Augen entging sicherlich so gut wie nichts. „Sie ist kein Kind mehr“, erwiderte er langsam.

„Das stimmt“, pflichtete sie ihm bei. „Und sie sehnt sich nach Unabhängigkeit. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob sie jetzt schon damit umgehen kann.“

„Ich werde es im Hinterkopf behalten“, versicherte er. Innerlich war er erleichtert, weil Tia nicht vollkommen war. Er hatte befürchtet, ein lammfrommes Mädchen mit hohen Idealen anzutreffen. Und das, was die Mutter Oberin über ihren Charakter gesagt hatte, gefiel ihm eher, als dass es ihn abgeschreckt hätte.

Die Tür ging auf, und Max erstarrte, als eine bildhübsche junge Frau eintrat und sich atemlos für die Verspätung entschuldigte. Dicke honigblonde Locken umschmeichelten ein herzförmiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, kornblumenblauen Augen und süßem Schmollmund. Ihre Haut war makellos rein. Max hielt gebannt den Atem an und brachte kein Wort heraus. Das war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert.

Tia blieb wie angewurzelt im Zimmer stehen. Max raubte ihr buchstäblich den Atem. Sein Gesicht erinnerte sie an den Kupferstich eines Renaissance-Fürsten, den sie in einem alten Buch in der Klosterbibliothek gesehen hatte. Seine Haut war bronzefarben, seine Gesichtszüge sahen aus wie gemeißelt, die scharf geschnittene Nase und der sinnliche Mund erinnerten an eine klassische Statue. Seine Augen hatten die Farbe von geschmolzener Schokolade und waren gerahmt von langen, dunklen Wimpern. Er sah aus wie ein Märchenprinz. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz, und sie fragte sich beschämt, welchen Eindruck sie auf ihn machen musste. Sie trug weder Make-up noch schicke Sachen. Nervös strich sie mit der Hand über den schlichten schwarzen Rock.

„Constancia – das ist Massimiliano Leonelli, der Stellvertreter deines Großvaters“, verkündete die Mutter Oberin.

„Bitte nennen Sie mich Max.“ Max hatte die Sprache wiedergefunden, sprang auf und streckte der jungen Frau die Hand entgegen.

„Und ich heiße Tia“, murmelte sie, während sie darauf achtete, seine Hand nicht länger als nötig zu berühren. Als sie aufblickte, zuckte sie zusammen, weil er noch größer war, als sie erwartet hatte. Er musste an die eins neunzig messen, sie dagegen kam nur auf knapp einen Meter sechzig. Die paar Männer, die sie kannte, waren fast alle kleiner, älter und vor allem nicht so gepflegt wie Max. Er schien nur aus Muskeln zu bestehen und trug einen perfekt geschnittenen Anzug aus dunkelgrauem Tuch.

Als Erstes fiel Max auf, dass sie die Augen ihres Großvaters hatte. Sein Blick wanderte abwärts, aber unter der weiten Bluse und dem langen verschlissenen Faltenrock konnte er ihre Figur nicht erkennen. Sie war zierlich, Brüste und Hüften waren unter der unförmigen Kleidung nur zu erahnen. An den Füßen trug sie einfaches, schmutziges Schuhwerk. Für einen Augenblick stieg Zorn in ihm hoch, weil sie so armselig gekleidet war. Allerdings wusste er nicht, wem er die Schuld dafür geben sollte. Paul, weil er ein schlechter Vater gewesen war, oder Andrew, weil er den Sohn nicht unter Druck gesetzt hatte, besser für die Tochter zu sorgen.

„Bitte zeige Mr. Leonelli sein Zimmer und sorge dafür, dass er zu essen bekommt“, sagte die Mutter Oberin zu Tia. „Du verlässt uns morgen früh.“

Tia wirbelte herum. „Morgen schon?“

„Ja“, bestätigte Max.

Die Glocke läutete zum letzten Gebet des Tages, und Tia erstarrte.

„Du bist für den Abend entschuldigt“, erklärte Mutter Oberin. „Mr. Leonelli ist kein praktizierender Katholik.“

„Aber was wird dann aus Ihrer Seele?“, rutschte es Tia heraus.

„Meine Seele braucht keine heilige Messe“, versicherte Max mit leicht spöttischem Lächeln. „Sie werden sich schnell an das weltliche Leben gewöhnen.“

Tia wollte etwas erwidern, aber das warnende Kopfschütteln der Mutter Oberin ließ sie verstummen. Der Gedanke, dass auch der Großvater keine Messe besuchte, war erschütternd. Allerdings hatte ihr Vater sie vorgewarnt, dass ihr Großvater ein gottloses Leben führte. Zumindest in dieser Hinsicht hatte er also die Wahrheit gesagt.

„Ich nehme an, im Kloster dreht sich alles um die Gebete“, bemerkte Max, als Tia ihn durch die kahlen Klostergänge führte.

„Richtig.“

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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