Julia Bestseller - Lynne Graham

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MÄRCHEN AUS 1001 NACHT von GRAHAM, LYNNE
Prinz Jaspar al-Husayn legt der schönen Frederica sein Wüstenreich zu Füßen. Doch sein Herz bleibt ihr verschlossen. Freddy ist das nur Recht. Die kühle Blonde und der stolze Scheich teilen sich lediglich das Sorgerecht für den kleinen Ben. Bis in 1001 Nacht ein Märchen wahr wird.

EIN KUSS SAGT MEHR ALS 1000 WORTE von GRAHAM, LYNNE
Die temperamentvolle Misty Carlton betreibt ihren Partyservice mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie auch ihre Unabhängigkeit verteidigt. Damit hat sie gerade beide Hände voll zu tun, denn ihr wichtigster Kunde, der mächtige Leone Andracchi, versucht ihr beides zu nehmen.

FLUCHT IN DER HOCHZEITSNACHT von GRAHAM, LYNNE
Hauptsache raus aus dem Leben im goldenen Käfig! Die zarte Ione ist beinahe froh, als ihr Adoptivvater sie mit einem fast Fremden verheiraten will - und plant bereits die Flucht in der Hochzeitsnacht. Aber als es so weit ist, sagt ihr Kopf: ja. Und ihr Herz: nein!


  • Erscheinungstag 02.09.2009
  • ISBN / Artikelnummer 9783862954841
  • Seitenanzahl 399
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

JULIA BESTSELLER – LYNNE GRAHAM

LYNNE GRAHAM

Märchen aus 1001 Nacht

Die blond gelockte Frederica Sutton würde alles tun, um den Sohn ihrer verstorbenen Schwester bei sich behalten zu können. Selbst wenn das heißt, einen exotischen Prinzen zu heiraten und in seinem Palast zu leben. Tatsächlich kümmert ihr neuer Gemahl sich rührend um den kleinen Ben. Aber ist das der Grund, warum Fredericas Herz plötzlich lichterloh brennt?

LYNNE GRAHAM

Ein Kuss sagt mehr als 1000 Worte

Es ist ein durch und durch unmoralisches Angebot: Misty Carlton soll für den berühmten Millionär Leone Andracchi ein paar Monate die Geliebte spielen. Misty ist empört! Und in der Zwickmühle: Leone ist nämlich der größte Kunde ihres Partyservices. Ohne ihn kann Misty einpacken.

LYNNE GRAHAM

Flucht in der Hochzeitsnacht

Ione Gakis lebt im Haus ihres Adoptivvaters wie eine Gefangene. Jeder Schritt wird kontrolliert, und seit Jahren durfte sie die griechische Insel nicht verlassen. Da erscheint der stolzen Frau die arrangierte Hochzeit mit dem erfolgreichen Unternehmer Alexio schon fast wie das Paradies auf Erden. Ione ahnt noch gar nicht, wie Recht sie hat …

1. KAPITEL

„Es geht um die Ehre der Familie.“ König Zafir sprach leise, während er seinen Sohn durchdringend ansah. „Du wirst Benedict nach Hause holen, damit er unter unseren Augen aufwachsen kann.“

„Bei allem schuldigen Respekt, Vater“, wandte Kronprinz Jaspar ein, „der Junge hat eine Mutter …“

„Ein Flittchen, das nicht verdient, Mutter genannt zu werden!“ König Zafir richtete sich zornig von seinen Kissen auf. „Eine schamlose Person, die die Nächte durchtanzte, während ihr Kind im Krankenhaus mit dem Tod rang. Eine gierige, habsüchtige Hexe …“ Ein Hustenanfall packte den zornigen alten Mann und ließ ihn nicht mehr zu Atem kommen.

Sofort wurden die Ärzte hereingerufen, um den König mit Sauerstoff zu versorgen. Blass und angespannt, den Blick der dunklen Augen auf seinen Vater gerichtet, dessen heftiger Ausbruch ihn überrascht hatte, stand Jaspar da und wartete darauf, dass der Anfall vorübergehen würde.

„Bitte, Königliche Hoheit“, flehte Rashad, der engste Vertraute des Königs, mit tränenfeuchtem Blick. „Zögern Sie nicht länger, und geben Sie Ihre Einwilligung.“

„Ich wusste nicht, dass mein Vater eine so starke Abneigung gegen westliche Frauen hegt.“

„Das tut Seine Majestät nicht. Haben Sie den Bericht über diese Frau gelesen?“

Jaspar bemerkte, dass die Bemühungen der Ärzte Erfolg hatten, und entspannte sich etwas. „Ich habe ihn nicht gelesen“, antwortete er und atmete tief durch.

„Ich werde den Bericht in Ihr Büro bringen, Königliche Hoheit“, sagte Rashad und eilte davon.

Auf einen Wink des Königs hin näherte Jaspar sich dem breiten Himmelbett und beugte sich hinunter, um die leisen, in fast demütig bittendem Ton gesprochenen Worte besser verstehen zu können. „Es ist deine Pflicht als Christ, meinen Enkel zu retten. Denk an unsere Vorfahren die Kreuzritter …“

Sobald die unmittelbare Gefahr vorüber war und der König wieder ruhig in seinen Kissen lag, ging Jaspar hinaus. Alle im Vorzimmer anwesenden Bedienten fielen bei seinem Erscheinen auf die Knie und beugten die Köpfe. Der Kronprinz war erst kürzlich zu königlichem Stand erhoben worden und nahm diese Respektbezeugung mit starrer Miene entgegen. Seit dem Tod seines älteren Bruders Adil, der designierter Kronprinz gewesen war, empfand er das Leben als schwere Bürde.

Eines Tages würde er König von Quamar sein, aber er war nicht zum König erzogen worden. Adils Tod hatte sein Leben von Grund auf verändert. Er hatte seinen Bruder geliebt, ohne ihm direkt nahezustehen. Adil war fünfzehn Jahre älter gewesen und hatte sich sehr von seinem jüngeren Bruder unterschieden. „Kleiner Spielverderber“, hatte er Jaspar oft scherzhaft genannt, und nun hatten die Vorliebe für opulentes Essen und dicke kubanische Zigarren dem Fünfundvierzigjährigen ein frühes Ende bereitet.

In dem prächtig ausgestatteten Büro, das jetzt ihm gehörte, blieb Jaspar nachdenklich vor dem Ölporträt seines Bruders stehen. Dieser Adil … Er war nicht nur ein absoluter Genießer, sondern auch ein unverbesserlicher Frauenheld gewesen.

„Ich verehre die Frauen“, hatte er einmal mit breitem Lächeln zu Jaspar gesagt. „Meine Ehefrau, meine Exfrauen, meine Töchter … sie alle erfreuen sich meiner Wertschätzung, aber warum sollte ich mich mit einer einzigen Frau zufrieden geben? Wenn wir Muslime wären, hätte ich vier Ehefrauen und einen ganzen Harem von Nebenfrauen haben können. Hast du je daran gedacht, wie sich unser Leben gestaltet hätte, wenn Karem I, unser verehrter Vorfahre, nicht Christ gewesen wäre?“

Sooft die Pflichten als Kronprinz ihm Zeit gelassen hatten, war Adil auf seiner Luxusjacht „Beauteous Dreamer“ im Mittelmeer unterwegs gewesen, mit einem Schwarm leichtlebiger westlicher Frauen an Bord. Beunruhigende Nachrichten von diesem Doppelleben waren gelegentlich auch bis zu König Zafir gedrungen, aber Adil hatte die Wahrheit immer geschickt verschleiert, wobei ihm seine jeweiligen Favoritinnen gern behilflich gewesen waren.

Es erschien Jaspar wie Ironie des Schicksals, dass Adils einziger Sohn nicht aus einer seiner drei Ehen, sondern aus einer Liebschaft stammte. Wäre er ehelich geboren worden, hätte er nach Jaspar Anspruch auf den Thron gehabt, was ihm jetzt verwehrt war. Jaspar seufzte tief. In seiner Generation hatte die Al-Husayn-Dynastie nur wenig Glück gehabt.

Vor fast genau zwei Jahren hatte eine Engländerin in London Adils Sohn zur Welt gebracht. Zwischen zwei Herzanfällen, von denen der zweite tödlich gewesen war, hatte Adil das seinem verzweifelten Vater gestanden. Aus Furcht vor einem Skandal hatte er alle Spuren weitgehend verwischt, aber der alternde König, wie besessen von der Existenz eines Enkels, hatte alles darangesetzt, um die Mutter ausfindig zu machen. Jetzt fiel Jaspar die unselige, vielleicht sogar unmögliche Aufgabe zu, diesen Enkel nach Quamar zu bringen.

Rashad erschien mit vielen Verbeugungen und legte Jaspar eine versiegelte Akte vor. „Seine Majestät hat einen klugen Vorschlag gemacht, durch den alle Probleme auf einmal gelöst würden“, sagte er dabei.

Jaspar betrachtete den älteren Mann mit höflicher Aufmerksamkeit, aber ohne Hoffnung. Rashad war ein Jasager, der seinem königlichen Herrn in jeder Kleinigkeit recht gab.

„Wir setzen eine militärische Spezialeinheit ein und entführen das Kind.“

Jaspar konnte sich nur mühsam beherrschen. Manchmal verstand er seinen Vater wirklich nicht. König Zafir fühlte sich noch immer als unumschränkter Herrscher, für den die Welt und die Verhältnisse außerhalb Quamars keine Bedeutung hatten.

„Wir müssten dann nicht mit dieser Ausländerin verhandeln“, fuhr Rashad eifrig fort. „Das Kind würde einen neuen Namen bekommen und als Waise aufgezogen werden. Vielleicht könnte man auch eine entfernte Verwandtschaft mit der königlichen Familie konstruieren.“

Jaspar musste sich daran erinnern, wie hingebungsvoll Rashad früher mit ihm gespielt hatte, um über diesen abenteuerlichen Plan nicht in Zorn zu geraten. Rashad besaß nur wenig Verstand, und der König, Jaspars geliebter und verehrter Vater, hatte offenbar in seinem durch Krankheit und Kummer geschwächten Zustand den klaren Blick und die sonst übliche Vorsicht eingebüßt.

„Bitte sagen Sie dem König, dass wir die Situation ohne derartig drastische Mittel bereinigen werden“, bemerkte er trocken.

„Seine Majestät fürchtet zu sterben, ohne seinen Enkel gesehen zu haben“, beharrte Rashad.

Jaspar kannte die Ängste seines Vaters, aber er hielt dessen Gesundheit für robust genug, um sich mit dem nötigen Willen von der gegenwärtigen Schwäche und den damit verbundenen Todesahnungen zu erholen. Lustlos schlug er die Akte auf. Er hatte erwartet, das Foto einer langbeinigen Brünetten zu finden – sein verstorbener Bruder hatte diesem Typ besonders gehuldigt –, aber es fand sich kein Foto, weder von der Mutter noch von dem Kind. Dafür hatte der Privatdetektiv in seinem Bericht umso ausführlicheres Beweismaterial zusammengetragen.

Erica – eigentlich Frederica – Sutton, die Mutter des Kindes, hatte eine schwere Jugend gehabt. Mit achtzehn war sie mit einem verheirateten Mann aus der Nachbarschaft durchgebrannt, aber die Beziehung hatte nicht lange gehalten. Erica war Model geworden, ohne großen beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln. Stattdessen hatte sie sich auf die Eroberung reicher verheirateter Männer spezialisiert und ein faules, luxuriöses Leben geführt.

Als Erica ein Kind bekam, rätselte man vergeblich über den Vater. Man stellte nur fest, dass sie über scheinbar unbegrenzte finanzielle Mittel verfügte, denn sie kaufte sich in London eine teure Luxuswohnung und führte das aufwendige Leben eines vergnügungssüchtigen Partygirls.

Je weiter Jaspar las, umso ernster wurde sein Gesicht. Was er aus diesen Zeilen erfuhr, schockierte ihn, und er wunderte sich nicht länger über den Zorn und die Besorgnis seines Vaters. Adil – das ließ sich nicht länger leugnen – hatte sich auf die einfachste und unfeinste Art aus der peinlichen Affäre gezogen. Er hatte das Kind einfach der verantwortungslosen jungen Mutter überlassen, die dieser Aufgabe keineswegs gewachsen war.

Jaspar schob die Akte angewidert beiseite. Zweifel waren hier nicht angebracht. Er musste seinen Neffen aus dieser fatalen Situation befreien. Dass sich eine Kinderfrau des Kleinen aufopfernd angenommen hatte, war nur ein schwacher Trost. Eine Kinderfrau war eine bezahlte Angestellte und konnte jederzeit aus dem Dienst entlassen werden. Der Junge befand sich demnach in einer denkbar schlechten Umgebung und war körperlich und seelisch ständig in Gefahr.

Jaspar schämte sich nachträglich, dass er die erregten Worte seines Vaters nicht ernster genommen hatte. Der Junge musste nach Quamar gebracht werden, eine andere Lösung gab es nicht.

Jaspar lächelte vor sich hin. Er würde sein Ziel erreichen, ohne eine militärische Spezialeinheit einzusetzen und dadurch einen diplomatischen Skandal auszulösen.

Frederica Sutton, die seit ihrem achten Lebensjahr auf eigenen Wunsch Freddy genannt wurde, schob den Brief über den Tisch, an dem ihr eine ältere grauhaarige Frau gegenübersaß. „Er kommt aus der Schweiz. Was soll ich jetzt bloß tun?“

Ruth Coulter setzte ihre Brille auf und sah dadurch noch mehr wie eine pensionierte Lehrerin aus. „Das war’s dann“, erklärte sie, nachdem sie die wenigen Zeilen überflogen hatte. „Du hast alle Möglichkeiten ausgeschöpft …“

„Die einzige Möglichkeit.“ Freddys einziger Anhaltspunkt war der Kontoauszug einer Schweizer Bank gewesen, von der Erica ihr großzügiges monatliches Einkommen bezog. Sie hatte an die Bank geschrieben und die Umstände genau erklärt, und nun war diese unbefriedigende Antwort gekommen. Die Bitte, ihr doch die Person zu nennen, die dieses finanzielle Abkommen mit ihrer Cousine getroffen habe, war rundweg abgelehnt worden. Jeder Bankkunde, hieß es, habe höchsten Anspruch auf Vertraulichkeit, und weitere Versuche von ihrer oder anderer Seite, dieses Prinzip zu untergraben, würden erfolglos sein.

„Du kannst nichts dafür, dass Bens Vater die Möglichkeit einer späteren Kontaktaufnahme ausgeschlossen hat“, fuhr Ruth nachdenklich fort. „Offenbar wollte er klarstellen, dass er unter keinen Umständen und zu keiner Zeit mit der Angelegenheit behelligt werden dürfe. Wer konnte auch ahnen, dass Erica so jung sterben würde?“

Freddys dunkelblaue Augen bekamen einen traurigen Ausdruck, und sie senkte den blonden Kopf, um ihre Rührung zu verbergen. Ihre Cousine war erst siebenundzwanzig gewesen, als sie bei einem Unfall auf der Skipiste den Tod gefunden hatte. Der Unfall wäre vermeidbar gewesen, aber Erica war so gestorben, wie sie gelebt hatte – als könnte jeder Tag ihr letzter sein.

„Ich weiß, wie sehr dir Erica fehlt.“ Ruth drückte kurz Freddys Hand. „Aber inzwischen sind sechs Wochen vergangen, und das Leben geht weiter, vor allem für Ben. Wahrscheinlich wirst du nie erfahren, wer sein Vater ist, aber dafür solltest du eher dankbar sein. Deine Cousine hat sich ihre Freunde nicht sehr sorgfältig ausgesucht.“

„Sie wollte versuchen, sich zu ändern“, protestierte Freddy.

„Wirklich?“ Ruth zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Wie auch immer … über Tote soll man nichts Schlechtes sagen. Man ist geneigt, sie in freundlicher Erinnerung zu behalten, aber in diesem besonderen Fall …“

„Ruth … bitte!“ Die nüchterne Feststellung schmerzte Freddy. „Du weißt, wie Erica als Kind gelitten hat.“

„Ich gehöre nicht zu denen, die für moralisches Versagen bequeme Entschuldigungen erfinden. Erica hat dieses Kind nur in die Welt gesetzt, weil es finanziell von Vorteil für sie war.“ Ruth verzog das Gesicht. „Sie lebte von der Unterstützung durch Bens Vater wie von einem Lotteriegewinn, ohne das geringste Interesse für ihr Kind zu zeigen.“

„Kurz vor ihrem Tod hat sie Ben ins Bett gebracht und ihm eine Einschlafgeschichte vorgelesen. Sie fing an, sich mit ihm zu beschäftigen …“

„Weil du ihr andauernd zugesetzt hast. Wäre Bens Vater nicht reich genug gewesen, sich Ericas Schweigen zu erkaufen, hätte sie die Schwangerschaft abbrechen lassen. Sie wollte keine Kinder haben.“

Freddy versuchte nicht länger, Ruth milder zu stimmen. Sie stand auf und kniete sich neben Ben, der auf dem Teppich spielte. Er hatte seine Spielzeugautos aufgebaut und bombardierte sie mit einem Flugzeug, wobei er alle möglichen Geräusche hingebungsvoll nachahmte. Da Freddy spürte, dass der Lärm ihrer Gastgeberin auf die Nerven ging, lenkte sie Bens Interesse auf ein Puzzlespiel und blieb neben ihm sitzen, bis er die Autos und das Flugzeug vergessen hatte. Er war ein besonders liebenswertes Kind, hatte dunkle Locken und große braune Augen, und Freddy hatte ihn tief ins Herz geschlossen.

Freddy hatte bei Erica gewohnt, als Ben zu früh auf die Welt kam. Er hatte die ersten Wochen in einem Brutkasten zugebracht, und Freddy vermutete, dass Ericas Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Kind auf diesem unglücklichen Umstand beruhte. In den folgenden Monaten hatte sie alles getan, um ein Verhältnis zwischen Mutter und Kind herzustellen. Sie hatte sogar einen Psychiater zu Rate gezogen, leider ohne jeden Erfolg. Erica hatte Ben nicht mehr Interesse entgegengebracht als irgendeinem Kind auf der Straße.

„Da du den Vater nicht erreichen kannst, solltest du die Behörden einschalten“, riet Ruth. „Es passt zu Erica, dass sie dir die Lage nicht durch ein Testament erleichtert hat, aber wir dürfen wohl davon ausgehen, dass ihr hinterlassenes Vermögen und das monatliche Einkommen Ben zustehen.“

„Er würde dadurch zu einem recht wohlhabenden jungen Mann“, überlegte Freddy. „Man wird sich darum reißen, ihn zu adoptieren. Um Missbrauch auszuschalten, werden sich die Leute vom Sozialamt um reiche Familien bemühen, die nicht auf Bens Geld aus sind. Welche Chance habe ich da noch? Ich bin alleinstehend, zurzeit arbeitslos und erst vierundzwanzig …“

„Aber, soweit bekannt, auch die einzige Verwandte des Jungen, und du hast dich seit seiner Geburt um ihn gekümmert.“ Ruths Ton verriet, dass sie keinen der Gründe, die für eine Adoption durch Freddy sprachen, guthieß. „Ich wünschte, du wärst nie in diesen Fall hineingezogen worden. In deinem Alter eine solche Last auf sich zu nehmen …“

Freddy hob trotzig das Kinn. „Ben ist keine Last.“

„Du hast Ericas Probleme zu deinen gemacht und seitdem kein eigenes Leben mehr geführt.“ Ruth verbarg ihre wahre Meinung nicht länger. „Sie hat dich schamlos ausgenutzt, dir ihre Verantwortung aufgepackt …“

„Und mich großzügig dafür bezahlt.“

„Dafür, dass du Tag und Nacht für den Jungen da warst … Woche für Woche, Monat für Monat. Sie hat deine Gutmütigkeit ausgenutzt, und es ist kein Wunder, dass du Ben als deinen eigenen Sohn ansiehst. Gott weiß es, mein Kind. Nur du bist ihm die richtige Mutter gewesen!“

Ruth betrachtete Freddys unglückliches Gesicht. Sie hatte früher das Haus neben den Suttons bewohnt und kannte Erica und Freddy von früh auf. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie die Mädchen darüber gelacht hatten, dass sie beide Frederica hießen – nach einer unverheirateten Großtante, von der sich ihre Väter, zwei Brüder, ein wohlwollendes Testament erhofften. Die Familien hatten bei der Geburt der Mädchen keinen näheren Kontakt gehabt, und so war die etwas peinliche Übereinstimmung erst Jahre später entdeckt worden. Als Ericas Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte ihr verwitweter Onkel sie zu sich genommen und wie eine zweite Tochter erzogen.

Wie hätte er ahnen können, dass dieses großmütige Verhalten so negative Folgen für Freddy haben würde? Nach Ruths Ansicht war Erica schon als Kind verlogen und eigensüchtig gewesen, ein oberflächlicher Charakter, der sich hinter umwerfendem Charme verbarg. Von den Geschichten über die angebliche Grausamkeit ihrer toten Eltern hatte Ruth kein Wort geglaubt, aber die meisten Menschen hatten sich dadurch beeinflussen lassen und Ericas Launen umso mehr nachgegeben. In wenigen Monaten hatte sie sich die Stellung der Lieblingstochter erobert und Freddy, die sich nicht verteidigen und anderen nicht schmeicheln konnte, auf den zweiten Platz verwiesen.

Freddy merkte an Ruths Schweigen, dass es klüger war, den Besuch abzubrechen. Sie verabschiedete sich und fuhr mit der Untergrundbahn nach Hause.

„Zeit zum Baden“, sagte sie zu Ben, als sie in dem luxuriösen Apartment ihrer Cousine ankamen.

„Boote!“ Ben lief in das Badezimmer, um die Plastikboote aus dem Schränkchen neben der Badewanne zu holen. „Meine Spielboote.“

„Und nach dem Baden wird gegessen.“

„Lieb … dich lieb …“ Ben umfasste Freddy mit seinen kleinen Armen, so gut er konnte.

Freddy kämpfte mit den Tränen und hasste sich dafür. Sie würde Ben verlieren. Welches Gericht würde ihr das Sorgerecht für den Jungen zusprechen? Man würde denken, dass sie es auf sein Geld abgesehen hatte.

Sie hatte Ben gerade in seinem Kinderbett fest zugedeckt, als das Telefon klingelte. Das geschah jetzt nur noch selten. Zu Ericas Lebzeiten hatte das Telefon nicht stillgestanden, aber seit sich ihr Tod herumgesprochen hatte, blieben die Anrufe aus.

Freddy nahm den Hörer ab. „Ja bitte?“

„Ich möchte Miss Frederica Sutton sprechen“, antwortete eine tiefe Männerstimme mit starkem ausländischem Akzent.

„Ich bin Miss Sutton, aber welche …“ Miss Sutton meinen Sie?, wollte sie hinzufügen, kam aber nicht dazu.

„Bitte erwarten Sie morgen um zehn Uhr meinen Besuch. Ich möchte mit Ihnen über Benedicts Zukunft sprechen. Sorgen Sie dafür, dass keine fremde Person anwesend ist, sonst findet der Besuch nicht statt.“

„Ich … bitte um Verzeihung“, antwortete Freddy verwirrt, aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

Nachdenklich ging Freddy durch die Wohnung und versuchte alle Tatsachen, die sie kannte, auf einen Nenner zu bringen. War das eben Bens Vater gewesen? Dann hatte er von Ericas Tod gehört – entweder durch einen gemeinsamen Freund oder durch die Leute von der Schweizer Bank, die ihren Brief vielleicht doch diskret weitergeleitet hatten.

Je länger Freddy nachdachte, umso überzeugter war sie, mit Bens Vater gesprochen zu haben. Wer sonst sollte sich um die Zukunft des Jungen kümmern? Und diese arrogante Forderung, ihn allein zu empfangen! Das passte ganz zu dem Versteckspiel, das bisher getrieben worden war.

Freddy legte sich an diesem Abend mit bösen Vorahnungen schlafen. Der geheimnisvolle Anrufer konnte nur Bens Vater sein, und er würde ihr den Jungen wegnehmen.

Sie würde ihr einziges Kostüm anziehen, dem Mann höflich zuhören und möglichst keine eigene Meinung äußern. Die Stimme des Fremden hatte schroff und überheblich geklungen, und der Akzent deutete auf einen Ausländer hin. Freddy hatte während Ericas Schwangerschaft einmal gefragt, wer der Vater des Kindes sei, und die Antwort erhalten: „Der netteste Mann, der mir je begegnet ist.“ Wer war damit gemeint gewesen? Der arabische Prinz, der angeblich einmal König werden sollte? Der argentinische Millionär mit der riesigen Hazienda oder der indische Maharadscha, von dem angeblich der kostbare Schmuck stammte?

Freddy errötete in der Dunkelheit, als sie an die zahllosen Affären ihrer Cousine dachte. Erica war sehr schön gewesen, und es gab so viele verheiratete Männer, die reich und schwach genug waren, sich durch Schönheit fesseln zu lassen. Für wen hätte sie sich da entscheiden sollen?

„Ich wünsche mir doch nur einen, der mich wirklich liebt“, hatte sie einmal entschuldigend gesagt und in ihrer zynischen Art hinzugefügt: „Was geht es mich an, wenn er schon einer anderen gehört? Sie würde auf mich auch keine Rücksicht nehmen. Das Leben ist nun einmal hart.“

2. KAPITEL

Um zehn Uhr war Freddy bereit, ihren Besucher zu empfangen. Das Apartment glänzte, denn sie war schon vor sechs Uhr aufgestanden und hatte beim Saubermachen keine Ecke ausgelassen. Sie trug das marineblaue Kostüm, eine zartgrüne Bluse und Pumps mit kleinem Absatz. Das dichte blonde Haar hatte sie streng zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, denn sie wollte seriös, aber nicht altmodisch wirken.

Während sie sich noch kritisch im Spiegel betrachtete, fiel ihr die Brille ein, die sie als Studentin getragen hatte, um ihre Augen zu schonen. Sie setzte sie auf und nickte befriedigt. Mindestens dreißig, dachte sie. Modern, praktisch und vernünftig. Sie würde nicht lügen, falls man sie nach ihrem Alter fragte, aber …

Es klingelte an der Wohnungstür. Freddy öffnete und trat erschrocken beiseite, denn drei dunkelhäutige Männer in dunklen Anzügen drängten sich an ihr vorbei und durchsuchten alle Zimmer, um festzustellen, ob außer ihr und Ben noch jemand in der Wohnung war.

„Bitte … wecken Sie ihn nicht auf.“ Freddy war ins Wohnzimmer geeilt und stellte sich schützend vor Ben, der auf der Couch schlief. „Er wird sich fürchten … Ich fürchte mich …“

Einer der Männer gab über Handy eine Meldung durch, dann zogen sich alle drei in den Flur zurück, ohne auch nur von Freddy Notiz genommen zu haben. Sie hörte den Lift surren und mit einem leisen „Ping“ auf der Etage halten. Schritte ertönten, einige leise Worte wurden gewechselt, dann tauchte ein großer dunkler Mann an der Wohnzimmertür auf.

Er wirkte weder freundlich noch vertrauenerweckend, aber Freddy betrachtete ihn wie gebannt, denn er sah unwahrscheinlich gut aus und war viel jünger, als sie erwartet hatte. Ein Athlet, dem jede sportliche Leistung zuzutrauen war. Ein Tycoon, der mit seinen Unternehmen die Welt beherrschte. Ein Mann, der die Frauen davon träumen ließ, irgendwann in seinem Bett aufzuwachen. Bei dieser viel zu intimen Vorstellung errötete Freddy tief.

„Sind Sie Miss Sutton?“, fragte er und sah sie mit seinen dunklen Augen an.

Freddy nickte benommen. Nicht nur sein Blick verwirrte sie, sondern auch das schwarze, bläulich schimmernde Haar, das makellos geschnittene Gesicht, der matte Bronzeton der Haut, die kräftige Nase und der schöne, viel zu sinnliche Mund. Er war hinreißend, fantastisch, der absolute Pin-up-Typ. Erica musste sich unsterblich in ihn verliebt haben, wie jede Frau es getan hätte.

„Antworten Sie!“, befahl er.

Es klang nicht nur wie ein Befehl, es war einer. Dieser Mann war es gewohnt, dass man ihm die Wünsche von den Lippen ablas und umgehend erfüllte.

Freddy räusperte sich. „Ich bin Frederica Sutton, genau wie …“ Meine verstorbene Cousine, die Mutter Ihres Kindes, wollte sie hinzufügen, aber wie gestern Abend am Telefon, schnitt er ihr das Wort ab.

„Wenn ich eine Unterhaltung wünsche, werde ich es Ihnen mitteilen.“ Der Mann musterte sie mit einem langen, spöttischen Blick. „Ich bin Jaspar Al-Husayn, Kronprinz von Quamar. Ich vertrete meinen Bruder als nächster Verwandter und Onkel Ihres Sohnes Benedict.“

Freddys Verstand setzte aus, sobald sie hörte, dass ihr Besucher ein Prinz war. Mehr noch, ein Kronprinz. Also hatte Erica dieses eine Mal nicht gelogen. Bens Vater entstammte wirklich einem Königsgeschlecht!

„Warum empfangen Sie mich in dieser seltsamen Verkleidung? Wollen Sie bei mir den Eindruck erwecken, dass Sie eine gute Mutter sind? Dazu weiß ich zu viel über das Leben, das Sie führen. Ihre hässliche Erscheinung kann also nur den Zweck haben, mich irrezuführen.“

Er weiß nicht, dass Erica tot ist, dachte Freddy. Er hält mich für Erica und glaubt, dass sie eine bestimmte Absicht verfolgt, indem sie sich hässlich macht. Hässlich!

Zorn und Schmerz überwältigten Freddy. Sie wusste, dass sie nicht schön war, aber genügten ein schlichtes Kostüm, eine zeitlose Frisur und eine Brille, um als hässlich zu gelten?

„Ihr Bruder …“ Sie richtete sich gerade auf und wiederholte mit eisiger Stimme: „Ich spreche nur mit Ihrem Bruder, Bens Vater.“

„Mein Bruder Adil ist im letzten Monat an einem Herzanfall gestorben.“

Also war Ben ein Waisenkind. Freddy brauchte einen Moment, um sich die neue Situation klarzumachen. Wie unendlich traurig! Durch eine Laune des Schicksals war er des letzten Menschen beraubt worden, der das Recht und die Pflicht gehabt hätte, für seine Zukunft zu sorgen.

„Ich werde Benedict in meine Obhut nehmen und Ihrer mehr als unzureichenden Aufsicht entziehen.“ Während er das sagte, ging Kronprinz Jaspar zum Sofa und sah auf den Jungen hinunter, der sich im Schlaf zusammengerollt hatte. „Für einen Al-Husayn ist er recht klein. Die Männer in meiner Familie zeichnen sich durch besondere Größe aus.“

„Was meinen Sie damit, dass Sie Ben in Ihre Obhut nehmen wollen?“, fragte Freddy, die plötzlich gegen eine merkwürdige Übelkeit ankämpfte. Sie mochte diesen Mann nicht, und sie traute ihm nicht. Warum fand er Ben zu klein? Zweifelte er an seiner Verwandtschaft mit den Al-Husayns? Unterstellte er Erica, dass sie seinen Bruder fälschlich als Vater bezeichnet hatte?

„Wenn Sie Ihren gegenwärtigen Lebensstil und Ihr Einkommen schätzen, sollten Sie sich nicht mit mir anlegen“, antwortete der Kronprinz gefährlich leise.

In diesem Moment wurde Freddy klar, dass es mehr als leichtsinnig gewesen wäre, ihn darüber aufzuklären, dass sie nicht Bens Mutter war. Wie konnte sie einem Mann trauen, der drei Leibwächter vorausschickte, die jedem Mafiaboss Ehre gemacht hätten? Seine Drohung, die finanzielle Regelung, die sein Bruder für Erica und das Kind getroffen hatte, außer Kraft zu setzen, verriet einen harten, mitleidlosen Charakter. Welcher Mann sprach so, wenn es um das Wohl und die Sicherheit eines Kindes ging?

Und diese hochmütige Art, sie anzusehen … als wäre sie Staub unter seinen Füßen! Freddy war gewöhnlich nicht leicht in Wut zu versetzen, aber die Beherrschung zu verlieren, wenn es um Ben ging, war etwas anderes.

„Können Sie sich ausweisen?“, fragte sie und eröffnete damit die erste Runde des unvermeidlichen Duells.

„Ich habe es nicht nötig, mich auszuweisen“, antwortete der Kronprinz mit blitzenden Augen.

Freddy erkannte an seinem Ton, dass ihn diese ungeheuerliche Zumutung aus dem Konzept brachte. Sofort holte sie zum zweiten Schlag aus. „Ich kenne Sie nicht und werde erst über Bens Zukunft mit Ihnen sprechen, wenn Sie sich als sein Onkel ausgewiesen haben.“

„Niemand hat je gewagt, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“, fuhr der Kronprinz auf.

Freddy hatte plötzlich die bange Vorahnung, aber sie brauchte Zeit, um mehr über Jaspar Al-Husayn herauszufinden und sich Rat zu holen. Das würde ihr zwar für immer seine Sympathie verscherzen, aber für Ben war ihr kein Opfer zu groß.

„Vielleicht könnten Sie morgen Abend um acht Uhr mit den nötigen Referenzen vorbeikommen“, schlug sie vor und schürte damit die Feindseligkeit, die der Kronprinz ausstrahlte. „Ich werde mich dann gern mit Ihnen zusammensetzen und so höflich, wie es zivilisierten Menschen zukommt, über Bens Zukunft beraten.“

„Sie haben mich verärgert.“ Jaspar Al-Husayn war kaum noch zu verstehen. „Das werden Sie bereuen.“

Blass, am ganzen Körper bebend, stand Freddy da und hörte die Wohnungstür zu fallen. Der Kronprinz hatte ihr Angst machen wollen, und das war ihm gelungen.

Ben wachte auf, rieb sich die Augen und wimmerte leise vor sich hin, wie er es manchmal im Schlaf tat. Freddy nahm ihn auf den Arm und drückte ihn mit einer schmerzlichen Aufwallung an sich. Ein Kind, das keine Eltern hatte, aber aus einer königlichen, unermesslich reichen Familie stammte, war besonders gefährdet. Sie musste einen Anwalt aufsuchen und sich erkundigen, welche rechtlichen Möglichkeiten sie hatte.

Jaspar ließ Erica Sutton den ganzen nächsten Tag beobachten und las am späten Nachmittag den Bericht, den seine Leibwächter ihm vorlegten. Dass sie schnurstracks zu einem Anwalt gegangen war, um sich Rat zu holen, wunderte ihn nicht. Es war seine Absicht gewesen, sie unter Druck zu setzen und aus der Reserve zu locken.

Während Adil seinen geselligen Neigungen nachgegangen war, hatte Jaspar sich das brillante Wissen angeeignet, mit dem er jetzt Quamars auswärtige Geschäfte lenkte. Die Ausbildung an der Militärakademie und das Studium der internationalen Hochfinanz hatten seine natürlichen Anlagen gefördert und einen harten, mitunter skrupellosen Mann aus ihm gemacht. Aus schwierigen Verhandlungen ging er meist als Sieger hervor. Sobald er die Schwächen seines Gegners erkannt hatte, wartete er nur den richtigen Zeitpunkt ab, um ihn zur Strecke zu bringen.

Erica Sutton mit dem Entzug aller Vergünstigungen zu drohen, die sie seit Benedicts Geburt genoss, war einer dieser klugen Schachzüge gewesen. Zweifellos nahm sie jetzt an, dass sie sich das Sorgerecht für ihren Sohn sichern musste, um ihren gegenwärtigen Lebensstil beibehalten zu können. Das würde jedoch nicht der Fall sein. Sobald sie begriffen hatte, dass sie auf Benedict verzichten konnte, ohne ihre finanzielle Sicherheit einzubüßen, würde sie alle Rechte als Mutter fahren lassen.

Mit einiger Belustigung entnahm Jaspar dem Bericht, dass Erica am frühen Nachmittag zwei Stunden in einem Frisiersalon zugebracht hatte. Die abfällige Bemerkung über ihr Aussehen war ihr unter die Haut gegangen, und sie wollte sich bei seinem zweiten Besuch von ihrer wahren Seite zeigen! Was mochte sie gestern zu der lächerlichen Komödie veranlasst haben? Hatte sie wirklich geglaubt, ihn täuschen zu können? Ein Frauenkenner und Genießer wie Adil hätte eine Frau mit kindlicher Haarfrisur, dicken Brillengläsern und altmodischem Kostüm keines zweiten Blicks gewürdigt!

Vermutlich war Intelligenz nicht Erica Suttons Stärke. Dazu passte auch, dass sie in der Botschaft von Quamar angerufen hatte, um sich seine Identität bestätigen zu lassen. Wie naiv, und wie ungeschickt! Sogar der junge Attache, der den Anruf entgegengenommen hatte, war nicht zu bewegen gewesen, seine, Jaspars, Anwesenheit in London zu bestätigen oder zu dementieren. Nur eins wunderte Jaspar – dass Erica ihn nicht von einem der vielen Familienfotos auf Adils Jacht wiedererkannt hatte.

Mit etwas Glück würde die ganze lästige Angelegenheit am Abend erledigt sein. Jaspar wollte die Geduld seines Vaters nicht unnötig auf die Probe stellen, und das Pflegepersonal wartete nur darauf, Benedict in Empfang zu nehmen. Vielleicht würde seine Ankunft in Quamar den König von einem anderen Problem ablenken, das seit Adils Tod eine traurige Bedeutung erlangt hatte – Jaspars notwendiger Vermählung.

Er war jetzt dreißig Jahre alt und empfand es als seltenen Vorzug, immer noch ledig zu sein. Sein Vater hatte ihn gewähren lassen, denn er fürchtete, bei Jaspar dasselbe wie bei Adil zu erleben. Adil war in einem Alter verheiratet worden, in dem er die Bedeutung der Ehe noch nicht hatte ermessen können. Der König sah darin den Grund für seine spätere Flatterhaftigkeit und wollte denselben Fehler nicht zweimal machen. Durch Adils Tod hatte sich die Situation dramatisch verändert. Als Kronprinz war Jaspar dazu verpflichtet, dem Land möglichst bald einen Thronfolger zu schenken.

Er würde es seinem Vater überlassen, die Braut auszusuchen. Während der letzten zwei Jahre waren ihm ständig neue Heiratskandidatinnen präsentiert worden in der Hoffnung, dass er sich in eine von ihnen verlieben würde. Leider war Jaspar bei Frauen zu begehrt. Er kannte ihre Schwächen und Tricks, und das hatte ihn überaus kritisch gemacht.

Liebe war für ihn nur ein leeres Wort. Adil hatte sich immerzu verliebt, Jaspar nur einmal, und dieses eine Mal war die Hölle gewesen. Seitdem verachtete er die Liebe und hielt sie für eine vermeidbare Schwäche.

Freddy war zu dem ersten Anwalt gegangen, der sie ohne Voranmeldung empfangen konnte. Sie beschrieb Bens Situation, ohne Namen zu nennen, und bat dann um eine ehrliche Einschätzung ihrer rechtlichen Position.

„Ein Onkel gilt als naher Verwandter, Miss Sutton“, meinte der Anwalt. „In diesem speziellen Fall würde das Gericht außerdem das Erbgut und den Hintergrund des Jungen berücksichtigen.“

Freddy runzelte die Stirn. „Den … Hintergrund?“

Der Anwalt nickte. „Da sein Vater aus einem arabischen Königshaus stammt, dürften auch die kulturellen Aspekte bei der Erziehung eine Rolle spielen.“

Freddy wurde blass, denn dieser Gesichtspunkt war ihr völlig neu. Trotzdem stellte sie die Frage, auf deren Beantwortung alles ankam. „Und wenn ich beantragen würde, den Jungen unter die Vormundschaft des Gerichts zu stellen, um ihn zu schützen?“

„Ihn zu schützen?“ Der Anwalt sah sie überrascht an. „Aus welchem Grund? Vor welcher Gefahr? Gibt es Anzeichen, dass der Junge bei seinem Onkel nicht gut aufgehoben wäre?“

Freddy zögerte. „Keine direkten Anzeichen, aber … Ich will ganz ehrlich sein. Der Mann ist mir nicht sympathisch.“

„In Zweifelsfällen kann das Sozialamt eingreifen, um das Wohl eines Kindes zu garantieren, aber nach allem, was Sie mir über den Onkel erzählt haben, scheint das hier nicht notwendig zu sein. Im Übrigen halte ich es nicht für vernünftig, in Ihrem Alter eine solche Verantwortung zu übernehmen.“

Genau das hat Ruth gesagt, dachte Freddy und verließ das Büro des Anwalts mit gemischten Gefühlen. Einerseits fühlte sie sich missverstanden, andererseits musste sie zugeben, dass sie gegen Windmühlenflügel kämpfte, weil sie die bittere Wahrheit nicht akzeptieren wollte. Warum war ihr nie der Gedanke gekommen, dass Bens kulturelles Erbe bei der Entscheidung über das Sorgerecht schwer in die Waagschale fallen würde? Sie hatte diesen Aspekt nie berücksichtigt und musste einsehen, dass sie Ben um etwas betrügen würde, worauf er ein Anrecht hatte.

Sobald sie wieder zu Hause war, rief sie in der Botschaft von Quamar an, um sich Jaspar Al-Husayns Identität bestätigen zu lassen, aber man verweigerte ihr jede Auskunft.

Ericas Computer erwies sich als hilfreicher, denn die königliche Familie von Quamar hatte eine offizielle Website im Internet. Sie enthielt eine kurze, respektvolle Würdigung des verstorbenen Kronprinzen Adil und ein längeres Bulletin über den besorgniserregenden Gesundheitszustand König Zafirs. Am meisten fesselte Freddy jedoch das Bild des neuen Thronfolgers – Jaspar Al-Husayn. Er sah unwahrscheinlich gut aus und war eindeutig derselbe arrogante, unerträgliche Mann, der sie besucht hatte.

Abends im Bett überdachte sie noch einmal ihre Situation. Jaspar wusste offenbar genug über Ericas Lebenswandel, um an ihren mütterlichen Fähigkeiten zu zweifeln, und das konnte ihm nicht einmal Freddy übel nehmen. Hatte sie sich vielleicht von Vorurteilen leiten lassen? Der Schock, plötzlich Bens Onkel gegenüberzustehen, war groß gewesen, und sie hatte nur noch daran denken können, dass sich ihr liebster Traum – Ericas Kind zu behalten – wahrscheinlich nicht erfüllen würde.

Kronprinz Jaspar würde das Sorgerecht für Ben erhalten, dagegen ließ sich nichts machen. Aber wenn sie sich weiter als Bens Mutter ausgab, würde sie vielleicht mehr über Jaspars Zukunftspläne erfahren. Vielleicht konnte sie ihn sogar dazu überreden, auf eine plötzliche und endgültige Trennung zu verzichten.

Ben zu verlieren würde ein großes Unglück für sie sein, aber Jaspars Forderung nach absoluter Diskretion bedrückte sie fast noch mehr. Wie wollte er für ein illegitimes Kind sorgen, dessen bloße Existenz in einem konservativen arabischen Land einen Skandal hervorrufen musste? Vielleicht hatte er die Absicht, Ben zu adoptieren, aber waren damit alle Probleme gelöst? Fragen über Fragen, die Freddy alle nicht beantworten konnte und über denen sie schließlich erschöpft einschlief.

3. KAPITEL

Als Freddy am nächsten Morgen in den Spiegel sah, fiel ihr Jaspars abfälliges Urteil über ihr Aussehen ein. Wenn sie die Mutterrolle noch weiterspielen wollte, musste sie sich auch äußerlich verwandeln – in eine Frau, die Erica möglichst ähnlich war. Deshalb suchte sie am Nachmittag einen exklusiven Frisiersalon auf und staunte anschließend über die blonde Lockenpracht, in die sich ihr Haar verwandelt hatte.

Freddy trug ihr Haar meist zurückgebunden. Sie hätte es lieber abschneiden lassen, aber das wäre ihr wie Verrat an ihrem verstorbenen Vater erschienen, der ihr Haar besonders geliebt hatte. Langes Haar war bei der Arbeit hinderlich, und um mehr daraus zu machen, musste man es geschickt föhnen, was Freddy einfach nicht konnte.

Einige frühe, äußerst schmerzliche Erfahrungen mit Jungen hatten sie davon überzeugt, dass sie zur alten Jungfer geboren war – genau wie Ruth Coulter, die ihr eines Tages dasselbe gestanden hatte. In den letzten Jahren hatten nur Betrunkene oder wehleidige Typen, die ein offenes Ohr suchten, für sie Interesse gezeigt. Und warum? „Weil du etwas mollig und nicht sehr hübsch bist“, hatte Erica diese Frage beantwortet.

Freddy hasste ihren Körper und war bemüht, ihn zu verhüllen. Beim Anziehen genügte ein flüchtiger Blick auf ihre vollen Brüste oder ihren wohlgerundeten Po, um ihr für den restlichen Tag die gute Laune zu verderben. Schon in der Grundschule hatte es sie gequält, fülliger als die anderen Mädchen zu sein. Sie hatte angefangen, überweite Pullover und T-Shirts zu tragen, was später, als Erica zu ihnen kam, zur Notwendigkeit geworden war. Erica hatte eine zarte, gertenschlanke Figur gehabt, während Freddy tun konnte, was sie wollte – sie blieb pummelig.

Abends, als Ben schon in seinem Kinderbett schlief, schlich sich Freddy zu ihm und betrachtete sein kleines friedliches Gesicht. Ihre Brust zog sich schmerzlich zusammen, und sie wagte nicht, daran zu denken, wie ihr Leben ohne ihn aussehen würde.

„O Ben“, flüsterte sie und fühlte heiße Tränen aufsteigen. „Sie wollen dich mir wegnehmen, und ich kann nichts dagegen tun.“

Sie lief ins Badezimmer, duschte kurz und wickelte sich in ein rosa Frotteetuch. Im Schlafzimmer setzte sie sich an den hell erleuchteten Frisiertisch und trug sorgfältig Lidschatten und Wimperntusche auf. Normalerweise schminkte sie sich nicht, aber sie kannte alle kosmetischen Tricks, denn sie hatte Erica oft genug beobachtet.

Sie war gerade dabei, Lippenstift aufzutragen, als es an der Wohnungstür klingelte. Das musste die Pizzabotin sein. Einmal in der Woche bestellte sich Freddy eine Pizza ins Haus, um sich selbst zu verwöhnen. Sie wurde immer von einer Frau gebracht, daher zögerte Freddy nicht, nur mit einem Handtuch bekleidet zu öffnen.

Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können, denn es war nicht die Pizzabotin, sondern Jaspar Al-Husayn. Er kam zu früh und betrat die Wohnung, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

„Ich dachte, Sie wären … meine Pizza“, sagte Freddy stockend, geblendet von Jaspars Augen, die wie reines Gold schimmerten. Wenn ich drei Wünsche frei hätte, dachte sie, würde ich mir ihn wünschen … ihn und wieder ihn. Das gedämpfte Licht der Stehlampe fiel auf sein dichtes schwarzes Haar, hob die hohen Wangenknochen deutlich hervor und ließ seine vollen, sinnlichen Lippen verführerisch erscheinen.

Sein dunkelgrauer Anzug war maßgeschneidert und schmiegte sich an seinen schlanken, muskulösen Körper. Freddy konnte sich nicht erinnern, jemals einen so attraktiven Mann gesehen zu haben. Ihr Blick hing wie gebannt an ihm, sie spürte, wie die Knospen ihrer Brüste hart wurden und sich unter dem Handtuch abzeichneten.

„Ihre … Pizza?“, wiederholte Jaspar mit rauer Stimme. Er stand ebenso gebannt da und konnte nicht aufhören, Freddy anzusehen.

Wie hatte er sie so falsch beurteilen können? Ihre Augen hatten die Farbe des Meeres, diese wunderbare Mischung aus Blau, Jade- und Türkisgrün, die mit dem Licht wechselte. Das blonde Haar, das ihr in üppigen Wellen auf die Schultern fiel, schien einer Nixe zu gehören, aber kein Märchenwesen hatte so volle Brüste oder eine so herrliche Gestalt.

Jaspar hatte seine Gegnerin unterschätzt, und das kam selten vor. Eine heftige sinnliche Erregung packte ihn. Er wollte ihr das Handtuch wegreißen, sie gegen die Wand drängen und sich tief in ihr versenken. Seit seiner Jugend hatte er kein so primitives, haltloses Verlangen nach sexueller Befriedigung gespürt.

„Pizza …“, wiederholte Freddy hilflos, denn sie konnte nicht mehr klar denken und lauschte wie betäubt in die angespannte Stille.

„Haben Sie vor, das Handtuch fallen zu lassen, oder wollen Sie mich nur reizen?“, fragte Jaspar lauernd.

Dunkle Röte stieg Freddy ins Gesicht. Sie sah an sich hinunter und begriff erst jetzt, wie sie ihrem Besucher gegenüberstand – halb nackt, nur in ein rosa Frotteetuch gewickelt. Der Zauber, der sie gefangen gehalten hatte, war verflogen. Sie wollte in ihr Schlafzimmer fliehen, aber Jaspar hielt sie fest und schob ihr eine Hand ins blonde Haar. Erschrocken sah sie zu ihm auf. Ihre blauen Augen trübten sich, und eine heiße Welle der Lust durchflutete ihren Körper.

„Das Erröten müssen Sie noch üben“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln, das seine gleichmäßigen weißen Zähne zeigte, „aber der Empfang war Klasse.“

„Sie missverstehen mich“, flüsterte Freddy, die alle Kraft zu verlassen drohte.

„Das glaube ich nicht. Es mag eingebildet klingen, aber Frauen bieten sich mir an, seit ich denken kann.“

Ehe Freddy dieses offene Eingeständnis ganz erfasst hatte, spürte sie Jaspars Lippen auf ihren. Eine sengende Flamme durchzuckte sie. Sie umklammerte Jaspars Arm, um sich aufrecht zu halten, aber sie fiel und fiel und glaubte im Fallen zu verbrennen.

Nichts zählte mehr als dieser heiße, leidenschaftliche Kuss. Freddy fühlte sich in eine neue Welt versetzt, die ihr bisher verborgen gewesen war. Je fordernder Jaspar sie küsste, umso heftiger sehnte sie sich nach ihm, umso verzweifelter drängte sie sich ihm entgegen.

Sie hörte, dass es an der Tür klingelte, aber es hatte keine Bedeutung für sie. Erst als Jaspar sie losließ und sich langsam aufrichtete, begriff sie, was geschehen war.

„O nein!“, sagte sie stöhnend und floh an ihm vorbei in ihr Schlafzimmer.

Nachdem sie die Tür von innen verriegelt hatte, lehnte sie sich schwer atmend dagegen. Der Spiegel über dem Frisiertisch warf ihr Bild zurück. Sie erkannte die vollen roten Lippen, die großen Augen mit den geweiteten Pupillen und die tiefe Verwirrung, die aus jeder Linie ihres Gesichts sprach. Wie sollte sie die Kraft aufbringen, dieses Zimmer zu verlassen und so zu tun, als wäre nichts geschehen?

Jaspar Al-Husayn glaubte, dass sie ihm absichtlich halb nackt geöffnet hatte. Er hielt sie ja für Erica, also für unmoralisch, leichtlebig und sexbesessen. Tiefe Scham erfasste Freddy, aber zugleich erlebte sie einen Augenblick peinlichster Selbsterkenntnis. Sie hatte bis heute nicht gewusst, dass ein Mann sie so weit aus sich herauslocken konnte. Sie spürte noch die seltsame Faszination, die darin lag, sich ganz hinzugeben und bei einem leidenschaftlichen Kuss alles zu vergessen. Wer er war, wer sie war … einfach alles. Wie grausam, das ausgerechnet bei diesem Mann entdecken zu müssen!

Bis heute hatte sie das ganze Gerede über Sex, von dem die Frauenmagazine voll waren, für Blödsinn gehalten, und nun bewies ihr dieser Mann, den sie mehr als jeden anderen hasste, dass vielleicht doch etwas daran war. Wie konnte er das wagen? Woher nahm er das Recht, sie in ihrer selbst gewählten Einsamkeit zu stören?

Freddy zog ein übergroßes T-Shirt und einen dunklen Rock an, der ihr fast bis an die Knöchel reichte. Dazu wählte sie derbe Laufschuhe. Jaspar hatte sie überrascht. Seine starke sinnliche Ausstrahlung hatte sie vorübergehend aus dem Gleichgewicht gebracht, aber sie brauchte nur an seine letzten Worte zu denken, um eine Wiederholung auszuschließen.

Die Frauen boten sich ihm also an, seit er denken konnte? Der Ärmste! Wie hielt er die Qual, so unerhört begehrenswert zu sein, nur aus? So viel Eigenliebe, so viel Selbstüberhebung war ihr noch nicht vorgekommen, und sie hätte viel darum gegeben, ihn von seiner Höhe herabstürzen zu sehen.

Freddy ging leise über den Korridor und betrat das Wohnzimmer. Insgeheim hatte sie gehofft, ihren unerwünschten Gast nicht mehr anzutreffen, aber da stand er – so groß wie vorher, so sicher wie vorher und so unerträglich zufrieden mit sich selbst, dass sie fast wieder umgekehrt wäre.

Seit Ericas Tod hatte sie das überladene Wohnzimmer kaum noch benutzt, aber Jaspar Al-Husayn passte zu den teuren, glänzenden Möbeln, den dicken, flauschigen Teppichen und den schweren Gardinen mit üppigen Girlanden, Fransen und Troddeln.

„Ihre Pizza“, sagte er und zeigte auf die flache Pappschachtel, die auf dem Sofatisch lag. Dazu lächelte er so umwerfend charmant, dass Freddys Herz einen Schlag aussetzte. Doch diesmal war sie auf der Hut. Soll er doch alle Verführungskünste dieser Welt in sein Lächeln legen, dachte sie. An mich ist es verschwendet!

„Hören Sie“, sagte sie, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Ich mag Sie nicht, und Sie brauchen daher kein so zufriedenes Gesicht zu machen. Was vorhin an der Wohnungstür passiert ist, war ein dummes Missgeschick. Täuschen Sie sich nicht in mir. Ich hatte und habe nicht die Absicht, mich Ihnen anzubieten, wie Sie es auszudrücken beliebten. Eher würde ich mich umbringen!“

Jaspar schwieg dazu. Das Schweigen zog sich in die Länge und wurde mit jeder Sekunde unerträglicher. Es zerrte an Freddys Nerven, ließ sie abwechselnd blass und rot werden und brachte ihren ganzen Verteidigungsplan durcheinander. Wie ungeschickt von ihr, den unseligen Kuss noch einmal zu erwähnen! Das musste ja so wirken, als wollte sie sich entschuldigen!

„Wir wollen über meinen Neffen sprechen.“ Sogar Jaspars Stimme klang verführerisch. „Das soll Sie nicht abhalten, Ihre Pizza zu genießen.“

Freddy sah eine riesige Schlagzeile vor sich: „Arabischer Kronprinz mit Pizzaschachtel erschlagen“. Sie hasste diesen Mann. Großer Gott, wie sehr sie ihn hasste! Sobald er den Mund aufmachte, beleidigte er sie oder gab sie der Lächerlichkeit preis.

Sie ließ sich auf das gepolsterte Sofa fallen und versuchte, ihr Magenknurren zu überhören. Sie fühlte sich zwar halb verhungert, und die Pizza wäre jetzt genau richtig gewesen, aber Seine Hoheit sollte keine Gelegenheit haben, auch noch auf ihre Figur anzuspielen.

Andererseits hatte er sie geküsst, oder nicht? Dann fand er sie offenbar attraktiv. Vielleicht gefielen ihm mollige Frauen besser als Bohnenstangen. Bei der Vorstellung geriet Freddy ins Träumen. Sie sah sich auf einem Diwan in einem Wüstenzelt liegen und Süßigkeiten knabbern, umsorgt von einem Mann, der vor Gram sterben würde, falls sie eine Diät auch nur erwähnte.

Sei vorsichtig, warnte eine andere Stimme sie. Du hast das wichtigste Gespräch deines Lebens vor dir, denn Ben bedeutet dir das Leben, und was tust du? Du machst dir dumme Gedanken!

„Soviel ich weiß, haben Sie eine Kinderfrau für meinen Neffen engagiert“, begann Jaspar die Unterhaltung. „Wo ist sie?“

Freddy fragte sich, warum der Kronprinz Einzelheiten aus Ericas Leben, aber nichts von ihrem Tod wusste. Sie hob den Kopf und sah ihn widerwillig an. „Ein dringender Notfall in der Familie … sie wird bald zurück sein. Sie sagten gestern, dass Sie Ben in Ihre Obhut nehmen wollen. Darf ich fragen, warum?“

Jaspars dunkle Augen hatten noch immer den faszinierenden Goldschimmer. „Benedict ist mein Neffe.“

„Aber Ihr Bruder wollte seine Existenz geheim halten.“ Freddy wählte ihre Worte mit Bedacht. „Wie es schien, wollte er nichts mehr mit seinem Sohn zu tun haben.“

„Ich werde mich nicht zu den Entscheidungen meines verstorbenen Bruders äußern“, antwortete Jaspar zurückhaltend. „Das wäre nicht schicklich.“

„Trotzdem würde ich gern erfahren, woher dieser plötzliche Wunsch kommt, sich um Ben zu kümmern“, beharrte Freddy.

„Ich besitze eine Akte, in der Ihr Lebensstil ausführlich dokumentiert ist, Miss Sutton.“

Der überlegene Ton missfiel Freddy genauso wie die Tatsache, dass ein Privatdetektiv ohne Ericas Wissen in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt hatte.

„Dagegen bin ich leider machtlos.“

„Aus der Akte geht eindeutig hervor, dass Sie eine nachlässige Mutter sind“, fuhr Jaspar fort. „Sie haben meinen Neffen der alleinigen Pflege einer Angestellten überlassen … manchmal für Wochen, manchmal für Monate. Wenn Sie zufällig zu Hause sind, geben Sie schrille Partys, bei denen der Alkohol in Strömen fließt. Nachbarn haben mehrfach die Polizei gerufen, weil es hier so wild zuging.“

Freddy senkte beschämt den Kopf, denn alles, was der Kronprinz sagte, entsprach der Wahrheit. Sie erinnerte sich noch gut an die erste Party, die Erica nach Bens Geburt gegeben hatte. Freddy hatte sich mit dem Baby in ihrem Zimmer eingeschlossen und ängstlich auf das Erscheinen der Polizei gewartet, die wegen des Lärms von Nachbarn alarmiert worden war. Ein andermal hatten betrunkene Gäste versucht, sich gewaltsam Zutritt zu ihrem Zimmer zu verschaffen, und ihr damit wirkliche Angst eingejagt. Seitdem hatte sie sich mit Ben zu Ruth Coulter geflüchtet, wenn Erica ihre Freunde bei sich versammelte.

„Ich …“ Freddy überlegte krampfhaft, was sie zur Entschuldigung ihrer Cousine vorbringen konnte, aber angesichts ihrer ständigen Abwesenheit und der wilden Partys fiel ihr nichts ein. „Ich verstehe, dass der Schein gegen mich …“

„Mehr als das, Miss Sutton.“ Jaspars Ton verriet, wie sehr er Ericas Lebensstil verachtete. „Man kann nur feststellen, dass Ihnen die Mutterrolle nicht liegt und dass Ihnen das Wohl Ihres Kindes gleichgültig ist. Adils Sohn ist ein Al-Husayn. Die Familienehre verlangt, dass wir die Verantwortung für ihn übernehmen.“

„Darf ich fragen, wer mit ‚wir‘ gemeint ist?“ Freddy wusste aus dem Internet, dass Jaspar noch ledig war. Dieser Umstand war sogar besonders betont worden, möglicherweise in der vagen Hoffnung, dass eine orientalische Prinzessin von untadeligem Ruf und bester Herkunft auftauchen und um den Vorzug bitten würde, designierte Königin zu werden.

„Meine Familie“, erklärte Jaspar stolz.

„Aber Sie sind unverheiratet“, wandte Freddy nicht ohne Genugtuung ein. „Ein kleines Kind braucht eine Mutterfigur.“

„Ich habe viele weibliche Verwandte in meiner Familie. Eine von ihnen wird Benedict bestimmt liebevoll bei sich aufnehmen.“

„Das schließt Sie aus.“ Es ärgerte Freddy, dass Jaspar den Jungen an die erstbeste Verwandte weitergeben wollte.

„Da ich unverheiratet bin, würde es verdächtig wirken, wenn ich plötzlich ein Kind hätte, das ich erziehen will. In meiner Position ist das undenkbar.“ Jaspar warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Hätte ich eine Frau, die dazu bereit wäre, könnten wir Benedict als einen verwaisten Verwandten ausgeben, aber diese Möglichkeit besteht gegenwärtig nicht.“

Also würde der Kronprinz nicht an Bens Erziehung beteiligt sein, obwohl er sein Onkel war. Freddy war enttäuscht und fühlte sich doppelt hintergangen.

„Sie müssen berücksichtigen, dass unsere Gesellschaft konservativ ist und höchste Diskretion fordert, Miss Sutton. Benedicts Herkunft muss um seiner selbst willen geheim bleiben, denn eine illegitime Geburt gilt in Quamar immer noch als Schande. Außerdem muss verhindert werden, dass auch nur der Schatten eines Zweifels auf Adils Familie fällt.“

Freddy betrachtete Jaspar mit halb gesenkten Lidern. Seine Anspannung wuchs, das entging ihr nicht, und im gleichen Maß nahm seine Geduld ab.

„Ich reize Sie mit meinen Fragen“, räumte sie ein, „aber ich liebe Ben und will nur sein Bestes.“

Jaspars Miene verhärtete sich noch mehr. „Nach allem, was ich über Sie erfahren habe, klingt das wenig überzeugend. Benedict hatte für Sie keinen persönlichen, sondern nur finanziellen Wert. Es fällt mir daher schwer, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen. Sie sollen nur noch wissen, dass sich an Ihrem Einkommen nichts ändern wird, wenn Sie Ihren Sohn meiner Obhut übergeben.“

„Glauben Sie von mir aus, was Sie wollen, aber Geld spielt hier keine Rolle. Ben braucht Liebe … wie alle Kinder. Sie denken an Ehre und Verantwortung und vergessen dabei die Liebe.“

„Sie haben kein Recht, so mit mir zu sprechen“, erklärte Jaspar scharf. „Was immer wir Benedict bieten … es wird sehr viel mehr sein als das, was ihm hier geboten wird.“

Freddy atmete schwer. „Aber er braucht Zeit, um sich an das neue Leben und die neuen Menschen zu gewöhnen.“

„Wir haben keine Zeit. Mein Vater ist krank und wünscht sehnlichst, seinen Enkel kennenzulernen. Ich werde morgen mit ihm nach Quamar zurückfliegen.“

„Morgen?“, wiederholte Freddy entsetzt. „Ben kennt Sie nicht, und Sie kennen ihn nicht. Er ist kein Paket, das man einfach in ein Flugzeug verladen kann.“

„Ich habe für hoch qualifiziertes Pflegepersonal gesorgt, das nur auf ihn wartet.“

Freddy sah Jaspar mit großen blauen Augen an. „Sie wissen nichts über kleine Kinder, nicht wahr?“

„Benedict ist noch ein Baby und wird sich mühelos an die neue Umgebung und die Menschen, die für ihn sorgen, gewöhnen.“

„Er erleidet einen Schock, wenn er plötzlich von mir getrennt wird“, beteuerte Freddy nachdrücklich. „Er muss langsam an die neue Situation gewöhnt werden. So etwas geht nicht über Nacht …“

„Ein rascher, sauberer Schnitt ist immer am besten“, unterbrach Jaspar sie. „Außerdem bezweifle ich weiterhin, dass eine nennenswerte Bindung zwischen Ihnen und dem Jungen besteht.“ Ein verächtliches Lächeln umspielte seinen Mund. „Immerhin haben Sie die meiste Zeit seines kurzen Lebens an tropischen Stränden und auf Partys verbracht.“

Freddy überlegte krampfhaft, wie sie die bevorstehende Trennung abwenden konnte. „Ich wäre bereit, mit nach Quamar zu fliegen und dort zu bleiben, bis Ben sich eingewöhnt hat und mich nicht mehr vermisst.“

Jaspar machte eine unwillige Handbewegung. „Sie reden Unsinn, Miss Sutton. Benedict hat schon am ersten Tag seines Lebens lernen müssen, ohne Sie auszukommen. Ich darf Ihnen versichern, dass Sie weder jetzt noch in Zukunft in meinem Land erwünscht sind. Morgen früh schicke ich die neue Kinderfrau vorbei. Sie wird Benedict abholen und den Tag mit ihm verbringen, damit sich beide aneinander gewöhnen können. Genügt Ihnen das?“

Freddy sah ein, dass sie die Schlacht verloren hatte. War es ein Fehler gewesen, dem Kronprinzen Ericas Rolle vorzuspielen? Wäre er nachsichtiger gewesen, wenn sie sich als Ericas Cousine und angebliche Kinderfrau zu erkennen gegeben hätte? Doch die Einsicht kam zu spät.

„Wird Ben in Quamar neue Eltern bekommen?“, fragte sie leise.

„Natürlich. In meiner Familie gibt es mehr als ein kinderloses Ehepaar.“

Freddy sah traurig vor sich hin. Sie dachte an Ruth und den Anwalt, die beide die Ansicht geäußert hatten, dass Bens Erziehung eine zu große Last für sie sein würde. Ob sie am Ende recht hatten? Brauchte Sie Ben mehr, als er sie brauchte? Ließ sie sich durch eigene Wünsche leiten? Handelte sie mehr aus Eigenliebe als aus Liebe zu Ben?

Die Al-Husayns wollten sich aus echter Sorge des Jungen annehmen. Das bewiesen nicht nur die Nachforschungen über Erica, das bewies auch Jaspars persönliches Erscheinen. Wie viel bequemer wäre es für die Familie gewesen, alles so gehen zu lassen, wie Adil es angeordnet hatte, und den Jungen zu vergessen.

Freddy stand auf und sagte leise: „Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich morgen Abend noch einmal mit Ihnen sprechen.“

Jaspar nickte und verließ das Wohnzimmer. An der Wohnungstür drehte er sich noch einmal um und sah Freddy prüfend an. Spielte sie die besorgte Mutter, weil sie glaubte, sich das schuldig zu sein? War sie unfähig, die schlechte Mutter in sich zu erkennen, die sie war? Wie auch immer … er hatte gewonnen. Bei seinem nächsten Besuch würde sie auf ihre Rechte verzichten.

Warum war ihre Miene dann so angespannt? Warum hatte er den Eindruck, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen würde? Es überraschte Jaspar, dass er bei aller Befriedigung über seinen Sieg fast so etwas wie Mitleid empfand.

4. KAPITEL

Freddy verbrachte eine schlaflose Nacht und stand früh auf. Jede Minute, die ihr noch mit Ben blieb, war unglaublich kostbar.

Sie machte ihm sein Lieblingsfrühstück und sah zu, wie er den zu kleinen Soldaten geschnittenen Toast in das weiche Ei tunkte. Sie betrachtete das kleine runde Gesicht unter den dunklen Locken, die langen, wie Halbmonde geschwungenen Wimpern. Wie zart die vom Schlaf noch leicht gerötete Haut war … Freddy presste eine Hand auf den Mund, um nicht vor Schmerz aufzuschreien.

Gestern Abend hatte sie sich wegen eines lächerlichen Kusses aufgeregt, weil das leichter gewesen war, als sich einzugestehen, dass sie Ben verloren hatte. Er gehörte ihr nicht und würde ihr nie gehören. Sie musste Abschied nehmen und zurücktreten.

Die Qual, die sie jetzt empfand, hatte sie selbst verschuldet. Schon während ihrer Ausbildung zur Kinderfrau hatte man sie davor gewarnt, sich innerlich zu stark an ein Kind zu binden, weil es früher oder später wieder seiner Familie gehören würde. Leider hatte sie diese Warnung nicht beherzigt. Ericas ständige Abwesenheit war Grund genug für sie gewesen, Ben die Liebe zu geben, nach der er sich sehnte.

Nicht Erica, sondern sie, Freddy, hatte während der ersten bangen Wochen neben dem Brutkasten gesessen und über den Jungen gewacht. Nicht Erica, sondern sie hatte den Einfall gehabt, ihn nach ihrem gemeinsamen Großvater Benedict zu nennen, weil Erica zu faul gewesen war, über einen Namen nachzudenken. Erica und immer wieder Erica …

Als der verwitwete Mr. Sutton seine verwaiste Nichte bei sich aufnahm, war Freddy gerade acht Jahre alt. Sie empfing die Cousine mit offenen Armen und bewunderte ihre Schönheit. Aber nicht nur sie ließ sich von Ericas Elfengesicht und grünen Katzenaugen bezaubern. Auch Freddys Vater erlag ihrem Charme und vergaß bei ihren Neckereien seine trüben Stimmungen.

Freddy fand es nur natürlich, hinter einer so lebhaften und selbstbewussten Cousine zurückzustehen. Erst viel später begriff sie, dass Erica zwar bezaubern, aber nicht glücklich sein konnte, und dass sich hinter ihrem koboldhaften Wesen eine tiefe Unsicherheit verbarg.

Als Erica sieben Jahre später mit einem verheirateten Mann aus der Nachbarschaft durchbrannte, war der Skandal groß. Freddys Vater tobte vor Zorn. Schon Wochen später kehrte der sündige Ehemann reumütig zurück. Auch Erica hoffte, wieder in Gnaden aufgenommen zu werden, aber ihr immer noch erzürnter Onkel schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Noch heute sah Freddy ihr fassungsloses Gesicht vor sich, das Gesicht eines Menschen, der unfähig war, die Folgen seiner Handlungen und deren Auswirkung auf andere zu bedenken.

Ein Jahr später wiederholte Erica den Versöhnungsversuch. Mit einer Armesündermiene, zu der die glänzende Aufmachung wenig passte, gelang es ihr, das Herz ihres Onkels neu zu gewinnen. Sie erzählte aufregende Geschichten von ihrem Leben als erfolgreiches Model – Geschichten, die allesamt erfunden waren. In Wirklichkeit hatte Erica vom Geld ihrer wechselnden Liebhaber gelebt, aber das durfte ihr Onkel natürlich nicht wissen.

Mit neunzehn verließ Freddy das Haus, um sich zur Kinderfrau ausbilden zu lassen. Sie sah Erica nur noch selten, und bald beschränkte sich ihr Kontakt auf gelegentliche Telefongespräche. Trotzdem war Erica zur Beerdigung ihres Onkels erschienen, sehr blass und im sechsten Monat schwanger. Die Cousinen fanden zu ihrem herzlichen Verhältnis zurück, und Erica bat Freddy, zu ihr zu ziehen und ihr während der restlichen Schwangerschaft zur Seite zu stehen.

Freddy zögerte keinen Moment, auf den Vorschlag einzugehen. Sie hatte gerade ihre erste Anstellung als Kinderfrau hinter sich, und nach dem Tod ihres Vaters sehnte sie sich nach Abwechslung. Außerdem ging es Erica wirklich schlecht. Sie litt fast ständig unter Übelkeit und fürchtete sich vor einer Fehlgeburt. Während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft lag sie im Krankenhaus und empfing außer Freddy keine Besucher.

Aus all diesen Gründen konnte Freddy verstehen, dass es Erica nicht gelingen wollte, eine Beziehung zu dem winzigen Wesen im Brutkasten herzustellen. Im Grunde war sie nie richtig erwachsen geworden. In kindischem Trotz verwandte sie alle Energie darauf, ihre schlanke Figur wiederzubekommen und sich für die vielen, mit Unwohlsein und Langeweile vertrödelten Monate zu entschädigen.

Als Freddy sie deswegen zur Rede stellte, antwortete sie nur: „Warum habe ich dich wohl zu mir geholt? Weil ich wusste, dass du alles tun würdest, was man von einer Mutter erwartet. Du wirst Bens Ersatzmutter sein.“

„Aber er braucht deine Liebe … die Liebe seiner leiblichen Mutter“, wandte Freddy ein.

„Ich habe in meinem Leben nur einen Menschen geliebt, und der warst du“, lautete Ericas unbekümmerte Antwort.

Freddy hörte es an der Wohnungstür klingeln und erwachte aus ihren traurigen Erinnerungen. Es war erst kurz vor neun Uhr, die Kinderfrau erschien also früher, als Freddy gehofft hatte. Sie war schlank und brünett, etwa Mitte zwanzig und äußerst zurückhaltend.

„Ich heiße Alula“, stellte sie sich in akzentfreiem Englisch vor und hatte dann nur noch Interesse für Ben.

Freddy blieb in der Nähe, um die Fragen zu beantworten, die Alula kühl und sachlich stellte. Ihr völliger Mangel an Freundlichkeit irritierte Freddy so sehr, dass sie endlich nervös fragte: „Wohin bringen Sie Ben?“

„Ich habe noch keine Richtlinien erhalten.“ Alula kniete neben Ben und betrachtete ihn, als wäre er von göttlicher Herkunft. „Er ist ein sehr hübsches Kind.“

Ben ließ sich die Verehrung, die ihm so sichtlich entgegengebracht wurde, gern gefallen. Mit strahlendem Lächeln überließ er Alula das Spielzeug, um das sie demütig gebeten hatte. Freddy kam sich mehr als überflüssig vor und fand nur wenig Trost darin, dass Alula so gut mit Kindern umzugehen verstand.

Sobald Alula den Eindruck gewonnen hatte, dass Ben ihr vertraute, nahm sie ihn an der Hand und ging unaufgefordert zur Wohnungstür. „Auf Wiedersehen, Miss Sutton.“ Sie sah auf Ben hinunter. „Sag Auf Wiedersehen, Benedict.“

„Wiedersehen …“, sagte Ben gehorsam, riss sich dann so plötzlich los, dass Alula zusammenschrak, und lief zu Freddy zurück. „Küss Ben!“

Freddy kamen die Tränen. Sie drückte den kleinen, warmen Körper zärtlich an sich und sagte zu Alula: „Rufen Sie mich bitte an, wenn es Schwierigkeiten gibt. Ich kann Ihnen die richtigen Ratschläge geben.“

Alula nickte, was sich als Zustimmung deuten ließ, und trat auf den Korridor hinaus. Am offenen Lift standen zwei Männer mit harten Gesichtern und kurzem Haarschnitt. Sie mussten unauffällig im Treppenhaus gewartet haben. Leibwächter, dachte Freddy. Auf Befehl Seiner Hoheit.

Bevor sich die Lifttüren schlossen, sah Ben noch einmal zurück und lächelte Freddy zu. Er war sichtlich stolz auf seine Unabhängigkeit und die neue Rolle, die er spielte.

Wie zutraulich Kinder doch sind, dachte Freddy, während Ben ihrem Blick entschwand. Sobald sie die Wohnungstür geschlossen hatte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Dabei hätte sie stolz sein müssen, denn es war ihr zu verdanken, dass Ben anderen Menschen gegenüber keinen Argwohn hegte. Sie hatte ihn früh mit vielen Kindern zusammengebracht und dafür gesorgt, dass er sich nicht absonderte.

Der Tag schlich unerträglich langsam dahin. Um sich von ihrem Kummer und der inneren Leere abzulenken, grübelte Freddy darüber nach, wie sie Jaspar Al-Husayn ihr kurzes Gastspiel als Erica Sutton erklären sollte. Würde er verstehen, dass sie sich nur aus Angst und Sorge um Ben verstellt hatte? Würde er einsehen, dass eine besondere Bindung zwischen ihr und seinem Neffen bestand, und würde er diese Bindung akzeptieren?

Je weiter der Tag voranschritt, umso unruhiger wurde sie. Jaspar hatte zwar gesagt, dass Alula den ganzen Tag mit Ben verbringen würde, aber warum kam kein Anruf? Warum holte man nicht ihren Rat ein? Es freute sie natürlich, dass Ben offenbar keine Schwierigkeiten machte, aber es wunderte sie auch. Seit seiner Geburt war er nicht einen Tag von ihr getrennt gewesen, und mit zunehmender Müdigkeit wurde er immer anschmiegsamer und sogar weinerlich. Es gab nur zwei Erklärungen. Entweder hatte Alula ihn so mit Spielzeug überhäuft, dass er nicht zum Nachdenken kam, oder sie ließ ihn so viel schlafen, wie er wollte.

Als es kurz nach fünf Uhr klingelte, rannte Freddy buchstäblich zur Tür, aber nicht Alula und Ben standen draußen, sondern Jaspar Al-Husayn und seine Leibwächter.

„Wartet Ben in Ihrem Auto?“, fragte sie atemlos. „Er muss inzwischen todmüde sein.“

„Erica …“

„Freddy“, verbesserte sie ihn, ohne nachzudenken, und trat beiseite, um Jaspar hereinzulassen. Während sich die Leibwächter im Treppenhaus verteilten, sah sie sich noch einmal nach Ben um, aber er war nicht da, und sie schloss enttäuscht die Tür.

Jaspar betrachtete sie ernster als sonst. Sie sehnte sich offenbar nach dem kleinen Jungen, der inzwischen Tausende von Meilen entfernt war. Er spürte ihre Ungeduld, ihre Verwirrung und wandte sich fast beschämt ab, was neu und für einen Mann mit seinen hohen Prinzipien keineswegs angenehm war. Fast bedrückte ihn die Aufgabe, die jetzt vor ihm lag: eine Handlung zu vertreten, die unentschuldbar oder doch höchst ungewöhnlich war. Falls es ihm nicht gelang, Erica – oder Freddy – zu besänftigen, würde ein Sturm losbrechen, vor dem er weder sein Land noch seine Familie schützen konnte.

Jaspar fragte sich, ob er jemals wieder Respekt vor seinem Vater haben würde. Einen solchen Befehl zu geben, ohne an die Folgen zu denken! Als absoluter Herrscher zu handeln in einer Welt, die ihn als gesetzlosen Tyrannen und sein Volk als mittelalterlich und rückständig brandmarken würde! Die Zeitungen würden Adils unmoralisches Doppelleben ans Licht bringen und damit jeden Bürger von Quamar zutiefst erschüttern und beschämen. Das Land, das Jaspar von ganzem Herzen liebte, würde in heftigen Aufruhr geraten, denn Gesetz war Gesetz und Unrecht war Unrecht.

Miss Sutton war vielleicht eine denkbar schlechte Mutter, aber sie hing an ihrem Sohn. Jaspar hatte sich das zunächst nicht eingestehen wollen, aber alle Fragen, die sie über Benedicts Zukunft gestellt hatte, bewiesen echte Sorge und Anteilnahme an seinem Schicksal. Damit war das Problem so gut wie gelöst gewesen. Miss Suttons ergebener Blick hatte ihm verraten, dass sie bereit war, auf ihren Sohn zu verzichten, weil sie sich seiner nicht würdig fühlte, und jetzt hatten sich die Positionen plötzlich dramatisch verschoben.

Freddy war inzwischen überzeugt, dass Ben nicht mehr kommen würde, und ging langsam ins Wohnzimmer. Eine unerträgliche Spannung hatte sich ihrer bemächtigt.

„Ben sollte zur üblichen Schlafenszeit wieder zu Hause sein“, sagte sie mit einer Stimme, die sogar in ihren Ohren unnatürlich klang. „Das ist sieben Uhr.“

Jaspar sah, wie ängstlich der Blick ihrer blauen Augen auf ihn gerichtet war und wie erregt sie die Hände ineinander verschränkte. „Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen“, sagte er leise und bedrückt.

Freddy runzelte die Stirn. Einen so demütigen Ton war sie bei Jaspar Al-Husayn nicht gewohnt.

„Bitte setzen Sie sich, damit ich erklären kann, was geschehen ist“, fuhr er fort. Der harte Zug um seinen Mund und der tiefernste Gesichtsausdruck überzeugten Freddy endgültig davon, dass etwas nicht stimmte.

Hatte Ben vielleicht einen Unfall gehabt? Bei der Vorstellung begann Freddy am ganzen Körper zu beben. „Ben … ist doch nicht tot?“, fragte sie stockend und ließ sich in den Sessel sinken, der hinter ihr stand.

„Nein, es geht ihm gut.“ Jaspar schien sich mit dieser Versicherung selbst trösten zu wollen. „Sie brauchen sich um seine Gesundheit keine Sorgen zu machen.“

„Warum müssen Sie sich dann bei mir entschuldigen?“

„Heute Morgen um halb zehn brachte Alula Benedict zu mir, damit wir uns anfreunden konnten. Das gelang ohne jede Schwierigkeit. Benedict ist ein äußerst liebenswürdiges Kind.“ Jaspars Stimme klang bewegter als sonst. „Später ging ich aus, um Geschäftsfreunde zu treffen. Als ich am späten Nachmittag zurückkam, erhielt ich einen Anruf von meinem Vater …“

Freddy rutschte auf ihrem Sessel nach vorn. „Von Ihrem Vater? König … Zafi?“

„Zafir.“ Jaspar ballte die schlanken Hände zu Fäusten, hob dann rasch den Kopf und sah Freddy mit seinen dunkelgoldenen Augen an. „Sobald ich die Botschaft verlassen hatte, brachten Alula und ihre Begleitung Benedict zum Flughafen. Mit Hilfe eines gefälschten Passes von Quamar gelang es ihnen, Ihren Sohn an Bord der bereitstehenden Privatmaschine zu bringen. Innerhalb der nächsten Stunde werden sie in Quamar landen.“

Freddy hatte Mühe, Jaspars Ausführungen zu folgen. Sie war von Anfang an so aufgeregt gewesen, dass Worte wie „Pass“ und „Flughafen“ zunächst keinen Sinn für sie ergaben.

„Dann ist Ben …“

„Nicht mehr in diesem Land.“

Nicht mehr in England! Freddy schüttelte langsam den Kopf. Das konnte nicht sein. Sie weigerte sich, das Unbegreifliche zu fassen.

„Das kann nicht sein.“

„Ich bin tief beschämt, Miss Sutton, aber es ist die Wahrheit.“

Tief beschämt? Wenn jemand für diese Entführung verantwortlich war, dann der Kronprinz persönlich! Er hatte Ben von dieser hinterhältigen Alula abholen und außer Landes bringen lassen. Ben war fort … entführt … geraubt!

Freddys Magen krampfte sich zusammen, und alles um sie her begann sich zu drehen. Sie versuchte nachzudenken, aber ihr Verstand funktionierte einfach nicht mehr. Ein einziger Gedanke nahm immer mehr Gestalt an. Während sie gutgläubig und vertrauensvoll auf Bens Rückkehr gewartet hatte, war er in einem Flugzeug gefangen gewesen, das ihn immer weiter von ihr fortbrachte.

„Sag Auf Wiedersehen, Benedict“, hatte Alula ihn heuchlerisch aufgefordert!

Freddy begann plötzlich zu frieren, und auf ihrer Stirn erschienen kleine glänzende Tropfen. Sie fühlte sich wie ein erschrecktes Kind, das nicht glauben konnte, was man ihm angetan hatte. In welchem Jahrhundert lebten die Quamari? Waren sie tatsächlich die Wilden, die eine gehässige Propaganda gern aus ihnen machte? Jaspar Al-Husayn war hergekommen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Nach anfänglichem Zögern hatte sie es ihm geschenkt, weil sie sich keinen Erfolg davon versprach, um Ben zu kämpfen. Aber jetzt …

„Das können Sie nicht tun“, flüsterte sie kaum hörbar. „Sie können ihn mir nicht einfach wegnehmen. Er hat nicht mal seinen Pyjama …“

Jaspar öffnete die Wohnungstür, sprach kurz mit einem der Leibwächter und trug ihm auf, den Arzt aus der Botschaft zu holen. Dann ging er zur Bar, nahm ein Glas aus dem glitzernden Spiegelschrank und füllte es reichlich mit Brandy. Das wird ihr guttun, dachte er. Es wird den Schock mildern und ihr helfen, das zu ertragen, was noch kommt … dass die Trennung von ihrem Sohn endgültig ist.

Freddy fragte sich benommen, warum Jaspar ihr ein Brandyglas in die Hand drückte. Sie war aufgestanden, denn sie hatte bemerkt, dass er beim Einschenken etwas Flüssigkeit vergossen hatte.

„Ich muss das wegwischen“, sagte sie. „Es ruiniert die Politur.“

„Entschuldigen Sie. Ich bin es nicht gewohnt, selbst einzuschenken.“ Jaspar legte auch Freddys andere Hand um das Glas, damit sie es besser halten konnte. Sie sah in sein dunkles, anziehendes Gesicht, das die Natur so makellos gebildet hatte, und dachte: Was für ein faszinierendes Gesicht. Was für ein faszinierender Mann!

Etwas anderes dachte sie nicht, denn ihr Verstand weigerte sich immer noch, das Geschehene zu begreifen. Solange sie es nicht hinnahm, war es auch nicht passiert. Wenn sie sich erst einmal damit abgefunden hatte … Nein, es konnte einfach nicht wahr sein! Hier lag ein Irrtum vor, ein furchtbarer Irrtum. Jaspar erniedrigte sich nicht so weit, wenn es keine Erklärung und keine Möglichkeit gab, alles wieder ins Reine zu bringen.

Vorsichtig kostete sie etwas Brandy. Die goldbraune Flüssigkeit brannte so stark in der Kehle, dass sie husten musste, aber gleichzeitig spürte sie eine angenehme Wärme, die sie veranlasste, in kleinen Schlucken weiterzutrinken.

„Wir werden Sie entschädigen“, sagte Jaspar leise. „Nennen Sie Ihre Bedingungen.“

„Ich will Ben.“ Freddy musste keine Sekunde über die Antwort nachdenken. „Ich will Ben wiederhaben. Sie sind ein Kronprinz. Sie können veranlassen, dass das Flugzeug umkehrt.“

„So gern ich das auch täte … Ich darf den Anordnungen meines Vaters nicht zuwiderhandeln. Er ist Oberbefehlshaber des Militärs.“

Freddy sah Jaspar verständnislos an. „Des Militärs?“

„Es befindet sich kein ziviles Personal an Bord des Flugzeugs. Der Auftrag meines Vaters wird in jedem Fall ausgeführt. Ich bin machtlos, obwohl ich alles versucht habe.“

Freddy musste sich wieder hinsetzen. Sie verstand das alles nicht, nur etwas nahm langsam Gestalt in ihrem Kopf an und löschte alle anderen Überlegungen aus: Ben war fort. Unwiederbringlich fort. Man hatte ihn ihr weggenommen, ohne sich auch nur an die zuständigen Behörden zu wenden.

Wie hatte sie Jaspar Al-Husayn, diesem Despoten aus einem despotischen Land, jemals trauen können? Wie hatte sie Ben dieser zwielichtigen Alula, die sich als Kinderfrau ausgab, widerstandslos überlassen können? Als Folge davon war ein Verbrechen verübt worden. Warum alarmierte sie nicht die Polizei?

Das Glas entglitt Freddys Händen und zersplitterte auf dem Boden. Ohne sich um die Scherben zu kümmern, beugte sie sich vor und griff nach dem Telefonhörer.

„Was tun Sie da?“

Plötzlich war das Maß voll. Es genügte, dass Jaspar sich zwischen Freddy und das Telefon stellte und ihr damit den letzten Fluchtweg abschnitt, um sie aus ihrer Betäubung zu wecken und wieder voll reaktionsfähig zu machen.

„Aus dem Weg!“, schrie sie und stieß Jaspar so heftig beiseite, dass sie genug Bewegungsfreiheit bekam. „Ich alarmiere die Polizei. Sie haben die Gesetze dieses Landes gebrochen. In England kann man Menschen nicht einfach rauben … das braucht mir kein Anwalt zu sagen! Ich sorge dafür, dass Ihr kleines hinterwäldlerisches Land zur Rechenschaft gezogen wird, und zwar auf eine Weise, von der Sie nicht mal träumen! Es würde mich nicht wundern, wenn Ihr ganzer schöner Plan darauf hinausläuft, Ben umzubringen!“

Es war, als würde die Hölle losbrechen. Freddy hörte die Wohnungstür splittern, fünf Leibwächter stürzten herein und stellten sich schützend um den Kronprinzen, als würde er von einer wahnsinnigen Terroristin bedroht.

„Sie elender Feigling!“, fuhr Freddy ihn an. „Ich wollte, ich hätte Sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen.“

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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