Julia Ärzte zum Verlieben Band 136

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WENN DAS GLÜCK DICH FINDET von KARIN BAINE
Der neue Chirurg Rafael Valdez ist heiß begehrt - und hält zu allen Distanz. Aber die hübsche Summer von der Kinderstation spürt, dass im Leben des alleinerziehenden Dads nicht alles Gold ist, was glänzt. Kann sie ihn davon überzeugen, dass er nicht für immer allein bleiben muss?

DAS WUNDER, DAS MAN LIEBE NENNT von TINA BECKETT
Alles will die junge Ärztin Madison tun, um der gelähmten Ivy zu helfen. Nicht nur, damit das Kind wieder laufen kann, sondern auch, weil die hoffnungsvollen Blicke des Vaters sie an Liebe glauben lassen! Als Medizinerin - aber auch als Frau …

DREI, ZWEI, EINS - DR. NELSON IST MEINS! von JANICE LYNN
Kann man mit Herzensbrecher Gabe Nelson einfach nur gut befreundet sein? Ja, glaubt Schwester Kami. Sie und der umschwärmte Doc sind beste Freunde. Aber was Gabe jetzt von ihr verlangt, ist riskant: Kami soll ihn bei einer Junggesellenauktion ersteigern! Dann gehört er ihr …


  • Erscheinungstag 06.03.2020
  • Bandnummer 136
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715533
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karin Baine, Tina Beckett, Janice Lynn

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 136

KARIN BAINE

Wenn das Glück dich findet

Nie wieder will Dr. Rafael Valdez sein Herz verlieren: Seine Frau hat ihn verlassen, weil sie mit ihrer autistischen Tochter Gracie überfordert war. Doch als Rafael in der renommierten Maple Island Clinic als Chirurg anfängt, begegnet er dort der ebenso schönen wie liebevollen Summer. Will das Glück ihm und Gracie etwa eine zweite Chance geben?

TINA BECKETT

Das Wunder, das man Liebe nennt

Der verwitwete Milliardär Theo Hawkwood ist verzweifelt. Seine geliebte Tochter Ivy ist erkrankt! Die Spezialistin Madison Archer fliegt aus den USA ein, um das Kind zu untersuchen. Sie ist Theos letzte Hoffnung – aber zugleich auch die faszinierendste Frau, der er seit Langem begegnet ist. Plötzlich sind für den einsamen Vater zwei Wunder möglich …

JANICE LYNN

Drei, zwei, eins – Dr. Nelson ist meins!

Erfolgreich und charmant – Dr. Gabe Nelson ist daran gewöhnt, umschwärmt zu werden. Er ist nicht daran gewöhnt, dass eine Frau Abstand hält, wie die schöne Schwester Kami. Sie sind Freunde, aber wenn er flirtet, ist sie plötzlich scheu. Dabei ist er überzeugt, dass er nur mit Kami glücklich werden kann! Und dann kommt ihm eine Junggesellenauktion zu Hilfe …

1. KAPITEL

„Da ist auch endlich Triathlon-Dad“, murmelte Summer Ryan leise, als Dr. Rafael Valdez die Kindertagesstätte betrat. Durch die Glasscheiben sah sie ihn den Flur entlanggehen. Patientinnen und Angestellte der Klinik hielten gleichermaßen inne, um dem attraktiven spanischen Chirurgen hinterher zu starren. Es war aber auch schwierig, ihn zu ignorieren – selbst für sie, die ihren Job in einem Promi-Krankenhaus hinter sich gelassen hatte und auf diese Insel gezogen war, um den Verlockungen attraktiver Männer und dem Chaos, das sie mit sich brachten, zu entfliehen.

Maple Island lag zwar nur ein paar Meilen vor der Küste von Boston, aber hier hatte Summer das Gefühl, weit weg von allem zu sein. Die Insel war nur mit der Fähre oder mit kleinen Flugzeugen zu erreichen. Zu dieser Jahreszeit konnte das Winterwetter hier noch genauso gnadenlos sein wie in ihrer Geburtsstadt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne wieder schien und mindestens so viele Touristen auf der Insel waren wie Einwohner. Solange sie sich nicht an den Urlaubsromanzen – oder überhaupt irgendeiner Romanze – beteiligen musste, ging es ihr gut.

Leider brachte es ihr Job in der Tagesstätte der Klinik mit sich, dass sie Dr. Valdez nicht so einfach aus dem Weg gehen konnte. Sein Körper, den er mit Schwimmen, Laufen und Radfahren um die Insel fit hielt, war perfekt. Aber Summer würde genießen und schweigen. Und er hatte ohnehin nur Augen für ein weibliches Wesen.

„Scheint so, als hätte er heute Morgen schon einen Kampf mit ihr hinter sich“, sagte Kaylee, ihre Kollegin, die offenbar gemerkt hatte, wer Summers Aufmerksamkeit gefesselt hielt.

Die Liebe seines Lebens, seine dreijährige Tochter Gracie, war eine von Summers Schützlingen – darum war sie gezwungen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, als gut für sie war. Neben der körperlichen Anziehung, die sie verspürte, war da also auch noch die ständige Diskussion darum, wie sie mit den besonderen Bedürfnissen seiner Tochter umzugehen hatte. Sie hatten beide starke, vollkommen inkompatible Persönlichkeiten.

Nun ja, gutes Aussehen hin oder her: Alleinerziehende Väter standen sowieso auf der Nicht-berühren-Liste.

Das letzte Mal, als sie ihr Herz an eine Vater-Kind-Kombination verloren hatte, hatte sie die Erleichterung des Vaters, sich nicht mehr allein um seinen Sohn Leo kümmern zu müssen, fälschlicherweise als Liebe interpretiert. Sie hatte sich zu hundert Prozent in diese Beziehung gestürzt und versucht, eine neue Familie zu schaffen. Bis sich herausstellte, dass Marc sie nur als eine Art Aushilfe gesehen hatte, bis die Mutter des Kleinen zurückkam.

Nie wieder würde sie den Fehler machen und jemandem ihr Vertrauen und ihre Zukunft schenken, der in ihr nur eine Erzieherin für sein Kind sah. Von Rafael Valdez wurde sie wenigstens dafür bezahlt.

Sie sah, wie Gracie sich umdrehte und zum x-ten Mal in die andere Richtung rannte. Statt geduldig abzuwarten, nahm ihr Vater sie auf den Arm und ging weiter, ohne auf ihren Protest zu achten. Summer wusste nur zu gut, in welche Tobsuchtsanfälle Kinder sich hineinsteigern konnten, aber Kinder mit Autismus waren noch einmal anders. Und natürlich verstand sie in dem Alter einfach noch nicht, was es bedeutete, wenn ihr Vater zu spät zur Arbeit käme.

„Heute Morgen muss irgendwas passiert sein. So spät ist er sonst nie. Er hat sogar noch nasse Haare.“

Selbst aus der Entfernung sah Summer seine feuchten Haare im Sonnenlicht glänzen. Alles, was Gracies Routine durcheinanderbrachte, konnte zu Problemen führen. Summer mochte das kleine Mädchen, aber es war schwierig, mit ihr zu kommunizieren, und so es kam immer wieder zu diesen Wutausbrüchen.

Kaylee grinste sie an.

„Was?“

Na und? Dann stellte sie sich vielleicht gerade vor, wie Rafaels dunkle Haare sich im Nacken lockten und seinen Hemdkragen nass machten. Das bedeutete doch nur, dass sie auch Kleinigkeiten im Leben anderer Leute bemerkte. Es gehörte zu ihren Kompetenzen als Child Life Specialist, dass sie Menschen lesen konnte.

Momentan war sie jedoch vor allem als Erzieherin tätig. Alex Kirkland, der medizinische Leiter und einer der Gründer der Klinik, hatte sie mit der Aussicht eingestellt, dass sie nicht lange in dieser Position bleiben würde. Er wollte die Kinderstation vergrößern, wo er sie als Child Life Specialist brauchte. Sie half jungen Patienten und Patientinnen, mit ihren Krankheiten zurechtzukommen, und bereitete sie auf die medizinische Behandlung vor.

Ihr war im Moment beides recht – am wichtigsten war ihr, dass sie ihr Leben in Boston hinter sich hatte lassen können. Marc und Leo vermissten sie sowieso nicht, seit Leos Mutter wieder da war, und ihre eigene Mutter hatte ihren zweiten Ehemann, der sie unterstützte.

„Nichts“, sagte Kaylee und lachte, als Summer ihre Augen immer noch nicht von den beiden – Rafael und Gracie – lösen konnte.

„Ach, sei still!“ Summer schlug mit einem Plüschpanda nach ihr.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wo wohl Gracies Mutter war. Oder andere Familienmitglieder. Man wusste wenig über den Rückenchirurgen, außer dass es ein großer Coup gewesen war, ihn für die Klinik zu gewinnen. Als Arzt hatte er einen großartigen Ruf, aber Summer fand ihn schwierig und stur. Er konnte einfach keine freundlichen Ratschläge annehmen.

Wenn er allen gegenüber so war, war es kein Wunder, dass er allein war, auch wenn er noch so gut aussah. Dabei ging er mit seiner Tochter so liebevoll um – irgendwo tief in ihm drin musste ein gutes Herz schlagen.

Es stand ihr zwar nicht zu, darüber zu urteilen, aber sie dachte manchmal, dass Eltern sich nicht genug Mühe gaben, ihre Beziehung zu kitten, wenn Kinder betroffen waren. Kaputte Familien taten ihr immer weh, weil sie ihre eigenen Erfahrungen damit gemacht hatte. Die Kinder litten am meisten, wenn die Eltern entschieden, dass sie nicht mehr zusammenleben konnten. So hatte Summer nämlich nicht nur ihren Vater verloren, sondern auch ihren Stiefbruder.

Robbie und sie waren zwar nicht biologisch verwandt, aber sie war mit ihm aufgewachsen und hatte ihn immer als ihren großen Bruder gesehen. Ihn zu verlieren war so, als hätte ihr jemand einen Arm oder ein Bein amputiert. Seitdem hatte ihr im Leben immer etwas gefehlt. Und Gracie hatte in ihrem jungen Alter schon ihre Mutter verloren …

Sie sprach nie von ihr und konnte sich vielleicht gar nicht an sie erinnern, aber Summer war aufgefallen, dass Dr. Valdez keinen Ehering trug. Vielleicht hatte auch er ein gebrochenes Herz. Es würde zumindest sein Verhalten erklären, Summer war schließlich in einer ganz ähnlichen Stimmung nach Maple Island gekommen.

Vielleicht war auch das Leben als alleinerziehender Vater zu schwierig für ihn. In diesem Fall blieb nur die Hoffnung, dass er mit seiner Ex wieder zusammenkam, so wie Marc damals mit seiner Frau, vor über einem Jahr, als er Summer allein in der Kälte hatte stehen lassen. Offenbar war es einfacher gewesen, ein kleines Kind gemeinsam mit der richtigen Mutter aufzuziehen statt mit ihr.

Männer mit mutterlosen Kindern führten zu einem doppelt gebrochenen Herzen, denn wenn sie einen verließen, verlor man gleich beide. Ganz egal, wie sehr man den Nachwuchs geliebt und wie viel Zeit man mit ihm verbracht hatte: Wenn der Mann nicht mehr wollte, hatte die ehemalige Freundin kein Recht, weiter einen Platz im Leben des Kindes zu haben. Es war schwer gewesen, Marc zu verlieren, aber den fünfjährigen Leo nicht mehr zu sehen, den sie schon wie ein eigenes Kind geliebt hatte, schmerzte unendlich.

Natürlich konnte sie mit diesem Gefühl des Betrugs und Verlusts im Herzen nicht objektiv sein, das war ihr klar. Sie wusste nichts über die Familie Valdez, und das sollte auch so bleiben. Wenn sie sich jemals wieder auf einen Mann einlassen würde, dann müsste er Single sein und keine Kinder haben oder im Hintergrund lauernde Ex-Frauen.

Rafael hatte wahrscheinlich auch nicht geplant, eine neue Frau kennenzulernen. Jedenfalls hatte man auf der Insel noch nichts davon gehört. Nur seine Patienten schwärmten, wie er sich für sie einsetzte – unter anderem für die zehnjährigen Walsh-Zwillinge, die schwere Rückenverletzungen erlitten hatten.

Und er war ein guter Vater. Er versuchte, seiner Tochter einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, auch wenn er augenscheinlich damit zu kämpfen hatte, Arbeit und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Es konnte nicht einfach sein, als berufstätiger Alleinerzieher die Bedürfnisse einer autistischen Tochter zu erfüllen. Es würde Summer nicht einfallen, seine Kompetenzen in Frage zu stellen, aber konnte es so schlimm sein, ab und zu mal Hilfe anzunehmen?

Das erinnerte sie an ihre eigene Mutter. Sie war genauso stur gewesen, als sie mit Summer allein zurückblieb, nachdem Summers Vater sie verlassen hatte. Sie hatte auch keine finanzielle oder emotionale Unterstützung angenommen. Jetzt, als Erwachsene, verstand Summer, dass ihre Mutter einfach zu verletzt gewesen war. Damals, mit acht Jahren, hatte sie gelitten: Sie hatte zu schnell erwachsen werden müssen und war in den Konflikt zwischen ihren Eltern hineingeraten. Sie hatte selbst sagen müssen, bei wem sie leben wollte – und sie hatte sich für ihre Mutter entschieden. Ihr Vater hatte daraufhin das Sorgerecht für Summers Stiefbruder eingeklagt und war ins Ausland gezogen, um ein Leben mit einer neuen Frau zu beginnen.

Dass die Geschwister nicht zusammenbleiben konnten, war für alle schlimm gewesen, aber ihre Eltern hatten eine vollständige Trennung gewollt. Sie hatten so viel getan und gesagt, dass sie sich nicht mehr in die Augen sehen konnten. Vielleicht hatten sie geglaubt, dass Robbie und Summer noch so jung waren, dass sie all das vergessen würden, aber bei Summer war das definitiv nicht der Fall gewesen. Sie hatte Robbie nie wiedergesehen.

Summers Mutter hatte von den vielen Putzjobs Arthritis bekommen und konnte nicht mehr Vollzeit arbeiten, sodass sie nie genug Geld hatten. Es dauerte nicht lange, bis Summer im Teenageralter nach der Schule arbeitete, während die anderen auf Partys gingen oder shoppen waren. Sie war nicht böse auf ihre Mutter, dass sie dieses Opfer hatte bringen müssen, aber als ihre Mutter schließlich doch noch einmal geheiratet hatte, war Summer die Verantwortung von den Schultern genommen worden.

Die nie gekannte Freiheit war ihr eine Weile zu Kopf gestiegen, ihr Leben war aus dem Ruder gelaufen – und hatte sich inzwischen wieder beruhigt –, aber seitdem hatte sie zu ihrer Mutter kein enges Verhältnis mehr.

Summer wollte sich wirklich nicht in das Leben anderer Leute einmischen, aber Dr. Valdez musste nicht Tag und Nacht für Gracie da sein. Es gab keine Auszeichnung für den „Vater des Jahres“, mit der er dafür belohnt wurde, dass er fix und fertig war. Was sollte werden, wenn es in einem Burn-out endete und er niemanden hatte, der ihm half?

Dabei war sie bestens geeignet: Sie hatte ein ganzes Studium hinter sich, das sie befähigte, mit autistischen Kindern zu arbeiten. Sie wusste, wie viel Zeit und Geduld man brauchte, um effektiv mit Kindern wie Gracie zu kommunizieren und Fortschritte zu machen.

„Halt mal“, sagte sie und reichte Kaylee den Plüschpanda. Sie verließ ihren Aussichtspunkt und ging den beiden auf dem Flur entgegen – natürlich nur, um Gracie zu helfen.

Als sie Rafael erreichte, hatte er seine Taktik geändert und flüsterte seiner kleinen Tochter etwas Beruhigendes auf Spanisch ins Ohr. Summer hatte in der Schule Spanisch gelernt, aber es war ziemlich eingerostet.

Trotzdem verstand sie „Te amo, mija“, denn jedes Mal, wenn er Gracie in der Kita ablieferte, um zur Arbeit zu gehen, sagte er ihr, dass er sie liebte. Es war schön zu hören, denn so kurz angebunden, wie er mit anderen Menschen oft war, konnte er seiner Tochter gegenüber seine Gefühle problemlos mitteilen.

Summer hätte aus Stein sein müssen, um sich nicht zu fragen, wie es wohl wäre, wenn er ihr spanische Koseworte ins Ohr flüsterte. Ein Kribbeln fuhr ihr durch den Körper, als sie sich vorstellte, wie sein Atem sie streifte.

Er setzte Gracie ab.

„Ich kann übernehmen, wenn Sie wollen.“

Summer nahm die Hand des Mädchens, und Gracie hörte sofort auf zu zappeln. Es hatte zwei Wochen gedauert, das zu schaffen. Anfangs hatte Gracie das ganze Gebäude zusammengeschrien, als ihr Vater ging. Die Erzieherinnen in der Nachtschicht hatten immer noch Probleme, wenn Rafael spät arbeiten musste, aber Summer hatte Glück, dass Gracie so positiv auf sie reagierte.

„Nein, vielen Dank“, sagte er, aber als Summer Gracies Hand wieder losließ, stampfte das Mädchen mit den Füßen auf. Es begann mit einem leisen Wimmern, das bald zu einem ohrenbetäubenden Kreischen werden würde, damit auch alle mitbekamen, wie unzufrieden sie war. Für Kinder wie Gracie war es schwierig, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren. Ihre Wutanfälle waren ein Zeichen für Frust und Enttäuschung.

Summer wollte sich von Rafaels sturem Stolz nicht unterkriegen lassen.

„Wenn Gracie jetzt schon mitkommen will, sind Sie schneller bei der Arbeit“, sagte sie. „Gracie, möchtest du heute mit uns und den Bären ein Picknick machen? Du kannst dir aussuchen, ob du Panda oder Teddy mitnehmen willst.“

Wenn Summer sie direkt ansprach, kam nicht immer eine Antwort, aber dieses Mal war Gracies Reaktion klar: Sie klammerte sich mit beiden Händen an Summers Arm.

Summer musste ein triumphierendes Lächeln unterdrücken, damit Rafaels Stirnrunzeln nicht noch stärker wurde, aber zumindest versuchte er nicht, seine Tochter noch länger bei sich zu behalten.

„Hier sind ihre Sachen.“ Er nahm einen pinken Glitzerrucksack von seiner Schulter und reichte ihn ihr. Summer gefiel es, wie selbstverständlich er diese kleine, bunte Mädchentasche auf dem Rücken trug. Außerdem betonte sie seine breiten Schultern nur. Summer gab sich einen kurzen Moment, um durchzuatmen.

Sie hatte neulich schon einmal das Spiel seiner Muskeln bewundert, als er durch das Schwimmbecken gepflügt war. Er musste eine Wahnsinnskraft im Oberkörper haben und könnte die Träger des Rucksacks wahrscheinlich durchreißen, als wären sie aus Toilettenpapier.

Es war wirklich heiß hier … Sie mussten sich unbedingt einen Ventilator anschaffen.

Dieser körperlich so starke Mann hatte kein Problem damit, seiner Tochter zu helfen und alles dafür zu tun, dass es ihr gut ging. Anderen Männern wäre so ein Glitzerrucksack sicher peinlich gewesen, Marc zum Beispiel, der gleich ein Drama aus allem gemacht hatte und dann auch noch Lob dafür erwartete.

Summer nahm den Rucksack entgegen und versuchte heldenhaft, den kurzen elektrischen Schlag zu ignorieren, als sich dabei ihre Finger berührten. Der schnelle Herzschlag und das Kribbeln an der Stelle, wo er sie berührt hatte, waren zwei untrügliche Zeichen dafür, dass sie mit dem Feuer spielte. Er war doch nur einer der Väter, die ihre Kinder zur Kita brachten.

„Wir machen uns einen schönen Tag, Dr. Valdez.“

Sie musste ihn schnell loswerden, damit er sie mit seinen Muskeln und seinem sexy Akzent nicht länger aus dem Konzept brachte. Vielleicht sollte sie morgen Handschuhe tragen, damit sie bei zufälligem Körperkontakt nicht verrückt wurde.

Er beugte sich zu seiner Tochter herunter, gab ihr einen Kuss auf den Kopf und ging davon.

„Danke, Miss Ryan.“ Das sagte er schon über die Schulter, ein Nachsatz, der ihr zeigte, wie nebensächlich sie für ihn war. Und doch kam sie sich vor wie ein Schoßhündchen, das dankbar nach jedem noch so kleinen Lob hechelte. Ihr einziger Trost war, dass ihr Gespräch bestimmt auch ihm den ganzen Tag im Kopf blieb, denn sie hatte ihn endlich einmal gezwungen, Hilfe anzunehmen.

Durchatmen. Rafael musste sich zusammenreißen, um sich nicht umzudrehen. Er würde den Anblick seiner Tochter nicht ertragen, die lieber mit einer Mitarbeiterin mitging, als bei ihm zu bleiben. Er hatte nur in der Maple Island Clinic angefangen, um viel Zeit mit Gracie verbringen zu können. Und obwohl er froh war, dass das Theater von heute Morgen vorbei war, war der Gedanke nicht auszuhalten, dass sich jemand besser um sie kümmern konnte als er.

Man hatte ihn damit auf die Insel gelockt, dass es in der Klinik eine erstklassige Versorgung für sein Kind gab. Alex Kirkland und Cody Brennan hatten extra darauf hingewiesen, als sie ihn dem Boston Harbour Hospital abspenstig gemacht hatten. Und obwohl all ihre Versprechen erfüllt worden waren, machte es seine Trennungsangst nicht besser. Nachdem seine Frau Christina sie beide allein gelassen hatte, stand er unter dem stetigen Druck, seine Tochter nicht auch zu enttäuschen.

Summer hatte ihm das Gefühl gegeben, nicht auszureichen. Sie war ihm doch entgegengekommen, weil sie glaubte, es besser zu können als er, oder? Aber ganz egal, wie viel Arbeit er hatte: Er nahm sich immer Zeit für ein ausgiebiges Frühstück mit seiner Tochter, bevor er sie in die Kita brachte. Dieses eine gemeinsame Essen war wichtig, und er glaubte, dass Gracie das auch so sah.

Er selbst hatte als Kind nur wenige solcher Momente gekannt. Seine Eltern, die zum spanischen Adel gehörten, hatten immer Wichtigeres zu tun gehabt oder hatten anderswo oder zu anderen Zeiten diniert als ihre Kinder. Und wenn sie einmal zu Hause gewesen waren, war das Essen ein halber Staatsakt, für den er geschniegelt und gestriegelt werden musste, weil wieder einmal irgendwelche Würdenträger zu Gast waren.

Sein Frühstück mit Gracie war eine kleine Rebellion gegen diese Erinnerungen, denn sie trugen noch ihre Pyjamas, hatten weder die Haare gekämmt noch die Zähne gebürstet. Aber es war ihr Ritual. Heute Morgen jedoch hatte er verschlafen und gehofft, dass Gracie mit einem Päckchen Saft und einem Müsliriegel für unterwegs zufrieden sein würde. Aber Routinen zu verändern, das war bei ihr nie eine gute Idee.

Und so hatte die Tatsache, dass er das Weckerklingeln überhört hatte, direkt dazu geführt, dass er Gracie vor Summers Augen dazu hatte zwingen müssen, überhaupt die Kita zu betreten. Es war schlimm genug, dass er Gracie den Großteil des Tages bei ihnen lassen musste. Aber dass sie auch noch zusahen, wie er auf ganzer Linie versagte … Gerade Summer liebte es, ihm Ratschläge zu geben, wie er besser mit Gracies Verhalten zurechtkommen würde.

Okay, sie wollte wahrscheinlich nur das Beste für das Mädchen, und er war ja auch dankbar, dass sie den ganzen Tag für Gracie da war und sich um sie und ihre speziellen Bedürfnisse kümmerte. Aber er selbst fühlte sich nur noch schuldiger dafür, dass er so viel arbeitete und seine Tochter dadurch vernachlässigte.

Es war ein absurder Gedanke, denn Gracie war sein Leben. Es war so schwer, jemandem anders zu vertrauen. Christinas plötzlicher Abschied hatte sein Leben vollkommen verändert. Anfangs hatte er seine junge Nachbarin Mags gehabt, die auf Gracie aufpasste, während er versucht hatte, einen dauerhaften Platz in einer Tagesstätte zu finden. Mags hatte sich vorher schon einige Male um Gracie gekümmert, wenn Christina und er ausgegangen waren.

Eines Abends hatte er sie ganz spontan bitten müssen, bei Gracie zu bleiben, weil er sich im Krankenhaus um ein Opfer eines Verkehrsunfalls kümmern musste. Er dachte, seine Tochter wäre sicher – in ihrem eigenen Zuhause mit jemandem, dem sie vertraute. Mags hatte ihm nie genau erklärt, was passiert war, aber die Verlockungen einer Party in der Nachbarschaft schienen zu groß gewesen zu sein. Sie hatte Gracie allein gelassen, jemand hatte sie weinen gehört und die Polizei benachrichtigt.

Und so hatte plötzlich nicht nur die Polizei vor ihm gestanden, sondern auch eine Mitarbeiterin der Kinderschutzbehörde. Selbst als Mags in Tränen aufgelöst gestanden hatte, wurde Rafael immer wieder zu diesem Vorfall befragt und hatte sich vom Jugendamt so bedrängt gefühlt, dass er eine Weile Urlaub genommen hatte, um zu zeigen, wie wichtig ihm seine Tochter war.

Aber irgendwann hatte er wieder zur Arbeit gemusst und sich auf eine Agentur verlassen, die zumindest nur Menschen mit den richtigen Papieren und Qualifikationen einstellte. Doch das Gefühl der Schuld wegen dem, was passiert war oder hätte passieren können, blieb. Bei den Frauen von der Agentur, die sich effizient und professionell um Gracie kümmerten, hatte er immer das Gefühl, dass sie es nur des Geldes wegen taten.

Anders als Summer.

Gracie war aufgeblüht, seit sie hier auf der Insel lebten, aber er würde noch eine Weile brauchen, um zu akzeptieren, dass er seine Verantwortung wieder mit jemandem teilen konnte. Er war dankbar, dass Summer Gracie erreichte, was sonst kaum jemandem gelang. Doch er hatte auch Angst vor der Beziehung, die sich zwischen der Frau und seinem Mädchen entwickelte, möglicherweise auch, weil ihn das enger an Summer band, als er wollte.

Er war zu sehr verletzt worden, um sich noch einmal auf eine Beziehung einzulassen. Obwohl sein Kopf das ganz genau wusste, ließen seine Sinne und sein Körper sich manchmal ablenken. Immer, wenn Summer ihn ansah oder berührte und ihr leichtes Parfüm in seine Nase gelangte … Immer dann war es schwer, diese Mauer aufrechtzuerhalten, die er sich gebaut hatte.

Unter anderen Umständen würde er sich freuen, wenn jemand sich so treu um seine Tochter sorgte, aber seit seine Frau ihnen beiden das Herz gebrochen hatte, ließ er niemanden mehr an sich heran.

Gracie hatte noch nie so gut auf einen weiblichen Einfluss reagiert, nicht einmal auf ihre eigene Mutter. Christina war gekränkt gewesen, dass ihre Tochter nicht mit ihr interagiert hatte. Sie hatte es persönlich genommen, obwohl es einfach ein Symptom für Gracies Autismus war. Christina hatte sich geschämt, als ihr Baby all die Meilensteine nicht erreichte, die andere Kinder problemlos hinter sich brachten. Am Ende hatte sie Rafael gesagt, sie sei einfach nicht als Mutter oder Ehefrau geeignet.

Es war ironisch, dass er die Hilfe und Unterstützung, die Gracie brauchte, erst bekommen hatte, nachdem Christina gegangen war. Seine Frau hatte nicht glauben wollen, dass ihr eigenes Kind nicht perfekt sein konnte, Rafael hingegen hatte die ganze Zeit schon gewusst, dass etwas nicht stimmte. Als er endlich eine Diagnose hatte, war es einfacher, damit umzugehen. Wenn Christina geblieben wäre, hätte sie gesehen, wie Gracie all diese Meilensteine erreicht hatte, wenn auch etwas später als viele andere.

Als alleinerziehender Vater einer Tochter mit speziellen Bedürfnissen war das Leben nicht einfach, und es gab definitiv keinen Platz für eine neue Frau. Die Vergangenheit würde sich nur wiederholen, und er hätte die Chance, die er hier auf Maple Island hatte, vertan.

Er wollte nur das Beste für Gracie – anders als seine eigenen Eltern, die nicht mehr mit ihm sprachen, seit er aus Spanien in die USA gezogen war, um Medizin zu studieren. Sie hatten es nicht akzeptieren können, hatten nicht gewollt, dass er seine eigenen Ziele verfolgte. Gracie hingegen sollte später alles machen können, was sie wollte.

Auch am Nachmittag hatte sich Rafaels Laune noch nicht verbessert. Wie üblich hatte er den Vormittag damit verbracht, seine Aufgaben abzuarbeiten, sich mit seinem Team zusammenzusetzen, über die Patienten zu sprechen und die dringendsten Fälle zu priorisieren.

Als er sich für Maple Island entschieden hatte, hatte er gehofft, dass er mehr Zeit für Gracie haben würde. Die Klinik war hauptsächlich ein Rehabilitationszentrum, sodass nicht ständig mitten in der Nacht Notfälle hereinkamen.

Er hatte trotzdem genug zu tun und kümmerte sich um Menschen mit Rückenproblemen, die nur noch chirurgisch gelöst werden konnten. Der gute Ruf, die Zurückgezogenheit und die wunderschöne Umgebung machten die Klinik auch zum idealen Aufenthaltsort für die Reichen und Schönen, die sich weit weg von den Scheinwerfern und neugierigen Paparazzi erholen wollten.

Diese Einstellung verstand er ganz gut. Niemand auf der Insel wusste es, aber er war selbst gewissermaßen berühmt, zumindest in Spanien. Als ältester Sohn eines Herzogs zog er mehr Aufmerksamkeit auf sich, als ihm je lieb gewesen wäre. Er war froh gewesen, als er dieses Leben mit all seinem Luxus hinter sich gelassen hatte. Die meisten von Rafaels Patienten waren jedoch Sportler, die sich schnell und in aller Stille von ihren Verletzungen erholen wollten.

Rafael interessierte sich nicht für die amerikanischen Sportarten, aber selbst er hatte schon einmal von Tom Horner gehört, dem ehemaligen Football-Star, der inzwischen vor allem als Kommentator arbeitete. Er war wegen einer Lumbaldiskektomie hier, die ihn von seinen Schmerzen erlösen sollte. Rafael würde einen Teil der Bandscheibe entfernen, die auf einen Nerv drückte.

Buenas días, Doc.“ Der Football-Held streckte Rafael seine Pranke entgegen und schüttelte kräftig Rafaels Hand. Selbst mit über Fünfzig war der Mann noch ein Kraftpaket, und allein der Handschlag schüttelte Rafael komplett durch. Man konnte sich vorstellen, was er auf dem Spielfeld angerichtet haben musste.

Buenas tardes, Señor Horner. Alles bereit für die Operation?“

Die Chirurgie-Abteilung hier war noch ganz neu, aber sie konnten bereits ambulant Patienten aufnehmen. Größere Behandlungen fanden in ihrem Schwesterkrankenhaus statt, im Boston Harbour. Von dort wurden Patienten oft für sekundäre Operationen oder eben für die Rehabilitation hierher verlegt. Manchmal kam ein Team aus Boston her, und manchmal musste Rafael aufs Festland fliegen, weil seine Fachkenntnisse dort gebraucht wurden. Bislang klappte das ganz gut so.

„Ich freue mich schon, wenn es vorbei ist und alles wieder normal ist.“

Man sah Tom Horner nicht an, dass er schon seit einer ganzen Weile starke Schmerzen hatte. Viele, die in einem Krankenhauskittel im Bett saßen und darauf warteten, ihr Leben in die Hände eines Arztes zu geben, sahen furchtbar verletzlich aus. Dieser Mann hier nicht. Der Stoff spannte über seinen Muskeln.

„Sie müssen sich aber nach der Operation schonen, das wissen Sie. Wir sprechen genauer darüber, wenn der Eingriff vorbei ist, aber es ist sehr wichtig, dass Sie Ihren Rücken nicht übermäßig belasten.“

Er kannte Männer wie Tom. Sportler waren nicht die einfachsten Patienten, weil sie ihre Verletzungen so schnell wie möglich auskuriert sehen wollten, um wieder auf den Platz zurückkehren zu können. Empfehlungen, was eine Reha anging, ignorierten sie gern.

„Keine Sorge, Doc. Ich habe ein Häuschen auf der Westseite der Insel gemietet, wo ich mich ausruhen werde, bis ich wieder fit bin. Ich habe allen gesagt, dass ich einen langen Urlaub mache, und das soll auch so bleiben.“

„Selbstverständlich.“

Es war ganz natürlich, dass der Körper mit dem Alter verschliss und hier und da nachgab. Aber Rafael kannte Männer und Frauen, die so etwas als Schwäche ansahen. Es ging ihn nichts an, wem seine Patienten etwas von ihren Gesundheitsproblemen erzählten, aber er war dafür verantwortlich, dass sie danach auch zu Hause richtig versorgt wurden.

„Haben Sie Familie oder Freunde hier, die sich um Sie kümmern?“

„Meine Tochter ist hier und macht einen halben Aufstand. Sie wollte unbedingt mitkommen. Aber was meine Ex-Frau angeht, so machen wir offiziell Vater-Tochter-Urlaub. Terri kennt mich einfach besser als ihre Mom und hat leider gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“

Rafael musste zum ersten Mal an diesem Tag lächeln, als er sich vorstellte, wie die Tochter dem starken Vater Paroli geboten hatte. Töchter wussten meist ganz genau, wie sie ihre Väter um den kleinen Finger wickeln konnten, und diese Verbindung ging zum Glück nicht verloren, auch wenn die Ehe der Eltern zerbrach.

Gracies Mutter hingegen hatte keine Probleme gehabt, ihr Kind zurückzulassen, aber sie hatte sich ja auch nie wirklich auf ihre Mutterrolle eingelassen. Ihr Unwille hatte sich schon gezeigt, als sie noch verheiratet waren und sie nicht wie bisher ausgehen konnte, weil Rafael Spätschicht hatte. Ein Baby, und dann noch eins mit besonderen Bedürfnissen, war zu viel für sie gewesen.

„Wie schön“, sagte er. „Dann haben Sie ja jemanden, der dafür sorgt, dass Sie sich an alle Anweisungen halten. So kommen Sie auch schneller wieder auf die Beine.“

Die Ärzte der Klinik würden operieren, Medikamente verschreiben und sich um die Nachsorge kümmern, einschließlich der Physiotherapie. Aber es gab praktische Dinge, die Tom außerhalb der Klinik brauchte, um zurechtzukommen.

„Keine Sorge. Terri ist gerade im Strandhaus und bereitet alles für den Invaliden vor. Sie hat mir sogar neue Schuhe ohne Schnürsenkel gekauft, damit ich mich nicht jedes Mal bücken muss.“ Der absolute Horror, dass er sich um so etwas Gedanken machen musste, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Im Stillen wünschte Rafael Terri viel Erfolg. Hoffentlich war sie genauso stur wie ihr Vater.

„Seien Sie froh, dass Sie jemanden haben, der sich so um Sie kümmert. Das haben nicht alle.“

Einen kurzen Moment versank er in Selbstmitleid – wenn er in Toms Situation wäre, hätte er wirklich niemanden. Er hatte keine Familie, auf die er sich verlassen konnte. Es war ernüchternd und ironisch, dass er wahrscheinlich jemanden dafür bezahlten müsste.

Wenn er in San Sebastian geblieben wäre, wie seine Eltern es gewollt hatten, hätte er alles gehabt, was er jemals hätte brauchen können – die besten Mediziner und die wichtigsten Experten zum Thema Kindesentwicklung. Aber genau das war das Problem. Als Sohn eines Herzogs bekam er alles auf dem Silbertablett serviert. Er profitierte von den uralten Verbindungen der Königsfamilie und existierte nur, wenn er sich, wie sein Bruder, vor den Paparazzi wie ein Playboy gebärdete.

Ein anonymes Leben entsprach ihm viel eher, auch wenn seine Familie seinen Umzug in die Staaten als Verrat angesehen hatte. Er wusste, dass sie Gracie und ihre Besonderheit niemals tolerieren würden. Sie passte einfach nicht in die perfekte Familie, die sie den Kameras zeigten.

Gracie würde niemals verstehen, warum sie sich verstellen sollte. Es war besser, dass sie so geliebt wurde, wie sie war – und das tat er. Aber so hatte er eben auch keine Verwandten, die sich um ihn kümmern könnten.

„Na, aber Sie haben ja auch Glück, Doc. Das wollen Sie doch wohl nicht bestreiten.“

Toms anerkennender Pfiff war Rafael ein Rätsel. „Wie bitte?“

Worum sollte Tom ihn beneiden?

„Wahrscheinlich sollte ich das lieber nicht sagen, aber wenn meine Frau so aussähe wie Ihre, wäre sie definitiv nicht meine Ex-Frau.“ Er lachte laut.

Aber Rafael verstand immer noch nichts. Eher im Gegenteil. Woher kannte Tom Christina?

„Wahrscheinlich verwechseln Sie mich“, sagte er und blätterte schnell durch Toms Krankenakte, um über etwas anderes zu sprechen. Aber Tom ließ sich nicht so leicht ablenken.

„Na, ich habe Sie doch heute Morgen mit Ihrer Familie gesehen. Wunderschöne Frau. Sie können sich glücklich schätzen. Mit Jess und mir, das hat einfach nicht funktioniert, aber ich vermisse es natürlich trotzdem, diese Nähe, wissen Sie.“

Rafael verstand überhaupt nichts und starrte Tom eine Weile an, bis er endlich verstand, worauf sein Patient sich bezog.

„Ach so!“ Er sah es vor sich, wie er seine Tochter im Flur an Summer übergeben hatte. Kurz blieb ihm die Luft weg. Machten sie wirklich einen so vertrauten Eindruck miteinander?

„Summer ist nicht meine Frau, sie ist …“ Er zögerte. Was war sie eigentlich? Eine Angestellte? Eine Kollegin? Das passte alles nicht dazu, wie wichtig sie für seinen und Gracies Alltag geworden war. Aber eine Freundin war sie auch nicht. Nicht, wenn er sich so sehr bemühte, sie aus seinem Privatleben herauszuhalten.

Aber es gab keine definitive Trennung zwischen Arbeit und Persönlichem, was Summer anging, denn alles, was sie für Gracie tat, wirkte sich auch auf sein Zuhause aus: Gracie konnte sich besser ausdrücken, ihre motorischen Fähigkeiten verbesserten sich – und das alles offenbar dank Summer.

Mit jedem Fortschritt spürte er sein schlechtes Gewissen deutlicher. Wenn er nur genauso viel Zeit mit seiner Tochter verbringen könnte, wäre er derjenige, der für ihre Erfolge verantwortlich war. Aber dann wären sie auch nicht hier auf der Insel, dann hätten sie sein Einkommen nicht, und er könnte all den Menschen nicht helfen, um die er sich als Arzt kümmerte.

Er musste einfach akzeptieren, dass er einige Dinge nicht kontrollieren konnte. Unter anderem auch seine Gedanken nicht, die sich um Miss Summer Ryan drehten und immer häufiger nichts mit Kindererziehung zu tun hatten. Stattdessen überlegte er, ob sie wohl in einer Beziehung war, wie sie ihre Abende verbrachte und ob sie ihn auch mochte …

„Summer ist die Erzieherin meiner Tochter“, sagte er. Sein Patient musste nichts davon wissen, wie kompliziert ihm sein Privatleben derzeit schien. „Aber nun zu Ihnen: Wissen Sie Bescheid, was heute während der Operation geschieht?“

„Könnten Sie mir das noch mal erklären, Doc?“

„Ich setze einen kleinen Schnitt an Ihrem unteren Rücken und führe einen dünnen Schlauch ein, über den ich auf die kaputte Bandscheibe zugreifen kann, ohne dass ich das Gewebe drum herum beschädige. Sie bekommen eine Lokalanästhesie und eine leichte Betäubung, damit Sie nichts spüren.“

Manchmal hatten die Patienten nach dem Eingriff noch Schmerzen, aber die kamen von der Operation selbst. Denn sobald das Knochenfragment, das die Schmerzen verursacht hatte, einmal verschwunden war, ging es ihnen besser.

„Sie sind bestimmt schnell wieder zurück auf dem Football-Feld.“ Er schlug Toms Akte zu, klemmte sie sich unter den Arm und lächelte den Mann an.

„Ich sitze ja inzwischen sowieso öfter hinter dem Mikro, aber Ihre Zuversicht tut trotzdem gut.“

Sie trennten sich mit einem weiteren kräftigen Handschlag.

Rafael war irritiert. Warum gefiel ihm der Gedanke so, dass Tom dachte, Summer sei seine Frau? Teil seiner Familie? Er schüttelte energisch den Kopf. Zu viel Nähe führte nur dazu, verletzt und verlassen zu werden.

2. KAPITEL

„Bis morgen!“ Summer winkte den Kindern hinterher, die von ihren Eltern abgeholt wurden. Je nach Schichtplänen und unvorhergesehenen Überstunden kamen sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Die Klinik bot sogar einen Über-Nacht-Service an, für all die hart arbeitenden Ärztinnen und Krankenpfleger, die nachts arbeiten mussten. Es war alles so eingerichtet, dass es den Familien der Angestellten so gut wie möglich ging, und das hatte schon einige der Besten hierhergebracht.

Ihren Job hier hätte man als eine Sprosse nach unten auf der Karriereleiter betrachten können, war sie doch eigentlich hochqualifiziert als Child Life Specialist. Aber eine Stelle wie die in Boston hatte sie hier nicht haben können, und sie hatte doch so dringend weg gewollt von ihrem Ex-Freund und seiner Frau, mit der er sich wieder versöhnt hatte.

Im Moment konnte sie ihre Fähigkeiten nur bei den Walsh-Zwillingen einsetzen, aber sie würden ihr später wieder mehr zugutekommen, wenn der Kinderflügel eröffnet werden würde. Im Moment war sie zufrieden damit, hauptsächlich die Kinder in der Tagesstätte zu betreuen.

„Papa?“ Das Geschehen an der Tür hatte Gracie angelockt, die nun mit ihrem pinken Rucksack in der Hand neben Summer stand.

„Noch nicht, Gracie. Dein Papa muss heute viel arbeiten. Vielleicht kommt er ein bisschen später als sonst.“

Für die Kita selbst waren die unregelmäßigen Stunden der Ärzte kein Problem, aber die Kinder hatten manchmal Probleme damit, vor allem die jüngeren oder solche wie Gracie, denen Regelmäßigkeit wichtig war. Es war ganz gleich, wie oft man ihr sagte, dass ihr Vater sie noch nicht abholen konnte – sobald sie die anderen Eltern sah, die ihre Kinder mit nach Hause nahmen, ging sie davon aus, dass ihr Vater auch gleich auftauchte. In solchen Situationen war es am besten, sie abzulenken.

„Hause.“

„Ich weiß, dass du nach Hause willst, Süße. Sollen wir deinem Papa solange ein hübsches Bild malen?“

Summer nahm ihr vorsichtig die Tasche aus der Hand und hängte sie wieder an den Haken. Mit Glitzer und Kleber konnte sie Gracie hoffentlich lang genug zufrieden halten.

Summer kannte Rafaels Lebensumstände nicht, aber sie konnte sehen, dass es ohne eine Mutter nicht einfach war, weder für den Vater noch für die Tochter. Gracie brauchte vor allem Stabilität, aber derzeit sah sie immer wieder neue Gesichter. Sie hatte keine fest zugeteilte Pflegerin, sondern musste sich immer an die halten, die gerade Schicht hatten.

Summer versuchte, ihr so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie möglich, um ihre Ausbrüche zu verringern. Gracie schien ihr zu vertrauen.

Ohne etwas zu sagen oder Augenkontakt aufzunehmen, gab das Mädchen ihr einen lila Stift und bedeutete Summer auf ihre eigene Art und Weise, dass sie mitmachen sollte. Summer setzte sich auf einen kleinen Stuhl neben ihr.

„Soll ich dir helfen?“

„Malen“, sagte Gracie und tippte ungeduldig auf das Blatt Papier.

Mit zuversichtlichen Strichen zeichnete Summer die Umrisse einer Blume, die ihre Künstlerkollegin gleich mit einer Reihe farbenfroher Kritzeleien übermalte. Summers Arbeitstag war eigentlich schon vorbei, aber es machte ihr nichts aus, länger zu bleiben. Zu Hause wartete ohnehin niemand auf sie.

Wenn Gracie das Schulalter erreichte, würde sie wahrscheinlich zusätzliche Hilfe brauchen, um zurechtzukommen, aber im Moment war Summer der Meinung, dass sie von allen hier in der Kita die Qualifizierteste war, um sich um das Mädchen zu kümmern. Es gab keine offizielle Vereinbarung, aber wenn Rafael und die Kitaleitung einverstanden waren, wollte sie sich gern exklusiv um Gracie kümmern. Neben ihren Verpflichtungen in der Klinik natürlich.

Das größte Hindernis würde aber wohl Dr. Valdez selbst sein, weil er der Meinung war, alles selbst machen zu können. Schon ihre Begegnung heute Morgen hatte das gezeigt. Er wollte einfach keine Hilfe annehmen. Wenn es nach seiner Reaktion ging, hätte man meinen können, sie sei vom Jugendamt und wolle ihm Gracie für immer wegnehmen.

„Das Bild findet dein Vater bestimmt ganz toll.“

Gracie schmierte Klebstoff und Glitzer über die inzwischen kaum noch sichtbaren Blütenblätter und produzierte einen funkelnden lila Klecks, den der stolze Papa wahrscheinlich gleich zu Hause aufhängen würde.

Ihr Schützling antwortete nicht, aber das war normal. Sobald Gracie sich einmal für etwas interessierte, konzentrierte sie sich vollständig darauf. An öffentlichen Orten konnte das schwierig sein, aber hier war es hilfreich, wenn Summer einmal woanders hinmusste. Wie zum Beispiel jetzt, als sie durch das Fenster Rafael sah, der mit schnellem Schritt auf die Kita zukam. Sie wollte ihn abfangen, bevor Gracie ihn sah.

„Kaylee, kannst du kurz nach Gracie sehen? Ich will mit ihrem Vater sprechen“, sagte sie leise zu ihrer Kollegin.

„Klar.“ Ganz unauffällig setzte Kaylee sich auf den kleinen Stuhl neben der fleißigen Malerin, und Summer hoffte, dass sie schnell genug sein würde. Leise wie ein Ninja schlüpfte sie aus dem Raum und schloss die Tür. Da kam Rafael auch schon auf sie zu, und sie stellte sich direkt vor ihn, sodass er anhalten musste.

„Dr. Valdez, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“

„Ich bin spät dran, tut mir leid.“ Er wischte sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Die dunkelbraunen Augen wirkten müde, als hätte er seit Langem nicht mehr gut geschlafen. Das bestärkte sie nur noch. Sie kannte genug Kinder mit speziellen Bedürfnissen, um zu wissen, dass erschöpfte Eltern die Sache nicht einfacher machten.

Summer öffnete den Mund, um ihm zu versichern, dass sie ihn nicht ausschimpfen oder lange aufhalten wollte, aber er sah sie überhaupt nicht an und wollte sich an ihr vorbeidrücken.

Sie ging rückwärts und hoffte, dass sie nicht gleich über irgendetwas stolpern würde. Schließlich griff sie nach seinem Arm, um ihn aufzuhalten, und wäre wirklich fast hintenübergefallen, als sie die harten Muskeln unter seinem hellblauen Hemd spürte. Bestimmt vom Schwimmen, überlegte sie, oder vom Radfahren oder Laufen … Wie all der Sport sich wohl auf die anderen Teile seines Körpers auswirkte? Ihre Fantasie schien aufzublühen, wenn es um Rafael ging.

Nicht nur, dass es ein Interessenkonflikt war – er war schließlich der Vater einer ihrer Schützlinge, nein, er stand auch für alles, was sie sich für einen potenziellen Partner nicht wünschte. Er hatte ein kleines Kind, das sie schon viel zu sehr mochte, und sie arbeiteten in derselben Klinik. Tagträume, in denen er vorkam, waren also tabu.

Rafael starrte auf ihre Hand an seinem Arm, dann blickte er auf und zog die Brauen hoch. Sie musste sich durch all den Nebel in ihrem Hirn kämpfen und Bilder von ihm in engen Radlerhosen und verschwitzten Laufklamotten loswerden, um die Wörter zu finden, die sie brauchte, um einen Satz zu formulieren.

„Gracie. Es sollte eine Konstante in ihrem Leben geben.“ Das drückte zwar nicht all das aus, was sie eigentlich ganz eloquent hatte sagen wollen, aber es reichte, um sein Gesicht zu verdunkeln. Er ging weiter. „Ich hatte eine OP. Es ging nicht anders. Aber jetzt bin ich ja da und hole sie ab.“

Nein, nein! Das hatte sie doch gar nicht gemeint. Irgendetwas lief falsch, und sie hatte ihn nur noch feindseliger gestimmt. Sie musste ein paar Schritte rennen, um aufzuholen.

„Können Sie bitte stehen bleiben, damit wir uns ordentlich unterhalten können?“

Okay, wenn sie beleidigt war, klang sie schnell herrisch, und das war wirklich nicht professionell. Aber dieser Kerl brachte sie gerade auf die Palme.

Er blieb stehen und zog scharf die Luft ein. „Was wollen Sie denn, Miss Ryan?“

Miss Ryan. Nicht Summer. Wahrscheinlich benutzte er ihren Nachnamen nur, um sie zu ärgern und alles so formell wie möglich zu halten, damit sie bloß nicht zu ihm durchdrang.

„Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie gar nicht kritisieren. Ich wollte nur sagen, dass ich Sie gern mit Gracie unterstützen würde. Ich dachte mir, ich könnte die alleinige Verantwortung übernehmen, wenn sie in der Kita ist, zumindest soweit wie möglich und wenn Sie arbeiten müssen. Ich müsste noch mit meinen Vorgesetzten sprechen, aber ich glaube, dass sie davon profitieren würde.“

„Sagen Sie das, weil wir heute Morgen zu spät waren?“ Er schüttelte den Kopf, und all ihre Hoffnungen, dass er zustimmen würde, waren schon jetzt zerstört.

„Nein.“

Das hier war so viel schwerer, als es hätte sein müssen, und das lag allein an ihm. Oder war es ihre Schuld, dass sie sich in letzter Zeit offenbar nicht mehr richtig ausdrücken konnte? Wenn sie nicht das gleiche Ziel gehabt hätten – Gracie so gut wie möglich an ihr Leben hier auf der Insel zu gewöhnen wie möglich –, hätte sie jetzt aufgegeben und wäre nach Hause gegangen, wo ein großer Becher Chocolate-Chip-Eis mit Minzgeschmack auf sie wartete.

Aber davon hätte niemand etwas, und ihr würde von dem ganzen Zucker vielleicht noch schlechter werden als von diesem Gespräch. Also atmete sie tief ein und konzentrierte sich nur noch auf das kleine, dunkelhaarige Mädchen, das so sehr in seiner eigenen Welt lebte.

Sie versuchte es noch einmal. „Wie Sie wissen, habe ich Erfahrungen mit Kindern, die besondere Bedürfnisse haben, und ich wollte nur vorschlagen, dass wir uns für Gracie etwas ausdenken. Ich hätte nichts dagegen, mich um sie zu kümmern, ob tagsüber oder nachts, je nachdem, was Sie brauchen. So müsste sie sich nicht immer an neue Gesichter gewöhnen.“

Er sah sie einen Moment zu lang an, mit seinen dunklen, prüfenden Augen, als ob er jedes Wort und ihre Körpersprache analysieren müsste, um ihre wahren Pläne zu erraten. Nun, er musste sich keine Sorgen machen. Es war einfach an der Zeit, dass jemand für Gracie einstand. Neben ihrem Vater, natürlich.

Endlich sagte er: „Nein.“ Und dann ging er so abrupt weiter, dass Summer die Luft wegblieb. Keine Diskussion. Keine Erklärung. Keine Dankbarkeit. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie ihn überhaupt gefragt hatte, wo sie den schwer beschäftigten Chirurgen doch offenbar nur belästigte.

Rafael ging stur weiter, ohne Reaktion, ohne ein Lächeln im Gesicht. Summer schloss erst wieder auf, als er bereits die Sachen seiner Tochter zusammenpackte.

Vámonos, Gracie.“

Lass uns gehen. Er hätte auch gleich dazu sagen können, dass er vor dieser verrückten Frau flüchten wollte, so böse, wie er sie ansah. Er setzte sich das Kind auf die Schultern und verließ den Raum. Er sang Gracie sogar etwas vor, in seinem tiefen, brummenden Spanisch. Summer fragte sich kurz, ob er wohl eine gespaltene Persönlichkeit hatte oder einfach nur eine Abneigung gegen sie.

Sie seufzte. Ganz egal, wie sehr sie es auch versuchte – Rafael schien sie nicht leiden zu können. Es geschah selten, dass sie mit den Eltern ihrer Schützlinge nicht klarkam, und es tat ihr jedes Mal weh, wenn es doch vorkam. Aber mit Rafael war es noch schlimmer, es verlangte sie so sehr nach ihm.

Sie hoffte nur, dass er sie zu tolerieren lernte. Für Gracie. Und dass sie diese Schwärmerei schnell hinter sich brachte, damit sie sich wieder auf ihre wahren Aufgaben konzentrieren konnte.

Abendessen. Badewanne. Bett. An diese Routine hatte Rafael Gracie schon früh gewöhnt, und bislang hatte sie gut funktioniert. Heute nicht.

„Komm schon, Gracie. Wir sind beide müde. Zieh dir doch schon mal deinen Schlafanzug an, und ich lese dir im Bett noch was vor, okay?“

Den Rest hatte er schon aufgegeben, nachdem die Wände voll mit dem Essen waren, das er ihr gekocht hatte, und er von oben bis unten nass war von Badewasser, während Gracie noch genauso trocken war wie zuvor.

„Nein!“ Wieder rannte sie den Flur hinunter und dachte überhaupt nicht daran, schlafen zu gehen. Er selbst wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich die Augen zu schließen.

Er zog den Stöpsel aus der Wanne und ließ den Rest des Wassers abfließen. Mit einem Handtuch trocknete er auch den Boden einigermaßen. Zuerst war sie freudig in die Wanne gestiegen, aber statt sich hinzusetzen und mit ihren Sachen zu spielen, war sie stehengeblieben, hatte angefangen zu kreischen und das Wasser zu treten, bis ihm nichts anderes übriggeblieben war, als sie wieder herauszuheben. Rafael fand es furchtbar, sie so zu sehen, aber er wusste nicht, was heute Abend so anders war.

Por favor. Bitte, Gracie.“ Das Mädchen hatte sich den Bademantel heruntergerissen und war von ihm weggerannt. Dabei hatte sie geschrien, so laut sie konnte.

Das war wirklich der Tiefpunkt seines Tages. Er war fast geneigt, doch noch auf Summers Angebot einzugehen. Sobald seine Wut verraucht gewesen war, hatte er erkannt, dass sie es nur gut gemeint hatte und er ihr für ihr Angebot hätte danken sollen. Sie hatte schließlich nichts davon, sich für Gracie so zur Verfügung zu stellen, außer – das flüsterte ihm eine Stimme zu – dass sie seine Stellung im Leben seiner Tochter übernehmen und den moralisch höheren Standpunkt einnehmen wollte. Und das war lächerlich, aber er war so wenig daran gewöhnt, dass Leute ihm helfen wollten.

Als er sich das letzte Mal in die Ecke gedrängt gefühlt und in Ermangelung anderer Alternativen Mags gebeten hatte, sich um Gracie zu kümmern, hatte er seine Tochter schließlich fast verloren, weil das Jugendamt seine Hingabe zu ihr angezweifelt hatte.

Wenn Summer ihn jetzt sehen könnte, würde sie mit dem Finger wackeln und sagen: „Sehen Sie? Sie brauchen mich.“

Dann würde sie mit ruhiger, rationaler Stimme auf seine Tochter einreden, die ihr viel leichter zuhören würde als ihrem gestressten Vater. Er hatte in der Klinik schon gesehen, wie Summer mit den Walsh-Zwillingen umging und wie schnell sie eine Verbindung zu ihnen hatte herstellen können. Bei Gracie war es genauso.

Summer hatte ein süßes Lächeln, was die Kinder immer ganz verzückte, und es war unmöglich, nicht von ihrem Einsatz beeindruckt zu sein. Und von ihrer Schönheit. Aber er war nicht auf diese Insel gezogen, nur um sich in derselben Situation wiederzufinden, die er in Boston hinter sich gelassen hatte.

Er konnte sich nicht auf sie verlassen, denn wenn er sie einmal wirklich brauchte, würde auch sie gehen. Sie würde irgendwann genug haben. Und dann wäre er genau da, wo er schon einmal war. Es war natürlich nicht schön, dass dieser Drang, sich vor ihr und ihrem Charme zu schützen, dazu führte, dass er ihr gegenüber kurz angebunden und mürrisch war.

Es war mühevoll genug, eine Dreijährige ins Bett zu kriegen, ohne dass er sich währenddessen noch Gedanken über die Vor- und Nachteile einer möglichen Beziehung zu Summer Ryan machen musste. Es war einfach kein Platz für einen zweiten Wirbelwind, der sein Leben durcheinanderbrachte.

„Gracie Valdez, bitte komm her und zieh deinen Schlafanzug an.“ Es war halb ein Befehl und halb eine Bitte. Er war willens, die letzten Stunden zu vergessen, wenn das Kind nur endlich ins Bett gehen und schlafen würde. Dann hätte er noch ein oder zwei Stunden Zeit, bis morgen wieder alles von vorne anfing. Heute musste er aber wirklich früher ins Bett gehen, damit er nicht wieder verschlief. Wahrscheinlich war dieser Abend immer noch die Folge des seltsamen Morgens.

Summer hatte recht damit, dass Routinen für Gracie so wichtig waren, dass jede Unterbrechung sie irritierte und zu Chaos und Theater führte. So süß sein Mädchen auch war: Sie ließ sich einfach nicht zu etwas überreden, das sie nicht machen wollte, nur damit ihr Vater zufrieden war.

Er hörte die Türklinke, bevor er Gracie sah, die angezogen aus ihrem Kinderzimmer kam. Allerdings nicht in dem Schlafanzug, den sie eigentlich tragen sollte.

„So willst du ins Bett gehen?“

Sie trug bunte, nicht zusammenpassende Socken, ihr Prinzessinnenkleid vom letzten Geburtstag – samt glitzernder Tiara – und die Feenflügel. Die würden beim Schlafen ziemlich ungemütlich sein. Den Rest konnte sie gern anbehalten, die Hauptsache war, dass der Tag ein Ende fand.

Gracie nickte mit gerunzelter Stirn, als ob sie jederzeit bereit war, ihren modischen Geschmack zu verteidigen. Rafael war zu müde. „Na gut.“

Aber statt ins Bett zu gehen, hüpfte sie die Treppen nach unten ins Wohnzimmer. Rafael blieb nichts anderes übrig, als sie machen zu lassen. Sie würde schon irgendwann müde werden. Langsam lernte er, wann es sich lohnte, seinen Willen durchzusetzen und wann nicht. Immerhin schrie sie nicht mehr, und solange er sich hinsetzen und entspannen durfte, war es okay. Vielleicht konnte er ein bisschen Papierkram machen.

Er schaltete den Fernseher an, damit der ein paar Minuten als Babysitter für Gracie funktionierte, und holte seine Tasche aus dem Flur. Eigentlich hatte er bis zum nächsten Morgen nicht mehr reinschauen wollen.

Gracie saß fröhlich auf der Couch, baumelte mit den Beinen und summte die Melodie der Kindersendung nach, die er eingeschaltet hatte. Er selbst setzte sich an den Esstisch. Dort würde er genug Platz haben, seine Notizen und Akten auszubreiten. Sein großes Haus war so offen gestaltet, dass er Gracie im Blick hatte.

Er öffnete die Tasche. Ganz obenauf lag das Bild, das Gracie ihm am Abend im Kindergarten geschenkt hatte. Er legte es zur Seite, um es später an die Kühlschranktür zu hängen. Außerdem rollten ihm eine ungegessene Orange entgegen und eine Banane, die langsam braun wurde. Er hatte einfach keine Zeit zum Mittagessen gehabt. Er fand einen Stift, seinen Kalender und verschiedene Zettel, aber wo waren seine Akten?

Eine Weile saß er reglos da. Schließlich schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. Sie lagen noch auf seinem Schreibtisch in der Klinik. Er hatte sie holen wollen, war aber in Gedanken schon bei Gracie in der Kita gewesen. Dieser Tag war wirklich nicht mehr zu toppen.

Er wohnte nicht weit von der Arbeit entfernt, sodass es Unsinn wäre, die Akten nicht einfach noch zu holen. Gracie sprang jetzt auf der Couch auf und ab – sie würde ohnehin nicht so bald ins Bett gehen. Wenn er sie in eine Jacke und ins Auto bekam, konnte sie einfach mitkommen. In fünfzehn Minuten wären sie wieder hier.

„Hey, Gracie, kommst du mit zu Papas Arbeit?“

Es hätte wirklich ganz schnell gehen können. Er hatte nur nicht mit all den Leuten gerechnet, die Gracies modischen Stil bemerkten und lautstark bewundern mussten.

„Ja, sie ist wirklich eine Marke … Nein, ich habe sie nicht angezogen, das hat sie alles selbst gemacht.“

Eine ältere Frau, die im Rollstuhl in Richtung Reha-Station geschoben wurde, hob majestätisch die Hand, damit der Pfleger anhielt. Das musste die berühmt-berüchtigte Philomena Kerridge-Bates sein, die sich von einer gebrochenen Hüfte erholte. Nur eine Millionärin und Grande Dame der Society würde ihre Krankenhauskleidung mit Diamantohrringen und einer passenden Kette ergänzen.

„Das Kind sollte im Bett sein“, sagte sie mit einem Schwung ihrer eleganten Hand.

„Da kann ich Ihnen nur recht geben.“

Er wollte ihr nichts erklären und Zeit vergeuden. All die ungebetenen Kommentare und Ratschläge, wie er sein Kind zu behandeln hatte, waren inzwischen zum Alltag geworden. Ein alleinerziehender Vater zog von überall her Aufmerksamkeit auf sich. Und Mitleid. Alle dachten, dass er allein nicht zurechtkam und die Mutter fehlte. Dabei wusste niemand dieser Fremden, dass er Gracies einzige Bezugsperson war, seit Christina sie verlassen hatte. Sie kamen gut zurecht. Ohne sie war es sogar besser geworden.

Aber die Leute auf Maple Island meinten es im Grunde alle gut mit ihm, sodass er sich ihre Kommentare nicht zu Herzen nahm. Er reagierte mit einem Lächeln. Sein Privatleben, das Wohlergehen seiner Tochter und der Aufenthaltsort seiner Frau oder seiner Eltern ging niemanden etwas an. Er bemühte sich nicht einmal, die Gerüchte aus dem Weg zu räumen, die über ihn die Runde machten.

Er wünschte Philomena einfach einen schönen Abend und dachte, dass ein anderer ihrer Gäste, der alte Theodore Harrington – oder Old Salty, wie er genannt wurde – endlich einen würdigen Gegenpart gefunden hatte. Der streitsüchtige Fischer war noch immer nicht genesen, nachdem die Fähre, mit der die Zwillinge in die Klinik hatten kommen sollen, im Sturm letzten Monat havariert war und er sie gerettet hatte.

Er war zwar schon einmal entlassen worden, aber er hatte sich nicht ausreichend um seine Verletzung gekümmert und letztendlich war es nur noch schlimmer geworden. Als seine Schmerzen immer stärker wurden, hatte er sich überzeugen lassen, in die Klinik zurückzukehren und länger zur Reha zu gehen.

Er war kein einfacher Patient und daran gewöhnt, allein zu leben. Seit der Sache mit der Fähre galt er als der große Held, sodass sie ihn wohl oder übel tolerieren und seine weisen Sprüche akzeptieren mussten, mit denen er allen zu verstehen gab, wie sie ihren Job zu erledigen hatten.

Gracie hingegen waren Fremde gegenüber nicht so tolerant. Sie konnte kaum mit den Leuten umgehen, die sie kannte, aber all die Aufmerksamkeit, die ihre Kleidung auf sie zog, stresste sie nun und machte ihr Angst. Er hatte nicht damit gerechnet, dass in der Klinik noch so viel los wäre.

Schließlich entschloss er sich, Gracie zu tragen, damit sie all den gut gemeinten Händen, die sie über den Kopf streicheln oder umarmen wollten, entgehen konnte. Hoffentlich bekam sie nicht gleich den nächsten Tobsuchtsanfall.

„Wir müssen wirklich weiter.“ Er verabschiedete sich von der letzten Verehrerin, einer netten alten Dame. Sie schwärmte von Gracies großen braunen Augen, die wirklich genauso schön waren wie die ihres Vaters. Seine Tochter drückte sich nur noch enger an ihn und grub ihre Fingernägel in seine Schultern. Sie wandte den Kopf ab, sodass sie niemanden mehr ansehen musste.

Sobald sie in seinem Büro waren und er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, hoffte er, dass sie sich entspannen würde.

„Süße, ich muss dich kurz absetzen, bis ich alles gefunden habe, was ich suche.“

Aber sie hielt ihn fest. Sein kleines Mädchen war stur wie ein Ochse.

„Nein!“ Gracie klammerte sich mit Armen und Beinen an ihn.

„Wir sind ganz alleine, nur du und ich. Guck mal.“ Er versuchte, ihren Kopf anzuheben, damit sie sah, dass alles sicher war. Ihr Griff wurde etwas lockerer.

Er nutzte die Gelegenheit und befreite sich ganz von ihr. Sie protestierte, aber er setzte sie in seinen Lederstuhl. „Halt dich ganz doll fest, dann geht die wilde Fahrt los!“

Er drehte mit einer Hand den Stuhl, während er mit der anderen durch die Papierstapel blätterte, um die richtigen Akten zu finden.

„Weiter!“ Schon hatte Gracie Gefallen an ihrem Spiel gefunden.

Uno momento, Gracie.“ Einen Moment nur drehte er sich weg, um endlich die richtigen Unterlagen zu finden.

„Papa!“ Gracie schrie auf, und er sah, wie der Stuhl umkippte und mit ihr auf dem Boden landete. Rafael war nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät, um sie aufzufangen. Sie hatte sich auf dem sich drehenden Stuhl hingestellt und das Gleichgewicht verloren.

„Gracie! Lo siento!“ Die Papiere waren vergessen. Ihre Füße waren verdreht und unter der Sitzfläche vergraben. Sie weinte. Er nahm den Stuhl weg, hob sie hoch und setzte sie vorsichtig auf seinen Schreibtisch. „Wo tut es dir weh?“

Nun weinte sie so laut, dass sie nicht antworten konnte. Wahrscheinlich hörte sie ihn nicht einmal mehr. Er tastete sie Zentimeter für Zentimeter ab: Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und sah, dass sich an ihrer Schläfe eine Beule bildete. Ihre Arme und Finger waren in Ordnung und ließen sich bewegen. Nichts gebrochen. Aber als er ihre Füße untersuchte, schrie sie auf. Der rechte Fuß tat ihr weh. Vorsichtig zog er ihr den Schuh und die pinke Socke aus: Der Knöchel war bereits stark geschwollen.

In seinem Bauch ballte sich das Schuldgefühl. Wenn er nur einmal nicht so stolz gewesen wäre und stattdessen jemanden gebeten hätte, auf sie aufzupassen. Nur fünfzehn Minuten! Dann wäre das hier nicht passiert. Und jetzt war sie vielleicht richtig verletzt, nur seinetwegen.

Er hob sie hoch und eilte mit ihr in die Notaufnahme. Nur gut, dass sie schon vor Ort waren. Vielleicht konnten sie ihm dort auch diese Widerspenstigkeit herausoperieren, die ihn immer wieder davon abhielt, von denjenigen Hilfe anzunehmen, die sie ihm wirklich geben wollten. Er konnte eben nicht alles allein schaffen.

3. KAPITEL

Das harsche Gespräch mit Rafael vorhin hatte Summer aus dem Tritt gebracht. Hatte sie ihre Kompetenzen überschritten? Würde er Beschwerde einreichen? Er war ein enorm respektierter Chirurg, und im Vergleich war sie leicht ersetzbar.

In ihrer Unruhe hatte sie entschieden, eine Runde spazieren zu gehen. Vielleicht würde das ihre Gedanken beruhigen. Und welch ein Glück sie hatte, auf dieser Insel zu leben. Hier war es so sicher, dass eine Frau allein in der Nacht am Strand entlanglaufen konnte. Es gab praktisch keine Kriminalität. Alle kümmerten sich umeinander, und Sheriff Brady wurde bestimmt von all seinen Kollegen aus der Stadt beneidet.

Plötzlich hörte sie einen Schrei und drehte sich zu einer felsigen Klippe, die zum Meer hinunterführte. Sie rannte in die Richtung und fand eine weinende Mutter und einen völlig verstörten Vater, der versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. Das Kind lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Sand und war ganz offensichtlich aus hoher Höhe dort gelandet.

Summer zog ihr Telefon aus der Tasche und rief sofort einen Notarzt. Dann kniete sie sich neben den Jungen und seine Eltern.

„Hallo, ich bin Summer. Ich arbeite in der Klinik da drüben. Wie heißt er?“

„Ben. Er ist ausgerutscht … Wahrscheinlich waren die Steine nass … Wir konnten ihn nicht auffangen …“ Der Vater zog seine Jacke aus, um seinen Sohn so gut wie möglich zuzudecken.

„Die Klinik ist nicht weit, und ich habe schon den Notarzt gerufen. Der ist bestimmt gleich da.“ Summer versuchte, alle drei zu beruhigen, auch wenn sie sehen konnte, dass aus dem Oberschenkel des Jungen ein Knochen herausragte. Ein Gips allein würde da nicht ausreichen. „Sollen wir ihn nicht irgendwo hinlegen, wo es nicht so kalt ist wie auf dem Boden?“, fragte die besorgte Mutter.

„Dadurch verursachen wir ihm vielleicht nur noch mehr Schmerzen“, sagte Summer. „Wir überlassen das lieber den Sanitätern. Sie werden ihm auch vorher ein Schmerzmittel geben.“

Summer war froh, dass die Ersthelfer so schnell da waren, und sie fuhr mit der Familie in die Notaufnahme. Nicht nur, weil die Eltern so unsicher waren, sondern auch, weil sie sonst nirgendwo hinmusste. Der Unfall hatte ihre Gedanken zumindest von Marc, Leo und all den Gründen abgelenkt, warum sie sich von alleinerziehenden Vätern und ihren süßen Kindern fernhalten sollte.

Den Großteil ihres Lebens war sie ein Anhängsel gewesen, ein Nebengedanke. Ihre Eltern hatten sich immer erst um sich selbst gekümmert und ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht berücksichtigt. Dann war da Marc, der seine Ex ihr vorgezogen hatte. Immer wieder wurden ihr die, die sie geliebt hatte, genommen, und niemanden hatte es je interessiert, was das für sie bedeutete.

Die Versorgung des verletzten Ben gestaltete sich anfangs schwierig, weil er sich von den Krankenschwestern die Sauerstoffmaske nicht anlegen lassen wollte.

„Ben, die Ärzte müssen dich operieren, um dein Bein zu heilen“, sagte Summer beruhigend. „Aber sie werden dir nicht wehtun. Sie wollen dir nur helfen.“

„Sieht man da den Knochen? Werde ich den Knochen sehen? Werde ich fühlen, wie sie ihn bewegen?“ Seine blutunterlaufenen Augen waren weit aufgerissen.

Summer schüttelte den Kopf und zeigte ihm noch einmal die Maske. „Du bekommst so eine Maske hier über Mund und Nase. Dadurch schläfst du ein, und sie wecken dich erst auf, wenn alles vorbei ist.“

„Ich habe Angst“, sagte er. Dicke Tränen rollten ihm die Wangen herunter.

„Du musst keine Angst haben. Deine Eltern können auch mit dir in den OP-Saal gehen, wenn du willst. Und sie sitzen auch neben dir, wenn du wieder aufwachst. Aber erst müssen wir dir die Maske aufsetzen. Darüber atmest du eine Medizin ein, mit der du dich besser fühlst.“

Der Junge war immer noch nicht überzeugt und drehte den Kopf weg.

Sie zog einige Tübchen mit Lippenbalsam aus der Tasche. „Wenn der Geruch der Maske komisch ist, können wir uns hiermit behelfen. Erdbeere oder Schokolade?“

Zögernd zeigte er auf den Balsam mit Schokogeschmack, und sie gab etwas davon auf die Innenseite der Maske.

„Riech mal …“ Sie hielt ihm die Maske hin, und er schnupperte daran. Dann nickte er.

„Gut gemacht. Ich muss mich jetzt nur schnell noch umziehen, damit ich mit dir in den OP darf. Und dann geht es los.“

Sie sprach kurz mit Cody Brennan, einem der Gründer der Klinik und orthopädischer Chirurg, der die Operation durchführen würde. Für ihn war es ein recht einfacher Eingriff, mit dem er sich fast jeden Tag konfrontiert sah. Aber für ein kleines Kind war es natürlich beängstigend, und Summer würde dem Jungen nicht zeigen, dass sie selbst nervös war.

Cody wirkte ab und zu etwas steif und unzugänglich, wenn man ihn nicht kannte. Aber sie hatte ihn schon öfter gebeten, ihr zu erklären, was er tat, damit sie dazulernen konnte.

„Das ist eine relativ neue Vorgehensweise“, sagte er nun, „die wir in letzter Zeit gern für Femurfraktionen bei Kindern einsetzen. Nennt sich flexible Marknagelung.“

„Klingt … kompliziert.“ Aber natürlich hatte sie schon von Metallplatten, Stangen, Stiften und Schrauben gehört – so gesehen waren Nägel einfach nur ein weiteres Stück Technik, das in den menschlichen Körper eingesetzt werden konnte. Und die Maple Island Clinic verfolgte einen modernen Ansatz für die Rehabilitation und setzte die neuesten Techniken ein.

„Wir führen durch das Ende des Femurs flexible Nägel ein und quer an der Stelle des Bruchs. Dadurch bleibt der Knochen während der Heilung an Ort und Stelle.“

„Wie lange dauert das?“

„Etwa vier Monate, bis alles komplett abgeheilt ist. Dann werden die Nägel wieder entfernt. Der Vorteil ist, dass die Beine dabei gleich lang bleiben und dass er keine sichtbaren Narben zurückbehalten wird, wie es bei anderen Methoden oft der Fall ist. Außerdem braucht er keinen Gips.“

„Das heißt, danach ist er so gut wie neu?“

„Wenn alles gut läuft, ja.“

Sie ließ ihn mit ihren Fragen in Ruhe und beobachtete ihn bei der Arbeit. Sie bewunderte seine Fähigkeiten.

Eine Sache, die sie an ihrem Job liebte, war diese enge Zusammenarbeit mit den Kindern und ihr Weg zur Genesung.

Auch wenn immer die Gefahr bestand, einigen Kindern gefühlsmäßig zu nah zu kommen. Wenn sie eine eigene Familie hätte, würde sie sich vielleicht nicht immer so leer fühlen, wenn ihre kleinen Patienten gesund wurden und aus ihrem Leben verschwanden. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie sich auf einen Vater und sein Kind einlassen sollte. Das Problem dabei war doch immer, dass eines Tages eine andere Frau zurückkommen und ihre Familie für sich beanspruchen konnte.

Vor ihren Augen entstand ein Bild von Gracie und Rafael, und sie versuchte schnell, es wieder loszuwerden. Die Operation war eine gute Ablenkung, und sie musste noch nicht in das leere Haus zurückkehren, das danach auf sie wartete.

Als Ben den Eingriff gut überstanden hatte, war Summer so müde, als ob sie ihn selbst operiert hätte. Am liebsten wollte sie sofort ins Bett fallen. Aber ihr Hirn würde sie nicht lassen – sie würde wieder und wieder über Rafael nachdenken. Selbst wenn sie das Gespräch von heute ausblendete, gab es so viele winzige Momente, die sich gut angefühlt hatten. Seine Muskeln unter dem Hemd. Der elektrisch aufgeladene Kontakt ihrer Fingerspitzen. Damit konnte man sich die ganze Nacht beschäftigen und alles Mögliche hineininterpretieren, das wahrscheinlich gar nicht da gewesen war.

Sie verließ die Aufwachstation und wollte den Mitarbeitern der Notaufnahme Bescheid geben, dass sie nach Hause ging.

Plötzlich sah sie Rafael und eine weinende Gracie auf dem Flur sitzen. Sie war so schockiert, dass sie am liebsten rückwärts wieder geflüchtet wäre. Er würde ihr doch bestimmt gleich ansehen, dass sie über ihn nachgedacht hatte.

Aber Gracies Elend war zu offensichtlich.

„Oh, Gracie, was ist passiert?“ Sie setzte sich auf den Stuhl neben Rafael, der Gracie auf dem Arm hielt, und beugte sich vor, um sich den stark geschwollenen Knöchel anzusehen. Der exotische Duft seines Rasierwassers – Zitrone und Gewürze – stieg ihr in die Nase.

„Unfall am Arbeitsplatz“, sagte er und zog eine Grimasse.

Summer musterte Gracies Prinzessinnenkleid und ihre verbogenen Flügel. „Schwierigkeiten im Feenland?“

War das ein Lachen? Dieses Geräusch überraschte sie so, dass sie fast das Gleichgewicht verlor.

„Ich wollte ein paar Dokumente aus meinem Büro abholen und … ähm … Wir haben uns etwas zu schnell auf dem Bürostuhl gedreht.“

Er klang recht ruhig, aber so, wie sie ihn kannte, war er innerlich wahrscheinlich völlig aufgewühlt, dass ihm so etwas passiert war.

„Aua, du Arme“, sagte sie und bog Gracies Flügel gerade. Dann wandte sie sich an Rafael. „Hat sie schon jemand angesehen?“

Er beugte sich zu ihr, damit Gracie ihn nicht hören konnte. Seine schwarzen Haare kitzelten sie an der Wange und machten sie ganz verrückt. „Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist, aber wir kriegen sie nicht zum Röntgen.“

Krankenhäuser mit all den summenden und brummenden Maschinen konnten einem aber auch wirklich Angst machen. Gracie war ohnehin schon gestresst, und die hellen Neonlampen machten es bestimmt nicht besser. Aber sie musste geröntgt werden, um herauszufinden, ob mit dem Fuß wirklich alles in Ordnung war.

„Ich nehme nicht an, dass …“, fing Rafael an. „Ich meine, ich weiß, dass wir nicht in der Kita sind und es eigentlich nicht Ihr Problem ist, aber Sie haben sie heute Morgen so verzaubert und … Würden Sie mir wohl helfen?“

Er stotterte herum, und sie wusste, wie schwer es ihm fallen musste, zu fragen. Das war ein großer Schritt für ihn. Ob er sie irgendwann vielleicht doch noch für Gracie sorgen lassen würde? Sie wusste nicht, was diesen Geisteswandel verursacht hatte, und vielleicht war es eher die Erschöpfung als eine bewusste Entscheidung, aber sie würde sie definitiv nicht in Frage stellen.

„Lassen Sie mich kurz nachdenken.“ Aber sie hatte schon eine Idee, wie sie Gracie überzeugen könnte. Sie sprang auf und ging auf die Suche nach der Kiste mit Spielsachen, mit denen sich die Kinder im Wartezimmer beschäftigen konnten.

Bald hatte sie eine zerfledderte Puppe, eine magnetische Zeichentafel und eine Spielzeugkamera gefunden. Nicht besonders ausgefeilt, aber sie hatte schon oft Spielzeug benutzt, um Kindern zu erklären, was Scans und Röntgenaufnahmen waren, um ihnen etwas von der Angst zu nehmen. Dann fand sie noch einen Verband, den sie der Puppe um den Fuß binden wollte. Damit eilte sie zurück zu der kleinen, widerwilligen Patientin.

Rafael zog eine Augenbraue hoch, als er sah, was sie anschleppte. Aber er stellte keine Fragen und rannte auch nicht mit Gracie davon, bevor sie ihren Plan ausprobieren konnte.

„Schau mal, Gracie. Das hier ist Dolly. Sie hatte einen kleinen Unfall und hat sich das Bein verletzt.“

Summer setzte die Puppe auf Rafaels Knie, sodass Gracie sie von oben gut sehen konnte. Neugierig sah sie zu – ein gutes Zeichen.

„Sie hat im Garten getanzt und sich gedreht und ist hingefallen. Sie hat sich am Kopf gestoßen und das Bein wehgetan.“

Gracie ließ sich besorgt ein Stück herunterrutschen und saß schließlich auf Rafaels anderem Knie. „Wird sie wieder gesund?“

Ein ganzer Satz und ihre volle Aufmerksamkeit! Summer konnte es kaum glauben, und auch Rafael sah begeistert aus. Summer musste einmal heftig schlucken, bevor sie weitersprechen konnte.

„Der Arzt kann sie heilen, wenn Dolly eine Röntgenaufnahme von ihrem kaputten Fuß machen lässt. Weißt du, wie das funktioniert, Gracie?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wenn ich es dir erkläre, könntest du vielleicht die Ärztin sein und Dolly helfen?“ Wenn man Kinder an dem beteiligte, was passierte, verstanden sie oft viel leichter, worum es ging. Und es musste ihnen Spaß machen.

Gracie sah ihren Vater an.

„Aber natürlich können Sie das, Dr. Valdez“, sagte er zu ihr. Dann flüsterte er: „Ich glaube, Dolly hat ein bisschen Angst. Vielleicht kannst du ihr sagen, dass es nicht weh tun wird.“

Gracie nahm ihre neue Verantwortung sehr ernst, beugte sich vor und sagte zu ihrer Patientin: „Hab keine Angst. Ich mach dich heile.“

„Wir müssen sie hinlegen, um ein ganz besonderes Foto von ihr zu machen.“

Summers Stimme brach fast vor Glück, als sie sah, wie konzentriert Gracie die Puppe auf das Knie ihres Vater legte.

„Das hier ist eine spezielle Kamera, die der Ärztin zeigt, wo genau das Bein weh tut. Aber Dolly muss ganz stillhalten.“ Sie reichte Gracie die Kamera und zeigte ihr, welchen Knopf sie drücken musste. Summer zeichnete in der Zeit einen Beinknochen auf die Tafel.

„Dr. Valdez Senior, könnten wir Ihre Meinung zu diesem Röntgenbild bekommen?“ Summer hielt ihr Kunstwerk hoch, und beide versuchten, nicht über die schlechte Zeichnung zu lachen.

Seine Augen funkelten. Endlich runzelte er nicht mehr die Stirn, und Summers Puls schlug in ungeahnten Höhen. Sie mochte diese weichere Seite an ihm, die er viel zu selten zeigte. Schon so oft hatte sie versucht, ihn zum Lächeln zu bringen, und jetzt zeigte sich, dass sie offenbar einfach öfter herumalbern musste.

„Also … Der Knochen ist nicht gebrochen. Eine schwere Verstauchung, würde ich sagen. Wir müssen den Fuß verbinden, und Dolly muss sich ausruhen.“

„Dr. Gracie?“

Die junge Ärztin wickelte die Bandage um Dollys Bein.

„Ihr wird es bald wieder besser gehen“, sagte Summer. „Aber jetzt müssen wir uns noch um dich kümmern, Gracie. Darf der Arzt ein Bild von deinem Bein machen?“

Sie überlegte kurz. „Können Dolly und du mitkommen?“

„Hm, wir dürfen vielleicht in den Raum, aus dem die Frau das Foto macht. Aber dein Papa kann mit dir kommen, wenn er eine besondere Schütze anzieht. Dann kann er deine Hand halten, und wir winken dir durch das Fenster zu.“ Summer war sich sicher, dass sie die Röntgentechnikerinnen bitten konnten, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen. Es war nicht viel los.

„Gracie?“ Rafael streichelte ihr den Rücken, bis sie schließlich nickte und sie in die Radiologie eilten, bevor das Mädchen wieder seine Meinung änderte.

„Zum Glück ist es wirklich nur eine Verstauchung. Ich glaube, ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn sie den Fuß gebrochen hätte.“

Und es wären nicht nur seine Schuldgefühle gewesen, die ihn verrückt gemacht hätten, sondern auch eine Gracie mit Gipsbein, die sich nicht hätte bewegen können. Der Verband störte zwar auch, aber er war bei Weitem nicht so schlimm.

„Rafael, Unfälle gehören zur Kindheit dazu. Oder hast du dir etwa nie etwas gebrochen oder musstest nach einem fehlgeschlagenen Abenteuer genäht werden?“ In Summers blauen Augen glitzerte etwas. Machte sie sich über ihn lustig, oder dachte sie gerade an ihre eigene Kindheit? Wie dem auch sei: Er wusste, dass sie es nur gut mit ihm meinte – und das, obwohl er sich heute Morgen so grässlich benommen hatte.

Dabei hatte sie alles getan, um ihnen zu helfen, ohne auch nur einmal über ihn zu urteilen oder ihn zu kritisieren. Sie hätte ja auch einfach nach Hause gehen können. Sie hatte nichts davon, bei ihnen zu bleiben und ihm zu helfen, Gracie zum Röntgen zu überreden. Die Idee mit der Puppe war großartig gewesen. Gracie, die an Summers Schulter eingeschlafen war, hielt sie noch immer fest. Rafael wollte sie ihr nicht abnehmen und dachte, dass er eine neue Puppe für die Notaufnahme kaufen würde. Vielleicht würde er eine dunkelhaarige finden, die ein wenig wie Gracie aussah.

Summer blickte ihn immer noch an und wartete auf eine Antwort. Eigentlich dachte er nicht gern an seine Kindheit oder Jugend, aber ihre Frage brachte eine Erinnerung an die Oberfläche, die ihn gleichzeitig stöhnen und lachen ließ.

Er fuhr mit dem Finger über den kleinen Hubbel auf seiner Nase. „Gebrochene Nase, als ich mit fünfzehn vom Motorrad gefallen bin.“

Summer legte den Kopf schief, als ob sie sich die Szene vorstellen wollte. „Nimm’s mir nicht übel, aber ich hätte nie gedacht, dass du so ein Grunge-Biker-Typ warst.“

„War auch nicht so. Ich saß zum ersten Mal auf einem Motorrad und bin auf dem Rücken über die halbe Straße gerutscht.“

„Hattest du wenigstens Lederklamotten an? Also, ich meine, als Schutz, nicht weil ich versuche mir vorzustellen, wie du in schwarzem Leder aussiehst oder so …“ Sie plapperte weiter. Sein Outfit damals schien ihr ja wichtig zu sein. Ihr honigfarbener Hautton verschwand unter einer aufsteigenden Röte. Er hatte sie noch nie so verunsichert gesehen und freute sich kurz darüber, dass sie die Kontrolle verlor.

„Hm, ich glaube, ich hatte zumindest eine Lederhose.“ Er begegnete ihrem Blick und grinste.

„Gut zu wissen, dass du, ähm, dich geschützt hattest“, sagte sie und zuckte zusammen, als ihr die Doppeldeutigkeit auffiel.

Autor

Karin Baine
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Tina Beckett
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Janice Lynn

Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.

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