Julia Best of Band 296

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DREI ROMANE von BARBARA MCMAHON

STÜRMISCHE KÜSSE AM MITTELMEER

Auf den malerischen Klippen von St. Bartholomé schließt Matthieu sie in die Arme – und Jeanne-Marie fühlt sich unendlich geborgen. Doch mehr Küsse wird es nicht geben, denn ihre Vergangenheit macht eine gemeinsame Zukunft mit dem charmanten Franzosen unmöglich …

IN SPANIEN KAM DIE LIEBE

Stacey liebt Reisen und Kinder. Da kommt das Angebot des verwitweten Spaniers Luis Aldivista, sich als Nanny um seine Zwillinge zu kümmern, wie gerufen. Aber am sonnigen Mittelmeer hat Stacey plötzlich ein Problem: Sie liebt Reisen, Kinder – und den Daddy ihrer Schützlinge …

AUF DER JACHT DES MILLIONÄRS

Fasziniert taucht Sara mit Nikos in der Unterwasserwelt der Ägäis. Und an Bord seiner luxuriösen Jacht lassen seine Zärtlichkeiten sie vom großen Glück träumen. Jetzt muss sie ihm aber endlich gestehen, warum sie wirklich nach Griechenland gekommen ist …


  • Erscheinungstag 27.09.2025
  • Bandnummer 296
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533690
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Barbara McMahon

JULIA BEST OF BAND 296

Barbara McMahon

1. KAPITEL

Das sanfte Rauschen der Wellen hätte sie beruhigen können. Doch das tat es nicht. Jeanne-Marie Rousseau sah hinaus aufs Mittelmeer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Die Sonne stand hoch, der Himmel war blau und wolkenlos. Im weißen Sand vor ihrer Tür rekelten sich vereinzelt sonnenhungrige Badegäste auf bunten Strandlaken. Das etwas abgelegene Örtchen St. Bartholomé war ein beliebter Rückzugsort für Menschen, die dem hektischen Treiben der Großstadt entkommen wollten. Hier zu leben, war für viele ein Traum.

Doch für Jeanne-Marie war es Alltag. Oft empfand sie Freude darüber, doch heute war der Tag von Trauer überschattet.

Genau vor drei Jahren war ihr Mann gestorben. Sie vermisste ihn noch immer schmerzlich und hatte das Gefühl, ihr Kummer würde nie vergehen. Doch in den Schmerz mischte sich manchmal auch Wut darüber, wie leichtsinnig er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte bei seinen Klettertouren in den Bergen. Nun, mit kaum dreißig, war sie Witwe und eine alleinerziehende Mutter, die Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat eine Pension betrieb. Sie schüttelte den Kopf, um die traurigen Gedanken zu verscheuchen. Eigentlich konnte sie doch dankbar sein. Außerdem war es ihre Entscheidung gewesen, in Frankreich zu bleiben, und es war töricht, diesen Entschluss immer wieder infrage zu stellen. Doch manchmal vermisste sie das amerikanische Essen, ihre Familie und Freunde, die sie nur noch selten sah.

Dennoch wollte sie nicht wegziehen von diesem Fleckchen Erde, das so viele Erinnerungen an Phillipe barg. Viele gemeinsame Urlaube hatten sie in dem kleinen Dorf am Meer verbracht, und oft hatten sie einfach nur auf der Terrasse gesessen, die untergehende Sonne betrachtet und nicht geahnt, dass ihr Glück nicht mehr lange währen würde.

Phillipes große Leidenschaft war das Klettern gewesen. Daher reizten ihn die nahen Klippen Les Calanques, genau wie unzählige Sportler aus ganz Europa, die dort jeden Tag zu halsbrecherischen Klettertouren aufbrachen.

Ihr Sohn Alexandre hielt gerade einen Mittagsschlaf. Allein auf der Terrasse sitzend, erinnerte Jeanne-Marie sich an glückliche Zeiten und verspürte leichtes Heimweh. Der größte Trauerschmerz war längst ausgestanden, aber sie vermisste Phillipe noch immer. Dennoch gelang es ihr mittlerweile wieder, ihren normalen Alltag zu meistern.

Nach seinem Tod stellte sich die Frage, ob sie nach Amerika zurückgehen sollte. Doch die Nähe zu den Großeltern in Marseille schien ihr wichtig für Alexandres Entwicklung. Außer Fotos war den Rousseaus von ihrem Sohn nur ein Enkelkind geblieben. Ihre eigenen Eltern, die sie einmal im Jahr besuchen kamen, hatten immerhin sechs. Außerdem war sie über E-Mail und Skype ständig in Kontakt mit ihnen.

Jeanne-Marie liebte Frankreich. Schon als Teenager wollte sie unbedingt dort leben. Als sie dann schließlich zum Studium in Paris war, hatte sie sich prompt in Phillipe verliebt. Eigentlich hatte sie das gar nicht vor, doch am Ende siegte die Liebe, und so kam es, dass sie seit über zehn Jahren in Frankreich lebte. Die ersten Ehejahre waren traumhaft gewesen.

Zum tausendsten Mal fragte sie sich, was Menschen nur dazu brachte, ihr Leben an zerklüfteten Felswänden aufs Spiel zu setzen. War es der Nervenkitzel? „Die große Herausforderung“, hatte Phillipe erklärt, „an einem dünnen Seil mit möglichst wenig Ausrüstung die Klippen sauber zu erklimmen, ohne bleibende Spuren im Gestein zu hinterlassen.“ Als ob die Felsen etwas davon hätten!

Sie teilte Phillipes Leidenschaft nicht, obwohl er oft versuchte, sie dafür zu begeistern. Die Familie war ihr ganzes Glück, sie kam für sie immer zuerst. Während gemeinsamer Reisen durch Europa hatte sie sich zwar ein paar Mal überreden lassen, mitzuklettern, obwohl es ihr nicht geheuer war. Am Ende war Phillipe jedoch immer genervt gewesen. Er hatte keine Geduld, und schließlich ließ sie ihn lieber alleine losziehen.

Ihr Blick wanderte zu den berühmten Kalkfelsen der Calanques, in denen sich auch heute wieder Sportkletterer aus aller Welt tummelten. Besonders reizvoll war, dass man einen freien Blick aufs Meer hatte und den Küstenstreifen bis zum Horizont verfolgen konnte. Ausgerechnet in diesem Paradies der Kletterer war sie nun zu Hause.

Phillipe schätzte die Abgeschiedenheit von St. Bartholomé, denn hier konnte er sich ganz aufs Klettern konzentrieren, ohne sich im Nachtleben des nahegelegenen Marseille die Kondition für die nächste Tour zu ruinieren. Viele Kletterer sahen das ähnlich.

Eigentlich kann ich zufrieden sein, dachte sie, während sie das Wechselspiel des Lichts auf den Klippen betrachtete. Nur wenige alleinerziehende Mütter konnten ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne ihr Kind in Betreuung geben zu müssen. Natürlich wusste sie auch, dass nicht jeder Bergsteiger tödlich verunglückte. Dennoch blieb es ihr ein Rätsel, warum so viele Menschen in den Klippen freiwillig ihr Leben riskierten.

Nun, es gab viele Dinge im Leben, die sie nicht nachvollziehen konnte. Schluss jetzt mit dem Nachtrauern längst vergangener Zeiten, ermahnte sie sich. Die letzten Vorbereitungen für die neuen Gäste waren zu treffen. Sie hatte sieben neue Reservierungen und war restlos ausgebucht. In den Sommermonaten lief die Pension prächtig. Es gab kaum Nächte, in denen ein Zimmer frei blieb. Sie verdiente zwar kein Vermögen, hatte jedoch ein ausreichendes Einkommen, auch weil sie recht bescheiden lebte.

Für die Gästezimmer wollte sie nun noch rasch Blumen besorgen. Die Betten waren bereits frisch bezogen, die Räume gereinigt, es gab nur noch Kleinigkeiten zu erledigen. Ihren trüben Gedanken konnte sie ein andermal nachhängen. Die Gäste gingen vor.

Zwei Stunden später saß Jeanne-Marie hinter der Rezeption und erwartete den letzten Neuankömmling. Im Empfangsraum gab es bequeme Sitzgruppen, die zum gemütlichen Plaudern oder Lesen einluden. Ihr Sohn spielte an der offenen Terrassentür mit seinen Spielzeugautos. Wenn der neue Gast eingecheckt hatte, wollte sie mit Alexandre schwimmen gehen. Die Nachmittagssonne schien herein und heizte das Foyer auf, doch sie hatte die Markise absichtlich nicht heruntergelassen. Der erste Eindruck der Gäste sollte hell und strahlend sein. Wenn das Licht der Sonne hereinfiel, konnte man sich im glatt polierten Marmorboden spiegeln, und das frisch gebohnerte Holz glänzte warm. Auf der Terrasse luden bequeme Korbsessel die Gäste zum Verweilen ein, fantastische Ausblicke aufs Meer inklusive.

Ein Auto fuhr heran. Erwartungsvoll sah Jeanne-Marie zur Tür. Wenn sie den Gast abgefertigt hatte, war sie für den Rest des Tages frei.

Sie sah hinaus und wartete. Durch die weit offenen Türen wehte eine leichte Nachmittagsbrise herein. Eine Wagentür fiel zu. Sie hörte Schritte auf dem Kiesweg.

Er trat auf die Terrasse und hielt inne, um aufs Wasser zu sehen. Dann wandte er den Blick zu den Klippen.

Der Empfangsschalter war von außen nicht einsehbar, doch sie hatte von dort den neuen Gast gut im Blick. Der Mann wirkte überheblich und extrem selbstsicher, was ihr normalerweise gegen den Strich ging. Französische Männer waren oft sehr von sich eingenommen. Allerdings hatte der da draußen wirklich allen Grund dazu. Er war ungefähr eins fünfundachtzig groß, hatte breite Schultern und lange Beine. Seine kurzen dunklen, leicht lockigen Haare schimmerten im Nachmittagslicht. Als kleiner Junge hatte er wahrscheinlich entzückend ausgesehen – und die frühe Aufmerksamkeit war ihm dann zu Kopf gestiegen.

Sie sah sich die Buchungsunterlagen an. Alleinreisend. Ob er wohl verheiratet war? Vermutlich hielt er sich für zu schön, um sich an eine einzige Frau zu binden. Sie konnte ihn ausgiebig und in aller Ruhe betrachten, denn er sah sie im Augenblick garantiert nicht.

Er hatte nur eine kleine Reisetasche dabei, und das Zimmer war für eine Woche gebucht. Sie sah, wie er mit prüfendem Blick die Klippen taxierte, und rasch war ihr klar, dass auch er zum Klettern gekommen war. Sie sah im Geiste schon seinen durchtrainierten Körper an einer Felswand hängen, Muskeln und Sehnen bis an die Grenzen gespannt, während sich seine Finger langsam vorantasteten und die Füße an einem Felsvorsprung nach Halt suchten.

Sie strich über die auszufüllende Gästekarte, legte einen Kugelschreiber bereit und wartete. Immer wieder musste sie ihn ansehen. Er hatte muskulöse Arme und einen athletischen Oberkörper. Muskelkraft war das A und O, wenn man sich den Herausforderungen des Kletterns stellen wollte.

Als er sich nun umwandte und eintrat, fiel ihr Blick sofort auf sein kantiges Kinn und die vollen Lippen. Seine dunkelbraunen Augen musterten den auf dem Boden spielenden Alexandre. Etwas düster blickend, sah er sich im Raum um, bis er sie schließlich an der Rezeption entdeckte.

Sein selbstsicherer Gang erregte ihre Aufmerksamkeit. Er wirkte forsch, selbstbewusst, wie ein Mann, der es gewohnt war, Oberwasser zu haben. Sein markantes, glatt rasiertes Kinn drückte Willensstärke und Entschlossenheit aus. Seine dunklen Augen leuchteten auf, als er sie ansah, und sie fühlte sich unvermittelt als Frau wahrgenommen. Am liebsten hätte sie sich rasch die Haare gekämmt und die Lippen nachgezogen.

Sei nicht albern, schalt sie sich, während er näher kam. Sie wunderte sich, dass ihr Herz plötzlich schneller klopfte. Er war nur ein Gast, nichts Besonderes. Einfach nur recht gut aussehend. Ihre Neugier wuchs. Sie überlegte, was er wohl von Beruf war. Vielleicht Schauspieler oder Model? Allerdings schien er sich seines Aussehens gar nicht bewusst zu sein.

„Bonjour, Madame“, sagte er.

„Monsieur Sommer?“, fragte sie und versuchte, seiner dunklen tiefen Stimme zu widerstehen und die anziehende Distanziertheit, die ihn umgab, zu übergehen. Seine braunen Augen wirkten geheimnisvoll, schienen aber auch Schmerzliches widerzuspiegeln. Sie war erstaunt, hätte gern mehr über ihn gewusst.

„Ich habe ein Zimmer reserviert“, sagte er.

Seine schöne, sonore Stimme verleitete sie unwillkürlich dazu, sich vorzustellen, wie er in einer romantischen Nacht Liebesschwüre flüsterte.

„Selbstverständlich.“ Sie reichte ihm die Anmeldung zur Unterschrift. Woher kamen diese Fantasien denn plötzlich? Normalerweise gestattete sie sich das nicht. Sie roch sein Aftershave und spürte auf einmal ein seltsames Verlangen. Ich war einfach zu lange allein, dachte sie. Sie versuchte, ihre Gefühle zu unterdrücken, und sah ihm zu, wie er mit kühnem Schwung unterschrieb. Seine Hände waren kräftig und an manchen Stellen vernarbt. Die Kleidung ließ auf einen Geschäftsmann schließen, doch sein Auftreten eher auf einen Draufgänger. Ihre Neugier wuchs. Für gewöhnlich interessierte sie sich nicht für ihre Gäste. Doch dieser Mann faszinierte sie, sie konnte es nicht verleugnen.

„Können Sie mir ein Lokal vor Ort empfehlen?“, fragte er, noch während er schrieb.

„Le Chat Noir ist echt gut“, rief Alexandre, der mittlerweile dazugekommen war. „Hallo. Ich bin Alexandre. Ich wohne hier.“

Neben ihm sah ihr Sohn klein und schmächtig aus, obwohl er schon fünf Jahre alt und in letzter Zeit ziemlich in die Höhe geschossen war. Doch um die stattlichen Maße von Matthieu Sommer zu erreichen, musste er noch kräftig zulegen.

Dieser schaute den kleinen Jungen überrascht an. Dann fragte er: „Kannst du mir das wirklich empfehlen?“

Alexandre nickte aufgeregt. „Klar, wir gehen da auch immer hin. Es ist Mamas Lieblingslokal.“

„Dann muss es ja gut sein. Frauen kennen sich da aus“, sagte Matthieu ernst.

Alexandre strahlte.

Jeanne-Marie gefiel es, wie dieser Mann mit ihrem Sohn sprach. Dem Jungen fehlte eine männliche Bezugsperson. Sie hätte sich so gewünscht, dass wenigstens ihr Bruder Tom diesen Platz einnehmen könnte. Oder ihr Vater. Oder einer ihrer Cousins. Doch sie alle waren weit weg. Auch für den alten Großvater in Marseille wurde es immer anstrengender, sich um einen quirligen Fünfjährigen zu kümmern.

„Ihr Lieblingslokal also“, sagte Matthieu und sah ihr tief in die Augen.

Oui. Die Küche ist hervorragend, und die Preise sind erschwinglich. Ich kann aber auch Les Trois Filles en Pierre empfehlen. Von dort haben Sie einen tollen Blick auf die gleichnamigen Klippen. Ich nehme an, Sie sind zum Klettern hier?“ Sie spürte, dass ihre Stimme mehr Interesse verriet, als ihr lieb war.

„Ja, Les Calanques sind eine echte Herausforderung, und der Ausblick von dort oben ist unvergleichlich.“ Er neigte den Kopf. „Haben Sie auch da eine Empfehlung?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Passen Sie auf, dass Sie nicht abstürzen.“

„Mein Papa ist von einem Berg gestürzt“, mischte sich Alexandre wieder ins Gespräch. Jeanne-Marie wünschte, sie hätte den Mund gehalten. „Er hätte mir bestimmt das Klettern beigebracht. Wissen Sie, wie das geht?“

„Das ist schon lange her, Alexandre. Ich bin sicher, Monsieur Sommer passt gut auf sich auf. Belästige unseren Gast nicht mit Familiengeschichten“, sagte sie sanft.

Matthieu Sommer sah erst sie an, dann ihren Sohn, dann wieder sie. Sie hätte gern gewusst, was er im Augenblick dachte.

„Zimmer sechs ist für Sie reserviert, Sie haben ein Eckzimmer mit Blick auf Les Calanques.“ Sie übergab ihm den Schlüssel und zeigte auf die Treppen. „Ganz nach oben, dann links.“

„Merci.“ Er nahm seine Reisetasche, als würde sie nichts wiegen, und war bald darauf ihrem Blick entschwunden.

Jeanne-Marie seufzte erleichtert. Der neue Gast hatte unvermutet einen kleinen Gefühlssturm in ihr ausgelöst. Ihr waren Familien mit Kleinkindern wirklich lieber als extrem gut aussehende, allein reisende Männer, die die Welt erobern wollten. Schon sein Anblick brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie war einfach zu lange allein gewesen.

Warum sah er nur so traurig aus? Und warum war er ausgerechnet ins abgelegene St. Bartholomé gekommen? Er hätte sich in Marseille doch sicher ein Luxushotel leisten können.

Grübelnd blickte sie auf die Anmeldekarte, als könnte sie sein Geheimnis preisgeben. Dann heftete sie die Karte ab und versuchte nicht mehr an ihn zu denken.

Sie wartete noch auf René, den Studenten, der die Rezeption ab nachmittags übernahm. Nach der Übergabe konnte sie mit Alexandre schwimmen gehen. Ihre Gedanken schweiften erneut zurück zu Matthieu Sommer. Sie schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig. Alt genug, um verheiratet zu sein. Vielleicht teilte seine Frau die Kletterleidenschaft nicht, was Jeanne-Marie sehr gut verstanden hätte. Allerdings war sie im Urlaub immer dabei gewesen. Während Phillipe klettern war, bummelte sie durch die Städte oder erkundete die Gegend. Sie wollte da sein, wenn er von seinen Touren zurückkam. Warum war der schöne Fremde allein unterwegs? War er Junggeselle, oder machten er und seine Frau getrennt Urlaub?

Matthieu Sommer betrat sein Zimmer, stellte die Reisetasche mit einem Schwung aufs Bett und sah sich um. Es war geräumig, die Fenster reichten bis zum Boden und boten einen weiten Blick. Ein frischer Strauß Blumen auf der Kommode verlieh dem Raum eine freundliche Note. Die Mühe hätte sie sich allerdings sparen können. Für ihn war ein Hotelzimmer einfach zum Schlafen da. Falls er Schlaf finden konnte.

Er trat ans Fenster und sah auf die Klippen. Sein Freund, der selbst oft in den Calanques klettern ging, hatte sie in den höchsten Tönen gepriesen. Doch Paul wollte unbedingt in Marseille übernachten, um abends ausgehen zu können. Das war gewagt. Denn auf den Klippen galt das Gesetz Mensch gegen Natur, und jede noch so kleine Unachtsamkeit konnte tragisch enden. Er hatte sich deshalb lieber in St. Bartholomé einquartiert. Hier konnte er wenigstens für ein paar Tage den Kopf freibekommen und sich ganz aufs Klettern konzentrieren. Er wollte sich nicht leichtfertig in Gefahr bringen. Sollte ihm dennoch etwas zustoßen, war es eben Schicksal. Dann hatte er es nicht anders verdient.

Sollte sich Paul doch allein in Marseille die Nächte um die Ohren schlagen. Er hingegen wollte nur seine Ruhe haben. Im Frühsommer gab es in den Weinbergen nicht viel zu tun, die beste Zeit, sich ein paar Tage freizunehmen. Seiner Assistentin hatte er aufgetragen, ihn nur im Notfall zu benachrichtigen, auch seine Familie wusste nicht genau, wo er sich befand.

Lange betrachtete er die Felswände, dann drehte er sich um und ließ den Blick erneut durch den Raum schweifen. Die Bettlaken waren blütenweiß. Die Nachmittagssonne schien ins Zimmer, und die Vorhänge bewegten sich leicht in der Meeresbrise. Die Pensionsinhaberin hatte den Raum liebevoll mit Kunsthandwerk aus der Region dekoriert. Er ließ sich in einen der beiden Sessel am Fenster sinken und starrte aufs Bett. Er stellte sich vor, was Marabelle zu diesem Zimmer gesagt hätte. Sie hätte es bestimmt entzückend gefunden, so nah am Meer zu wohnen. Doch das war Vergangenheit. Er schob die Gedanken an sie beiseite und stand auf, um auszupacken. Als Nächstes wollte er einen Rundgang durchs Dorf machen und sich nach interessanten Klettertouren erkundigen. Der kleine Ort an einem Meeresarm zwischen den Klippen wirkte sehr malerisch, als er eben durchgefahren war. Einst ein Fischerdorf, war es mittlerweile ein Touristenmagnet. Dennoch hatte es seinen ursprünglichen Charme erhalten. Das Zentrum lag direkt am Hafen an einer stillen Bucht.

Seine Herberge war ein schönes altes Haus. Wie die junge Frau wohl dazu gekommen war, diese Pension zu übernehmen? Sie war hübsch und offenbar sehr freundlich. Ganz zweifellos wichtige Eigenschaften für eine Hotelbesitzerin.

Doch Madame Rousseau erschien ihm zu jung, um Witwe zu sein. Nicht dass es dafür ein vorgeschriebenes Alter gab, aber dennoch. Ihr kleiner Sohn war reizend. Wusste sie, wie glücklich sie sich schätzen konnte? Er hätte alles dafür gegeben, wenn sein Sohn noch am Leben wäre.

Er war bei einem Verkehrsunfall zusammen mit seiner Mutter gestorben.

Marabelle saß am Steuer, obwohl eigentlich er hätte fahren sollen. Matthieu versuchte, gegen die quälenden Erinnerungen und den Kummer anzukämpfen. Doch nichts half. Auch der Beistand seiner Familie machte seine Verzweiflung nicht geringer. Ständig versuchten sie, ihm gut zuzureden, doch sie konnten den furchtbaren Verlust nicht wirklich nachvollziehen. Ein Verlust, den er kaum verkraften konnte und der ihm das Herz gebrochen hatte.

Vielleicht würde ihn die Frau unten an der Rezeption verstehen. Wenigstens annähernd. Wie hatte sie den Verlust bewältigt?

Er fragte sich, ob sie nach dem Tod ihres Mannes auch so viel sinnloses Gerede über sich ergehen lassen musste. War es ihr ein Trost gewesen? Oder hatte sie sich auch nur gewünscht, man möge sie in Ruhe lassen?

Es ging ihn nichts an. Trotzdem. Sie gefiel ihm. Marabelle war auch eine schöne Frau gewesen. Sie hatten sich unendlich geliebt, und er war mit dem jähen Ende dieser Liebe nicht fertig geworden.

Nun war er hier, um sich nur aufs Klettern zu konzentrieren. Alles andere wollte er vergessen, wenigstens für ein paar Stunden am Tag.

„Zeit fürs Abendessen“, rief Jeanne-Marie.

„Keine Lust“, rief Alexandre zurück, während er fröhlich den Strand entlanghüpfte.

Sie holte ihn ein und wuschelte ihm durchs Haar. „Das ist Pech. Dann musst du deinen Nachtisch im Schlafanzug essen.“

Er kicherte und drückte seine Spielzeugautos fester an sich. „Im Schlafanzug kann man nicht essen. Gehen wir ins Le Chat Noir? Darauf hätte ich Lust.“

„Ich dachte eher an Suppe und Salat zu Hause.“ Sie packte die Strandlaken ein und zog sich ein T-Shirt über den Badeanzug.

„Ach bitte, Mama. Heute ist ein guter Tag. Die Pension ist voll, das hast du selbst zu Madeleine gesagt. Ist doch prima, wir können uns was Besonderes leisten.“

Sie musste lachen, weil er versuchte, nachzuäffen, was sie heute Mittag zu ihrer Freundin gesagt hatte. „Ja, wir könnten das wirklich feiern. Aber vorher musst du dir den Sand von den Füßen waschen und dich umziehen.“ Alexandre wusste nicht, dass sich der Todestag seines Vaters heute zum dritten Mal jährte. Einerseits wollte sie es nicht, andererseits war sie traurig, wie wenig er über seinen Vater wusste. Phillipe hatte ihn sehr geliebt.

Mit einem Freudenschrei sauste er los in Richtung Pension. Jeanne-Marie rannte hinterher, ließ ihn jedoch gewinnen. Alexandre flitzte durch den Empfangsraum in den hinteren Teil des Hauses, der ihr Privatbereich war. Wie schön wäre es, wenn er immer so begeistert auf alles, was sie sagte, reagieren würde. Sie nickte René an der Rezeption freundlich zu. Es war gut, dass er sie täglich ein paar Stunden entlasten konnte, um Zeit für ihr Kind zu haben.

„Alles klar?“

„Alles ruhig“, antwortete René. Er war ein Bücherwurm und las die ganze Zeit. Doch im Umgang mit den Gästen war er flink und effizient. Wahrscheinlich, um rasch weiterlesen zu können.

„Wir gehen heute Abend zum Essen aus.“

René nickte und vertiefte sich wieder in sein Buch.

Es war sechs Uhr, als Alexandre endlich umgezogen und auch sie frisch geduscht war. Die meisten Leute gingen erst später essen, doch sie wollte, dass Alexandre um acht im Bett lag. Auf dem Weg zum Restaurant ließ sie sich von der Abendsonne wärmen. Es war zwar erst Anfang Mai, doch tagsüber schon heiß genug, um, wie viele ihrer Gäste, faul am Strand zu liegen. Ende des Monats würde das Dorf sich in eine Touristenhochburg verwandelt haben.

Als sie Le Chat Noir erreicht hatten und Jeanne-Marie eben die Tür öffnen wollte, rief Alexandre: „Schau, Mama, da ist ja unser neuer Gast.“

Sie sah auf und erkannte Matthieu Sommer. Sie hielt den Atem an. Er kam direkt auf sie zu. Sie lächelte zaghaft. Er hatte sich an Alexandres Empfehlung gehalten.

Er griff um sie herum, um ihr die Tür aufzuhalten. Dann deutete er ihr mit einer höflichen Geste an, einzutreten.

„Wie du siehst, bin ich deinem Rat gefolgt und werde das Restaurant heute Abend einmal austesten“, sagte er zu Alexandre, während sich die Tür hinter ihnen schloss.

Zuvor vom hellen Sonnenlicht geblendet, brauchte Jeanne-Marie einen Moment, um ihre Augen an die abgedunkelte Beleuchtung im Lokal zu gewöhnen. „Ich bin sicher, Sie werden es nicht bereuen.“

„Essen Sie mit uns?“, rief Alexandre dazwischen.

„Nein“, sagte sie rasch. Dann wurde ihr klar, wie unfreundlich das klang, und sie lächelte entschuldigend. „Ich glaube nicht, dass Monsieur Sommer den Tisch mit einem Fünfjährigen teilen will.“

Matthieu neigte entschuldigend den Kopf. „Ich fürchte, ich bin kein besonders geselliger Tischgenosse“, sagte er.

Jeanne-Marie nickte und wandte sich dann dem Oberkellner zu, der sie herzlich begrüßte.

„Ein Tisch für Alexandre und Sie?“, fragte er.

„Oui.“ Sie sah Matthieu Sommer an. „Lassen Sie es sich gut schmecken.“

Sie war nicht richtig enttäuscht darüber, dass er nicht mit ihnen aß, denn in der Regel vermied sie engeren Kontakt zu ihren Gästen. Doch insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich zu ihnen setzen. Allerdings wäre sie dann bereits vor der Vorspeise ein Nervenbündel gewesen.

Sie wurden an einem schönen Tisch im Innenhof platziert. Nur zwei andere Tische waren schon besetzt.

Obwohl sie längst wusste, was sie nehmen würden, schlug sie die Speisekarte auf. Sie bestellten fast immer dasselbe.

Im nächsten Augenblick wurde Matthieu Sommer an den Tisch neben ihnen geleitet. Seine Nähe machte sie nervös, und sie versuchte krampfhaft, ihre Augen auf die Karte zu richten. Zum Glück setzte er sich mit dem Rücken zu ihr, sie musste beim Aufsehen seinem Blick also nicht ausweichen. Dennoch zog er ihren Blick magisch an, sie musste immer wieder zu ihm hinübersehen. Was hatte er nur Anziehendes? Er war nicht besonders galant, eher auf Distanz bedacht. Er sah gut aus, wirkte aber arrogant. Sie wusste nicht, ob sie ihn sympathisch fand, doch ihr Interesse war definitiv geweckt.

„Ich will Hühnchen“, rief Alexandre, während er auf seinem Stuhl herumrutschte.

„Wie immer. Und ich nehme die Quiche.“

„Wie immer“, ahmte er sie nach und grinste.

Jeanne-Marie schlug die Speisekarte zu. Von der Seite beobachtete sie verstohlen Matthieu Sommer, der noch nicht gewählt hatte. Nun bedauerte sie, dass sie an getrennten Tischen saßen. Während des Essens hätten sie ein wenig plaudern können, um dann hoffentlich festzustellen, dass sie absolut nichts gemeinsam hatten. Das hätte die Angelegenheit enorm vereinfacht.

Doch wenn er mit am Tisch säße, würde sie wahrscheinlich ihren Mund nicht aufbekommen und stumm dasitzen wie ein idiotischer Teenager beim ersten Rendezvous mit seinem großen Schwarm. Andererseits war es sicher traurig, ganz alleine essen zu müssen. Sie war hin- und hergerissen, ob sie ihn nicht doch an ihren Tisch bitten sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Alles war gut, so wie es war.

Nachdem sie bestellt hatten, holte Alexandre seine Spielzeugautos heraus und fing an, mit ihnen zu spielen. Jeanne-Marie war dankbar für die Ablenkung. So musste sie wenigstens nicht dauernd zu Monsieur Sommer hinüberschielen. Nachdem auch er bestellt hatte, studierte er aufmerksam Prospekte. Wahrscheinlich hatte er sie aus der Pension mitgenommen. In einem wurden diverse Einkaufsmöglichkeiten im Dorf beworben, im anderen die Kalkfelsen der Calanques beschrieben. Ein dritter Prospekt war vom örtlichen Sportgeschäft, bei dem sich die Kletterer mit Zubehör eindeckten.

Alexandre sah sie an. „Kann ich die Autos auch mitnehmen, wenn ich im September in die Schule komme?“, fragte er.

„Ich glaube nicht. Du musst im Klassenzimmer aufpassen, was die Lehrerin sagt, damit du ein guter Schüler wirst.“

Und sie musste aufpassen, dass sie nicht schon wieder zu Matthieu Sommer hinübersah.

Als das Essen kam, half sie Alexandre beim Zerkleinern des Hühnchens und konzentrierte sich aufs Verspeisen ihrer Quiche. Trotzdem nahm sie natürlich alles wahr, was am Nebentisch passierte. Sie waren fast gleichzeitig fertig mit dem Essen. Noch immer war außer ihnen kaum jemand im Lokal.

Matthieu aß hastig, um das Restaurant so schnell wie möglich wieder zu verlassen, obwohl er zugeben musste, dass das Essen ausgezeichnet war. Doch er hörte die ganze Zeit die Gespräche am Nebentisch zwischen Mutter und Sohn, und ihr fröhliches Gelächter erinnerte ihn an glückliche Zeiten, als auch er noch im Kreis seiner Liebsten gegessen hatte. Etienne wäre nun sieben Jahre alt. Der Schmerz der Erinnerung schnürte ihm das Herz zu. Er hatte seinen Sohn vergöttert, und nun lag er tot im Familiengrab neben seiner Mutter. Er schaute in die Ferne und versuchte, die Erinnerungen zu verscheuchen. Marabelle hatte immer geschimpft, wenn Etienne in der Öffentlichkeit herumtollte. Nun wünschte er, sie hätten ihn einfach tun lassen, was er wollte. Seine Lebenszeit war so kurz, so kostbar gewesen.

Madame Rousseaus Sohn war genauso alt wie Etienne damals, als ein betrunkener Lkw-Fahrer in ihr Auto gerast war. Seine Frau und sein Sohn waren auf der Stelle tot. Er quälte sich mit dem Gedanken, dass er vielleicht schneller reagiert hätte, dem riesigen Lkw vielleicht noch hätte ausweichen können, wenn er gefahren wäre. Warum war er damals nicht mit ihnen gestorben? Dann säße er heute nicht einsam und allein mit all seinem Schmerz hier.

Er hatte den Kummer stets in sich hineingefressen, um die Fassade aufrechtzuerhalten und über seine tiefe Verzweiflung hinwegzutäuschen. Die Zeit heilt alle Wunden, hieß es. Es war eine Lüge. Diese Wunde würde niemals verheilen.

Deshalb suchte er die Herausforderung an den Felsen. So konnte er wenigstens für ein paar Stunden alles vergessen. Klettern erforderte die ganze Konzentration, und hinterher konnte er nachts sogar manchmal durchschlafen, ohne von Albträumen heimgesucht zu werden.

Während er aß, dachte er über die schöne Witwe am Nebentisch nach. Ihr Mann war beim Klettern abgestürzt und umgekommen, trotzdem führte sie eine Pension in unmittelbarer Nähe zu den Klippen, die scharenweise Abenteurer zu Mutproben herausforderten. Das machte ihn neugierig. Seine Cousins wären höchst erfreut, wenn sie wüssten, dass er plötzlich an etwas anderes als nur an die Vergangenheit dachte. Seine Tante hätte vermutlich gleich Hochzeitsglocken läuten gehört.

Nicht, dass er tiefschürfende Gespräche mit ihr erwartete, abgesehen von dem, was im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt stand.

Klettern war ein riskanter Sport. Er wusste genau, wie schnell eine Felswand oder eine Klippe lebensgefährlich werden konnte, wie unvermittelt man abstürzen und zu Tode kommen konnte. Doch die Herausforderung lockte ihn. Das Gefühl war einfach unbeschreiblich, wenn er es wieder einmal geschafft hatte, einen Berg zu bezwingen, sich an einer glatten Felswand hochzuarbeiten, eine zerklüftete Klippe zu meistern. Darauf wollte er nicht verzichten. Er suchte die Konfrontation mit den Kräften der Natur. Manchmal gewann die Natur, manchmal der Mensch. Bisher hatte immer er gewonnen. Er fühlte dabei weder Triumph noch besondere Freude, aber es half ihm, seinen Kummer zu vergessen.

Er beneidete die junge hübsche Frau nicht. Sie hatte sicher alle Hände voll zu tun mit der Pension und der Erziehung ihres Kindes, so ganz allein. Wenn er verunglückt wäre, hätte sich Marabelles Familie um sie und Etienne gekümmert. Auch seine Familie bemühte sich, ihn nach Kräften zu unterstützen, doch im Grunde brauchte er ihre Hilfe nicht. Ihm schien es einfacher, allein klarzukommen. Und allein in seiner Hölle zu schmoren bis ans Ende seiner Tage.

Hinter ihm entstand plötzlich Unruhe. Sie hatte bezahlt, und kurz darauf stand überraschenderweise der kleine Junge an seinem Tisch. „Hat es Ihnen geschmeckt? Das ist doch ein echt tolles Restaurant, oder?“, fragte Alexandre und strahlte ihn an. Das sonnige Gemüt des Kleinen hellte seine Gedanken auf.

Er spürte Alexandres ernst gemeinten Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und nickte. „Ja, ein ganz tolles Restaurant.“

Zum Dank bekam er wieder ein strahlendes Lächeln geschenkt. „Find ich auch“, sagte der Kleine.

„Komm jetzt, Alexandre“, rief seine Mutter.

Als Matthieu kurz danach ebenfalls das Lokal verließ, sah er die beiden am Strand unten. Sie hatten ihre Schuhe ausgezogen und wollten offenbar am Wasser nach Hause laufen.

Seit einer Ewigkeit war er keinen Strand mehr entlanggelaufen. Er sah ihnen nach und merkte erst, dass er anderen Gästen im Weg stand, als er angerempelt wurde. Einer seltsamen Anwandlung folgend, lief auch er zum Meer hinunter.

In der Ferne sah er den kleinen Jungen keck zu den Wellen hüpfen und zurückweichen, wenn ihm das Wasser um die Füße spülte. Dabei lachte er unbeschwert und frei. Wann war er selbst das letzte Mal so gelöst und sorglos gewesen? Matthieu dachte lange nach. Ob er es jemals wieder sein könnte?

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen servierte Jeanne-Marie gerade im Speisezimmer Kaffee. Das ältere Ehepaar aus Nantes sah nicht einmal auf, vollkommen vertieft in die Lektüre der Tageszeitung. Sie sah sich um und freute sich, dass ihre Gäste offenbar rundum zufrieden waren. Für die, die Wassersport trieben und keine Lust hatten, sich extra umzuziehen, um in einem der Restaurants zu Mittag zu essen, bot sie Lunchpakete an.

Im Kopf ging sie die Gästeliste durch. Matthieu Sommer war noch nicht erschienen. Oder war er bereits ganz früh aufgebrochen? Sie hatte ihn während der Vorbereitungen in der Küche nicht gehört. Sie sah auf die Uhr. Es war fast neun. Wahrscheinlich war er wirklich längst unterwegs.

Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass alle versorgt waren, ging sie zurück in die Küche, um aufzuräumen. Dort saß Alexandre am Tisch in ihrer kleinen Essecke. Wie immer spielte er mit seinen geliebten Spielzeugautos und war in seine eigene Welt versunken. Manchmal wünschte sich Jeanne-Marie auch, noch mal ein kleines Mädchen zu sein und sich um nichts Sorgen machen zu müssen. Sie war so glücklich gewesen als Kind. Ihre Eltern waren Dozenten an der Universität Berkeley in Kalifornien. Sie vermisste die hübsche kleine Studentenstadt und das Leben auf dem Campus sehr.

Und sie vermisste ihre Familie. Doch sie ließ sich nichts anmerken, wenn sie mit ihnen telefonierte. E-Mails waren einfacher, da sie konnte alle Sätze noch einmal sorgfältig prüfen, bevor sie die Mail abschickte. Doch sie war zufrieden mit ihrem Leben in St. Bartholomé. Meistens. Irgendwann später würde sie mit Alexandre einen langen Urlaub bei ihren Eltern in den Staaten machen, aber bisher schien es immer unkomplizierter, wenn sie zu ihnen nach Frankreich kamen. Das ersparte Zeit und Mühe, mit einem kleinen Kind um die halbe Welt zu reisen.

Sie liebte Frankreich. Und sie hatte Phillipe geliebt. Der hatte die Pension nach dem Tod seines Großvaters geerbt. Oft hatte sie sich vorgestellt, wie ihr gemeinsames Leben weitergegangen wäre, wenn er nicht verunglückt wäre. Doch es hatte nicht sein sollen. Mittlerweile dachte sie nicht mehr so oft darüber nach.

Nun mussten noch die Tische abgeräumt, das Geschirr gespült und Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen werden. Brot und Brötchen backte sie jeden Morgen selbst, jeden zweiten Tag machte sie Quiches und Soufflés. Außerdem mussten ihre britischen Gäste stets mit Spiegeleiern und Speck versorgt werden.

Während des Abspülens drifteten ihre Gedanken wieder zu Matthieu Sommer. Sie fragte sich, was er wohl gestern Abend noch gemacht hatte. Er war direkt aufs Zimmer gegangen, doch dort gab es weder Radio noch Fernsehen. Allerdings gab es im Empfangsraum ein kleines Bücherregal mit Krimis und Romanen für ihre Gäste. Ob er noch gelesen hatte? Schwer vorstellbar. Er verströmte so viel rastlose Energie und war wahrscheinlich eher der Typ, der körperliche Betätigungen vorzog, anstatt still mit einem Buch in einem Sessel zu sitzen.

War er wirklich schon aufgebrochen? Oder lag er krank im Bett? Eventuell wollte sie später mal nachsehen, was mit ihm los war. Nur für alle Fälle. Man wusste ja nie …

Plötzlich kam sie sich albern vor. Doch wenn er wirklich ganz früh aufgebrochen war, würde er nie erfahren, dass sie nach ihm gesehen hatte.

Gegen zehn Uhr wechselte Jeanne-Marie zu ihrem Arbeitsplatz an der Rezeption, um die Buchhaltung zu erledigen. Alexandre spielte draußen auf der Terrasse mit den Autos. Es war ein herrlicher Tag, eine sanfte Brise wehte vom Meer, und die Temperatur war angenehm, weil die Sonne noch nicht hoch stand. Sofort sah sie den Briefumschlag und erkannte auch gleich die schwungvolle Schrift, in der ihr Name darauf geschrieben war. Die ganzen Sorgen und den Weg zu Zimmer sechs hätte sie sich sparen können, wenn sie vorher hier nachgeschaut hätte.

Beim Öffnen kribbelten ihre Finger. Wollte unbedingt den ganzen Tag nutzen, um zu klettern. Ich mache die Tour am Le Casse-cou; nur zur Information, falls ich bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück sein sollte.

Kopfschüttelnd steckte sie die Nachricht zurück in den Umschlag. Das sah ihm ähnlich: Gleich mit der schwierigsten Tour beginnen. Wenigstens war er klug genug, ihr mitzuteilen, wo er war, damit man im Notfall gezielt nach ihm suchen konnte. Sie schauderte bei dem Gedanken, was einem Mann allein in den Felsen alles zustoßen konnte. Andererseits gab es immer andere Kletterer, die nötigenfalls zu Hilfe eilen konnten. Vielleicht hatte er sich auch einer kleinen Gruppe angeschlossen.

Sie konnte einfach nicht begreifen, warum Menschen ihr Leben für etwas derart Unnötiges wie Sportklettern aufs Spiel setzten. Ihr war Schnorcheln im Mittelmeer schon Herausforderung genug. Phillipe hatte auch unermüdlich den Drang, Berge zu bezwingen. Selbst solche, die er schon hundert Mal bezwungen hatte. Irgendetwas musste dran sein am Klettern. Allerdings schien sie kein entsprechendes Gen von ihren Eltern mitbekommen zu haben.

Während des Tages kamen ihre Gäste und gingen, doch als die Dämmerung einsetzte, wurde sie langsam unruhig. Matthieu Sommers war noch nicht zurück. Sie machte Abendbrot für Alexandre und sich und bat René, ihr Bescheid zu geben, sobald Monsieur Sommer eintraf. Doch sie brachte keinen Bissen hinunter, machte sich von Minute zu Minute mehr Sorgen. Er hätte längst zurück sein müssen. War er abgestürzt? Die Erinnerung an die Nachricht damals, als ihr Mann verunglückt war, schien unerträglich. Was, wenn plötzlich die Polizei auftauchte, um die Sachen des Verstorbenen abzuholen? Sie stöhnte leise.

Die meisten Gäste waren hier, um zu klettern, und normalerweise machte sie sich keine Sorgen um sie. Das war doch lächerlich. Ihm war bestimmt nichts zugestoßen. Und selbst wenn – was ging es sie an?

„Der junge Mann an der Rezeption bat mich, Ihnen mitzuteilen, dass ich zurück bin.“ Matthieu stand an der Küchenschwelle.

Jeanne-Marie blickte auf und hielt den Atem an. Er sah unglaublich gut aus, obwohl er müde, verschwitzt und verbrannt von der Sonne an der Tür stand. Sein Outfit war schmutzig und an einigen Stellen abgewetzt. An der Wange hatte er eine kleine Schramme. Staub und Sand lagen grau auf seinen Haaren. Aus seinen dunklen Augen blickte er sie unverwandt an.

Erst setzte ihr Herz einen Augenblick aus, dann begann es zu rasen. Sie hatte sich völlig umsonst Sorgen gemacht.

„Ich wollte nur ganz sicher gehen, dass die Rettungswacht nicht informiert werden muss“, sagte sie ausweichend.

„Hallo!“, rief Alexandre und strahlte schon wieder. „Sie müssen erst mal duschen, aber hinterher könnten wir doch noch zusammen am Strand laufen.“ Es klang so hoffnungsfroh, Jeanne-Marie brach es fast das Herz. Alexandre war selten so zutraulich zu ihren Gästen. Ihm fehlte ein Rollenvorbild, ein männlicher Freund, der ihn ein bisschen leiten könnte.

„Nein, mein Schatz. Monsieur Sommer ist müde und wahrscheinlich sehr hungrig.“

„Ich bin ein bisschen hungrig.“

Sie nickte. „Haben Sie heute überhaupt irgendetwas gegessen?“ Beim Klettern verbrauchte man viel Energie – aber natürlich wusste er das selbst.

„Ich habe in der Bäckerei auf dem Weg gefrühstückt und mir dort auch Sandwiches einpacken lassen. Die habe ich auf einem kleinen Felsvorsprung mit Blick übers Mittelmeer gegessen. Eigentlich habe ich vor allem Durst.“

Sofort lief sie los, um ihm ein Glas Wasser zu holen. Sie war froh, dass ihm nichts geschehen war, und ärgerte sich, dass sie sich so große Sorgen gemacht hatte.

Als sie ihm das Wasser reichte, berührten sich ihre Hände flüchtig. Ein Prickeln lief ihr über den Rücken. Sie wich zurück und hoffte, er würde die Küche sofort verlassen und am besten gleich abreisen. Seine Nähe weckte in ihr ein Verlangen, das sie lieber ruhen lassen wollte. Für gewöhnlich ließ sie nicht zu, dass ihre Gäste ihr so nahe kamen. Er hatte buchstäblich eine Schwelle überschritten, als er in ihre Küche gekommen war. Warum hatte René sie nicht geholt?

„Essen Sie doch hier! Mama kocht wirklich gut“, sagte Alexandre.

Matthieu sah Jeanne-Marie an und hob fragend eine Braue.

Eigentlich hätte sie nun betonen müssen, dass in der Pension abends keine Mahlzeiten serviert wurden, vor allem nicht in ihrer Privatküche. Doch das hoffnungsvolle Gesicht ihres Sohnes schwächte ihre Entschlossenheit. Er stellte selten Forderungen, war immer zufrieden mit dem, was er bekam. Sie konnte ihm diesen Wunsch nicht abschlagen.

„Kein Problem, ich werde schon ein Restaurant finden“, sagte Matthieu und stellte das leere Glas ab.

„Ich kann etwas warm machen, während Sie sich umziehen. Es gibt Eintopf mit Fleisch. In zwanzig Minuten dürfte es fertig sein.“ Es war genug übrig, denn eigentlich sollte es für sie und Alexandre zwei Tage reichen. Doch wenn es Alexandre so wichtig war, wurde der Essensplan eben umgeworfen.

„Das ist ein Angebot! Ich bin also in zwanzig Minuten wieder hier.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Matthieu die Küche.

Als er weg war, holte Jeanne-Marie tief Luft und ging zum Herd, um den Eintopf noch einmal aufzuwärmen. Vom Morgen war noch selbst gebackenes Brot übrig. Mit Salat und einem Apple Crumble hinterher war das genau die richtige Mahlzeit für einen Mann, der den ganzen Tag sinnloserweise seine Energie an steilen Kletterwänden verschwendet hatte.

Sie würde ihm allerdings unmissverständlich klarmachen, dass es eine Ausnahme war. Dass sie normalerweise kein Abendessen servierte und auch keine Gäste in ihrem privaten Bereich wünschte. Vor allem keine, die sie derart aus der Fassung brachten. Auch wenn es ihr ein Anliegen war, stets zufriedene Gäste zu haben.

Mit feuchten Haaren und einem Pflaster auf der Wange erschien Matthieu kurz darauf wieder. Er hatte einen leichten Sonnenbrand, was ihn jedoch nicht weniger attraktiv machte. Jeanne-Marie verbat sich innerlich jedes längere Hingucken und jede erotische Fantasie, die sich bei ihr einschleichen wollte. Dieser Unsinn musste aufhören.

„Ich bringe das Essen auf die Terrasse, dann haben Sie auch Meerblick“, schlug sie hektisch vor. Sie wollte nicht, dass er sich weiterhin in ihrem Privatbereich aufhielt.

Er sah die leeren Essteller auf dem kleinen Küchentisch stehen. „Das Angebot nehme ich dankend an.“

„Ich komme mit! Wir sind schon mit essen fertig“, sagte Alexandre.

Sie deckte für Matthieu an einem der kleinen Tische auf der Terrasse und hoffte, die anderen Gäste würden es nicht merken. Sie arbeitete hart genug und wollte abends nicht auch noch regulär Mahlzeiten anbieten.

„Ich hole Ihnen rasch etwas zu trinken“, sagte sie und verschwand wieder in der Küche.

Sie brachte ihm eine große Karaffe Wasser, denn sie erinnerte sich daran, wie durstig Phillipe nach seinen Klettertouren gewesen war.

„Brauchen Sie mehr?“, fragte sie.

„Alles bestens“, sagte er. „Danke für das Wasser, das ist sehr aufmerksam.“

„Ja, ich erinnerte mich, wie durstig man nach einer Klettertour ist.“ Etwas unbeholfen nahm sie auf einem Stuhl Platz und schaute aufs Meer hinaus, dessen Oberfläche die letzten Sonnenstrahlen spiegelte. Gleich war es dunkel, Alexandre würde zu Bett gehen und sie wäre wieder allein mit ihren Grübeleien.

„Sie waren heute sehr lange in den Klippen“, sagte sie.

„Ich bin früh aufgebrochen, das stimmt, aber oben auf den Felsen habe ich eine lange Pause gemacht und die fantastische Aussicht genossen. Es wundert mich nicht, dass diese Gegend so beliebt ist.“ Alle fanden die Klippen spektakulär, doch aus seinem Munde klang es nicht besonders überschwänglich.

Als er stumm blieb, sagte sie: „Die Klippen sind so beliebt, dass die Regierung mittlerweile erwägt, sie für den Tourismus zu sperren, wegen der Umweltverschmutzung. Das ganze Ökosystem wird zerstört.“ Sie beobachtete ihn beim Essen. Es schien ihm zu schmecken. Das freute sie. Sie war stolz auf ihre Kochkünste. Doch Small Talk war nicht ihre Stärke. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie Menschen lange gemieden und war froh, wenn sie ihre Ruhe hatte. Nachdem sie die Pension übernommen hatte, musste sie erst wieder lernen, Konversation zu machen.

„Auf der Tour heute habe ich viel Müll und Schrott herumliegen sehen. Leider auch ganz oben auf den Felsen. Die Leute sind so rücksichtslos und denken nur an sich.“

Sie nickte. „Ja. Fragt sich bloß, wie man das Problem angehen soll. Lässt man die Leute vorher einen Fragebogen ausfüllen und ankreuzen, ob sie rücksichtslos und schlecht erzogen sind, bevor sie eine Klettergenehmigung bekommen? Das würde doch niemand zugeben.“

Er zuckte ratlos mit den Schultern. „Es wäre eine Schande, wenn der Zutritt zu den Klippen verboten werden müsste.“

„Wenn Sie brav aufessen, gibt es hinterher Apple Crumble mit Vanilleeis“, sagte Alexandre, der lässig am Tisch lehnte und Matthieu beim Essen zusah. Er hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen.

„Das ist ja großartig“, sagte Matthieu.

„Ich habe beim Backen geholfen“, prahlte Alexandre. „Ich kann schon Teig kneten.“

„Das hast du gut gemacht.“

Alexandre lächelte ihn bewundernd an.

„Haben Sie heute einen Berg bestiegen?“

„Eine Klippe, keinen Berg“, erwiderte Matthieu.

„Mein Papa ist immer auf Berge gestiegen. Wenn ich groß bin, will ich das auch. Bis ganz oben rauf, dann kann ich auf alles runtersehen.“

„Der Ausblick ist wirklich sagenhaft, das stimmt.“

„Kann ich mal mit Ihnen klettern gehen? Auf einen richtigen Berg?“

„Das reicht jetzt, Alexandre. Hör auf, unseren Gast zu nerven“, sagte Jeanne-Marie in scharfem Ton. Sie wollte nicht, dass Alexandre kletterte. Sein Großvater setzte ihm dauernd Flausen in den Kopf und erzählte immer von den Touren, die er gemeinsam mit Phillipe unternommen hatte. Wenn Alexandre erwachsen war, konnte er tun, was er wollte. Wenn er meinte, das Hobby seines Vaters ergreifen zu müssen, bitte schön – aber hoffentlich mit glücklicherem Ausgang. Doch im Moment wollte sie nichts davon hören. Es jagte ihr Angst und Schrecken ein.

„Er nervt mich überhaupt nicht. Ich habe meinen Sohn auch oft zum Klettern auf leichte Touren mitgenommen, als er in Alexandres Alter war.“

„Ich bin groß. Ich kann das auch, ich bin schon fünf!“ Wieder sah er Matthieu mit einer Mischung aus Bewunderung und Flehen an.

Das Herz wurde ihr plötzlich schwer. Er hatte also einen Sohn. Umso dringender sollte sie sich von ihm fernhalten.

Ihr passte es nicht, dass Alexandre ihren Gast anhimmelte. In einer Woche würde Matthieu wieder weg sein. Vor einem Jahr hatte sich Alexandre auch an einen männlichen Gast gehängt. Der war mit Frau und Tochter da gewesen und hatte ihn netterweise häufig zu gemeinsamen Unternehmungen eingeladen. Nach ihrer Abreise war Alexandre wochenlang mit einer Jammermiene herumgelaufen und konnte einfach nicht verstehen, warum sie nicht wiederkamen.

„Alexandre, hilfst du mir bitte beim Abräumen? Wir holen den Nachtisch.“ Sie wollte Distanz zwischen ihm und Matthieu herstellen. Auch konnte sie Matthieus Langmut nicht einschätzen. Sie wollte nicht, dass er Alexandre wehtat, weil er plötzlich genervt war und unwirsch reagierte. Andererseits: Wenn er selbst einen Sohn hatte, war er das alles wahrscheinlich gewöhnt.

„Na klar.“ Alexandre stellte seine Spielzeugautos auf dem Tisch ab und rannte los.

Er ist also verheiratet und hat ein Kind, dachte Jeanne-Marie auf dem Weg in die Küche. Wo war seine Familie jetzt? Hatten sie andere Pläne? Verbrachten sie den Urlaub getrennt? Manche Paare wollten das, obwohl sie sich das nicht vorstellen konnte.

Matthieu sah Jeanne-Marie nach, wie sie raschen Schrittes davoneilte. In Gedanken war sie für ihn längst Jeanne-Marie, ihren Vornamen hatte er auf der Visitenkarte der Pension gelesen. Madame Rousseau erschien ihm zu formal.

Sie hätte ihm kein Essen servieren müssen, er wusste genau, dass die Küche abends geschlossen war. Morgen würde er später losgehen und sich ein Lunchpaket einpacken lassen.

Er nahm noch einen Schluck Wasser und sah aufs Meer. Wie beiläufig er gerade von seinem Sohn gesprochen hatte! Und es war in ihm keine Welt zusammengebrochen, kein brennender Schmerz hochgekrochen. Er war ganz ruhig geblieben. Etienne war damals so stolz gewesen, als er mit ihm gemeinsam die ersten Felsen erklimmen durfte. Er erinnerte sich, wie kindlich er später vor seiner Mutter damit geprahlt hatte.

Zufrieden lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. Er war angenehm müde und satt von dem köstlichen Eintopf. Eigentlich war es schön, von Etienne zu sprechen, so blieb er für ihn und andere Menschen lebendig.

Sein Handy klingelte. Er sah die Nummer und klappte es auf.

„Hey, wie geht’s?“ Es war sein Freund Paul.

„Gut. Was gibt’s bei dir?“ Er wusste, dass Paul schon wieder in irgendeinem Klub unterwegs war. Im Hintergrund war laute Musik zu hören.

„Hier geht’s echt ab. Du musst unbedingt kommen. So weit ist es doch nicht, oder? Hier sind ein paar richtig heiße Miezen, die nur auf uns warten. Wir machen Party bis morgen früh.“

In den letzten Jahren hatte Paul immer wieder versucht, ihn mit Frauen zu verkuppeln. Paul war der Meinung, Matthieu müsste unter die Leute und neue Bekanntschaften schließen. Paul war nie verheiratet gewesen, er konnte ihn nicht verstehen. Matthieu hatte Angst, erneut Gefühle zu investieren und einen weiteren Verlust zu riskieren. Schon einmal waren all seine Hoffnungen und Träume zerbrochen, das reichte für den Rest seines Lebens. Noch so ein grausames, abruptes Ende einer Beziehung würde er nicht verkraften. Mit Marabelle hatte er das große Glück erlebt, nun musste er sich eben mit weniger zufriedengeben.

„Party bis morgen früh und danach eine Klettertour?“, fragte Matthieu. Die Katastrophe war vorprogrammiert.

„Wir können ja erst ausschlafen und dann auf die Klippen. Hab meine bisherige Bestzeit beim Klettern heute schon getoppt“, prahlte Paul.

Sogar beim Klettern konnte Paul sein blödes Konkurrenzdenken nicht lassen.

„Hast du auch die herrliche Aussicht genossen?“, fragte Matthieu.

„Was meinst du mit Aussicht? Die Brandung unter mir und der Felsen vor meinem Gesicht? Hey, wir machen die Tour morgen gemeinsam, ich jage dich rauf und runter.“

In diesem Augenblick trat Jeanne-Marie mit drei Dessertschälchen auf die Terrasse. Alexandre trug die Löffel.

Unter anderen Umständen hätte Matthieu auf ein Dessert verzichten können, aber er fand die Idee verlockend, mit den beiden gemeinsam Nachtisch zu essen. Außerdem war es ein guter Vorwand, um das Gespräch mit Paul zu beenden.

„Trink einen für mich mit, Paul. Heute bleib ich hier. Wir telefonieren wieder. Irgendwann diese Woche machen wir eine gemeinsame Tour.“

„Mann, du verpasst echt was. Es wird richtig lustig.“

„Mein Pech“, sagte Matthieu und glaubte kein Wort. Er klappte das Handy zu, während Jeanne-Marie die Schälchen verteilte. Alexandre reichte ihm feierlich einen Löffel und setzte sich dann auf den Stuhl ihm gegenüber. Jeanne-Marie saß rechts neben ihm und sah ihn verstohlen an, unsicher, ob ihre Anwesenheit überhaupt erwünscht war.

Der Apple Crumble war noch warm und schmeckte nach Zimt, das Vanilleeis schmolz auf der Zunge.

„Es schmeckt köstlich.“ Seine eigene Köchin hatte kaum je ein so leckeres Dessert zubereitet.

„Danke.“

„Sie sollten Ihren Gästen unbedingt Abendessen anbieten. Sie wären begeistert.“ Er jedenfalls war begeistert, und sehr zufrieden, dass er sich nicht mit Paul verabredet hatte.

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Alles ist gut, so wie es ist. Das wäre mir wirklich zu viel.“

„Was meinen Sie?“

„Ich meine, dass ich meine freien Nachmittage mit Alexandre nicht eintauschen möchte gegen stundenlanges Kochen, nur um fünfzehn Gäste abends glücklich zu machen. Ich biete ein abwechslungsreiches, üppiges Frühstück an, das reicht. Wenn Sie es mal ausprobieren, wissen Sie, wovon ich rede.“

„Das will ich gleich morgen tun. Falls Sie so früh schon servieren.“

„Ab halb sieben, wenn ich es am Abend vorher weiß. Andere Gäste wollen auch zeitig los. Ich biete auch Lunchpakete an.“

„Halb sieben ist perfekt.“

Matthieu beobachtete, wie Alexandre sein Schälchen bis zum letzten Rest auskratzte und dann seinen Löffel ableckte, als hoffe er insgeheim, es gäbe noch einen Nachschlag. Es erinnerte ihn an Etienne.

Alexandre ließ den Löffel geräuschvoll in die Schale fallen und sah Matthieu an. „Können wir jetzt spazieren gehen? Und kann ich auch mal mit auf einen Berg?“

„Monsieur Sommer ist bestimmt zu müde, um noch spazieren zu gehen“, sagte Jeanne-Marie schnell. „Außerdem gibt es hier keine Berge.“

Eigentlich hätte er sich wirklich gern zurückgezogen, doch der enttäuschte Blick des Jungen und der hastige Einwand der Mutter ließen ihn anders entscheiden. Er wusste selbst nicht, warum er plötzlich Lust hatte, Zeit mit ihnen zu verbringen. Doch je mehr er spürte, dass sie ihn loswerden wollte, desto mehr wollte er in ihrer Nähe bleiben. In seinem Zimmer warteten nur traurige Erinnerungen.

„Nach einem so wundervollen Abendessen ist ein kleiner Spaziergang genau das Richtige.“ Er sah sie herausfordernd an.

Warum war sein Bedürfnis plötzlich so groß? Normalerweise mied er Menschen. Lag es daran, dass Jeanne-Marie ihn nicht mit Samthandschuhen anfasste wie alle anderen? War es ihre Gelassenheit, die er so anziehend fand? Sie versuchte nicht, mit ihm zu flirten, krampfhaft witzig oder unterhaltsam zu sein, und sie mied auch nicht absichtlich Themen aus Angst, ihm zu nahe zu treten. Würde sie anders reagieren, wenn sie vom Tod seiner Frau und seines Sohnes wüsste?

Jeanne-Marie trug ab, und Matthieu hörte Alexandre zu, der ihm erzählte, dass er morgens bei Brotbacken geholfen hatte und leider immer noch Mittagsschlaf halten musste, obwohl er schon längst kein Baby mehr war, und dass er im Herbst in die Schule kam. Und natürlich davon, wie sein Vater viele große Berge erklommen hatte und er das unbedingt auch wollte.

Matthieu nickte nur ab und zu und erinnerte sich daran, dass auch Etienne in dem Alter immer versuchte, ganz ernsthaft zu wirken, wenn er mit Erwachsenen sprach. Auch er konnte stundenlang ohne Pause reden. Er wollte immer alles ganz genau wissen und liebte es, mit ihm in den Weinbergen spazieren zu gehen.

„Okay, ein kurzer Spaziergang“, sagte Jeanne-Marie, als sie zurückkam.

Matthieu stand auf, und Alexandre griff nach seiner Hand. Er war überrascht, dass diese kleine Geste sofort Beschützerinstinkte bei ihm auslöste. Er vermisste seinen Sohn sehr. Nur fünf gemeinsame Jahre waren ihnen vergönnt. Er hätte ihn so gerne erwachsen werden sehen.

Und nun war er tot.

Für einen Augenblick wollte er das vergessen und sich durch die Gesellschaft der beiden hier an glückliche Zeiten erinnern lassen.

Schweigend gingen Jeanne-Marie und Matthieu nebeneinander her, während Alexandre unablässig plapperte. Es schien ihn nicht zu stören, dass außer ihm keiner sprach. Matthieu hätte im Grunde auch nicht gewusst, worüber er reden sollte.

Jeanne-Marie sah ihn an. „Sie ertragen das ja erstaunlich gelassen. Wahrscheinlich sind Sie das von Ihrem eigenen Jungen gewöhnt. Alexandre kann einen wirklich vollquatschen.“

„Er ist so jung und lernt jeden Tag ein bisschen mehr über die Welt. In diesem Alter ist alles aufregend.“ Er dachte wieder an Etienne und spürte einen Stich im Herzen.

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