Julia Best of Band 216

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DAS SCHLOSS UNSERES GLÜCKS von JORDAN, PENNY
Nell traut ihren Ohren nicht, als ihr Joss, den sie schon so lange heimlich liebt, aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag macht. Erwidert er tatsächlich ihre Gefühle, oder hat er es nur auf ihren prächtigen Landsitz abgesehen? Trotz aller Zweifel sagt Nell Ja…

DIR GEHÖRT MEIN HERZ von JORDAN, PENNY
Ausgerechnet der unwiderstehliche Gareth Simmonds ist Louises neuer Chef in Brüssel. Der Traummann, an den sie einst ihr Herz verlor - und ihre Unschuld. Aber der Schuft stahl sich aus ihrem Bett und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Nicht noch einmal, schwört sich Louise …

DU BIST DER MANN MEINER TRÄUME von JORDAN, PENNY
Seit Kindertagen schlägt Lindsays Herz für ihren Stiefbruder Lucas. Um aber dem Wunsch ihres Vaters zu entsprechen, stimmt sie einer Hochzeit mit dem Aristokraten Jeremy Byles zu. Nun muss nur Lucas noch seine Einwilligung geben - doch er tut es nicht. Lindsay beginnt zu hoffen …


  • Erscheinungstag 02.08.2019
  • Bandnummer 0216
  • ISBN / Artikelnummer 9783733712747
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Jordan

JULIA BEST OF BAND 216

1. KAPITEL

„Ist das die Braut?“, fragte Grania geringschätzig. „Wo hat sie bloß das Kleid her? Also wirklich, Nell, wenn Großvater von deinen Plänen gewusst hätte, als er dir das Haus vermachte … er wäre auf der Stelle einem Schlaganfall erlegen. Das ist alles so …“

„Geschäftstüchtig?“, schlug Nell vor.

Sie standen in dem kleinen Büro und sahen in den Park hinunter. Die Braut, deren hübsches weißes Kleid Nells Stiefschwester so empörte, näherte sich am Arm des Brautführers dem rosengeschmückten Eingang zum Festzelt, das Nell und ihre wenigen Mitarbeiter am Tag zuvor hergerichtet hatten.

„Geschäftstüchtig oder nicht, Großvater hätte es nicht gefallen, das weiß ich genau. Und du weißt es auch, wenn du ehrlich bist.“

Damit hatte Grania leider recht. Nells Großvater war ein Mann der alten Schule gewesen, etwas steif, mit militärischen Umgangsformen und einem unerschütterlichen Stolz auf seine traditionsreiche Familie und ihren Dienst für das Vaterland. Er hing mit ganzem Herzen an alten, längst vergessenen Werten und war zutiefst davon überzeugt, dass er Verantwortung trug – nicht nur für seine Familie, sondern auch für den kleinen Ort, der gut einen Kilometer von Easterhay entfernt zwischen grünen Hügeln lag.

Der Ort war älter als das Herrenhaus, das der erste Hugo de Tressail erbaut hatte, aber die Gemeinde verdankte ihm, dass aus einer Ansammlung ärmlicher Bauernhäuser ein stattliches Dorf geworden war, mit einem Schloss in der Nähe und einer Kirche im normannischen Stil, deren quadratischer Turm die hügelige Ebene von Cheshire überragte.

In der Kirche hielt ein steinerner Sarkophag mit einer strengen Reliefdarstellung des Toten die Erinnerung an diesen ersten de Tressail wach. Daneben ruhte seine Frau, ebenfalls in Stein gehauen, mit einem kleinen Hund zu ihren Füßen.

Sie war die Tochter eines sächsischen Lehnsritters gewesen, vornehm, aber arm, und es hieß im Volksmund, sie habe als Erste das lange weizenblonde Haar getragen, das in unregelmäßigen Abständen dann immer wieder bei den de-Tressail-Frauen zum Vorschein kam.

Nell hatte es ebenfalls geerbt, langes, glatt herunterfallendes blassblondes Haar, das sie persönlich eher für farblos hielt. Sie hätte lieber das dunkle Haar ihrer Stiefschwester geerbt, das mit seinem leuchtenden Farbton auf ihre südlichen Vorfahren hindeutete.

„Hätte ich doch nur gewusst, dass du an diesem Wochenende einen solchen Rummel veranstaltest“, seufzte Grania missmutig. „Ich wäre dann bestimmt nicht hergekommen.“

„Warum bist du überhaupt hier?“, fragte Nell ruhig.

Auf den ersten Blick wurde sie meist für schüchtern und unbeholfen gehalten, aber sie hatte einen starken Willen und hielt an einmal gefassten Überzeugungen unbeirrt fest. Manche sagten ihr sogar nach, sie hätte etwas von dem Starrsinn ihres Großvaters geerbt.

„Ich brauche einen Vorschuss auf meine Rente“, erklärte Grania unverblümt. Sie bemerkte Nells veränderten Gesichtsausdruck und fügte ärgerlich hinzu: „Sieh mich bloß nicht so entsetzt an. Joss hat bestimmt nichts dagegen.“

„Vielleicht nicht“, meinte Nell, „aber ich mag es grundsätzlich nicht, wenn du Geld von ihm nimmst.“

„Warum sollte ich das nicht tun? Er ist unser Vormund und verwaltet unser Geld. Schlimm genug, dass Großvater das Vermögen so festgelegt hat. Eine jährliche Rente, bis ich heirate, und dann eine einmalige Abfindung … ich hätte mein Geld lieber gleich, und zwar alles auf einmal. Genau das werde ich Joss auch sagen.“

„Das würde ich nicht tun.“

Nell sprach schärfer, als sie wollte. Unten waren die letzten Gäste im Zelt verschwunden. Nell wusste noch, wie ihr erster geschäftlicher Erfolg sie überrascht hatte. Er reichte bei Weitem noch nicht, um Gewinn zu machen – genau genommen konnte sie gerade die Mitarbeiter bezahlen –, aber es war ein Anfang. Der erste kleine Schritt auf dem Weg zur Selbstständigkeit.

Nell und Grania waren grundverschieden, nicht nur äußerlich. Grania hatte das lebhafte Temperament ihrer italienischen Mutter geerbt, die in erster Ehe mit einem Landsmann verheiratet gewesen war. Sie war genauso impulsiv, genauso unzuverlässig und genauso leichtsinnig und sorglos im Umgang mit Geld.

Als erfolgreiches Mannequin verdiente sie eigentlich genug, um bequem davon zu leben. Sie brauchte die kleine Rente nicht, die Nells Großvater ihr ausgesetzt hatte, aber es wäre Grania nie in den Sinn gekommen, darauf zu verzichten. Die finanzielle Lage von Easterhay war ihr gleichgültig. Trotz ihrer Welterfahrenheit – und sie war erfahren, weit mehr als die drei Jahre ältere Nell – schien sie nicht mal zu ahnen, dass die Rente, von der sie so unbekümmert sprach, aus Joss Wycliffes eigener Tasche kam.

Nell hatte nicht die Absicht, Grania darüber aufzuklären. Die Wahrheit wäre ihr gleichgültig gewesen, so beschämend das sein mochte. Grania hätte sich nicht geniert, von Joss Geld anzunehmen, und wahrscheinlich noch darüber gespöttelt, dass er ihr nicht zehnmal mehr gab, wozu er durchaus in der Lage gewesen wäre.

Während der letzten Monate vor dem Tod ihres Großvaters hatte sich Nell gefragt, ob Joss’ regelmäßige Besuche in Easterhay vielleicht Grania galten. Eine andere Erklärung schien es für die ungewöhnliche Beziehung zwischen dem Schlossherrn und dem Multimillionär nicht zu geben, der keinerlei Geheimnis daraus machte, dass er sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hatte und so zu einem riesigen Vermögen gekommen war.

Er wohnte seit drei Jahren in der Gegend, in einem Haus auf der anderen Seite des Dorfes. Der erste Klatsch war Nell schon vor seinem Einzug zu Ohren gekommen, und sie hatte daher umso weniger erwartet, dass ihr Großvater sich mit ihm anfreunden würde. Nicht weil er es als alteingesessener Gutsherr für ehrenrührig gehalten hätte, mit einem Neureichen zu verkehren. Er war einfach kein geselliger Typ, hatte nur wenige Freunde und hielt die meisten Menschen durch seine scharfe Zunge fern.

Ohne den unglücklichen Sturz wären sich ihr Großvater und Joss nie begegnet, davon war Nell noch heute überzeugt. Trotz seines Alters und der Verwundung, die ihm den Orden „Knight Commander of the British Empire“ eingebracht hatte, war ihr Großvater jeden Morgen nach dem Frühstück um das Parkgelände gewandert – eine Strecke, die etwa acht Kilometer betrug.

An jenem denkwürdigen Morgen war es vereist gewesen, aber Sir Hugo war trotz Nells Einspruch zu dem Spaziergang aufgebrochen, zusammen mit seiner liebsten Begleiterin, der deutschen Jagdhündin. Er war damals achtundsiebzig Jahre alt, mürrisch und reizbar, und Nell liebte ihn abgöttisch, denn er war ihr einziger Verwandter.

Gewiss, Grania war auch noch da, aber die Stiefschwestern hatten sich nie sonderlich nahegestanden. Grania war gerade mit ihren Eltern in Italien gewesen, als der grauenhafte Autounfall passierte, der Lucia de Tressail das Leben kostete und Nells Vater zu einem Krüppel machte, der das Bewusstsein bis zu seinem Tod nicht wiedererlangte. Er überlebte seinen Vater nur um wenige Tage, ohne zu erfahren, dass er den Grafentitel geerbt hatte.

Nell war noch wie betäubt vom Tod ihres Großvaters, als die Nachricht aus Italien eintraf. Grania hatte nur kurz angerufen und nach wenigen knappen Sätzen hinzugefügt: „Eigentlich ganz gut, dass es so ausgegangen ist. Das Krankenhaus muss ein Vermögen gekostet haben, und der arme Daddy wäre sowieso nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.“

Grania war von den Verwandten ihrer Mutter aufgenommen worden. Nachträglich kam es Nell immer noch wie ein Wunder vor, dass sie nicht auch mit nach Italien gefahren war, um Lucias Verwandte zu besuchen. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, aber die Sorge um ihren Großvater war stärker gewesen. Als dann die Nachricht vom Tod ihrer Stiefmutter und von den lebensgefährlichen Verletzungen ihres Vaters eingetroffen war, hatte sie sich noch enger an ihren Großvater und Easterhay angeschlossen.

Easterhay war ihr Zuhause gewesen, solange sie denken konnte. Ihr Vater, ein Berufssoldat wie die de Tressails vor ihm, hatte sie als wenige Wochen altes Baby dorthin gebracht und der Obhut seines Vaters und seiner unverheirateten Tante übergeben. Seine Frau war bei Nells Geburt gestorben, und so hatten Großvater und Großtante den Platz der toten Mutter eingenommen. Nell war in Easterhay aufgewachsen, ohne zu ahnen, wie unzeitgemäß und wirklichkeitsfremd sie dort lebte. Easterhay war ihre Welt. Sie kannte nichts anderes und wünschte sich nichts anderes.

Als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihr Vater zum zweiten Mal, aber da er ständig auf andere überseeische Posten versetzt wurde, vergingen acht weitere Jahre, bis Nell bei einem Ferienaufenthalt in Italien ihren Vater wiedersah und ihre Stiefmutter kennenlernte. Lucia gab sich große Mühe mit ihr, denn im Grunde war sie warmherzig und liebevoll. Nell selbst hatte sich von Anfang an gegen sie gewehrt. Sie war den zurückhaltenden, manchmal mürrischen Umgangston ihres Großvaters und ihrer Großtante gewohnt und schreckte vor Lucias mütterlicher Überschwänglichkeit zurück – innerlich wie äußerlich.

Dem kurzen Ferienaufenthalt waren keine weiteren gefolgt. Nell wuchs von einem scheuen, in sich gekehrten Mädchen zu einer scheuen, in sich gekehrten Frau heran und gab ohne Zögern ihren Londoner Beruf auf, als ihre Großtante starb und sie nach Hause gerufen wurde, um ihren Großvater zu pflegen und die Hausfrauenpflichten in Easterhay zu übernehmen.

Sie war damals gerade zwanzig geworden. In den vier Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie gelernt, sich dem Leben zu stellen. Gezwungenermaßen, denn die Finanzen ihres Großvaters standen schlechter, als sie es sich in den düstersten Momenten vorgestellt hatte.

Der Krankenhausaufenthalt von Nells Vater hatte die letzten Reserven verschlungen, und jetzt, wo auch ihr Großvater tot war und doppelte Erbschaftssteuern auf Easterhay lasteten, wusste sie beim besten Willen nicht mehr, wie sie ihr Versprechen halten und den Familienbesitz bewahren sollte.

Versprechen am Sterbebett gehören eigentlich in die Zeit der Dickens-Romane, dachte Nell, während sie weiter aus dem Fenster sah. Unten verschlossen ihre Mitarbeiter gerade den Eingang zum Festzelt. Noch einige Minuten, dann musste sie hinuntergehen und persönlich die Aufsicht über das kalte Büfett übernehmen. Mochte Grania die Braut noch so belächeln – ihre Eltern bezahlten gut dafür, dass der Hochzeitsempfang im Park von Easterhay stattfinden durfte. Nell hatte nicht nur den Stolz, sondern auch das Ehrgefühl ihres Großvaters geerbt, und es wäre ihr niemals eingefallen, eine übernommene Pflicht zu versäumen.

„Versprich mir, dass du Easterhay behältst.“ Bereits vom Tod gezeichnet, hatte er ihr das Versprechen abverlangt, und sie hatte es bedenkenlos gegeben, mit halb erstickter Stimme und Tränen in den Augen.

Trotzdem wusste sie noch immer nicht, wie sie zu ihrem Wort stehen sollte. Gewiss, sie tat, was möglich war, und die Hochzeiten brachten genug ein, um die alten Angestellten ihres Großvaters zu halten und zu beschäftigen. Peter Jansen, den Zimmermann, der die langen Holztische für das Zelt hergestellt hatte. Harry White, den Gärtner, der die Blumen beisteuerte und auch sonst bei der Ausschmückung half. Und Mrs. Booth, die Köchin und Haushälterin, die das Büfett organisierte.

Alle drei waren glücklich, Nell zu helfen und ihr einen Teil der Verantwortung für Easterhay abnehmen zu können. Früher wären sie mit ihren Familien nach Manchester oder Liverpool gezogen, aber gut bezahlte Arbeit war heute kaum noch zu finden.

Dabei war es noch ein Glück, dass die Angestellten preiswert in den zum Grundstück gehörigen Häuschen lebten. Doch die Häuschen waren dringend reparaturbedürftig, und wenn Nell an den Winter dachte, fragte sie sich, wie sie ohne die einträglichen Hochzeiten das nötige Geld für die Gehälter zusammenbringen sollte, da diese nur im Sommer stattfanden.

Eine Möglichkeit wäre gewesen, den Ballsaal für private Feste zu vermieten, aber mit wie vielen Interessenten konnte sie da rechnen? Easterhay lag in einem stillen Winkel von Cheshire, in dem es nur wenige Familien gab, die wohlhabend genug waren, um ein Fest in so großem Stil zu feiern. Außerdem war es nicht weit bis zur Stadt Chester, wo das Grosvenor-Hotel einen ausgezeichneten Ruf besaß.

Mit den Hochzeiten war das etwas anderes. Sie gehörten zum alltäglichen Leben dazu, und es konnte tatsächlich keinen passenderen Rahmen für eine Sommerhochzeit geben als den Park von Easterhay, wenn die Sonne die Rückfront des Schlosses vergoldete und die alten bleigefassten Fensterscheiben aufleuchten ließ.

Zur Zeit König Jacobs, zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, hatte ein de Tressail das ursprüngliche Herrenhaus durch eine prächtige Vorderfront und zwei Seitenflügel ergänzt. Der eine Flügel führte zu den Stallungen, der andere zur Orangerie, deren Wände schon lange nicht mehr verglast waren, sodass sie einen traurigen, verfallenen Eindruck machte.

„Ich muss gehen“, meinte Nell. „Man erwartet, dass ich das Büfett eröffne und …“

„Bringt es mehr Geld ein, wenn die Schlossherrin die Gäste persönlich bedient?“, unterbrach Grania sie spöttisch. „Ich würde einen hohen Aufschlag dafür verlangen.“

Nell verlor die Beherrschung. Sie stand seit dem Tod ihres Großvaters unter ständiger Nervenbelastung, und es änderte nichts, dass sie Mitleid mit Grania hatte.

„Du solltest nicht über meine Gäste spotten“, antwortete sie zurechtweisend. „Leute wie die Dobsons haben Geld und können sich das leisten, wonach du dich nur sehnst.“

Granias Augen füllten sich sofort mit Tränen. „Deswegen brauchst du noch lange nicht so hässlich zu mir zu sein“, klagte sie. „Was kann ich dafür, dass ich Armut verabscheue? Mom sagte immer …“

Sie verstummte, aber Nell ahnte auch so, was Grania meinte. Wahrscheinlich hatte Lucia ihr immer erzählt, die de Tressails seien eine reiche Familie.

„Großvater tat gern so, als besäßen wir mehr Geld als in Wirklichkeit“, erklärte sie ruhiger. „Sein Stolz erlaubte ihm nicht zuzugeben, wie die Dinge wirklich standen. Als Dad dann kurz nach ihm starb und die Erbschaftssteuer zum zweiten Mal fällig wurde …“ Nell unterbrach sich, denn Grania machte ein so störrisches Gesicht, dass sie vorübergehend an die Dickköpfigkeit ihres Großvaters erinnert wurde. „Wie dem auch sei, du musst am Zustand des Hauses erkannt haben, wie verzweifelt die Lage ist.“

„Und ich dachte immer, Großvater sei nur knauserig. Du weißt ja am besten, wie er war. Warum verkaufst du das Haus nicht, wenn es wirklich so schlecht steht? Es würde dir ein Vermögen einbringen.“ Grania sah Nell feindselig an und fuhr heftig fort: „Welche Ungerechtigkeit, dir den Besitz allein zu vermachen. Wie konnte Großvater das tun? Er hätte uns je zur Hälfte als Erbinnen einsetzen müssen!“

Nell machte ein ratloses Gesicht. Sie kannte diese unkontrollierten Ausbrüche von früher und wusste, dass Grania mit ihren Klagen und Vorwürfen noch nicht am Ende war. Nell wurde ihr niemals böse, sie fühlte sich Grania in solchen Momenten sogar unterlegen, blass und schattenhaft, wie der trübe Abglanz ihrer farbig schillernden Erscheinung.

Grania war ihr in so vielen Dingen überlegen. Sie war jung, schön und intelligent. Sie hatte sich in einem interessanten Beruf durchgesetzt, war unabhängig und kannte die Welt. Trotzdem beneidete sie Nell. Und warum? Weil Nell Easterhay geerbt hatte.

Nell presste die Lippen zusammen, um sich nicht zu verraten. Es war fast unmöglich, Grania auf taktvolle Weise klarzumachen, warum ihr Großvater sich so entschieden hatte.

Er war mit seiner Stiefenkelin nie besonders gut ausgekommen. In seinen Augen war Grania keine de Tressail. Er hatte die zweite Heirat seines Sohnes nie gebilligt, und seine Bedenken waren noch gewachsen, als er erfuhr, dass Lucia bereits eine Tochter aus früherer Ehe besaß. „Wo soll der nächste Sir Hugo herkommen, der den Grafentitel erbt?“, hatte er gefragt, als herauskam, dass sie keine weiteren Kinder bekommen wollte. Er hatte die Enttäuschung nie verwunden, das wusste Nell genau. Er konnte es Lucia nicht vergeben, dass Easterhay ohne männlichen Erben blieb.

Nach dem Erbfolgerecht musste der Titel jetzt an Nells ältesten Sohn fallen – falls sie jemals einen haben würde. Denn das setzte voraus, dass sie einem Mann begegnete, der ihr gefiel und der bereit war, sie zu heiraten und mit ihr um die Erhaltung ihres Erbes zu kämpfen.

In ihrem innersten Herzen wusste Nell, dass vieles für Granias Vorschlag sprach. Easterhay brauchte einen Besitzer, der sich einen alten Herrensitz leisten konnte. Aber Nell wäre lieber gestorben, als dass sie einem Verkauf zugestimmt hätte. Offenbar steckte doch mehr von ihrem Großvater in ihr, als sie ahnte. Oder lag es einfach an den Umständen? Daran, dass sie in Liebe und Respekt für Easterhay groß geworden war und gelernt hatte, ihre eigenen Wünsche zurückzustellen, wenn es um die Wahrung der Familientradition ging?

Wie auch immer, Nell war zutiefst davon überzeugt, dass ihr Großvater ihr Easterhay vermacht hatte, damit sie es hüten und Schloss und Park für die Zukunft erhalten sollte. Würde sie das schaffen? Sie wusste es nicht, aber sie war entschlossen, alles zu versuchen.

Versuchen war eine Sache, Erfolg haben eine andere. Ihr Antrag auf Übernahme durch den National Trust war abgelehnt worden. Zu viele verarmte Grundbesitzer suchten Hilfe bei dieser Organisation und mussten abgewiesen werden. Unter anderem auch solche, deren Schlösser viel größeren historischen Wert besaßen als Easterhay.

Bei Easterhay lag die Hauptschwierigkeit darin, dass es zu groß war, um unaufwendig darin zu wohnen, und zu klein, um es so zu nutzen, wie es der National Trust verlangte. Damit war Nell ganz auf sich allein gestellt. An ihr lag es, das zusammengeschrumpfte Bankkonto aufzufüllen, damit die drohenden Erbschaftssteuern bezahlt werden konnten und außerdem noch genug übrig blieb, um das Leben im Schloss weiter aufrechtzuerhalten.

Nell tat, was in ihren Kräften stand. Die Hochzeiten brachten eine schöne Summe ein, aber sie erforderten auch regelmäßige Ausgaben. Vielleicht konnte sie im nächsten Jahr ein eigenes Festzelt kaufen. Dann würden die Mietkosten wegfallen, und das bedeutete auf lange Sicht …

Nell versank in Gedanken, wie immer, wenn es um Geldprobleme ging. Der Versuch, Easterhay zu retten, nahm sie so in Anspruch, dass sie sogar Granias Anwesenheit vergaß.

„Wenn du keine Vernunft annimmst, muss ich mich eben an Joss wenden.“ Grania sprach so laut, dass Nell aus ihrer Grübelei erwachte. „Er ist doch hier, oder?“

„Hier im Dorf, wenn du das meinst“, bestätigte Nell. „Soviel ich weiß, hält er sich zurzeit in seinem Haus auf.“

Grania lachte, es hatte ihr schon immer Spaß gemacht, ihre Stiefschwester aufzuziehen. „Arme Nell, du mochtest ihn nie, nicht wahr? Vermutlich hat er nicht genug Schliff für dich. Aber seine starke sinnliche Ausstrahlung … geradezu aufregend, muss ich sagen. Manchmal frage ich mich, wie er wohl im Bett ist.“

„Grania!“ Nell errötete tief. Es stimmte, sie hatte sich in Joss’ Gegenwart immer unbehaglich gefühlt, aber nicht, weil sie ihn nicht mochte. Ganz und gar nicht!

„Wirklich, Nell“, spöttelte Grania weiter. „Frauen wie dich hat Jane Austen in ihren Romanen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts geschildert. Sex existiert, verstehst du? Und Sex-Appeal auch. Joss hat eine Menge davon, glaub mir. Kommt das viele Geld hinzu …“, Grania schloss genießerisch die Augen, „hmm.“ Sie öffnete sie wieder und sah ihre Stiefschwester herausfordernd an. „Ich wette, du weißt nicht mal, wovon ich rede. Ein Mann kann noch so sexy sein, du bemerkst es gar nicht. Du bist von vorgestern, Nell. Darum willst du auch nicht, dass ich zu Joss gehe und mit ihm spreche. Eine junge Dame wartet, bis der Herr sich um sie bemüht und zu ihr kommt. Das ist deine Philosophie, nicht wahr? Du weißt ja nicht, was dir entgeht!“

O doch, dachte Nell, das weiß ich genau. Grania hatte recht, was Joss’ Sex-Appeal betraf. Nell hätte es nicht ganz so unverblümt ausgedrückt, aber grundsätzlich stimmte sie mit ihrer Stiefschwester überein. Joss strahlte so viel Kraft und natürliche Männlichkeit aus, dass jede Frau von ihm gebannt sein musste. Er wusste das selbst ganz genau und scheute sich nicht, seine Wirkung skrupellos einzusetzen.

Es schmeichelte ihm, wenn schöne Frauen ihn umschwärmten. Kein Jäger konnte stolzer auf seine Trophäen sein. Trat er in der Öffentlichkeit auf, hing bestimmt eine schlanke Schönheit an seinem Arm. Ließ er sich für die Klatschseite einer Zeitung fotografieren, war eine gewagt kostümierte Miss Sowieso seine Begleiterin.

Nell hatte häufig den Eindruck, dass diese Aufnahmen künstlich gestellt waren, so zufällig sie auch wirkten. Die Frauen waren immer blond und elfenhaft zart. Joss trug nie etwas anderes als einen dunklen Geschäftsanzug und ließ sich möglichst im Halbprofil aufnehmen, damit seine scharfen, charaktervollen Züge besser herauskamen.

Wer diese Bilder von Joss sah, konnte sich kaum noch vorstellen, dass er in seiner Jugend wenig mehr als Lumpen getragen hatte und zum Stehlen gezwungen gewesen war, um zu überleben. Heute verriet ihn nur noch die raue Aussprache mancher Wörter, und auch das war Absicht, wie Nell vermutete. Joss war ein erstklassiger Schauspieler, dem es kaum Schwierigkeiten bereitet hätte, die akzentfreie Aussprache der Gebildeten zu übernehmen. Aus irgendeinem Grund verzichtete er darauf, als mache es ihm heimlich Spaß, die Menschen immer wieder daran zu erinnern, dass er von ganz unten kam.

Nell konnte sich noch gut an eine Dinnergesellschaft erinnern, an der sie mit ihrem Großvater teilgenommen hatte. Joss war auch unter den Gästen gewesen und hatte seine Tischnachbarin zutiefst schockiert, weil er ihre belanglosen Höflichkeitsfragen mit erschütternd genauen Schilderungen aus seinem Leben auf den Glasgower Straßen beantwortete.

Nie vorher und nie nachher hatte Nell so brutal und so anschaulich von den Nöten verwahrloster Jugendlicher gehört. Joss hatte kein Blatt vor den Mund genommen, sodass auch sie entsetzt gewesen war – nicht wegen seiner Sprache, sondern wegen der bitteren Wahrheit, die sie aufdeckte.

Unglücklicherweise hatte Joss ihre Reaktion missverstanden und sie während der gemeinsamen Heimfahrt mitleidlos verspottet. Danach war es nicht besser geworden. Sie und Joss verstanden sich nun einmal nicht, und wenn Grania jetzt zu ihm ging und sich über das ungerechte Testament ihres Großvaters beschwerte …

„Ich muss mich beeilen, wenn ich Joss noch erwischen will. Du überlässt mir doch dein Auto?“

„Es wäre mir lieber, du würdest nicht zu ihm fahren.“ Nell versuchte weiter, ihre Stiefschwester von dem Vorsatz abzubringen. „Ich glaube, er hat Besuch.“

„Besuch?“ Grania sah Nell überrascht an, dann musste sie lachen. „Meinst du damit eine seiner Freundinnen? Dann wird ihm die kleine Störung nur lieb sein. Wie ich Joss kenne, ist er ihrer längst überdrüssig und …“

„Ich verbiete dir, so über Joss zu reden“, unterbrach Nell sie scharf. „Sein Privatleben geht uns nichts an.“

Grania sah ihr forschend ins Gesicht. „Ich träume wohl“, meinte sie nach einer kurzen Pause. „Meine liebe Stiefschwester ist ihm auch verfallen. O Nell, wie kannst du so dumm sein? Jemanden wie dich sieht Joss gar nicht. Er braucht schicke Frauen, die zu wirken verstehen.“ Sie zeigte verächtlich auf Nells schlichte Kombination aus Rock und Bluse.

Nell hatte ihren eigenen Charme, zu dem das berühmte blonde Haar und das ovale Gesicht mit den großen grauen Augen und der geraden Nase beitrugen. Sie war keine atemberaubende Schönheit, aber ihre sanfte, nicht mehr ganz zeitgemäße Anmut war trotzdem bezaubernd.

Leider verstand Nell nicht, etwas aus sich zu machen. Mit einer modernen Frisur, schicken Kleidern und hochhackigen Schuhen wäre ihre zarte, schlanke Figur weit besser zur Geltung gekommen. Sie hätte hundertmal anziehender gewirkt, wenn auch nicht anziehend genug für einen Mann wie Joss. Dessen war sich Grania sicher.

„Jemand wie David passt viel besser zu dir“, fuhr sie fort. „Wie geht es ihm übrigens?“

Grania selbst fand den jungen Anwalt, dem ihr Großvater sein Testament anvertraut hatte, sterbenslangweilig, aber für Nell war er genau der Richtige. Er würde sie überreden, Easterhay zu verkaufen, und dann war sie mehr oder weniger gezwungen, den Erlös mit ihr zu teilen. Grania seufzte. Welche Aussichten! Sie würde genug Geld haben, um zu reisen, mehr von der Welt zu sehen und ihr Leben mehr als bisher zu genießen. Sie würde endlich reich sein und brauchte nicht mehr als demütige Bittstellerin vor Joss zu erscheinen.

„Ich habe wirklich keine Zeit mehr. Terry holt mich um vier Uhr ab. Wir essen heute Abend im ‚Aux Quatre Saisons‘ – zusammen mit Freunden.“

„Terry?“ Nell sah ihre Stiefschwester fragend an.

„Du kennst ihn nicht. Ich traf ihn während der Aufnahmen für die Wäschewerbung. Er arbeitet beim Fernsehen.“ Grania machte eine Pause und fuhr dann leichthin fort: „Übrigens wird dir das, was du mit dem guten alten Easterhay anstellst, nicht gerade Joss’ Sympathie einbringen. Er ist bestimmt dagegen.“

Granias Spott war schwer zu ertragen, aber der versteckte Hinweis darauf, dass sie mit Joss gesprochen hatte und seine Ansichten besser kannte als ihre einfältige Stiefschwester, ärgerte Nell fast noch mehr.

Wer hatte denn die letzten acht Monate darum gekämpft, Easterhay zu erhalten? Wer hatte die Verantwortung getragen, wer sich mit den Finanzproblemen herumgeschlagen? Grania gewiss nicht. Ihr war es egal, wie es um Easterhay wirklich stand, sonst hätte sie nicht so unbefangen von der Rente gesprochen, die ihr angeblich zustand und die Joss aus seiner eigenen Tasche bezahlte.

Nell litt unsäglich unter dieser Demütigung, aber die Umstände erlaubten es nicht, auf fremde Wohltätigkeiten zu verzichten.

Als Testamentsvollstrecker kannte Joss die wahren Verhältnisse. Wahrscheinlich hatte er sie schon vor Sir Hugos Tod gekannt. Nell wunderte sich immer wieder, dass ihr Großvater Joss so vertraut hatte. In den letzten Monaten seines Lebens waren sie fast Freunde geworden. Joss schien dem alten Mann, dessen Tage bemessen waren, etwas von seiner Kraft abzugeben. Er verließ sich mehr und mehr auf ihn – stärker, als er sich je auf Nell verlassen hatte. Aber wie konnte man sich auch auf eine Frau verlassen, die schwach war und selbst Hilfe brauchte?

Joss war anders. Joss war ein Mann. Er kam immer häufiger nach Easterhay, manchmal dreimal in der Woche. Nell ahnte, dass er sich diese Stunden von einem voll besetzten Zeitplan absparte, aber davon war nichts zu merken. Er kam und spielte mit ihrem Großvater in der holzgetäfelten Bibliothek Schach. Zwischendurch unterhielten sie sich – über die de Tressails und ihr Vermögen. Nein, es gab sicher kaum etwas, das Joss nicht über die Familie wusste. Und da kam Grania hereingeschneit und spielte sich als seine Vertraute auf. Das war einfach zu viel!

„So?“, fragte Nell eisig. „Du glaubst, er ist dagegen? Dann hat er eben Pech gehabt. Easterhay gehört mir, und was ich tue oder nicht tue, geht niemanden etwas an. Am wenigsten Joss Wycliffe“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Es klang schärfer als beabsichtigt, denn eigentlich war Nell nur auf sich selbst wütend. Warum kränkte es sie so, dass Joss mit Grania über Easterhay gesprochen hatte?

„Leider entspricht das nicht ganz der Wahrheit.“

Nell erkannte die ruhige, beherrschte Stimme sofort. Sie fuhr herum und griff sich gleichzeitig an den Hals, als müsse sie sich schützen.

„Joss … ich habe dich nicht kommen hören.“ Nell spürte, dass sie heftig errötete, während Grania in ihrer dunklen südländischen Schönheit förmlich aufblühte. Sie verließ das Fenster und lief quer durch das Zimmer auf Joss zu, um sich in seine Arme zu schmiegen.

Sie kam nicht ganz dazu, denn Joss fing sie auf und hielt sie mit ausgestreckten Armen von sich fern. Grania verzog schmollend das Gesicht, kokettierte gleichzeitig aber schamlos mit den Augen.

Warum bin ich nicht wie sie?, dachte Nell niedergeschlagen. Warum bin ich so fade und langweilig?

„Er ist es wirklich!“, rief Grania exaltiert. „Joss in höchsteigener Person. Ich muss unbedingt mit dir sprechen, hörst du? Was für ein Zufall, dass du wusstest, wo ich zu finden bin.“

„Ich wusste es nicht“, stellte Joss trocken fest. „Mein Besuch gilt Nell.“

„Oh.“ Grania fasste sich schnell. „Was kann es da Wichtiges geben? Außerdem wird die Herrin von Easterhay unten am Büfett erwartet, sie muss die Hochzeitsgäste unterhalten. Du solltest das Kleid der Braut sehen, Joss … einfach zum Fürchten! Ich wette, sie hat es selbst genäht.“

Grania hakte sich bei Joss ein und zog ihn aus dem Zimmer. Nell sah ihnen nach, ein schmerzlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Was für ein ideales Paar sie bildeten! Beide groß und dunkel. Joss in einer Lederjacke, die sich so weich wie Seide an seinen Körper schmiegte. Grania in einem aufregenden Modellkleid, das ein Vermögen gekostet haben musste, während sie selbst …

Nell sah an sich hinunter. Der Tweedrock und die Bluse waren von guter Qualität, aber sie trug sie bereits seit sechs Jahren, und beides war schon damals nicht nach modischen Gesichtspunkten ausgesucht worden. Wer hatte sie bloß bewogen, Beige zu wählen? Ihre Großtante natürlich. Tante Honoria hatte feste Vorstellungen von dem, was eine junge Frau tragen durfte.

Nell war damals achtzehn gewesen, hatte das College absolviert und bereitete sich auf ihren beruflichen Anfang in einem kleinen Londoner Verlag vor, der einem alten Freund ihres Großvaters gehörte. Natürlich hatte sie sich Tante Honorias Wünschen gefügt, und seitdem trug sie die Sachen, weil sie zu ihrem Leben dazugehörten – achtbar, aber langweilig wie sie selbst.

Nell hörte Grania lachen. Sie sah, wie sich Joss draußen auf dem halbdunklen Flur zu ihr hinunterbeugte, und fühlte einen schmerzhaften Stich. Warum hatte sie immer noch nicht gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen? Sich ausgerechnet in Joss Wycliffe zu verlieben – auf den ersten Blick, hoffnungslos, ohne Aussicht, je wieder von ihm loszukommen! Und doch war es so gewesen.

Nell konnte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit Joss erinnern. Sie war zur Haustür geeilt, um auf das laute Klopfen hin zu öffnen. Joss hatte draußen gestanden. Er stützte ihren Großvater, der während seines Spaziergangs hingefallen war und sich verletzt hatte.

Joss trug Shorts und T-Shirt, sein dunkles Haar war feucht und lockte sich an Stirn und Schläfen. Außerdem war er sonnengebräunt, so wie Grania, viel dunkler als sie, Nell, selbst.

Sein Anblick hatte sie völlig überwältigt. Sie war stehen geblieben und hatte ihn angestarrt, als sei ihr nie zuvor ein Mann begegnet. Wer weiß, welche dummen Fantasien ihr später in den Sinn gekommen wären, wenn Joss nicht mit eisiger Stimme gesagt hätte: „Ein peinlicher Aufzug, ich weiß. Normalerweise ziehe ich mich anders an, wenn ich einer Dame vorgestellt werde.“

Das Wort „Dame“ betonte er so spöttisch, dass Nell tief errötete. Sie erkannte die Verachtung in seinen Augen und wusste, dass er sie reizlos fand, dass sie als Frau nicht für ihn zählte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sich Nell dankbar an Tante Honorias Lehren erinnert, und sie tat es heute noch. Mochten es auch überholte Lehren sein, sie gaben ihr die Kraft, die für sie bestimmte Rolle zu spielen: die Rolle der unverheirateten, unattraktiven Tochter des Hauses.

2. KAPITEL

Am Dienstag war das Festzelt verschwunden. Tische und Stühle waren weggestellt worden, und der Rasen leuchtete wieder in makelloser Schönheit.

Nell saß in der Bibliothek und kontrollierte die Rechnungen. Sie tat es mit peinlicher Sorgfalt und lächelte über ihr Talent zur Buchhaltung, das so unverhofft zutage kam. Leider war auch dieses Talent nicht so stark ausgeprägt, dass sich eine berufliche Karriere darauf aufbauen ließ – jedenfalls keine, die genug einbrachte, um Easterhay zu finanzieren. Dafür brauchte man ein Vermögen, wie Joss es besaß.

Nell betrachtete die Zahlen, die sie mit ihrer zierlichen Handschrift geschrieben hatte. Sie mochte noch so viel einsparen, auf noch so viele Extras verzichten – das Geld reichte einfach nicht aus. Die Hochzeit am vergangenen Wochenende war die vorletzte der Saison gewesen. Bisher hatte sie alle Angestellten halten können, aber sobald der Winter da war …

Die Pension ihres Großvaters war mit seinem Tod erloschen. Mochte er Joss auch bewogen haben, für Granias Rente aufzukommen – sie selbst würde keinen Pfennig von ihm nehmen.

Draußen funkelte ihr Auto in der klaren Herbstsonne. Sie besaß es erst zwei Jahre und hätte sich ein so teures Modell nie gekauft. Es war ein Geburtstagsgeschenk von ihrem Großvater, und jedes Mal, wenn sie es ansah, berechnete sie insgeheim, was sie dafür bekommen würde.

Aber wie konnte sie das letzte Geschenk ihres Großvaters verkaufen? Er hatte seine Großzügigkeit damit entschuldigt, dass er selbst nicht länger fahren könne. Nell müsse in Zukunft die Rolle des Chauffeurs übernehmen, und keine Macht der Welt würde ihn in einen dieser neumodischen Käfige hineinbringen.

Also ein Daimler – für jemanden, der keinen Pfennig Geld besaß! Nell lehnte sich zurück. Sie saß in dem Ledersessel, in dem ihr Großvater immer gesessen hatte. Er war zu wuchtig für sie, und sie fühlte sich eher unbehaglich darin.

„Nun, Nell? Ist der Sessel des alten Herrn zu groß für dich? So wie die ganze Hinterlassenschaft?“

„Joss! Was machst du hier?“

Nell richtete sich hastig auf, es war ihr peinlich, so von ihm überrascht zu werden. Sie wusste zu genau, wie unvorteilhaft sie sich von den schönen, teuer zurechtgemachten Frauen unterschied, mit denen er sonst zusammen war, und hasste es, ihm unvorbereitet zu begegnen.

„Heute ist der neunundzwanzigste September. Hast du das vergessen?“

Quartalstag – natürlich. Ihr Großvater hatte sein Leben lang an diesem altmodischen Datum festgehalten, das den modernen Geschäftsbedingungen längst nicht mehr entsprach. Sowohl seine Frau wie seine Schwester hatten ihm die Haushaltsabrechnung viermal jährlich am Quartalstag vorgelegt, und sein Testament sah vor, dass Nell diese Gewohnheit Joss gegenüber beibehielt.

„Du kommst wegen der Abrechnung? Es liegt alles bereit.“

Sie stand auf, damit er sich hinsetzen und die aufgeschlagenen Bücher kontrollieren konnte. Dabei stolperte sie und stieß mit der Hüfte an die Schreibtischecke. Heftiger Schmerz durchzuckte sie, und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien.

Joss runzelte die Stirn, und in seinen goldbraunen Augen blitzte es auf, wie immer, wenn er sich über etwas ärgerte. Nell wunderte sich nicht darüber. Die Frauen, die er bevorzugte, bewegten sich bestimmt geschmeidig wie Tänzerinnen, und ihre Ungeschicklichkeit musste ihm peinlich sein.

„Du siehst aus, als hättest du einen Monat lang nicht geschlafen“, bemerkte er unfreundlich. „Außerdem bist du zu dünn. Was zum Teufel ist mit dir los?“

„Gar nichts.“ Nell reagierte empfindlicher, als ihr lieb war. „Ich wünschte nur, du würdest Grania nicht in dem Glauben lassen, dass ihre Rente von Großvater kommt. Das macht es für mich noch schwieriger.“

„Grania ist der Ansicht, dass Easterhay verkauft werden sollte, damit man den Erlös zwischen euch teilen kann“, antwortete Joss.

Nell griff nach der Schreibtischkante, um sich daran festzuhalten. „Das weiß ich.“

„Dein Großvater war anderer Ansicht. Da Grania keine geborene de Tressail ist, wollte er verhindern, dass sie etwas von dem Familienbesitz erbt. Ein Gericht würde wahrscheinlich anders darüber urteilen.“

Nell stützte sich schwerer auf den Schreibtisch. Gab Joss ihr zu verstehen, dass er Granias Meinung teilte und das Testament ihres Großvaters für ungerecht hielt?

„Großvater wollte Easterhay unter allen Umständen als Familienbesitz erhalten.“

Joss nickte. „Allerdings. Er war von diesem Gedanken geradezu besessen. Wenn es um die Fortsetzung der de Tressails und um Easterhay als künftigen Wohnsitz der Familie ging, stellte er alles andere hintan. Sogar dich, Nell.“

„Ich weiß.“ Sie wich seinem Blick aus. „Er ist nie darüber hinweggekommen, dass Daddy keinen Sohn hatte.“

„Weißt du, welche Pläne dein Großvater gehabt hätte, wenn er am Leben geblieben wäre?“

Nell sah rasch auf. „Was für Pläne?“

„Pläne für die Fortsetzung der Familie.“ Joss lächelte spöttisch. „Pläne für deine Heirat und die Geburt eines Urenkels, der seinen Namen und Titel erben würde.“

„Großvater hatte keine solchen Pläne.“ Nell schüttelte entschieden den Kopf. „Die Zeiten, in denen derartige Hochzeiten arrangiert wurden, sind längst vorbei.“

„Meinst du?“ Joss ließ sie nicht aus den Augen. „Dein Großvater war ein verzweifelter Mann, und verzweifelte Männer tun merkwürdige Dinge. Ein halbes Jahr vor seinem Tod bat mich dein Großvater, dich zu heiraten.“

Nell war blass geworden, ihr entgeisterter Blick verriet, wie wenig sie auf diese Wendung vorbereitet war.

„Überrascht es dich, dass dein Großvater eine solche Heirat in Betracht zog?“, höhnte Joss. „Mit einem Emporkömmling ohne gesellschaftlichen Hintergrund? Ohne eine ehrenwerte Familiengeschichte, die über viele Generationen bis weit in die Vergangenheit reicht? Dann vergisst du eins, Nell. Ich habe einen hohen Trumpf in der Hand. Ich bin reich – sehr reich sogar. Ich habe das Geld, das Easterhay so verzweifelt braucht.“

Nell hörte nicht mehr zu. Sie wandte sich ab, schlug beide Hände vor ihr Gesicht und flüsterte: „Wie konnte er das tun? Oh, wie konnte er bloß?“

Joss hatte die leisen Worte gehört. „Die Frage ist leicht zu beantworten“, meinte er. „Für deinen Großvater wäre es eine nahezu ideale Lösung aller Familienprobleme gewesen.“

Nell schämte sich entsetzlich. Wie hatte ihr Großvater sie so verraten und kränken können? Es war ja deutlich zu merken, dass Joss den Vorschlag lächerlich und unwürdig fand. Sie wäre die Letzte gewesen, die er freiwillig gebeten hätte, seine Frau zu werden. Er brauchte das nur noch auszusprechen, und sein Triumph war vollkommen.

„Die Vorstellung ist grotesk“, sagte sie erregt, um sich wenigstens diese Demütigung zu ersparen. „Der arme Großvater. Er war zum Schluss so krank, dass er kaum noch …“

„Er war so klar bei Verstand wie du und ich“, unterbrach Joss sie. „Das weißt du genau. Was ist los, Nell? Besinnst du dich anders, wo es gilt, das äußerste Opfer zu bringen?“ Er lachte spöttisch. „Die Rolle der stolzen Schlossherrin, die verzweifelt um den Familienbesitz kämpft, barg kein Risiko, aber jetzt, wo sich dir eine Lösung bietet, schreckst du davor zurück. Der Grund ist leicht zu erraten. Wenn du frei wählen könntest, würdest du dich bestimmt nicht für mich entscheiden – viel eher für einen Mann wie David Williams. Leider besitzt er noch weniger Geld als du, und was er mit seiner ländlichen Anwaltspraxis verdient, würde niemals ausreichen, Easterhay zu erhalten. Entscheide dich also, Nell, du hast nur zwei Möglichkeiten. Entweder du heiratest mich, oder du musst verkaufen.“

„Dich heiraten?“ Nell sah Joss fassungslos an. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Warum nicht?“

„Weil es keinen Grund gibt, mich zu heiraten. Was würdest du dadurch gewinnen?“ Sie hatte die Augen wieder gesenkt und bemerkte nicht, wie seltsam Joss sie ansah.

Er beherrschte sich schnell und fragte scheinheilig: „Bist du nicht zu bescheiden, Nell? Es liegt auf der Hand, was ich gewinne. Ich bin ein Emporkömmling, der es zu Geld gebracht hat, und habe wie alle Emporkömmlinge den Wunsch, meinen geschäftlichen Erfolg mit gesellschaftlicher Anerkennung zu krönen. Nicht nur für mich selbst, sondern auch für meine Kinder – vor allem die Söhne.“ Er machte eine Pause und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Besonders für den ältesten Sohn.“

„Ich verstehe dich nicht, Joss.“

„Dann muss ich deutlicher werden. Eine Heirat mit dir würde mir verschlossene Türen öffnen. Unser Sohn würde den Titel deines Großvaters erben. Dir muss klar sein, was das bedeutet, Nell. Männer, die von ganz unten kommen, haben sich schon immer bemüht, von der Oberschicht anerkannt zu werden.“

Nell verstand Joss nicht. Sie kannte ihn jetzt drei Jahre, und in dieser Zeit hatte er nicht ein einziges Mal erkennen lassen, dass er ihren Großvater um seine gesellschaftliche Stellung beneidete. Warum waren diese Dinge plötzlich so wichtig für ihn, dass er sie sogar heiraten wollte?

Freilich lag die eigentliche Schuld bei ihrem Großvater. Er hatte Joss auf die Idee gebracht, und der führte sie jetzt nur aus. Oder erlaubte er sich einen Scherz mit ihr? Wollte er auf ihre Kosten lachen? Nell war zu realistisch, um an diese Möglichkeit zu glauben.

„Ich kann dich nicht heiraten“, sagte sie und versuchte zu verbergen, was sie wirklich empfand. Unser Sohn … unser Sohn … die Worte gingen ihr im Kopf herum, bis sie nichts anderes mehr hörte. Es waren nur zwei kleine Worte, aber sie riefen so viele unterschiedliche Gefühle in ihr wach, dass sie kaum damit fertig wurde. Ein Kind von dem Mann zu haben, den sie mehr als alles auf der Welt liebte! Mit ihm in diesem Schloss zu leben! Seine Frau zu sein und … nein, sie durfte sich nicht mit falschen Hoffnungen betrügen.

Joss redete nicht von einer Ehe, er redete von einem kühl kalkulierten Geschäft. Von einer Verbindung ohne Gefühle, ohne Liebe, bei der es nur um verschiedene Vorteile ging – sein Geld und ihren Titel. Nell wusste, dass solche Ehen auch noch im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert geschlossen wurden, aber sie selbst würde sich nicht darauf einlassen. Niemals.

„Dein Großvater hat sich unsere Verbindung gewünscht“, erinnerte Joss sie noch einmal. „Hätte er sie erlebt, wäre er alle Sorgen mit einem Schlag los gewesen.“

Wie konnte Joss ihr Gewissen so belasten? Er wusste, wie sie mit ihrem Großvater gelitten hatte, weil er keinen Ausweg für die Zukunft sah. Und doch hatte er Joss diesen absurden Vorschlag gemacht, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Eine nahezu ideale Lösung aller Familienprobleme – wahrscheinlich hatte er es wirklich so gesehen.

„Ich kann nicht“, flüsterte sie.

„Nein? Dann lässt du mir leider keine Wahl. Als Granias Vormund muss ich ihre Forderung nach der Hälfte des großväterlichen Vermögens unterstützen – wenn nötig, vor Gericht. Falls wir allerdings verheiratet wären … ich bin sicher, dann ließe sich eine Lösung finden. Über eine Abfindung in der Höhe, die ihr vorschwebt, könnte man …“

Nell traute ihren Ohren nicht. „Das ist Erpressung!“

„Heute nennt man es Geschäftstüchtigkeit“, lachte Joss, „die Kunst, seinen Konkurrenten immer eine Länge voraus zu sein.“ Er schob den linken Jackettärmel zurück und sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss heute Abend in London sein und werde erst in den frühen Morgenstunden zurückkommen. Erwarte mich im Verlauf des Vormittags, Nell. Dann hole ich mir deine Antwort auf meinen Heiratsantrag.“

Joss kennt keine Gnade, dachte Nell eine halbe Stunde später. Sie saß neben dem kalten Kamin, die Jagdhündin lag zu ihren Füßen.

Joss hatte Heicker ins Haus gebracht, als Geburtstagsgeschenk für Sir Hugo. Sie hatte sich hingebungsvoll an ihn angeschlossen und nach seinem Tod um ihn getrauert. Nell ging weiter täglich mit ihr spazieren und gab ihr auch persönlich Futter, aber Heicker hatte bisher keine besondere Zuneigung zu ihr entwickelt. Sie war und blieb auf Männer fixiert, und wenn Joss zu Besuch kam, lag sie bei ihm und nicht bei Nell.

Es war, als hätte die Hündin Nells Verzweiflung gespürt, denn sie schmiegte sich an sie, als könnte sie ihr Trost geben. Nell war dankbar für ihre wärmende Nähe. Sie legte ihr beide Arme um den Hals und wiegte sie sanft hin und her. Dabei grübelte sie über Joss’ Antrag nach.

Sie konnte es noch immer nicht ganz fassen. Joss wollte sie heiraten, aber er hatte gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie sich über seine Beweggründe keine Illusionen machte.

Es ging ihm nicht um sie, er wollte nur ihr Heim, ihren Namen und den Titel. Das hatte er ihr klargemacht, ohne sich mit einem Wort zu entschuldigen. Warum sollte er sich auch entschuldigen? Für Joss Wycliffe hatte alles seinen Preis, und der Preis für den Grafentitel, den sein ältester Sohn tragen sollte, war die Heirat mit der Enkelin Sir Hugos. Die Rechnung ging glatt auf.

Warum konnte sie sich bei niemandem Rat holen? Liz, ihre vertrauteste Freundin aus der Schulzeit, war inzwischen mit einem Arzt verheiratet und lebte in der Nähe von Cambridge. Liz hatte alle Hände voll zu tun, um ihre Familie zu versorgen, denn neben ihrer kleinen Tochter waren noch die beiden älteren Kinder aus Roberts erster Ehe da. Es war Liz nicht leichtgefallen, sich für einen Witwer mit zwei Kindern zu entscheiden, und sie hatte mehrmals stundenlang mit Nell telefoniert, ehe ihr Entschluss feststand.

Inzwischen bildeten alle fünf eine glückliche Familie, und Nell gönnte ihnen ihr Glück. Sie hatte den Kontakt zu Liz nie aufgegeben und ihr weiter alles anvertraut. Nur das Geheimnis ihrer Liebe zu Joss hatte sie für sich behalten – vielleicht weil sie hoffte, es durch Schweigen aus der Welt zu schaffen.

Natürlich war ihr das nicht gelungen, und heute hatte Joss die alten Wunden wieder aufgerissen. Wie hart und grausam er gewesen war, ohne auf ihre Empfindungen Rücksicht zu nehmen. Ohne zu merken, was er ihr antat.

Wie konnte sie ihn jemals heiraten? Wie konnte sie es nicht tun? Sie hatte ihrem Großvater versprochen, jedes Opfer zu bringen, um Easterhay zu erhalten. Musste sie sich nicht selbst hassen, wenn sie dieses Versprechen brach?

Dabei gab es genug Gründe, die sie entlastet hätten. Ihr Großvater war ein alter Mann gewesen, dessen Anschauungen aus einer anderen Zeit stammten. Niemand konnte ihr Vorwürfe machen, wenn sie das Versprechen ignorierte und Joss abwies – zumal sie seine Beweggründe kannte.

Es hätte eigentlich leicht sein müssen, Nein zu sagen, aber Nell konnte sich nicht dazu durchringen. War es ihr Gewissen? War es Stolz? War es die trotzige Liebe zu dem alten Wohnsitz ihrer Familie? Sie wusste es nicht. Vermutlich war es von allem etwas. Oder sie hatte doch mehr als das blonde Haar von ihrer Vorfahrin geerbt und war im Begriff, alles zu wagen und sich dem Schicksal blind in die Arme zu werfen.

Die Morgenzeitungen brachten den Beweis dafür, dass Joss fest entschlossen war, nichts dem Zufall zu überlassen. Die „Times“ veröffentlichte auf der Gesellschaftsseite ein Bild von ihm mit der Unterschrift:

„Multimillionär Joss Wycliffe gibt bekannt, dass er demnächst heiraten wird. Die Braut ist nicht die Schauspielerin Naomi Charters, in deren Begleitung Mr. Joss Wycliffe in letzter Zeit häufig gesehen wurde, sondern die Enkelin eines alten Freundes, Lady Eleanor de Tressail. Die Trauung soll innerhalb der nächsten Monate stattfinden.“

Nell setzte sich ohne Appetit an den Frühstückstisch. Wie konnte Joss es wagen, ihre Zustimmung einfach vorauszusetzen? Er ließ ihr nichts – nicht mal die Selbstachtung.

Sie stellte die Schale mit den Frühstücksflocken beiseite und schenkte sich Kaffee ein. Dabei zitterte ihr die Hand. Neben ihrem Teller lag die Morgenpost, die meisten Briefe sahen unangenehm offiziell aus. Sie öffnete den ersten und fühlte, wie ihr Mut weiter sank. Das Finanzamt erinnerte sie daran, dass die Erbschaftssteuern noch ausstanden.

Die Summe kam Nell astronomisch vor. Sie sah auf die gegenüberliegende Wand des Speisezimmers, wo ein hellerer rechteckiger Fleck auf der Holztäfelung zu erkennen war. Der Gainsborough, der einmal an der Stelle gehangen hatte, war schon vor Jahren, kurz nach dem Tod ihrer Großtante, auf eine Auktion geschickt worden. Seitdem gab es nichts mehr zu verkaufen.

Außer mir selbst, dachte Nell, und dabei lief ihr ein Schauer über den Rücken. Warum machte Joss es ihr nicht etwas leichter? Warum tat er nicht wenigstens so, als empfände er etwas für sie? Sie wussten ja beide, dass es nicht stimmte, aber der Anschein …

Das Telefon klingelte. Nell wusste, dass es Joss war, noch ehe sie den Hörer abgenommen hatte.

„Ich komme um zwölf Uhr zu dir“, teilt er ihr kurz und bündig mit. „Um eins erwarte ich David Williams. Es sind verschiedene rechtliche Fragen zu klären, und da er dein Anwalt ist …“

Warum ließ er ihr nicht mehr Zeit? Warum drängte er sie in eine Richtung, für die sie sich noch nicht entschieden hatte? Sie wollte protestieren, aber ehe es dazu kam, hatte Joss aufgelegt.

Nell war der Kaffeedurst vergangen. Sie rief nach Heicker, die gehorsam kam und sich bei Fuß hielt, wie Joss es ihr beigebracht hatte.

Draußen war ein typischer frischer Septembertag, an dem Frost und der Geruch von verbranntem Holz in der Luft hingen. Die Sonne stand am blassblauen Himmel. Ihre Strahlen durchbrachen das Laub der Bäume, das sich bereits gelb färbte, und malten helle Flecken auf den Boden.

Nell vermied die Gewächshäuser und die Ställe, in denen früher die Jagdpferde ihres Großvaters gestanden hatten. Sie ritt selbst gern, aber die Fuchsjagden hatten ihr nie gefallen, trotz des bunten Treibens, das dann herrschte. Sie war zu empfindsam und wusste zu genau, worauf die Hunde abgerichtet waren. Als kleines Mädchen hatte sie immer Mitleid mit dem Fuchs gehabt und erleichtert aufgeatmet, wenn der Tag zu Ende ging, ohne dass er erwischt worden war.

Nell war kein Snob, obwohl Joss sie immer wieder mit der Behauptung ärgerte. Anscheinend merkte er nicht, dass sie ihn wegen seines beruflichen Erfolgs bewunderte. Vielleicht war es ein Fehler, ihn zu heiraten, aber nicht, weil er in den Slums von Glasgow und sie in einem privaten Entbindungsheim zur Welt gekommen war.

Zwölf Uhr, hatte er gesagt. Und David würde eine Stunde später kommen. Also war Joss entschlossen, ihre Zustimmung zu erzwingen. Sogar den Familienanwalt hatte er in seine Pläne eingeschaltet.

Armer David! Wie wenig verstand er die Wycliffes dieser Welt. Vermutlich hatte er sogar Angst vor Joss und verbarg das hinter steifer Förmlichkeit, die besser zu einem Fünfzigjährigen als zu einem Sechsundzwanzigjährigen gepasst hätte.

Nell empfing Joss nicht in der Bibliothek, obwohl ihr dieser Raum im ganzen Haus am vertrautesten war. Aus irgendeinem Grund – sie wusste selbst nicht genau, warum – wählte sie für die Begegnung ein kleines, nach Norden gelegenes Wohnzimmer, das früher den Damen des Hauses vorbehalten gewesen war. Die feine Staubschicht auf dem französischen Sekretär bewies, wie lange niemand das Zimmer benutzt hatte.

Nell strich gedankenverloren über die Holzplatte und bewunderte die feine Einlegearbeit. Der Sekretär stammte aus der Mitgift der zweiten französischen Braut, die in die Familie gekommen war – Louise de Roget. Sie war ein scheues vierzehnjähriges Mädchen gewesen und hatte die Geburt ihres ersten Kindes nicht überlebt. Ihr Porträt hing neben dem ihres Ehemannes in der langen Ahnengalerie.

Die Luft in dem kleinen Salon war kühl und etwas stickig. Nell fröstelte in ihrer dünnen Bluse, und als sie Joss’ Wagen die Auffahrt heraufkommen sah, legte sie wie schützend die Arme um sich.

Joss kam nicht in seinem Rolls-Royce, sondern in einem Aston. Die weinrote Lackierung passt gut zu seinem dunklen Typ, dachte Nell. Sie beobachtete vom Fenster, wie er mit seinen langen Beinen ausstieg, sich reckte und die Tür zuschlug.

Jede seiner Bewegungen verriet instinktive Sicherheit. Ohne einen Moment zu zögern, ging er auf die Eingangstür zu. Aufrecht, mit stolz erhobenem Kopf, nicht wie andere Menschen, die beim Gehen auf den Boden blicken. Ein Fremder hätte ihn nicht für einen Besucher, sondern für den Herrn von Easterhay gehalten. Er gehört hierher, dachte Nell, mehr als ich selbst.

Sie verließ das Fenster und wartete, dass Johnson Joss förmlich anmelden würde. Johnson war der Offiziersbursche ihres Großvaters und später sein Kammerdiener gewesen. Sir Hugo hatte ihm eins der zum Schloss gehörenden Häuschen hinterlassen, aber Johnson hielt nichts vom beschaulichen Altwerden. Er hatte Nell gebeten, seine Funktionen im Schloss ohne Gehalt weiter wahrnehmen zu dürfen, und achtete darauf, dass es so steif und formell zuging wie zu Lebzeiten seines Herrn.

An der einen Wand des Salons stand ein kleines Tischchen mit vergoldeten Blumen und einem Spiegel darüber. Tisch und Rahmen waren so gestrichen, dass sie mit der ausgeblichenen blauen Seidentapete harmonierten.

Nell trat vor den Spiegel und betrachtete sich in dem unbarmherzigen fahlen Licht, das die Nordzimmer erfüllte. Sie war nicht direkt hässlich, aber keineswegs so atemberaubend schön wie die Frauen, mit denen Joss fotografiert worden war. Sie hatte nur feine, regelmäßige Züge, überraschend dunkle Wimpern über den klaren grauen Augen und eine zarte, fast durchsichtig schimmernde Haut, die nur Engländerinnen haben und die unter einem blassen, regenverwaschenen Himmel am besten zur Geltung kommt.

Solange Nell denken konnte, hatte sie ihr Haar geflochten getragen. Die zu Schnecken aufgerollten, dicht anliegenden Zöpfe betonten die feine Struktur ihres Gesichts, aber davon merkte sie nichts. Sie sah nur, dass sie fade und nichtssagend wirkte, wie ein blasser Abklatsch ihrer lebensprühenden Stiefschwester.

Als Teenager hatte Nell mit Make-up experimentiert und versucht, die Vorbilder aus Kosmetikmagazinen zu kopieren. Das Ergebnis war katastrophal gewesen. Alle Farben wirkten bei ihr zu grell, und heute benutzte sie kaum mehr als einen zartrosa Lippenstift.

Während eines Londoner Einkaufsbummels hatte Liz versucht, Nell zum Besuch eines Kosmetiksalons zu überreden. Die Zeit der grellen Effekte sei vorbei, hatte sie gemeint, und die blasseren Farben, die heute bevorzugt würden, seien für Nells hellen Typ genau das Richtige. Nell hatte geschwankt, war am Ende aber doch nicht gegangen. Weihnachten stand vor der Tür, und da Grania ihren Besuch angekündigt hatte, sollte es nicht so aussehen, als versuche sie, mit ihrer Stiefschwester zu konkurrieren und Joss’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Die Tür ging auf, und Joss kam herein. Nell trat hastig vom Spiegel zurück.

„Wo ist Johnson?“, fragte sie verwirrt, denn sie hatte noch auf eine kurze Atempause gehofft.

Joss betrachtete sie wie ein Jäger, dem die Beute sicher ist. „Ich gehöre bald zur Familie und habe Johnson daher gesagt, dass Förmlichkeiten überflüssig sind.“

Nell tastete nach der Tischkante. „Du hast Johnson gesagt, dass wir heiraten?“

„Hast du etwas dagegen? Warum, Nell? Wir heiraten doch, oder nicht?“

Sie senkte den Kopf und fragte traurig: „Habe ich denn eine andere Wahl?“

„Nein, aber ich habe trotzdem nichts zu Johnson gesagt. Ich bin nicht ganz ohne Feingefühl, Nell … einige Ecken und Kanten haben sich im Lauf der Jahre abgeschliffen. Ich wusste, du würdest den Angestellten die frohe Botschaft gern selbst überbringen.“

Bei den Worten „frohe Botschaft“ lächelte er spöttisch, und trotz aller guten Vorsätze errötete Nell. Sie hatte keinen Grund dazu – denn Joss war der Erfinder dieses Heiratsplans. Er kam als Bittsteller, so schwer es ihr auch fiel, ihn sich in dieser Rolle vorzustellen. Wenn sie ihm ihre Antwort gab …

Weiter kam Nell in ihren Überlegungen nicht. Sie begriff plötzlich, dass sie die Antwort schon gegeben hatte.

Joss schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte: „Ganz recht, Nell, es ist zu spät. Du hast meinen Antrag bereits angenommen. Außerdem …“

Er unterbrach sich, denn auf ein leises Klopfen hin wurde die Tür geöffnet, und Mrs. Booth erschien mit einem Kaffeetablett.

„Vielen Dank, Mrs. Booth.“ Joss nahm ihr das Tablett ab und lächelte dabei so charmant, dass die rundliche Haushälterin errötete. Nell hatte er noch nie so angelächelt.

„Ich habe keinen Kaffee bestellt“, erklärte sie frostig, sobald Mrs. Booth gegangen war. Es irritierte sie, dass sich Joss bereits wie der Hausherr benahm und darin von den Angestellten unterstützt wurde.

„Nein? Dann ist es umso besser, dass ich es getan habe. Als Johnson mir mitteilte, wo du auf mich wartest, dachte ich, wir könnten etwas Heißes gebrauchen. Dieser Raum ist so kalt, wie ich ihn in Erinnerung habe. Kein Wunder, dass die französische Märtyrerin ihn für sich wählte.“ Er lachte, als er Nells überraschtes Gesicht sah. „Hast du wirklich geglaubt, ich wüsste nichts über deine Familie? Dein Großvater konnte mir nie genug erzählen. Es stimmt doch, nicht wahr? Dieser Salon wurde von Louise de Roget eingerichtet.“

„Allerdings“, bestätigte Nell.

„Das arme, unglückliche Kind. Ich vermute, sie verbrachte mehr Zeit auf dem Betschemel als im Bett ihres Gatten. Das wird bei uns anders, Nell.“

Nell bemühte sich, ihr Unbehagen zu verbergen. „Ich weiß, dass du dir einen Sohn wünschst“, antwortete sie gefasst.

„Nicht nur einen“, gab er ungerührt zu, „und nicht nur Söhne. Ich sehne mich nach einer Familie, Nell.“

„Und wenn ich das nicht tue?“

„Oh, das tust du.“ Nell wollte sich abwenden, aber Joss nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass sie stillhalten musste. „Du bist die geborene Mutter, und falls du dir David Williams als Vater deiner Kinder erträumt hast, vergiss ihn lieber.“

„David? Wer sagt …“

„Dein Großvater äußerte einmal die Vermutung, du seist in David verliebt. Mach dir keine Illusionen, Nell. Er könnte vielleicht dich, aber niemals dieses Schloss unterhalten.“

„Diese Bemerkung war überflüssig und äußerst beleidigend“, fuhr Nell auf.

Joss lachte nur. „Gib dir keine Mühe. Unsere Heirat löst alle Probleme. Keine kalten, unbenutzten Räume mehr, kein Knausern und Sparen, keine schlaflosen Nächte …“

Wie schlecht er sie doch kannte! Sie würde weiter wach liegen und über andere Dinge nachgrübeln – darüber, wie sie mit einem Mann zusammenleben sollte, dem sie ihre Liebe nicht zeigen durfte.

„Noch etwas.“ Joss ließ Nells Kinn los, und sie wich sofort zurück. „Du wirst neue Kleider brauchen. Ich lasse eine Kreditkarte auf deinen Namen ausstellen, dann gehen die Rechnungen direkt an mich. Fiona, meine Sekretärin, wird dir behilflich sein. Vermutlich musst du einige Tage in London bleiben. Ich werde sie bitten, etwas für dich zu arrangieren.“

Nell wurde wütend. Sie kannte den Dorfklatsch über Joss und seine elegante Sekretärin, die täglich von Chester in sein Haus kam. Von dieser Frau sollte sie sich gängeln lassen, als hätte sie nicht genug Geschmack, ihre Garderobe allein auszusuchen? Doch am meisten störte Nell der verächtliche Blick, mit dem Joss sie bei seinen Worten bedacht hatte. Deutlicher konnte er ihr nicht zu verstehen geben, wie unattraktiv er sie fand.

„Vielen Dank“, sagte sie eisig, „ich brauche keine neuen Kleider. Was ich besitze, reicht völlig aus und passt zu mir.“

„Wogegen sträubst du dich?“, fragte Joss überrascht. „Es kann dir unmöglich Spaß machen, wie eine pensionierte Schullehrerin herumzulaufen. Tweedröcke, Twinsets – wach auf, Nell! Nicht mal die weiblichen Mitglieder der königlichen Familie ziehen sich noch so an.“

Er schämt sich meiner, dachte Nell, während sie ihm zuhörte. Er denkt an die Frauen, mit denen er bisher zusammen war, und fürchtet, dass ich daneben schlecht abschneide. Die Leute könnten auf den ersten Blick merken, warum er mich geheiratet hat, und das würde ihn bloßstellen.

„Es tut mir leid, dass dir mein Aussehen missfällt“, erklärte sie, als der erste Zorn abgeklungen war. „Zu schade, dass du mich nicht mit einem Zauberstab berühren und in dein Wunschbild verwandeln kannst.“

Joss hob abwehrend die Hand. „Warum regst du dich so auf? Ich hätte dir mehr gesunden Menschenverstand zugetraut. Dein Großvater hat mir erzählt, wie reich und prächtig die Bräute ausgestattet waren, die in die Familie kamen – sogar von der Müllerstochter, die die Millionen ihres Vaters mitbrachte. Ich glaube, das war kurz nach der Schlacht bei Waterloo. Schade, dass ihr Sohn den ganzen Reichtum verspielte.“

Nell betrachtete ihn mit tränenfeuchten Augen. Sie suchte nach einem Zeichen der Milde und Nachgiebigkeit in seinem Gesicht, fand aber keins. Sie bedeutete ihm nichts. Sie war nur ein Mittel zum Zweck und würde eher sterben als ihm verraten, wie sehr sie ihn liebte.

Joss sah auf die Uhr. „Ich muss fort, sobald wir mit David gesprochen haben. Lass uns alles andere also vorher erledigen. Da sind die Hausangestellten – ihnen gegenüber hast du freie Hand. Ich möchte nur, dass ein Quartier für meinen Chauffeur vorgesehen wird und dass für Fiona immer ein Zimmer bereitsteht. Du weißt, ich arbeite gern von zu Hause aus. Für meinen Computer wird vermutlich nur im Keller Platz sein, aber das sollen die Fachleute entscheiden. Ich schicke jemanden vorbei, die Anlage soll nach Möglichkeit stehen, ehe wir heiraten. Wie lange wirst du für die Vorbereitungen brauchen, Nell? Einen Monat? Das dürfte David genügen, um alle Vereinbarungen …“

Joss bemerkte Nells versteinerten Gesichtsausdruck und lachte. „Wir wollen doch, dass alles seine Ordnung hat, oder? Ich werde zwei Konten auf deinen Namen eröffnen, eins für dich persönlich und eins für den Unterhalt von Easterhay. Du wirst während der nächsten Wochen viel zu tun haben – mit Innenarchitekten, Handwerkern und dergleichen. Ich möchte das ganze Schloss überholen lassen.“

„Das ganze?“, hauchte Nell.

Joss nickte. „Das ganze. Und nun zur Hochzeit selbst. Das Frühstück findet natürlich hier statt. Ich gebe dir eine Liste der Leute, die ich einladen möchte. Fiona wird dir mit allem helfen.“

„Wäre eine Feier in kleinem Rahmen …“

„Als ob wir etwas zu verbergen hätten? Das kommt nicht infrage.“

Draußen fuhr David Williams Auto vor, und diesmal ließ es sich Johnson nicht nehmen, den neuen Besucher anzumelden.

„Nell!“, rief David beunruhigt. Er wollte auf sie zueilen, aber Joss schnitt ihm den Weg ab.

„Sie können mir gratulieren, David“, erklärte er. „Nell hat meinen Antrag angenommen.“

David brachte im ersten Moment kein Wort heraus. „Ist das wahr?“, fragte er Nell schließlich.

„Ja“, antwortete sie leise.

Sie bemerkte, dass Joss sie und David beobachtete und dann ungeduldig auf seine Uhr sah. Es war eine flache Golduhr mit schmalem Armband. Merkwürdig, dass ein technikbesessener Mann wie Joss so eine Uhr trägt, dachte sie. Traditionell und teuer, aber unauffällig. Keine Modeuhr von irgendeinem Topdesigner, die man auf den ersten Blick erkennt.

„Wir haben viel zu besprechen, David.“ Joss legte seine Hand auf Nells Arm. Sie zuckte zusammen und wollte ihm ausweichen, aber er hielt sie fest und drückte stärker zu, als wollte er sie warnen. Nell zitterte, als er sie endlich losließ. Sie war gegen seine Berührung einfach machtlos.

David hörte Joss’ Ausführungen zu und machte ein immer fassungsloseres Gesicht. Auch Nell traute ihren Ohren nicht, als sie hörte, welche Summe Joss ihr als Eheversorgung aussetzte, wie er es kurzerhand nannte.

„Darf Nell das Geld behalten, falls die Ehe geschieden wird?“, fragte David förmlich.

Joss blitzte ihn zornig an. „Erst der Tod wird unsere Ehe scheiden.“

Nell wusste, was er damit meinte, und David wusste es anscheinend auch. Er wartete, bis Joss ihm die verschiedenen Vertragsentwürfe diktiert hatte, und rief dann aufgeregt: „Weißt du auch genau, was du tust, Nell? Willst du diesen Mann wirklich heiraten?“

„Ja“, bestätigte sie ruhig. Es gab kein Zurück mehr, sie hatte sich mit Joss verbunden.

David sah sie unglücklich an, dann richtete sich sein Zorn gegen Joss. Er wollte etwas sagen, aber Joss machte ein so drohendes Gesicht, dass er zögerte.

„Sie scheinen überrascht zu sein, David.“

„Nicht darüber, dass Sie Nell heiraten wollen“, sagte David gepresst und errötete bei seinen Worten. „Aber warum will Nell Sie heiraten? Sie gewinnen durch die Verbindung, aber Nell? Was bekommt Nell?“

Joss antwortete nicht gleich. Er sah Nell eine Weile durchdringend an und sagte dann leise: „Sie bekommt mich.“

Bei Nell setzte fast der Herzschlag aus. Joss kannte ihr Geheimnis! Er hatte nur mit ihr gespielt, sie grausam gequält und dabei die ganze Zeit gewusst, dass sie ihm nicht widerstehen konnte – mochte sie dabei auch ihren Stolz und ihre Selbstachtung verlieren.

„Und natürlich mein Geld“, fuhr er fort. Dabei klang seine Stimme so kalt und zynisch, dass Nell erleichtert aufatmete. Nein, er ahnte nichts. Es war alles nur ein Geschäft.

David verabschiedete sich kurz nach zwei Uhr. Nell sah vom Fenster aus, wie er zu seinem Wagen ging, langsam und niedergeschlagen. Plötzlich blieb er stehen und sah zu ihr hinauf.

Nell hatte nicht bemerkt, wie dicht Joss hinter ihr stand. Plötzlich fühlte sie seine beiden Hände auf ihren Schultern. Mit der einen hielt er sie fest, mit der anderen streichelte er ihren Hals, als sei er wirklich ihr Liebhaber. Als er sich tiefer beugte und mit den Lippen die sanfte Wölbung unter der Kehle suchte, schrie sie leise auf.

Niemand hatte sie je so geküsst und dabei absichtlich die empfindlichen Stellen berührt, um ihren Körper in erregende Spannung zu versetzen. Benommen sah sie, dass David mit bleichem Gesicht zu ihr heraufstarrte und dann in sein Auto stieg. Joss drückte sie noch immer an sich. Sie wollte sich losmachen, aber er umschloss ihren Hals mit eisernem Griff. Erst als David abgefahren war, ließ er sie los.

„Warum hast du das getan?“, fragte Nell, während ihr das Blut ins Gesicht schoss.

„Weil wir verlobt sind“, antwortete Joss ungerührt.

„Das ist nicht der Grund. Du hast es getan, weil David zusah.“

„Allerdings“, gestand er. „David soll wissen, dass du meine und nicht seine Frau wirst. Was für eine zarte Haut du hast, Nell.“ Er hob die Hand, und Nell wich erschrocken zurück. Dann merkte sie, dass er nur nach der Uhr sehen wollte, und errötete von Neuem. „Übrigens dürfen wir nicht versäumen, formelle Anzeigen für die Presse aufzusetzen. Ich bitte Fiona, sich darum zu kümmern.“

Joss ging zur Tür. Ehe er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um. „Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Du brauchst ja auch einen Ring. Ich werde mich danach umsehen. Bis zum Wochenende habe ich geschäftlich in London zu tun, erwarte mich also nicht vor Freitag. Wenn wir Glück haben, ist bis dahin alles erledigt. Fiona wird sich bei dir melden.“

Nell blieb am Fenster stehen, bis der Aston verschwunden war. Über der Auffahrt hing eine feine Staubwolke.

3. KAPITEL

„Lady Eleanor? Hier spricht Fiona Howard, Joss’ persönliche Referentin.“

Die Stimme klang kühl und selbstsicher. Wie mochte die Frau sein, zu der sie gehörte? Auffällig und natürlich sehr elegant, Nell sah sie geradezu vor sich. Das Alter war schwieriger zu erkennen. Fiona sprach wie eine reife Frau, aber ein winziger Unterton ließ vermuten, dass sie mit Joss’ Heiratsabsichten keineswegs einverstanden war.

Seit die Verlobung bekannt geworden war, hatten Reporter, Anrufer und Besucher Nell nicht mehr in Ruhe gelassen. Wie eine gewaltige Flutwelle war es über sie hinweggegangen, und auch der heutige Tag bildete keine Ausnahme. Gerade hatte die Redaktion einer Wochenzeitschrift angefragt, ob sie die Verlobungsanzeige mit einem Foto veröffentlichen dürfe. Nell war schon wieder leicht gereizt.

„Joss hat mich gebeten, Sie nach London zu begleiten, um Ihre neue Garderobe zu besorgen“, fuhr Fiona fort. „Bitte geben Sie mir rechtzeitig Bescheid, damit ich meinen Schreibtisch aufräumen und Hotelzimmer reservieren kann. Vermutlich bekommen wir alles Nötige in Knightsbridge – bis auf das Brautkleid natürlich. Woran hatten Sie da gedacht? Ich nehme an, Sie bevorzugen etwas Schlichtes …“

Fionas Stimme klang immer noch höflich, aber der ironische Unterton entging Nell nicht und steigerte ihre Gereiztheit. Wie kam diese hochnäsige Person dazu, sie herumzukommandieren und wie eine Landpomeranze zu behandeln, auch wenn sie hundertmal eine war? Ihr ganzer, von Generationen vererbter Stolz begehrte dagegen auf, und sie sagte mit einem Ton, der ihrer Großtante Honoria Ehre gemacht hätte: „Ihre Hilfe wird nicht nötig sein, Fiona. Ich bin bereits mit einer guten Freundin verabredet, die mir mit Rat und Tat zur Seite steht.“

Kurzes Schweigen folgte, dann erklärte Fiona: „Wie Sie wünschen. Ich werde Joss Bescheid sagen.“

Daran zweifelte Nell nicht, und sie konnte sich auch denken, dass Fiona nicht gerade ein Loblied auf sie singen würde.

Nell erwartete Joss nicht vor dem späten Nachmittag. Er würde ihr den Verlobungsring übergeben und sich nach dem Stand der Vorbereitungen erkundigen, um die sie sich bisher kaum gekümmert hatte. Nur der Termin für die kirchliche Trauung stand fest – Samstag in vier Wochen. Der Pfarrer hatte sich über Nells Heiratsabsichten gewundert, war aber zu höflich gewesen, etwas dazu zu sagen, obwohl es im Dorf zurzeit kaum ein anderes Gesprächsthema gab.

Joss würde auch fragen, was sie wegen der Einkäufe in London beschlossen hatte. Nell dachte einen Augenblick nach, dann nahm sie den Telefonhörer wieder ab und wählte Liz’ Nummer.

„Nell … was für eine nette Überraschung! Ich habe eine Ewigkeit nichts von dir gehört. Geht es dir gut?“

„Ich bin verlobt“, erklärte Nell unvermittelt.

Liz zögerte einen Moment und fragte dann: „Mit dem reizenden Anwalt? O Nell, wie mich das freut!“

„Es ist nicht David.“

„Nicht David? Wer dann?“

„Joss Wycliffe.“

Diesmal dauerte die Pause länger. „Bist du auch sicher?“, fragte Liz endlich besorgt. „Ich meine …“

„Ich weiß, was du sagen willst“, unterbrach Nell sie, „aber glaub mir, ich bin sicher. Trotzdem brauche ich deine Hilfe – wegen einiger Kleider.“

Liz war vor ihrer Heirat geradezu modebesessen gewesen. Sie hatte einen ausgezeichneten Geschmack, sowohl für Schnitte wie für Farben, und würde Nell besser beraten als die missgünstige Fiona. Wenn sie schon neue Kleider kaufen musste, wollte sie es lieber mit Liz tun.

„Wie viele?“, fragte diese kurz und bündig.

„Eine völlig neue Garderobe und … ach ja, natürlich ein Brautkleid. Etwas ganz Tolles.“ Die letzten Worte rutschten Nell so heraus.

„Dafür weiß ich das richtige Geschäft, mit traumhaften Modellen, wie sie Aschenputtel zum Ball trug. Wann kannst du hier sein, Nell? Ich bringe Lucy zu meiner Schwiegermutter, dann können wir uns einige Tage ganz auf die Einkäufe konzentrieren. Wann findet die Hochzeit übrigens statt?“

„In vier Wochen. Wenn ich am nächsten Montag komme und so lange bleibe, bis wir …“

„Einige Tage müssten genügen.“ Liz war Feuer und Flamme. „Du bist so zierlich, dass bestimmt vieles geändert werden muss, aber das schaffen wir schon. Es gibt einige sehr gute Geschäfte in Cambridge. Wirst du Brautjungfern haben?“

„Nur Grania, nehme ich an, und die hat bestimmt eigene Vorstellungen von ihrem Kleid.“

„Darauf kannst du wetten“, bestätigte Liz trocken, „aber die Wahl der Farbe steht der Braut zu. Was hältst du von Rosa? Diesem knalligen Bonbonrosa, das Granias Haut gelb macht und sich fürchterlich mit ihrem Haar beißt? Ich sehe sie förmlich vor mir.“

Nell musste gegen ihren Willen lachen. Liz hatte sie schon immer aufgeheitert, ihr etwas boshafter Humor steckte einfach an. Nell sah sie in Gedanken vor sich – das rote Haar in wilder Unordnung, den großen Mund spöttisch verzogen. Sicher trug sie ausgewaschene Jeans und dazu einen abgelegten Pullover ihres Mannes, der ihr zu weit war und ihre weiblichen Reize doch nicht verbarg. Liz war groß und schlank, kein Wunder, dass Robert sich bis über beide Ohren in sie verliebt hatte.

„Wie geht es der Familie?“, erkundigte sie sich.

„Deine Patentochter sprüht vor Leben – manchmal zu sehr, dann wird es etwas anstrengend. Jane geht es ebenfalls gut, aber Paul macht mir Kummer. Nach außen hat er die zweite Heirat seines Vaters gut verkraftet, nur in der Schule bleibt er zurück. Es ist für beide Kinder nicht leicht, dass jetzt eine andere Frau den Platz ihrer Mutter einnimmt.“

„Aber sie lieben dich, Liz.“

„Das macht es nur noch schwieriger für sie. Sie lieben mich und haben gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, als würden sie ihrer Mutter untreu. Jane schafft es besser. Ich kann mit ihr sprechen, aber Paul ist gerade in dem Alter, in dem es ihm schwerfällt, seine Gefühle auszudrücken. Kommst du mit der Bahn oder mit dem Auto?“

„Mit dem Auto. Ich würde am Montag bald nach dem Lunch bei dir sein.“

„Großartig. Dann benutzen wir den Nachmittag für eine erste Besichtigungstour durch die Boutiquen und beginnen Dienstag mit den eigentlichen Einkäufen.“

Der Rest des Freitags verging mit den Vorbereitungen für die letzte Hochzeit, die am nächsten Tag auf Schloss Easterhay stattfinden sollte. Nell begrüßte die Abwechslung, denn sie kam dadurch weniger zum Nachdenken.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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