Julia Collection Band 96

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GEFÄHRLICHE GLUT von JORDAN, PENNY
Schon in Rocco Leopardis Privatjet auf dem Flug nach Sizilien verfällt Julie wehrlos der Glut in seinen Augen, dem Feuer seiner Umarmung. Dabei steht eine Lüge zwischen ihnen: Der stolze Italiener hält sie für eine Frau, die sie niemals war und niemals sein kann …

LOCKENDE FLAMMEN von JORDAN, PENNY
"Hier soll ich schlafen?" Entsetzt starrt Leonora auf das Doppelbett im Turmzimmer des Castellos - und erntet von Alessandro Leopardi nur ein gefährliches Lächeln. Denn sie beide wissen: Die Nacht mit ihm ist der Preis, den Leonora für einen riskanten Plan zahlen muss …

VERFÜHRERISCHES FEUER von JORDAN, PENNY
"Zeig mir, wie man liebt." Leise gehauchte Worte, die Falcons Blut erhitzen! Völlig unerwartet brennt der mächtige Sizilianer vor Verlangen nach der zarten Annie. Und wie ein Raunen geht es über die Insel: Der Leopardi-Erbe hat endlich sein stolzes Herz verloren …


  • Erscheinungstag 22.07.2016
  • Bandnummer 96
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707767
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Jordan

JULIA COLLECTION BAND 96

1. KAPITEL

Ein lautes Geräusch ließ Julie erschrocken herumfahren. Dann griff sie instinktiv nach ihrer Umhängetasche. Hier in der Gegend musste man höllisch aufpassen. Erst gestern war sie von der Leiterin der Kindertagesstätte gewarnt worden, nie irgendwelche persönlichen Unterlagen in der Wohnung zu lassen. Begehrtes Diebesgut waren in letzter Zeit offenbar Ausweispapiere, sodass Julie jetzt alles in ihrer Handtasche bei sich trug.

„Ms. Simmonds?“

Julie zuckte zusammen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Mann nicht bemerkt hatte, der direkt vor ihrer Haustür stand. Ein kurzer Blick auf ihn genügte, um zu wissen, dass er bestimmt kein Gauner war. Dafür bürgte allein der luxuriöse Wagen, der am Bordstein parkte und anscheinend ihm gehörte. Zumindest hatte Julie das Auto hier noch nie gesehen.

Sie nickte wachsam.

„Und das ist Ihr Kind?“

Jetzt spannte sie sich an, zögerte und drückte ihren kleinen Neffen noch fester an ihre Brust. Dabei versuchte sie entschlossen eine düstere Vorahnung beiseitezuschieben. Immerhin war Josh ja wirklich ihr Kind – wenn auch noch nicht lange.

Sie war bis auf die Haut durchnässt, weil es auf dem Weg zur Kita angefangen hatte zu schütten. Ihre feinen hellblonden Haare fielen ihr in langen dünnen Strähnen über die Schultern, und wahrscheinlich hatte sie vor Kälte schon ganz blaue Lippen. Ausgerechnet in so einem erbärmlichen Zustand musste dieser Mann sie aufhalten und ihr Fragen stellen, die sie nicht beantworten wollte. Josh, die Windeltasche und ihre Handtasche zogen ihre Schultern wie mit Bleigewichten beschwert nach unten.

„Falls Sie ein Geldeintreiber sind …“, begann sie. Ihre Stimme klang dünn vor Müdigkeit und Verachtung, aber sie hatte Herzklopfen vor Angst. Doch Angst wovor? Josh gehörte ihr. Sie hatte nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass dieser Mann versuchen könnte, ihn ihr wegzunehmen. Aber so erging es einem eben, wenn man in ständiger Furcht vor dem Gerichtsvollzieher und nur von der Hand in den Mund lebte. Man fühlte sich schuldig und war nervös, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab.

Doch wenn der Mann tatsächlich hinter Geld her sein sollte, verplemperte er nur seine Zeit. Julie reckte stolz das Kinn. Bei ihr gab es nichts mehr zu holen, sogar den Buggy von Josh hatten sie ihr schon weggenommen.

Es war sinnlos, sich selbst zu bemitleiden oder sich zu wünschen, dass ihre Eltern ein Testament gemacht hätten. Am Ende würde sie als einzige Überlebende der Familie sowieso alles erben. Blieb nur zu hoffen, dass das Geld reichte, um Judys Schulden zu begleichen und ein bescheidenes Häuschen zu kaufen, in dem sie mit Josh leben konnte. Obwohl der Anwalt sie bereits vorgewarnt hatte, dass eine endgültige Lösung aufgrund der komplizierten Situation wohl noch einige Zeit auf sich warten lassen würde.

Bis jetzt stand nur fest, dass ihre Eltern, ihre Schwester und James – der Verlobte ihrer Schwester – sowie dessen Eltern zusammen mit zwanzig weiteren Fahrgästen bei einem schweren Zugunglück ums Leben gekommen waren. Der Schock war unvorstellbar gewesen. Julie und ihr kleiner Neffe Josh waren allein zurückgeblieben, sodass Julie sich jetzt um das Kind ihrer verstorbenen Schwester kümmern musste. Und nebenbei versuchte sie irgendwie auch noch James’ Tod zu verkraften.

Die Trauerfeiern waren in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer gewesen als die Todesnachrichten selbst. Natürlich hatte Julie als einziges noch lebendes Familienmitglied die Beerdigung für ihre Eltern und ihre Schwester organisieren müssen. Sie fand, dass es richtig war, Judy und James als Verlobte zusammen zu bestatten, aber James’ ältere Schwester Annette hatte diese Idee empört zurückgewiesen und darauf bestanden, dass James neben ihren Eltern begraben werden sollte.

Bei der Trauerfeier hatte Julie Annette zum ersten Mal persönlich getroffen. Und James’ ältere Schwester war genauso gewesen, wie James sie beschrieben hatte: Arrogant, oberflächlich und kalt.

„Halten Sie mit dem Kind ein bisschen mehr Abstand“, hatte sie scharf gesagt, als Julie ihr mit Josh auf dem Arm vermeintlich zu nah gekommen war. „Dieser Mantel hat ein Vermögen gekostet, er ist aus reinem Kaschmir.“

Rocco sah die Schatten, die über die ungewöhnlich ausdrucksvollen dunkelgrauen Augen der Frau huschten. Diese Augen waren das einzig Lebendige an ihr. Sie war sichtlich am Ende.

„Ein Geldeintreiber?“ Er musterte sie verächtlich. „Das trifft es vielleicht nicht ganz.“ Und einen Moment später fügte er hinzu: „Obwohl ich auch gekommen bin, um etwas abzuholen.“

Etwas abzuholen? Bei ihr gab es aber nichts mehr zu holen. Sie setzte – hoffentlich – ein unerschrockenes Gesicht auf, während sie den Mann genauer musterte.

Das kalte Neonlicht der Straßenlaternen verlieh dem südländisch wirkenden Gesicht mit den hohen Wangenknochen einen Ausdruck gnadenloser Arroganz und überzog die olivfarbene Haut mit einem bronzenen Schimmer. Julie glaubte in das Gesicht eines Mannes zu schauen, der weder Mitleid noch Erbarmen kannte.

Rocco war schleierhaft, was seinen jüngeren Halbbruder an dieser halb verhungert wirkenden grauen Maus angezogen haben könnte. Sie wirkte erbärmlich, ja mitleiderregend in ihrem fadenscheinigen, durchnässten Mantel und absolut reizlos – zumindest auf ihn. Aber bestimmt war er ungerecht. Vielleicht begann sie ja auf diese billige Art, die Antonio bei Frauen geschätzt hatte, zu glitzern, wenn man nur genug verbotene Partydrogen und Champagner intus hatte.

Abscheu stieg in ihm auf – Abscheu über den Lebensstil seines verstorbenen Halbbruders und die Frauen, die sich mit ihm vergnügt hatten, vor allem aber Abscheu angesichts der Pflicht, die ihm von seiner Familie auferlegt worden war.

Rocco hatte sich von Anfang an energisch gegen dieses Vorhaben gewehrt, obwohl er jetzt langsam bereit war zuzugeben, dass in diesem Fall Mutter und Kind von seiner Einmischung möglicherweise nur profitieren konnten.

Julie zitterte vor Kälte, sie musste mit Josh ins Haus, aber dieser Typ versperrte ihr den Weg. Der Kleine war den scheußlichen Husten, mit dem er sich bereits seit Winteranfang herumplagte, immer noch nicht losgeworden.

Er hatte von Anfang an mit Problemen kämpfen müssen, nachdem er drei Wochen vor dem offiziellen Geburtstermin durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen war. Zuerst einmal war da die traurige Tatsache, dass Judy ihn eigentlich nicht hatte haben wollen. Dann hatten sich gesundheitliche Probleme dazugesellt, von denen er sich nie richtig erholt hatte und die teilweise auf Judys Unachtsamkeit zurückzuführen waren. Und dann war dieses schreckliche Unglück passiert, wo er in einem einzigen Moment seine Eltern und Großeltern beiderseits verloren hatte.

Aber Julie, die ihren Neffen von ganzem Herzen liebte, war fest entschlossen, ihn für diesen grausamen Schicksalsschlag so gut wie möglich zu entschädigen und das Beste für ihn herauszuholen. Er war schließlich alles, was ihr von James und ihrer eigenen Familie geblieben war.

Damals hatte sie sich selbst und dem Mann, den sie so sehr geliebt hatte, geschworen, sein Kind zu lieben und zu beschützen. Auch wenn sie nicht hundertprozentig sicher sein konnte, dass Josh wirklich James’ Sohn war.

Dabei war James so stolz und aufgeregt gewesen, als Judy ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte.

Rocco wurde langsam ungeduldig. Er war schließlich nicht umsonst ein Leopardi. Seit der Zeit der Kreuzzüge hatten die Leopardis das Land, in dem sie lebten, ihrem Willen unterworfen und nach ihren eigenen Vorstellungen regiert. Rocco war in einer Welt aufgewachsen, in der das Wort eines Leopardi Gesetz war.

„Ich weiß nicht, was Sie abholen möchten“, begann Julie erschöpft, „aber mein Kind friert. Ich muss ins Haus.“ Sie wollte vor diesem Fremden nicht ihre Handtasche öffnen, aber sie brauchte ihren Schlüssel, um in die Wohnung zu gelangen. Deshalb begann sie jetzt verstohlen, in ihrer Tasche zu wühlen, was mit Josh auf dem Arm allerdings ein kleines Kunststück war.

„Geben Sie mir das Kind, ich halte es solange“, sagte der Mann, nachdem er sie mit einem verärgerten Blick gestreift hatte.

Julie blickte ihn erstaunt an. „Haben Sie auch Kinder?“, rutschte es ihr heraus. Als ihr klar wurde, wie persönlich und unangemessen ihre Frage war, schoss ihr die Röte ins Gesicht.

Sein schroffes „Nein“ machte alles noch schlimmer. Am liebsten wäre sie vor Verlegenheit im Boden versunken. Und dann glitt ihr die Tasche aus den Händen und ihre Geldbörse, ein Bündel unbezahlter Rechnungen von Judy, ihre Schlüssel und verschiedene Ausweispapiere – darunter der Reisepass von Josh als traurige Erinnerung an die nie stattgefundene Hochzeitsreise, auf die sich ihre Schwester so gefreut hatte – das alles landete auf der regennassen Straße.

Als Rocco nach unten schaute und in dem ganzen Berg, der sich aus der Handtasche der Frau ergossen hatte, die Ausweise entdeckte, stutzte er.

Ohne ihren Protest zu beachten, bückte er sich nach ihren Habseligkeiten. Dabei nutzte er die Gelegenheit, um einen unauffälligen Blick in die beiden Reisepässe zu werfen.

Warum schleppte sie die Pässe mit sich herum? War das Zufall oder ein Wink des Schicksals? Als ihm eine dritte Möglichkeit einfiel, verzog er unangenehm berührt das Gesicht.

Gut möglich, dass sie ständig auf dem Sprung war, immer darauf vorbereitet, das Land zu verlassen. Falls ihr der Boden unter den Füßen zu heiß wurde? Das war mehr als verdächtig. Wer konnte schon wissen, in was für Machenschaften sie verstrickt war? Prostitution war ein blendendes Geschäft, das immer noch hohe Profite versprach.

Rocco streckte die Hand nach ihrem Portemonnaie aus, runzelte wieder die Stirn, als er fühlte, dass es praktisch leer war, und hob dann ihren Schlüsselbund auf.

Nachdem er ihr alles zurückgegeben hatte, atmete Julie erleichtert auf. Sie wusste nicht genau, was sie befürchtet hatte, aber jetzt entspannte sie sich etwas, zumindest bis er in herrischem Ton sagte: „Das Kind muss ins Trockene.“ Er legte ihr eine Hand auf den Arm, während er mit dem Kopf auf das Auto deutete. „Da ist mein Wagen.“

Hatte sie sich aus eigenem Antrieb bewegt, oder war es der Wind, der sie, unterstützt von seiner Hand, in die gewünschte Richtung gedrängt hatte? Auf jeden Fall war sie plötzlich zwischen ihm und der Karosserie eingeklemmt. Julie erschauerte.

Was hatte das zu bedeuten? Was wollte er von ihr? Von ihr persönlich ganz bestimmt nichts. Nicht dieser Mann, dem aus jeder Pore Arroganz triefte und Verachtung für alles, was nicht vom Allerfeinsten war. Aus diesem Grund nahm er wahrscheinlich auch ganz schnell seine Hand wieder von ihrem Arm. Jetzt brauchte er sie nur noch durchzulassen. Sie könnte ihn sogar beiseite stoßen. Ihre Hand war schon ganz taub, weil sie immer noch ihre Tasche fest umklammert hielt, und Josh auf ihrem Arm fühlte sich zentnerschwer an, obwohl er eigentlich leicht wie eine Feder war. Vorsichtig versuchte sie ihn zu verlagern.

„Geben Sie ihn her.“

Julie sah alarmiert, dass der Mann die Hände nach Josh ausstreckte, lange schlanke Finger schickten sich an, nach dem Kleinen zu greifen. Julie reagierte nicht und hielt Josh unerschütterlich fest.

„Was wollen Sie?“, fragte sie. „Wer schickt Sie?“

„Niemand“, gab er schroff zurück. „Fragen Sie lieber, woher ich komme.“

„Woher Sie kommen? Ich verstehe nicht.“

„Wirklich nicht? Und wenn ich Ihnen sage, dass ich aus Sizilien komme, geht Ihnen dann vielleicht ein Licht auf?“

Julie wurde ganz schummrig, als ihr zu dämmern begann, was seine Worte bedeuteten. Plötzlich hörte sie das Pochen ihres Herzens in ihren Ohren.

„Aus Sizilien?“, wiederholte sie tonlos.

Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, nur damit nicht. Nein, damit ganz bestimmt nicht. Panik stieg in ihr auf, während sie stammelte: „Wie … wie heißen Sie?“

Rocco war nicht daran gewöhnt, dass man ihn nach seinem Namen fragte. Mit einem verächtlichen Blick auf sie verschränkte er die Arme vor der Brust. Der feine Stoff seines maßgeschneiderten italienischen Anzugs passte sich seinen Bewegungen so geschmeidig an wie eine zweite Haut.

„Mein Name ist Leopardi – Rocco Leopardi. Aber hätten Sie jetzt vielleicht endlich die Güte, mir das Kind – meinen Neffen – zu geben und einzusteigen?“

Seinen Neffen. Dann war er also nicht Antonio, der reiche italienische Playboy, mit dem ihre Schwester im Mai letzten Jahres in Südfrankreich eine Affäre gehabt hatte. Eine Affäre, der Josh möglicherweise seine Existenz verdankte … oder auch nicht. Und Judy hatte Julie das Versprechen abverlangt, James kein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Erleichterung durchströmte warm ihren vor Kälte zitternden Körper und veranlasste sie dazu, ihre Wachsamkeit für einen winzigen Moment aufzugeben und unbewusst den Griff um Josh zu lockern.

Rocco, der es sah, befürchtete, dass sie das Kind gleich fallen lassen könnte. Automatisch streckte er die Hände aus und nahm ihr das Baby aus dem Arm, dann öffnete er die hintere Tür des Wagens.

„Was soll das denn?“

Angsterfüllt beobachtete Julie, wie der Mann Josh auf der Rückbank in einen Kindersitz setzte. Er behandelte ihren kleinen Neffen mit äußerster Behutsamkeit, was ihren Argwohn noch verstärkte.

„Ich bringe das Kind nur in Sicherheit, damit wir ungestört reden können. Sonst lassen Sie den Jungen womöglich noch fallen.“

„Was erlauben Sie sich!“, fauchte Julie empört. „Sie wollen ihn mir wegnehmen, stimmt’s? Dazu haben Sie aber kein Recht. Er ist mein Kind.“

Rocco streifte sie mit einem eisigen Blick. So eine dumme Gans! Und hysterisch war sie obendrein. Aber das hätte er sich gleich denken können.

Julie wurde von Panik überschwemmt. Wusste er womöglich, dass sie nicht Josh’ leibliche Mutter war? Wollte er ihr das Recht auf Josh streitig machen? Männer wie er schreckten vor nichts zurück, wenn sie entschlossen waren, ihren Willen durchzusetzen. Und wenn er Josh wollte … Jetzt hämmerte Julies Herz wie verrückt. Ihr Blick fiel auf ein älteres Paar, das ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkam. Überwältigt von ihrem instinktiven Drang, Josh zu beschützen, öffnete sie den Mund, um zu schreien, obwohl sie es normalerweise hasste, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Hören Sie …“ Rocco wollte ihr eben klarmachen, dass sie völlig überzogen reagierte, als er das Paar auf der anderen Straßenseite entdeckte. Da er sofort erriet, was sie vorhatte, reagierte er blitzschnell. Sie stand so dicht vor ihm, dass es ganz leicht war, sie an sich zu ziehen und ihren Schrei zu dämpfen, indem er seinen Mund auf ihren presste.

Eine Frau wie sie zu küssen wäre ihm normalerweise nie eingefallen. Körperlich fühlte er sich nicht angezogen von ihr, und moralisch stieß sie ihn sogar ab, da sie offenbar bereit war, mit jedem Mann ins Bett zu gehen, Hauptsache, die Kasse stimmte.

Rocco bevorzugte Frauen, die nicht nur attraktiv, sondern auch intelligent waren und vor allem stolz. Obwohl er einer der ältesten Dynastien Siziliens entstammte, hatte er sein Vermögen aus eigener Kraft verdient, ein Umstand, der ihm viel mehr bedeutete als seine Herkunft. Deshalb war es für ihn selbstverständlich, dass er sich nur für Frauen interessierte, die ihm in jeder Hinsicht ebenbürtig waren.

Die Frau in seinen Armen hatte sich versteift, und er konnte spüren, wie ihr Herz hämmerte.

Hatte sie Angst? Vor ihm? Rocco fand den Gedanken unerträglich, dass irgendwer vor ihm Angst haben könnte, besonders jemand, der schwächer und verletzlicher war als er selbst. Wie um Himmels willen konnte eine Frau, die sich an seinen fragwürdigen Halbbruder weggeworfen hatte, ausgerechnet vor ihm Angst haben?

Und doch waren ihre vollen Lippen überraschend weich, und die Zerbrechlichkeit ihres Körpers wirkte so entwaffnend, dass er nicht anders konnte, als sie noch enger an sich zu ziehen und sie mit der Zungenspitze zu ermuntern, ihm ihren Mund zu öffnen.

Rocco war es nicht gewöhnt, dass eine Frau sich ihm verweigerte.

Der Grund dafür, weshalb Julie in Roccos Armen lag, wurde unter einer Welle anderer Gefühle und einer gänzlich anderen Art von Panik begraben. Der einzige Mann, von dem sie so gehalten und geküsst werden wollte, war James. Und doch spürte Julie zu ihrem Entsetzen, wie ihr Widerstand erlahmte. Sie fühlte sich auf einmal ganz schwach und fast magisch angezogen von der Stärke dieses Fremden. Voller Sehnsucht reckte sie sich ihm entgegen, ihre Lippen lechzten förmlich danach, sich dem schroffen Befehl seines Mundes zu unterwerfen, dem entschlossenen Druck seiner Zunge. Ihre darbenden Sinne sehnten sich nach der Lust, die sein Kuss in ihr weckte.

So hatte sie früher geträumt, von James gehalten und geküsst zu werden, lange bevor sie beide ein Liebespaar geworden waren, lange bevor sie, Julie, ihre große Liebe an Judy verloren hatte.

Es war schlimm gewesen, als James ihr so behutsam wie möglich beizubringen versucht hatte, dass er sich unsterblich in ihre Schwester verliebt hatte. Als noch schlimmer aber hatte sie es empfunden, als Judy ihr in einem betrunkenen Moment gestand, dass sie nicht sicher sagen konnte, wer der Vater ihres ungeborenen Kindes war.

Und dann hatte ihre Schwester ihr von dem reichen sizilianischen Playboy erzählt, mit dem sie im Frühjahr eine flüchtige Affäre gehabt hatte und der jetzt von ihrer Schwangerschaft nichts wissen wollte. Deshalb hatte Judy beschlossen, James in dem Glauben zu lassen, das Kind sei von ihm, weil es ja auch so sein könnte. Immerhin hatte James sie gleich nach ihrer Rückkehr aus Cannes ins Bett gezerrt.

Als Julie daran dachte, wie Judy ihr nicht nur einmal in allen Einzelheiten ihr Sexleben mit James geschildert hatte, klammerte sie sich unbewusst verzweifelt an Rocco. Diese Gespräche mit ihrer Schwester waren die reine Hölle gewesen, aber Julie hatte es irgendwie nicht geschafft, ihnen auszuweichen. Und so verwandelten sich Roccos Küsse unversehens in die Küsse von James, nach denen sie schon so lange hungerte, es war James, der sie berührte, es war James’ Körper, den sie an ihrem spürte. Sie ertrank in ihren Empfindungen, wobei ihr die Intensität ihrer Gefühle ihre Reaktionen diktierte, die gespeist wurden von dem Stolz auf ihre Liebe zu James.

Rocco fühlte sich völlig überrumpelt von ihrer so plötzlich entflammten Leidenschaft. Die Frau presste sich an ihn und öffnete einladend ihren Mund, ihre Atemzüge beschleunigten sich und wurden ebenso ungleichmäßig wie ihre Herzschläge.

Er reagierte instinktiv darauf, indem er sie noch enger an sich zog und die Süße auskostete, die ihren geöffneten Lippen entströmte. Das leise Aufstöhnen, das ihr entschlüpfte, als seine Zunge in ihren Mund eindrang, begriff er als Einladung, mit den Händen über ihren Körper zu fahren und ihre intime Nähe zu suchen.

Die harten männlichen Schenkel, die sich zwischen ihre Beine pressten, brachten Julie schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

Dieser Mann war nicht James.

Sobald er ihren Widerstand spürte, ließ Rocco von ihr ab. Abscheu stieg in ihm auf, Abscheu über sich selbst und über das, was er getan hatte. Seit wann hatte er es nötig, sich an Antonios Verflossenen zu vergreifen?

Absolut undenkbar, dass er eine Frau wie sie begehren könnte.

Er küsste sie zwar nicht mehr, aber sie lag immer noch in seinen Armen, erkannte Julie erschauernd. Warum hatte sie seinen Kuss erwidert? War sie verrückt geworden? Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit James. Das Paar, das sie auf sich hatte aufmerksam machen wollen, war natürlich längst verschwunden.

Auch wenn Rocco am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte und vor ihr und seinem eigenen Versagen davongelaufen wäre, wusste er doch, dass das unmöglich war. Er stand seiner Familie gegenüber in der Pflicht. Deshalb beschloss er einfach, den Vorfall auszublenden und so zu tun, als sei nichts passiert.

„Wir müssen etwas besprechen“, versuchte er in schneidendem Ton an ihr Gespräch von vorher anzuknüpfen.

„Ich lasse es aber nicht zu, dass Sie mir mein Kind wegnehmen“, stieß Julie verzweifelt hervor, während sie ihre Tränen wegblinzelte.

Rocco schaute sie stirnrunzelnd an.

„Machen Sie sich nicht lächerlich. Niemand will Ihnen Ihr Kind wegnehmen. Ich bitte Sie nur, mich nach Sizilien zu begleiten, damit wir die unsichere Rechtslage klären können. Das wird nicht viel länger als eine Woche in Anspruch nehmen … höchstens zehn Tage. Und anschließend steht es Ihnen jederzeit frei, nach England zurückzukehren. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.“

Julie musterte ihn. Sein Ehrenwort! Eigentlich hätte es theatralisch klingen müssen, aber seltsamerweise passte es zu seinem Gesichtsausdruck. Der so feierlich war, als ob sie eben einen Pakt geschlossen hätten. Sie spürte, wie ihr der Atem stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie eben genickt hatte.

Sie wirkte jetzt etwas entspannter, aber wahrscheinlich nur, weil ihr jetzt endlich die ersehnte Aufmerksamkeit zuteil wurde, überlegte Rocco. Er sollte sie möglichst schnell ins Flugzeug verfrachten, dann konnte sie wenigstens ihre Meinung nicht mehr ändern. Da sie die Pässe für sich und das Kind bei sich hatte, gab es keinen Grund, die Abreise noch länger hinauszuzögern. Roccos Privatmaschine wartete am Flughafen und war jederzeit startklar.

„Fürs Erste jedoch schlage ich vor, dass wir uns zu dem Kind ins Auto setzen. Hier draußen ist es zu ungemütlich“, fuhr Rocco fort, während er ihr die Beifahrertür aufhielt.

Julie zögerte.

„Jetzt steigen Sie schon ein“, forderte er sie mit mühsam gezähmter Ungeduld auf. „Ich versichere Ihnen, dass Sie und das Kind von meinem Vorschlag nur profitieren können.“

Profitieren? Was sollte das heißen? In welcher Hinsicht profitieren? Julie bekam heftiges Herzklopfen.

Rocco sah, dass sie überlegte. Achtung, Geld! dachte er zynisch. Da wird sie gleich hellhörig.

„Aber warum? Ich meine, ich weiß, dass Ihr Bruder …“ Sie brachte es nicht über sich zu sagen, dass sein Bruder Josh’ Vater sein könnte, weil sie damit zumindest theoretisch die Möglichkeit einräumte, dass Josh nicht James’ Sohn war. Aber das durfte nicht sein. Obwohl es jetzt natürlich vorrangig um Josh ging. Wenn die Familie dieses reichen Playboys, mit dem ihre Schwester eine Affäre gehabt hatte, bereit war, in irgendeiner Form zu Josh’ Unterhalt beizutragen, war dagegen doch eigentlich nichts einzuwenden, oder? Und welches Recht hätte sie, ihrem Neffen dieses Geld vorzuenthalten?

Ganz so einfach allerdings stellte sich die Sache auch wieder nicht dar. Was war, wenn Antonio Leopardi Josh für sich allein beanspruchte? Wenn er ihn ihr wegnehmen wollte?

Im Licht der Straßenlaterne sah sie das verächtliche Glitzern in diesen bernsteinfarbenen Augen … Raubtieraugen. Die Augen eines Leoparden.

„Antonio war mein Halbbruder. Und er war Sizilianer, deshalb ist dieses Kind ebenfalls Sizilianer und ein rechtmäßiger Erbe. Das ist in unserer Familie Gesetz.“

In seinen Worten schwang eine Warnung mit, die so uralt und dunkel war wie die Geschichte Siziliens, aber in Julies Ohren hallte noch etwas anderes nach.

„Antonio war Sizilianer?“, wiederholte sie. „Was soll das heißen?“

„Was es immer heißt, wenn man von einer Person in der Vergangenheitsform spricht“, erwiderte Rocco schroff. „Mein Halbbruder – der Vater Ihres Kindes – ist tot. Obwohl die Familie Leopardi Ihnen bedauerlicherweise keinen Ersatzliebhaber stellen kann …“, wieder traf sie ein – noch verächtlicherer – Blick, „… nimmt sie ihre Verantwortung gegenüber ihren Nachkommen doch sehr ernst.“

Inzwischen fühlte sich Julie wie betäubt und war schon ganz steif vor Kälte. Es war fast, als ob Kummer und Stress der letzten Monate schlagartig ihren Tribut forderten. Schwer vorstellbar, dass sie vor nicht allzu langer Zeit eine selbstbewusste junge Frau gewesen war, die eine viel versprechende Zukunft als Assistentin in der Londoner Kommunalverwaltung vor sich hatte, mit einem stetig wachsenden Freundeskreis. Sie hatte sich mit drei anderen jungen Frauen ein Apartment geteilt, die ebenso wie sie selbst als städtische Angestellte arbeiteten. Aber diese Zeiten waren ein für alle Mal vorbei.

Bei der Aussicht, sich die Bürde der Verantwortung für das Kind, das sie so sehr liebte, mit einer richtigen Familie teilen zu können, fühlte sie ganz unvermutet Erleichterung in sich aufsteigen. Obwohl die Vorbehalte, die Rocco Leopardi ihr gegenüber hegte, überdeutlich zu spüren waren. Julie fuhr instinktiv die Krallen aus und begann empört: „Aber ich bin gar nicht …“

Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, dass es möglicherweise nicht besonders klug war, darauf hinzuweisen, dass sie nicht Josh’ leibliche Mutter war. Er hatte ihr zwar sein Ehrenwort gegeben, dass sie und Josh nicht getrennt würden, aber dabei war er selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie Josh’ Mutter war, nicht seine Tante.

„Sie sind gar nicht sonderlich betrübt über die Nachricht von Antonios Tod? Wollten Sie das sagen? Nun, das ist mir nicht entgangen.“ Rocco hielt ihr die Beifahrertür auf. „War wohl doch nicht so ernst, die Geschichte zwischen Ihnen beiden, was?“ Seine Stimme triefte vor Hohn.

Julie lehnte sich in den weichen Ledersitz zurück und senkte den Kopf. Sie wusste, dass sie seine Beleidigungen entweder stumm erdulden oder zugeben musste, dass sie nicht Josh’ Mutter war.

„Was ist denn mit … mit Antonio passiert?“, fragte sie nur der Höflichkeit halber. Immerhin war sie dem Mann nie begegnet.

„Er ist genauso gestorben, wie er gelebt hat“, erwiderte Rocco kurz angebunden. „Rücksichtslos auf der Überholspur.“

Jetzt schaute Julie ihn an, erstaunt über das Ausmaß an Verachtung, das in seiner Stimme mitschwang.

„Er ist gerast und hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Mein Halbbruder war eben schon immer ein Angeber.“

Und Judy hatte ihr vorgeschwärmt, wie gut sie und Antonio zusammenpassten.

„Aber falls dieses Kind tatsächlich ein Leopardi sein sollte, spielt es keine Rolle, ob es nur aus einer leichtsinnigen Laune heraus gezeugt wurde. Wer unser Blut in den Adern hat, gehört zu uns.“

Wieder hätte Julie fast automatisch widersprochen, so überzeugt war sie, dass James der Vater von Josh war. Sie hielt sich gerade noch zurück.

Wie stolz und eindringlich er sie beim Sprechen anschaute! Julie wurde klar, dass er jedes Wort ernst meinte. Offenbar hatte er einen sehr stark ausgeprägten Familiensinn.

Nach und nach begann sich zumindest in Umrissen abzuzeichnen, was es bedeuten könnte, wenn Josh tatsächlich Antonio Leopardis Sohn wäre. Julie wünschte sich weiterhin hartnäckig, dass James sein Vater sein möge. Allerdings wusste sie auch, dass sie kein Recht hatte, Josh sein Erbe vorzuenthalten, falls James nicht sein Vater war.

Es war offensichtlich, dass Rocco Leopardi nicht wusste, dass ihre Schwester tot war und sie, Julie, für Judy hielt. Julie verzog den Mund zu einem wehmütigen Lächeln. Hätte er ihre Schwester auch nur flüchtig gekannt, wäre ihm diese Verwechslung mit Sicherheit nicht passiert. Wo Judy doch so viel schöner gewesen war als sie selbst. Eine Tatsache, auf die ihre Schwester sie immer wieder einmal geglaubt hatte hinweisen zu müssen.

„Und warum sollen wir mitkommen nach Sizilien?“, fragte sie.

„Unser Hausarzt wird dort einen Vaterschaftstest machen.“

„Aber das geht doch hier genauso“, protestierte Julie.

Rocco überhörte es und fuhr auch schon fort: „Sollte sich unsere Vermutung bestätigen, erkennen wir das Kind selbstverständlich an und nehmen es als vollwertiges Mitglied in unsere Familie auf.“

„Und wenn Antonio nicht der Vater ist?“, fragte Julie heiser. Sie schaffte es nicht, dem Mann bei ihrer Frage in die Augen zu schauen, weil sie wusste, dass es praktisch ein Eingeständnis ihrer zweifelhaften Moral war.

Rocco runzelte die Stirn. Irgendwie verhielt sie sich anders als erwartet. Er hatte sich vorgestellt, dass sie sich zur trauernden Witwe hochstilisieren und keinen Zweifel daran dulden würde, dass Antonio der Vater ihres Kindes war. Jetzt hingegen räumte sie ganz offen ein, dass es auch anders sein könnte. Das war irritierend.

„Dann erhalten Sie von uns eine Aufwandsentschädigung und zusätzlich einen angemessenen Betrag für Ihre Diskretion.“

Julie riss empört die Augen auf.

„Einen angemessenen Betrag für meine Diskretion? Was soll das denn sein? Schweigegeld womöglich?“, fragte sie angewidert. Gott, war das abstoßend! Julie wünschte sich nichts mehr, als sich aus allem heraushalten zu können, aber das war unmöglich. Sie war für Josh verantwortlich und musste in seinem Sinne handeln.

„Sollten Sie allerdings jetzt schon wissen, dass Antonio nicht der Vater ist …“

„Nein, ich bin mir nicht sicher“, unterbrach Julie ihn kleinlaut.

Rocco meinte ihr ansehen zu können, dass sie die Wahrheit sagte.

Im Auto hing ein Duft nach teurem Leder, in den sich der Anflug eines ebenso teuren Eau de Colognes mischte. Julie drehte sich um und warf einen Blick auf Josh, froh darüber, dass sie sich in der Krippe die Zeit genommen hatte, ihn zu füttern und zu wickeln.

Josh war ein ruhiges Kind. Zu ruhig manchmal, fand Julie. Und der nette neue Kinderarzt hatte ihr zugestimmt, als sie ihre Bedenken geäußert hatte.

Die traurige Wahrheit war – wie Julie befürchtet und der Arzt vorsichtig bestätigt hatte – dass der bedauernswerte Kleine in den ersten Wochen seines Lebens von seiner Mutter vernachlässigt worden war, unter anderem, indem sie ihn falsch ernährt hatte. Außerdem war ein Infekt unbehandelt geblieben, wodurch sein Immunsystem geschädigt worden war, das jetzt Schwierigkeiten hatte, sich gegen eine Wintergrippe zu behaupten, die andere Babys problemlos wegsteckten. Und psychisch hatte er unter der mütterlichen Vernachlässigung ebenfalls gelitten. Aber Julie hatte sich fest vorgenommen, alles wiedergutzumachen, was an ihm versäumt worden war. Am liebsten hätte sie sich vierundzwanzig Stunden am Tag um ihn gekümmert, aber das war nicht möglich, weil sie für Josh und sich den Lebensunterhalt verdienen musste. Solange nicht absehbar war, was vom Erbe ihrer Eltern übrig bleiben würde, waren sie auf dieses Einkommen angewiesen.

Als Rocco plötzlich den Motor anließ und losfuhr, fragte Julie überrascht: „Wohin fahren Sie denn?“

„Zum Flughafen“, gab er völlig selbstverständlich zurück. „Wir fliegen nach Sizilien.“

Wie bitte? Nach Sizilien? Jetzt? Aber sie hatte doch gar keine Kleider zum Wechseln dabei, weder für sich noch für Josh! Außerdem hatte sie ihre Zustimmung noch gar nicht gegeben – nicht endgültig jedenfalls.

„Na hören Sie mal! Was fällt Ihnen ein?“, entrüstete sich Julie. „Das geht nicht!“

„Und warum nicht?“

„Ich kann doch nicht einfach sang- und klanglos verschwinden. Ich müsste mir erst Urlaub nehmen und in der Kita Bescheid sagen. Außerdem … wir … Josh braucht … wir brauchen beide etwas zum Anziehen und … und …“

„Sie können vom Auto aus telefonieren, und alles andere dürfen Sie getrost mir überlassen.“

Er wollte ganz offensichtlich keine Zeit vergeuden. Ein Mann der Tat. Als er auf einen Knopf am Lenkrad drückte, sah Julie zu ihrem Erstaunen, wie sich im Armaturenbrett ein Fach öffnete, aus dem sich eine Konsole mit einem Telefon herausschob.

Sie hatte eben die Krippe informiert, dass sie für ein paar Tage verreisen musste, da begann Josh auf dem Rücksitz zu weinen.

„Könnten Sie vielleicht bitte kurz anhalten?“, fragte sie Rocco. „Ich möchte mich zu Josh nach hinten setzen.“

Rocco warf einen Blick in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass Julie immer noch schlief. Vor fast einer Stunde waren ihr die Augen zugefallen, doch selbst im Schlaf lag ihre Hand immer noch schützend auf dem Kindersitz. Jeder, der den Sitz oder das Kind berührte, würde sie aufwecken.

Im Auto hing ein Geruch nach billiger feuchter Wolle. Für seinen anspruchsvollen älteren Bruder wäre das mit Sicherheit ein Grund gewesen, seinen Widerwillen deutlich zu machen, aber Rocco war toleranter. In der Baubranche war man einiges gewöhnt, da hatten solche Empfindlichkeiten keinen Platz.

Sein Vater war wütend gewesen, als er gehört hatte, dass Rocco beabsichtigte, das Stück Land, das er von einem Onkel seiner Mutter geerbt hatte, in ein Urlaubsparadies zu verwandeln. Touristen auf dem Land ihrer Vorväter! Das war unvorstellbar, eine Monstrosität und ein Verrat an allem, wofür der Name Leopardi stand.

„Auf dem Land unserer Mutter“, hatte Falcon den jüngeren Bruder in Schutz genommen, so wie er es auch in ihrer Kindheit oft getan hatte.

Die Lichter des Flughafens erhellten die kalte Nacht und spiegelten sich in dem regennassen Asphalt. Rocco nahm den Fuß vom Gas und drosselte die Geschwindigkeit.

Als Julie erwachte, hatte sie einen Moment lang Orientierungsschwierigkeiten. Nachdem ihr alles wieder eingefallen war, schaute sie erschrocken auf Josh und sah zu ihrer Erleichterung, dass ihr Neffe immer noch schlief, bevor ihr Blick nach vorn fiel. Aus einem unerfindlichen Grund machte ihr Herz einen Satz, als sie auf dem Lenkrad die kräftigen olivfarbenen Hände mit den langen Fingern sah. Sie musste ihren Blick förmlich losreißen und schaute dann aus dem Seitenfenster.

Wenig später hielt das Auto vor einer Schranke an, wo Rocco Leopardi sich erst ausweisen musste, bevor man sie durchließ. Er beschleunigte wieder, und Julie sah ungläubig, dass er direkt auf das schlanke silberne Flugzeug vor ihnen zufuhr. Eine Privatmaschine!

„Guten Abend, Sir.“

Rocco lächelte Nigel Rowlins, seinen Flugkapitän, an, als dieser den Wagenschlag öffnete.

„Guten Abend, Nigel. Ist alles bereit?“

„Ja, Sir. Die Starterlaubnis liegt vor, und die gewünschten Sachen sind an Bord.“

Rocco nickte. „Gut.“

Sie würden mit einem Privatflugzeug nach Sizilien fliegen? Warum war sie da nicht gleich draufgekommen? Nun, ganz einfach, dachte Julie trocken. Weil sie niemanden kannte, der ein Flugzeug besaß.

Und wo sollte sie jetzt frische Sachen für Josh herbekommen? Zum Glück hatte sie wenigstens zwei Fläschchen und den Flaschenwärmer in der Windeltasche. Aber zum Anziehen hatte sie nichts für ihn. Und für sich selbst auch nicht. Sie war davon ausgegangen, am Flughafen ein paar Sachen einkaufen zu können.

Hatte er sein Versprechen vergessen? Sollte sie ihn vielleicht erinnern?

Sie atmete tief durch, bevor sie sagte: „Ich hatte eigentlich gehofft, wir könnten vor dem Abflug noch ein paar Sachen einkaufen.“

Ihrer ruhigen leisen Stimme gelang es fast, darüber hinwegzutäuschen, dass sie sich wahrscheinlich schon darauf eingestellt hatte, mit vollen Händen sein Geld auszugeben.

„Alles Notwendige ist bereits an Bord“, erwiderte Rocco in herablassendem Ton.

„Alles?“, fragte Julie verunsichert. Wie konnte das sein? Er hatte ja nicht einmal gefragt, was Josh brauchte.

„Alles“, bestätigte Rocco grimmig. Was hatte sie erwartet? Einen Blankoscheck, mit dem sie in Heathrow die Designershops stürmen konnte? Ein starkes Stück, dachte er angewidert und beendete die Diskussion, indem er ausstieg. Er öffnete die hintere Tür neben Josh und hob den Kleinen aus dem Kindersitz, wobei er es Julie überließ, ihren Mantel, ihre Handtasche und die Tasche mit den Babysachen herauszuholen.

Inzwischen war es dunkel geworden, und ein kalter Wind fuhr Julie in die Glieder, während sie Rocco zum Flugzeug folgte. Als Josh die Kälte spürte, wachte er auf und begann zu weinen. Das klägliche Geschrei ging Julie zu Herzen. Der Kleine fror, außerdem war er wahrscheinlich hungrig.

Rocco Leopardi hatte Josh immer noch auf dem Arm. Er wandte sich von Julie ab und ging auf das Flugzeug zu. Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit erklomm er die Gangway, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Julie gelang es kaum, Schritt zu halten.

Falls der uniformierte Steward überrascht war von ihrem Auftauchen oder davon, dass sein Boss ein schreiendes Bündel im Arm hielt, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er nahm Julie den Mantel ab und erkundigte sich höflich nach ihren Getränkewünschen.

„Ich würde vorschlagen, nichts Alkoholisches, sondern lieber etwas Heißes, Russell“, mischte sich Rocco Leopardi ein. Seine Bevormundung weckte prompt Julies Trotz. Am liebsten hätte sie beim Steward ein Glas Champagner bestellt, obwohl sie normalerweise kaum Alkohol trank.

Aber sie lächelte den Mann nur unsicher an und fragte verlegen: „Kann ich vielleicht irgendwo für Josh eine Flasche warm machen?“

„Selbstverständlich. In der Küche steht eine Auswahl Babynahrung, suchen Sie sich einfach etwas aus, und Kindersachen zum Wechseln finden Sie in der Schlafkabine.“

„Kein Wunder, dass er so blass und dünn ist, wenn Sie ihn nicht stillen.“

Diese Kritik äußerte Rocco erst, nachdem der Steward mit der Flasche verschwunden war, die Julie aus der Windeltasche gekramt hatte. Jetzt drehte sie sich zu ihm um. Sie spürte, wie sie erst rot, dann blass wurde, während sie verzweifelt nach einer Antwort suchte, mit der sie ihn auf seinen Platz verweisen und gleichzeitig deutlich machen konnte, dass sie ihre Mutterpflichten ernst nahm.

„Josh ist in der Kita, weil ich arbeiten muss“, verteidigte sie sich und hoffte, dass er jetzt nicht fragte, wozu eigentlich Muttermilchpumpen da waren.

Ohne auf ihre Erwiderung einzugehen, sagte er: „Sie finden alles, was Sie brauchen, in der Schlafkabine, wie Russell bereits sagte. Der Flug dauert drei Stunden, Sie können sich also ruhig ein bisschen hinlegen, wenn Sie möchten.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Und nur keine Sorge, ich pflege mich normalerweise nicht an den ausrangierten Geliebten meines toten Halbbruders zu vergreifen.“

Warum glaubte er, sie verletzen zu müssen? Julie lag bereits eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, da fiel ihr ein, dass er sie ja für ihre Schwester hielt. Deshalb zog sie es vor, zu schweigen.

Der Steward war wieder da. „Wir starten gleich“, informierte er sie. „Wenn Sie bitte mitkommen möchten, dann zeige ich Ihnen die Schlafkabine.“

Julie folgte ihm bereitwillig. James hatte irgendwann einmal behauptet, dass genau dies ihr Problem wäre. Ihre Fügsamkeit. Womit er wahrscheinlich hatte sagen wollen, dass sie im Vergleich zu Judy schrecklich langweilig war.

Dafür war sie noch am Leben, während Judy, James und ihre Eltern tot waren, wie Julie sich jetzt erinnerte. Und das nur, weil ihre Schwester es sich in den Kopf gesetzt hatte, unbedingt auf einem Schloss zu heiraten.

Was der Steward in bestem Understatement als „Schlafkabine“ bezeichnet hatte, war in Wahrheit das luxuriöseste Schlafzimmer, das Julie je gesehen hatte.

Auf dem Boden lag ein cremefarbener dicker Teppich, und die Tapeten waren ebenfalls cremefarben. Das Doppelbett war eine riesige Spielwiese, die fast ein Drittel des Raums beanspruchte.

„Hier können Sie das Bett verstellen“, erklärte der Steward, auf eine Konsole deutend. „Zum Lesen oder zum Fernsehen machen Sie es am besten so.“ Er demonstrierte ihr, wie man mit der Fernbedienung das Kopfteil hochstellte, wodurch sich das Bett in einen riesigen Sessel verwandelte. Als er auf einen anderen Knopf drückte, gab ein Schrank einen großen Flachbildschirm frei.

„Das Kinderbett haben wir extra hier aufgestellt“, fügte er hinzu. „Neben dem Sitz, in dem Sie sich beim Start und bei der Landung anschnallen müssen. Er kommt da aus der Wand … so.“ Er zeigte es ihr. „Bad und Ankleidezimmer sind hinter dieser Tür. Da sind auch die Sachen für Sie und das Baby. In einer halben Stunde serviere ich das Abendessen.“

Julie hätte gern erwidert, dass sie lieber allein und möglichst weit entfernt von Rocco Leopardi essen würde, aber sie sagte nichts, weil sie dem Mann nicht noch zusätzliche Arbeit machen wollte.

Über der Tür begann eine Lampe zu blinken.

„Wir starten gleich“, sagte der Steward.

Zwei Minuten später war Josh in seinem Bettchen angeschnallt und Julie in ihrem Sitz.

2. KAPITEL

„Hier ist die Milch für das Baby, und Ihnen habe ich eine Kanne Tee gemacht.“

Julie bedankte sich bei dem Steward mit einem Nicken. Es war ein glatter Start gewesen, aber Josh wurde jetzt zunehmend unruhiger. Als er anfing zu schreien, nahm Julie ihn aus seinem Bettchen, um ihm das vorbereitete Fläschchen zu geben. Sie überprüfte die Temperatur und setzte sich mit ihm auf einen Sessel. Er begann hungrig zu trinken, doch es dauerte nicht lange, bis er das Fläschchen wegstieß und brüllte wie am Spieß. Dabei strampelte er wie wild.

Offensichtlich hatte er wieder Blähungen. Julie versuchte ihn zu beruhigen, indem sie sein Bäuchlein rieb, so wie es der Arzt ihr geraten hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Josh sich entspannte, und Julie konnte aufatmen. Wahrscheinlich hatte er zu schnell getrunken, weil er seine Mahlzeit nicht zur gewohnten Zeit bekommen hatte und hungrig war. Der Ärmste. Er brauchte seinen festen Rhythmus, und das hier war bestimmt alles zu viel für ihn.

Nachdem er zehn Minuten später immer noch erst ein Drittel seiner Mahlzeit zu sich genommen hatte, gab Julie auf. Sie stellte das Fläschchen ab und legte ihn an die Schulter, damit er sein Bäuerchen machen konnte. Prompt gab er seinen gesamten Mageninhalt in einem großen Schwall wieder von sich, sodass sein Strampelanzug und ihr Pullover mit säuerlich riechender Babynahrung getränkt waren.

Als er erneut zu brüllen begann, bekam Julie fast einen Nervenzusammenbruch. Dabei war es doch so wichtig, dass er richtig trank! Aber seine Koliken machten das Füttern für sie zu einem Albtraum, obwohl der Arzt ihr versichert hatte, dass sie alles richtig machte.

Er kam ihr so leicht vor. War er leichter als gestern? Nahm er womöglich nicht zu, sondern ab?

Julie beschloss, ihn erst umzuziehen und es dann noch einmal mit dem Füttern zu versuchen. Nachdem sie das Fläschchen in den Flaschenwärmer gestellt hatte, stand sie auf und ging mit Josh ins Bad.

Dort warfen verspiegelte Wände das Bild einer unscheinbaren, mageren und viel zu blassen jungen Frau zurück. Sie und Josh sahen beide verhärmt und unterernährt aus, wie sie sich eingestehen musste, während sie Josh die nasse Strampelhose auszog.

Ihr war ein Rätsel, wo Rocco Leopardi die Sachen für sie und Josh so schnell aufgetrieben hatte, aber einem Leopardi war offensichtlich nichts unmöglich.

Es würde wahrscheinlich lange dauern, bis sie vergessen konnte, wie sich diese Hände auf ihrem Körper angefühlt hatten, und noch länger – falls es ihr überhaupt jemals gelang – wie sich sein Mund auf ihren gepresst hatte. Unangenehm berührt schob sie den Gedanken beiseite.

Sie fand die Vorstellung, Kleider zu tragen, die jemand anders für sie gekauft und bezahlt hatte, regelrecht demütigend. Weshalb sie beschloss, dieses Angebot zumindest vorerst nicht anzunehmen. Mit Josh allerdings war das eine andere Sache. Ihm musste sie frische Sachen anziehen.

Wut und Schmerz stiegen in ihr auf, während sie die fein säuberlich auf kleinen Bügeln hängenden Babysachen betrachtete. Designerkleidung, die sündhaft teuer gewesen sein mussten. Was für eine horrende Geldverschwendung! Wo doch Josh genauso wie jedes andere Kind auf der Welt einfach nur ein paar saubere Kleidungsstücke brauchte, die ihn wärmten und die ihm passten. Trotzdem entschlüpfte ihr ungewollt ein bewundernder Laut, während sie sich die Sachen genauer ansah. Drei Garnituren in Hellblau, Creme und Beige, die jeweils aus Hemd, Hose und Pullover beziehungsweise Strickjacke und den farblich dazu passenden Söckchen bestanden. Jedes winzige Teil, auf dem gut sichtbar das Herstellerlogo prangte, war sorgfältig verarbeitet. Die Wegwerfwindeln hatten nicht nur die richtige Größe, sondern waren auch noch extra „für Jungen“, ein Luxus, den sie sich normalerweise natürlich nicht leisten konnte. Worüber sie allerdings nicht traurig war, weil das Ganze in ihren Augen ohnehin nur ein Verkaufstrick war, um unerfahrenen jungen Eltern noch ein bisschen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.

Im Bad begann Josh wieder zu weinen, aber diesmal war Julie zuversichtlich, dass es damit bald ein Ende haben würde. Wenn es etwas gab, das Josh in vollen Zügen genoss, dann war es sein tägliches Bad. Da planschte er voller Wonne im Wasser und spritzte alles nass, weshalb Julie jetzt beschloss, sich bis auf BH und Slip auszuziehen. Später, wenn er eingeschlafen war, wollte sie ohnehin duschen und anschließend ihren Pullover waschen, in der Hoffnung, dass er bis zur Landung getrocknet war.

Unglaublich, was hier an Bord für ein Luxus herrschte. Für Josh war wirklich alles vorhanden, was das Herz begehrte, es gab sogar ein Schaumbad für Babys sowie alle möglichen nach Vanille duftenden Pflegeprodukte.

Nachdem sie den Kleinen gebadet hatte, hob Julie ihn aus der Wanne und hüllte ihn in ein herrlich flauschiges Badelaken ein. Zurück im Schlafzimmer ließ Josh sich sogar erweichen, noch ein bisschen zu trinken. Anschließend wickelte sie ihn und zog ihm einen weichen, mit Häschen bedruckten Schlafanzug an, aber da war er bereits eingeschlafen.

Rocco, der im großen Salon vor seinem Laptop saß, hatte soeben eine E-Mail an seinen älteren Bruder geschrieben. Dabei war er in seiner Erinnerung die Ereignisse noch einmal durchgegangen, die zur Suche nach Antonios Kind geführt hatten.

Rocco hatte nicht beabsichtigt, Weihnachten mit seinem Vater und seinen Brüdern zu verbringen. Eigentlich war er mit Freunden in Colorado zum Skilaufen verabredet gewesen, doch dann hatten ihm seine Brüder mitgeteilt, dass ihr Vater schwer erkrankt war und möglicherweise nicht mehr lange zu leben hatte. Daraufhin hatte Rocco seine Pläne geändert und war nach Hause geflogen.

Nach Hause. Rocco verschränkte die Hände am Hinterkopf und atmete tief durch. Dabei dehnte sich sein breiter Brustkorb aus, der durch die Arbeit, die er bereits als Teenager auf allen möglichen Baustellen verrichtet hatte, noch muskulöser geworden war. Eine Nebenwirkung, die bis zum heutigen Tag anhielt und um die ihn viele seiner Geschlechtsgenossen beneideten.

Mit Ausnahme von Falcon natürlich, seinem ältesten Bruder. Falcon war ein erklärter Schöngeist und Ästhet, der für Roccos „Preisboxerbody“, wie er sich ausdrückte, nur Hohn und Spott übrig hatte. Sein zweitältester Bruder Alessandro war da weniger zimperlich.

„Wer sagt denn überhaupt, dass er stirbt?“, hatte Rocco Falcon zynisch gefragt. „Wenn Vater es nur selbst behauptet, können wir getrost …“

„Nicht er. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er gibt ihm höchstens noch ein Jahr. Obwohl wir unter uns natürlich nicht so zu tun brauchen, als ob wir jetzt am Boden zerstört wären“, hatte Falcon kühl hinzugefügt. „Ich finde, wir sollten uns in diesem Punkt gegenseitig nichts vormachen.“

Durch die hohen Fenster des alten Schlosses, das in ihrer Kindheit ihr Zuhause gewesen war, konnte man bei klarem Wetter den Ätna sehen. Der feuerspeiende Berg war genauso gefährlich und unberechenbar wie ihr Vater und – ebenfalls wie ihr Vater – ein Symbol der Macht. Einer grausam zerstörerischen Macht.

Falcons Worten zufolge war die Macht ihres Vaters jedoch im Schwinden begriffen, und Rocco hatte keinen Grund, die Worte seines ältesten Bruders anzuzweifeln.

Es war ein ernster Moment. Ihr Vater, Oberhaupt einer der größten, mächtigsten und reichsten Dynastien Siziliens, blickte dem Tod ins Auge.

Rocco, der jüngste und am wenigsten anerkannte Sohn des Prinzen, war vierunddreißig Jahre alt, ein erfolgreicher Bauunternehmer, der sich aus eigener Kraft bereits ein Milliardenimperium aufgebaut hatte. Rocco hatte am meisten unter ihrem Vater gelitten, der sein ganzes Leben lang Menschen auf übelste Art manipuliert hatte und für den Tod ihrer Mutter verantwortlich war.

Nach Alessandros Geburt hatten die Ärzte ihre Eltern gewarnt, dass ihre Mutter keine weiteren Kinder bekommen dürfe, aber ihr rücksichtsloser Vater hatte diese Warnungen in den Wind geschlagen. Und so war seine Mutter wieder schwanger geworden und nur wenige Stunden nach Roccos Geburt gestorben.

Ihr Tod hatte die Familie unheilbar entzweit und einen Keil zwischen Vater und Söhne getrieben. Die so entstandene Bitterkeit war noch verstärkt worden, als ihr Vater kaum ein Jahr später seine langjährige Geliebte heiratete.

Gleichwohl hatte eine jahrhundertealte Tradition in den Herzen aller Leopardis ihre untilgbaren Spuren hinterlassen, eine Tradition, die bis auf die Sarazenen zurückreichte. Sie besagte unter anderem, dass die Familie als Ganzes grundsätzlich Vorrang hatte vor jedem einzelnen Familienmitglied. Dieses Credo war so eng verwoben mit der Kultur der Leopardis, dass es praktisch genetisch verankert war.

Deshalb gelang es den drei Brüdern nicht, ihrem Vater den Rücken zu kehren und die familiären Pflichten abzuschütteln, die ihre Tradition ihnen auferlegte.

Sie waren in das Schlafgemach ihres Vaters zitiert worden, einen riesigen, prunkvoll eingerichteten Raum, der mit den Insignien längst vergangener Pracht ausgestattet war, wo ihr Vater geschwächt auf dem großen Doppelbett lag.

In diesem Bett waren sie alle gezeugt worden, einschließlich Antonio, ihrem tödlich verunglückten Halbbruder, der kurz vor seinem Tod gestand, dass irgendwo da draußen ein Kind von ihm existierte.

„Dieses Kind ist ein Leopardi und gehört zu seiner Familie nach Castello Leopardi“, hatte ihr Vater in seinem üblichen Befehlston erklärt.

„Und was ist mit der Mutter? Wer ist sie?“, hatte Alessandro gefragt.

„Antonio blieb nicht mehr genug Zeit, ihren Namen zu nennen.“

Wahrscheinlicher war, dass Antonio sich an diesen Namen gar nicht mehr erinnert hatte. Aber diesen Gedanken hatte Rocco damals für sich behalten.

Die Antwort des alten Patriarchen war wieder einmal typisch gewesen. Selbstherrlich und egozentrisch, als drehte sich die ganze Welt nur um ihn und sein eigenes Wohlergehen. „Diese Frau ist eine Diebin, sie enthält uns Antonios Kind vor. Es muss hierhergebracht werden, darauf hat es genauso ein Anrecht wie ich. Immerhin war Antonio mein Sohn.“

Sein Lieblingssohn. Der einzige Sohn, der in seinen Augen überhaupt je gezählt hatte. Das war ein offenes Geheimnis.

„Dieses Kind gehört hierher. Das war Antonios letzter Wunsch, und ich erwarte, dass dem Sorge getragen wird.“

Falcon hatte ihn daran erinnert, dass sie die Identität der Mutter nicht kannten, ein Einwand, den ihr Vater einfach vom Tisch wischte.

„Dieses Kind muss unter allen Umständen gefunden werden.“

Am Ende war den drei Brüdern nichts anderes übrig geblieben, als sich dem Befehl des Vaters zu beugen. Falcon hatte die Nachforschungen in die Hand genommen.

Zwei Wochen später versammelten sich wieder alle um das Familienoberhaupt. Es hatte sich herausgestellt, dass tatsächlich eine von Antonios zahlreichen Frauenbekanntschaften im letzten Sommer ein Kind bekommen hatte. „Eine britische Urlauberin, die zu den Filmfestspielen nach Cannes gereist war“, berichtete Falcon. „Dass Antonio Kontakt mit ihr hatte, steht fest. Trotzdem muss das Kind deshalb natürlich noch lange nicht von ihm sein. Das lässt sich nur durch einen Gentest klären, aber dafür benötigen wir die Zustimmung der Mutter. Ich finde, wir sollten mit der Frau reden und …“

„Dieses Kind gehört hierher“, hatte ihr Vater stur wiederholt. „Es ist an euch zu überlegen, wie sich das am besten bewerkstelligen lässt. Die Mutter interessiert mich nicht. Sie hatte es wahrscheinlich darauf angelegt, von Antonio schwanger zu werden, um sich dadurch finanzielle Vorteile zu verschaffen. Also, ich wiederhole: Ich will dieses Kind hier sehen, habt ihr mich verstanden? Und verschont mich mit der Mutter.“

Sie waren sich alle drei der wütenden Verachtung ihres Vaters bewusst gewesen, aber auch das war keine neue Erfahrung. Damit lebten sie schon ihr ganzes Leben.

Nachdem ihrem Vater der einzige Sohn, den er je geliebt hatte, durch einen selbst verschuldeten Autounfall genommen worden war, klammerte er sich jetzt an die vage Hoffnung, dass Antonio wenigstens einen Nachkommen hinterlassen hatte.

Falls sich Falcons Nachforschungen als zutreffend erweisen sollten, würde die Mutter allerdings ganz schnell erkennen, dass sie ein Pfund in der Hand hatte, mit dem sie wuchern konnte. Und darüber, dass sie diese Situation ausnützen würde, waren sich alle Brüder einig gewesen.

„Heißt das, wir sollen diese Frau samt ihrem Kind nach Sizilien bringen und sie hierbehalten, bis die Frage der Vaterschaft geklärt ist?“, hatte Alessandro mit sichtlichem Unbehagen gefragt, nachdem sie wieder allein gewesen waren.

Falcon hatte nur resigniert die Schultern gezuckt. „Hast du eine bessere Idee?“

Alessandro zog es vor zu schweigen, aber Rocco kamen noch ganz andere Bedenken.

„Und was, wenn es tatsächlich Antonios Kind ist? Ich meine, wir können es der Mutter schließlich nicht einfach wegnehmen. Wahrscheinlich schwebt dem Alten vor, dass wir die Frau auszahlen oder irgendetwas in der Art, aber wir wissen doch alle, wie schlimm es für ein Kind ist, ohne Mutter aufzuwachsen …“

„Mach dir keine Gedanken“, fiel Falcon Rocco ins Wort. „Unser Vater lebt nicht mehr lange. Es geht ihm zwar längst nicht so schlecht wie er behauptet, aber am Ende werden doch wir diejenigen sein, die über die Zukunft dieses Kindes entscheiden, vorausgesetzt, es ist wirklich von Antonio. Aber natürlich bin ich ganz deiner Meinung. Kein Kind sollte ohne Mutter aufwachsen, deshalb müssen wir diese selbstverständlich mit einbeziehen, das ist für mich keine Frage. Und ich finde, das sollte man ihr auch so sagen.“

„Und wenn sich herausstellt, dass es doch nicht Antonios Kind ist?“, wollte Alessandro wissen.

„Dann bekommt sie eine Aufwandsentschädigung sowie eine gewisse Summe, die dafür sorgt, dass sie die Angelegenheit für sich behält“, erwiderte Falcon.

„Ich finde es empörend, dass unser Vater so etwas von uns verlangt“, stieß Alessandro hervor.

„Das ist es auch. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als seiner Bitte – oder genauer gesagt seinem Befehl – nachzukommen. Am besten überlegen wir nicht lange, sondern tun einfach, was er von uns verlangt. Und wenn die Frage der Abstammung des Kindes geklärt ist, sehen wir weiter.“

Wer hätte etwas dagegen sagen sollen? Rocco hatte erst widersprochen – und zwar heftig –, als sich abzuzeichnen begann, dass die unangenehme Aufgabe, nach London zu reisen, an ihm hängenbleiben würde.

„Warum ausgerechnet ich?“, hatte er sich mit all dem Groll gewehrt, der jüngsten Geschwistern oft zu eigen ist.

„Weil Alessandro und ich verhindert sind“, hatte Falcon erwidert und eindringlich hinzugefügt: „Du trägst eine große Verantwortung, Rocco. Vergiss das nicht.“

Das hatte sich fast so angehört, als ob er das große Los gezogen hätte, dabei war er bei der Sache ganz eindeutig der Dumme. Und jetzt wurde ihm klar, dass er diese „Familienpflicht“, die man ihm aufgebürdet hatte, noch mehr verabscheute als erwartet. Lag es womöglich an seiner rebellischen Ader, dass er sich so wütend gegen den eisernen Griff der Leopardis zur Wehr setzte? War das ein Erbe seiner Mutter? Sie hatte nur mütterlicherseits sizilianische Wurzeln. Ihr Vater stammte aus Florenz, der Stadt, die Falcon so liebte.

Rocco schaute auf die Uhr.

Sie waren seit einer Stunde in der Luft. Er war hungrig und wollte endlich essen. Der Steward hatte Julie Simmonds informiert, wann serviert wurde. Falls sie zu den Frauen gehörte, die Pünktlichkeit für eine überflüssige Tugend hielten, würde er sie eines Besseren belehren.

Entschlossen stand Rocco auf und ging auf die Schlafzimmertür zu.

3. KAPITEL

Die Dusche im Bad war offen, es gab weder Kabine noch Duschvorhang, und das Wasser floss wie ein Wasserfall aus einem großen Duschkopf herrlich warm auf Julie herunter. Was für eine Wohltat im Vergleich zu dem lauwarmen Tröpfeln, mit dem sie sich zu Hause begnügen musste!

Julie war durchaus bewusst, dass sie unverschämt lange duschte, trotzdem konnte sie sich noch nicht überwinden, das Wasser abzustellen. Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ den Duschstrahl auf ihr Gesicht prasseln. Es war einfach himmlisch!

Doch als sie die Augen wieder öffnete, traf sie fast der Schlag, als sie sah, dass Rocco Leopardi auf der Schwelle stand und sie ungeniert von oben bis unten musterte. Sie war so schockiert, dass sie nicht einmal daran dachte, ihre Blöße zu bedecken, bis es viel zu spät war und dieser Blick auf ihrem vor Verlegenheit brennenden Gesicht liegen blieb.

„Na, das ist ja eine Überraschung – eine echte Blondine“, spöttelte Rocco in gedehntem Ton.

Noch mehr überraschte ihn allerdings, dass er die nassen blonden Löckchen, die ihre Scham bedeckten, ziemlich aufregend fand, obwohl er sich lieber die Zunge abbeißen würde, als ihr das zu sagen.

Sein Körper reagierte bereits.

Allerdings war sie nicht nur eine echte Blondine, sondern auch genauso mager wie vermutet. Mit dieser Beobachtung hoffte er seine plötzlich verrückt spielenden Hormone im Zaum zu halten. Obwohl … zugegeben … ihre Brüste waren weit üppiger als erwartet, perfekt geformt, mit vollen Unterseiten und dunklen Knospen, die sich aufregend nach oben reckten. Das waren die provozierenden Brüste eines Partygirls und nicht die einer stillenden Mutter. Nur um die Perfektion ihrer Brüste nicht zu beschädigen, enthielt sie ihrem Kind etwas vor, das ihm von Natur aus zustand. Aber das war natürlich typisch für Frauen wie sie.

Er hatte beobachtet, wie sie da nackt unter der Dusche stand, das Gesicht mit geschlossenen Augen in den Duschstrahl gerichtet und voll und ganz dem sinnlichen Vergnügen, das Wasser auf ihrer Haut zu spüren, hingegeben. Dieses Entzücken hatte sich in jeder Linie ihres Körpers, in jedem Quadratzentimeter ihrer Haut ausgedrückt, was sein Begehren geweckt hatte, wie Rocco sich jetzt eingestehen musste. Ihr Anblick hatte in ihm den drängenden Wunsch geweckt, sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich zu ihr unter die Dusche zu gesellen. Auch wenn ihm schleierhaft war, warum, sehnte er sich doch danach, sie kurz und wild zu nehmen, in einem Anfall primitiver Wollust in sie einzudringen und genüsslich zu spüren, wie sie ihn in sich aufnahm.

Du bist ein Vollidiot, ermahnte Rocco sich zynisch. Sie war ein Knochen, an dem schon viele Hunde genagt hatten, bevor sein Halbbruder in diesen zweifelhaften Genuss gekommen war. Und noch mehr Männer würden folgen, aber das ging ihn nichts an. Ihr Lebenswandel war allein ihre Sache, und er verurteilte sie auch nicht deswegen. Es war nur so, dass er einer solchen Frau nichts abgewinnen konnte, nicht mehr und nicht weniger. Der einzige Hunger, den er im Moment anzuerkennen bereit war, wütete in seinem Magen, nicht in seinen Lenden.

Er streckte die Hand nach einem Badelaken aus und warf es ihr zu, wobei er sie in kühlem Ton informierte: „Russell kommt gleich mit dem Essen, Sie haben noch genau fünf Minuten. Aber lassen Sie mich besser nicht warten, mit leerem Magen kann ich nämlich ausgesprochen ungnädig werden.“ Nach diesen Worten verließ er das Bad und machte die Tür hinter sich zu.

Fünf Minuten. Julie machte sich nicht einmal die Mühe, einen Blick auf die Kleider zu werfen, die dem Steward zufolge nebenan im Schrank hingen. Sie trocknete sich nur flüchtig ab, strich sich das nasse Haar glatt und schlüpfte in einen der flauschigen weißen Frotteebademäntel, die an der Badezimmertür hingen.

Ganz außer Atem und mit wild klopfendem Herzen sank sie nur wenig später auf den Stuhl, den Rocco Leopardi für sie herausgezogen hatte.

„Genau vier Minuten und fünfundfünfzig Sekunden“, kommentierte er, während er um den eleganten Tisch herumging und sich ihr gegenüber setzte.

Falls Rocco Leopardi ihren Aufzug seltsam fand, behielt er es zumindest für sich. Und wenn er sich doch erdreisten sollte, eine Bemerkung zu machen, würde sie ihn daran erinnern, dass er sie ja praktisch von zu Hause verschleppt hatte, ohne ihr eine Gelegenheit zu geben, etwas zum Anziehen einzupacken.

Obwohl sie es immer noch nicht glauben konnte, dass sie in einem Flugzeug saßen und flogen, überlegte Julie, während sie zum Schlafzimmer schaute. Sie hatte die Tür einen Spalt offen gelassen, damit sie hören konnte, wenn Josh aufwachte.

Russell brachte die Suppe. Nachdem er einen Teller vor sie hingestellt hatte, schüttelte er eine Leinenserviette aus und breitete sie auf ihrem Schoß aus, bevor sie es selbst tun konnte.

Die Suppe – eine Hummercremesuppe – duftete köstlich. Julie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zum letzten Mal zum Essen an einen gedeckten Tisch gesetzt hatte, geschweige denn so wie jetzt, mit weißen Leinenservietten, teurem Geschirr, Silberbesteck und einer von einem Profi zubereiteten köstlich duftenden Mahlzeit.

Russell schenkte Wein ein. Julie schaute leicht unsicher auf ihr Glas. Sie trank nur selten Alkohol, und da sie heute den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, erschien es ihr als keine besonders gute Idee.

Cristal wäre Ihnen wohl lieber, was?“, fragte Rocco spöttisch, als er ihr skeptisches Gesicht sah.

Julie sparte sich eine Antwort. Er würde ihr sowieso nicht glauben, wenn sie ihm sagte, dass sie noch nie in ihrem Leben etwas derart Kostbares getrunken hatte. Und schon gar nicht Cristal Champagner aus der berühmten Kellerei Louis Roederer.

Die Suppe schmeckte köstlich, allerdings war sie so gehaltvoll, dass Julie Angst hatte, Magenschmerzen davon zu bekommen. Sie ernährte sich im Moment fast ausschließlich von gebackenen Bohnen, Toast und Porridge, eben preiswertem Essen, das satt machte, auch wenn sie nie genug Zeit hatte, um aufzuessen.

Hastig trank sie einen Schluck Wein, was sie jedoch sofort bereute, als sie spürte, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg.

Rocco beobachtete sie argwöhnisch. Falls sie es darauf anlegte, mit ihrem frisch gewaschenen ungeschminkten Gesicht und dem ungewöhnlichen Aufzug Eindruck bei ihm zu schinden, vergeudete sie nur ihre Zeit. Warum hatte sie beschlossen, im Bademantel an den Tisch zu kommen?

Unangenehm war nur, dass das blöde Ding, das ihren Körper praktisch von Kopf bis Fuß einhüllte, mit jedem Löffel, den sie zum Mund führte, weiter aufklaffte. So bekam er immer mehr von der zarten blassen Haut ihres Brustansatzes sehen. Unter dem flauschigen Bademantel zeichneten sich ihre Brüste ab. Deren Anblick sich unglücklicherweise in seine Gehirnwindungen eingebrannt hatten.

Die Suppe war wirklich köstlich. Julie aß noch einen Löffel, dann hielt sie mitten in der Bewegung inne.

„Josh ist wach“, verkündete sie und legte den Löffel ab. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss mich um ihn kümmern. Vielleicht hat er ja Hunger.“

„Er hat doch vorhin erst etwas bekommen“, wunderte sich Rocco, als er jetzt das klägliche Weinen, das aus dem Schlafzimmer drang, ebenfalls hörte.

„Er bekommt leicht Blähungen, deshalb braucht er kleine Portionen in regelmäßigen Abständen“, erklärte Julie.

Rocco runzelte die Stirn. „Wenn er die Babynahrung nicht verträgt, sollten Sie ihn vielleicht besser stillen, statt Ihre zugegebenermaßen nicht unansehnlichen Brüste zu konservieren.“

Julie spürte, dass sie rot wurde. Gleich darauf wurde sie von einem seltsamen Gefühl überschwemmt, das sie nicht recht einordnen konnte. Es war eine Mischung aus Verlegenheit, Nervosität und noch etwas anderem, das wohl damit zu tun hatte, dass er sie nackt gesehen und ihr Körper darauf reagiert hatte. Verlegen war sie, weil sie es nicht gewöhnt war, dass Männer Bemerkungen über ihre Brüste machten, und nervös, weil sie ihm den Grund nicht nennen konnte, der sie daran hinderte, Josh zu stillen. Froh darüber, eine Ausrede zu haben, vom Tisch wegzukommen, stand sie eilig auf und floh ins Schlafzimmer.

Sobald sein Blick auf sie fiel, schrie Josh noch verzweifelter. Inzwischen erkannte er Julie schon und wusste, dass sie seine Nahrungsquelle war. Sie würde Russell fragen müssen, ob sie die Küche benutzen durfte, um Josh ein neues Fläschchen zu machen. Im Lauf dieser Überlegungen befühlte sie seine Windel, die trocken war. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie ihn jetzt nicht hochnehmen und wieder hinlegen durfte, ohne ihn gefüttert zu haben, weil er dann nur umso lauter schreien würde. Hatte Judy ihn manchmal schreien lassen, wenn er Hunger hatte? Hoffentlich nicht.

Julie nahm Josh aus seinem Bett und ging mit ihm nach nebenan, wo Russell gerade die Suppenteller abräumte.

„Der Kleine hat Hunger“, informierte sie den Steward. „Ich muss ihm sein Fläschchen machen.“

„Kein Problem, in der Küche steht alles bereit. Aber ich kann die Lammkoteletts nicht länger warm halten.“

„Ich möchte Sie nicht beim Essen stören“, sagte Julie zu Rocco. „Josh kann warten, bis das Essen serviert ist, dann füttere ich ihn nebenan.“

Das klang so selbstverständlich aus ihrem Mund, dass man ihr unmöglich unterstellen konnte, sie wolle nur Pluspunkte sammeln. Rocco runzelte irritiert die Stirn. Verhielt sich so eine Frau, die nur an sich selbst dachte? Er mochte es nicht, wenn jemand sein Urteil infrage stellte, auch dann nicht, wenn dieser Jemand er selber war.

„Ich glaube, Russell hat von Ihrem Essen gesprochen“, sagte er und schüttelte den Kopf, als der Steward die Hand nach der Weinflasche ausstreckte, bereit, ihm nachzuschenken.

„Oh.“ Julie lächelte Russell an. Plötzlich leuchtete ihr verhärmtes Gesicht so warm und natürlich, dass sie fast hübsch wirkte. Doch das bildete sich Rocco wahrscheinlich nur ein. „Danke, das ist nett, aber ich bin nicht wirklich hungrig“, sagte sie zu dem Steward.

Russell nickte und ging zurück in die Küche, um das Essen zu holen.

Er war kaum verschwunden, da spuckte Josh seinen Schnuller aus und begann wieder zu brüllen.

„Geben Sie ihm lieber gleich etwas“, empfahl Rocco mürrisch. Er musste seine Stimme leicht heben, um das Geschrei zu übertönen.

Julie legte die Arme noch fester um den Kleinen. Ganz offensichtlich war Rocco Leopardi einer dieser reichen Egozentriker, die nicht daran gewöhnt waren, ihre Wünsche und Bedürfnisse ab und zu auch mal zurückzustellen. Falls er irgendwann Kinder haben sollte, würden diese ihren Vater wahrscheinlich nur sehen dürfen, wenn es ihm in den Kram passte. Um ihre großen und kleinen Probleme mussten sich mit Sicherheit andere Leute kümmern.

Er war nur daran interessiert, Kinder zu zeugen.

Dieser Gedanke schlüpfte hinter Barrieren, die eigentlich verschlossen bleiben sollten, und fiel dort auf fruchtbaren Boden. Das tückische Gift, das er enthielt, wirkte so schnell, dass Julie keine Chance hatte, sich vor ihm zu schützen. Eben noch hatte sie sich Rocco Leopardi als abscheulich selbstsüchtigen Vater ausgemalt, und jetzt stellte sie ihn sich als sinnlich arroganten Liebhaber vor, dem es nur darauf ankam, der Frau seiner Wahl seinen Stempel aufzudrücken.

Vor ihrem geistigen Auge stieg ein Gesicht auf, in dem sich ungezügelte Lust spiegelte … ihr eigenes.

Sie war so schockiert, dass sie anfing zu zittern.

„Ich gehe in die Küche und mache Josh eine Flasche“, erklärte sie, während sie verzweifelt versuchte, ihre chaotisch durcheinanderwirbelnden Gedanken wieder einzufangen.

Nach diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und lief eilig davon. Ihr Herz schlug so wild, dass ihr fast übel war.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich bei dem Steward, „aber ich glaube, Josh stört ziemlich. Ich mache ihm nur rasch sein Fläschchen, dann verschwinde ich wieder.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, erwiderte Russell ungerührt.

Die mit wildem Radicchio und Minze garnierten Lammkoteletts dufteten köstlich und sahen ebenso aus, aber Julie machte sich Sorgen um Josh. Hoffentlich trank er wenigstens diesmal und bekam nicht wieder Blähungen.

Rocco hatte seine Mahlzeit längst beendet, aber Julie Simmonds war noch immer im Schlafzimmer.

Verärgert beschloss er nachzusehen, wo sie blieb, und bat Russell, den Tisch abzuräumen. Dann ging er nach nebenan.

Der Raum war nur von einer schwachen Lampe erhellt. Julie Simmonds lag schlafend auf dem Bett. So wirkte sie noch zerbrechlicher – falls das überhaupt möglich war. Eine Hand lag auf dem Kinderbett, als ob sogar im Schlaf ihre erste Sorge dem Kind gälte. Der Bademantel war ihr von einer Schulter geglitten und enthüllte ein spitzes Schulterblatt, das aufregend mit einer halb entblößten üppigen Brust kontrastierte.

Plötzlich mischte sich eine leise Melancholie in Roccos Gedanken. Obwohl er in eine der ältesten und reichsten Familien Siziliens hineingeboren war, hatte er diese Art zärtlicher Mutterliebe doch nie kennengelernt.

Aber wollte er wirklich ernsthaft behaupten, dass er dieses Kind um eine Mutter wie sie beneidete? Seine eigene Mutter war nur wenige Stunden nach seiner Geburt gestorben. Das war für ihn ein großes Unglück gewesen. Durch diesen Verlust hatte er allerdings auch gelernt, wie wichtig es war, von niemandem emotional abhängig zu sein. Und diese Unabhängigkeit wollte er nie mehr missen.

Rocco wollte sich eben abwenden, als er sah, dass sich in dem Kinderbett etwas regte. Das Baby war aufgewacht und schien ihn zu beobachten. Es war nicht möglich, in dem schwachen Licht seine Gesichtszüge zu erkennen, aber Rocco wusste auch so, dass der Junge dunkle Locken hatte. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, auf ein Kind zu schauen, das mit ihm verwandt war, und es stand ja auch noch gar nicht fest, dass der Junge wirklich ein Leopardi war. Doch ungeachtet dessen verspürte er plötzlich das starke Bedürfnis, dieses verletzliche Kind zu beschützen.

Es war gezeugt worden, jetzt war es auf der Welt, und irgendwer musste für es die Verantwortung übernehmen.

Und sollte sich tatsächlich herausstellen, dass Antonio der Vater war, würde sich Rocco die Verantwortung mit seinen Brüdern teilen.

Das Baby strampelte und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, was Rocco veranlasste, sich spontan über das Kinderbett zu beugen. Im nächsten Moment wich er jedoch wieder zurück und drängte die sentimentalen Gefühle, die ihn unversehens beschlichen hatten, entschlossen zurück. Für so etwas hatte er als logisch denkender, praktisch veranlagter Mann keine Verwendung.

„Wir landen in einer halben Stunde. Der Pilot hat mich gebeten, Sie vorzuwarnen, dass es kalt ist und wahrscheinlich regnet.“

„In Sizilien?“, fragte Julie verblüfft. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass es dort das ganze Jahr über warm war.

„Die Insel ist von drei Meeren umgeben, da kann es im Winter unangenehm kalt werden. Aber gegen Ende des Monats ist Besserung in Sicht.“

Der Steward hatte sie mit einem Klopfen geweckt und ihr Tee gebracht, den zu trinken Julie keine Zeit hatte. Sie musste sich beeilen. Rocco hatte bestimmt kein Verständnis dafür, wenn sie nicht rechtzeitig fertig war.

Zuerst musste sie Josh anziehen. Sie wickelte ihn eilig, bevor sie ihn in einen warmen Daunenanzug steckte. Erst dann konnte sie an sich selbst denken.

Als sie ins Bad kam, musste sie zu ihrer Bestürzung feststellen, dass der Pullover weg war, den sie über der Heizung zum Trocknen aufgehängt hatte. Und alle übrigen Sachen waren ebenfalls verschwunden. Aber jetzt war keine Zeit mehr, um Russell zu fragen, was damit passiert war. Julie ermahnte sich, ruhig zu bleiben, und ging nach nebenan, um einen Blick auf die Kleidungsstücke zu werfen, die der Steward für sie in den Schrank gehängt hatte. Zum Glück begnügte sich Josh im Moment damit, einfach nur still dazuliegen, während sie mit einem unguten Gefühl die Garderobe musterte, die irgendein fremder Mensch für sie besorgt hatte.

Designerjeans – Judys Lieblingsmarke – eine Seidenbluse, ein Kaschmirpullover sowie ein edler Trenchcoat mit einem warmen herausnehmbaren Futter, all das hing da einladend vor ihr auf Kleiderbügeln im Schrank. Geschmackvolle, zeitlos elegante Kleidung, wovon jedes einzelne Stück ihr Budget wahrscheinlich bei weitem überstieg, und alles bezahlt von einem Mann, der ihr nichts als Verachtung entgegenbrachte. Wenn sie diese Kleider anzog, hieß das, dass sie seine Verachtung zumindest teilweise akzeptierte und bereit war, sich von den Leopardis vereinnahmen zu lassen. Aber was sollte sie sonst tun, nachdem ihre eigenen Kleider verschwunden waren? Sie konnte das Flugzeug schließlich nicht im Bademantel verlassen, ganz davon abgesehen, dass auch dieser nicht ihr, sondern Rocco Leopardi gehörte.

Fast trotzig nahm sie die Kleider aus dem Schrank, doch ihre Bewegungen wurden behutsamer, sobald sie den Kaschmirpullover und die feine Seide berührte. So wunderbare Stoffe durfte man nicht lieblos behandeln, es wäre eine Sünde. Das weiche Kaschmir blieb an ihren Fingerspitzen hängen, die von der Hausarbeit rau waren.

Sie war entschlossen, die teuren Lederstiefel im Schrank zu lassen, doch nachdem sie schon viel zu lange vergeblich nach ihren eigenen Schuhen gesucht hatte, musste sie auch in diesem Punkt nachgeben.

Gerade wollte sie den Bademantel weghängen, als Russell mit einer eleganten weichen Tasche aus Wildleder erschien.

„Da ist alles drin, was Sie vielleicht unterwegs für das Baby brauchen, auch eine neue Flasche. Die übrigen Sachen lasse ich direkt in die Villa Rosa schicken“, informierte er Julie mit einem Lächeln. „Ach, und vergessen Sie nicht, den Trenchcoat anzuziehen. Sie werden noch froh sein, dass Sie ihn haben.“ Er schnitt eine Grimasse. „Wenn es hier im Winter regnet, hört es so schnell nicht wieder auf.“

Sie hatte ihre eigene Umhängetasche. Designertaschen waren nur etwas für Angeber und zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Aber Russell hatte alles bereits fix und fertig gepackt. Was war wichtiger? Ihr Stolz oder Josh’ Wohlergehen? Hier ging es schließlich nicht darum, zu gewinnen, oder?

4. KAPITEL

Es goss in Strömen. Der Regen prasselte auf den Schirm, den der Steward, mühsam gegen den Wind ankämpfend, über ihren Köpfen hielt, während er Julie mit Josh im Arm zu einem Wagen begleitete. Dann wartete er, bis sie mit Josh auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, bevor er zum Flugzeug zurückkehrte, um Rocco abzuholen.

Das grelle Licht auf dem Rollfeld erhellte eine nicht identifizierbare Umgebung: Einen Streifen struppiger Vegetation jenseits des Zauns, der in kaltes Neonlicht getaucht war, und dahinter nachtschwarze Dunkelheit, die ebenso Land wie Himmel oder Meer sein konnte.

Die cremefarbenen Lederpolster des Autos wirkten so teuer und empfindlich, dass Julie sich fast nicht hineinzusetzen wagte. Sie schaute auf Josh und hoffte, dass er nicht ausgerechnet jetzt spuckte.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Rollfeld und seine Lichter hinter sich gelassen hatten und von dem schwarzen Regenvorhang geschluckt wurden. Julie fröstelte, obwohl es im Auto schön warm war. Die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass es sich fast anfühlte, als ob sie in den Sitz gepresst würde, während der gespenstisch heulende Wind den Regen gegen die Windschutzscheibe peitschte.

Julie wusste nicht viel über Sizilien, aber das Wetter hatte sie sich immer deutlich anders vorgestellt. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass es hier so kalt und stürmisch war.

Nur wenig später schoss ihr ein höchst beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Was war, wenn Rocco Leopardi weit weniger ehrenhafte Absichten verfolgte als behauptet? War es möglich, dass Josh ihm im Weg stand und er ihn loszuwerden versuchte? Warum dachte sie erst jetzt daran? Wer würde es erfahren – oder wen würde es interessieren – wenn sie und Josh heute Nacht an einen unbekannten Ort verschleppt wurden und nie mehr zurückkehrten?

Ihre Reaktion, die nicht nur eine Folge der letzten Stunden war, sondern auch eine Folge all dessen, was in den vergangenen Monaten passiert war, fiel heftig aus. Sie spürte, wie ihr die Selbstkontrolle entglitt. Jetzt hatten Angst und Panik freie Bahn. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie keuchend nach Atem rang.

Den Weg, der von seinem Privatflugplatz zur Villa Rosa führte, kannte Rocco fast im Schlaf. Die Villa Rosa war nur eins von mehreren Landgütern der Leopardis, und doch fühlte er jedes Mal, wenn er die letzte Straßenbiegung umfuhr und die Villa erblickte, eine Mischung aus Stolz und Freude in sich aufsteigen.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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