Julia Exklusiv Band 332

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SÜSSE RACHE AUS LEIDENSCHAFT von SARA WOOD

Anna fühlt sich von dem attraktiven italienischen Millionär Vido magisch angezogen. Schon bald kann sie sich gegen seine raffinierten Verführungsversuche nicht mehr wehren und steckt in einer heißen Affäre. Doch dann macht sie eine schreckliche Entdeckung: Vido hat sie nicht aus Liebe verführt, sondern aus Rache!

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HEIRAT - NUR AUS LIEBE! von BARBARA MCMAHON

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  • Erscheinungstag 02.01.2021
  • Bandnummer 332
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501224
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sara Wood, Day Leclaire, Barbara McMahon

JULIA EXKLUSIV BAND 332

1. KAPITEL

„Verrätst du mir jetzt, warum du als Käufer des Hauses nicht in Erscheinung treten wolltest?“, fragte Vido Pascalis persönliche Assistentin Camilla Lycett-Brown und ließ sich auf den Beifahrersitz seines Wagens sinken.

Seine Jugend hatte Vido in England verbracht – vaterlos, denn sein englischer Vater hatte seine Mutter verlassen, nachdem sie schwanger geworden war. Erst als er achtzehn war, kehrte Sophia Pascali mit ihrem Sohn nach Italien zurück. Was man ihm jedoch bis dahin angetan hatte, ließ ihm keine Ruhe. Nie würde er die Demütigungen, die Beleidigungen und den Verrat vergessen.

„Meine Mutter hat hier als Köchin gearbeitet“, antwortete er knapp.

Mit zusammengepressten Lippen warf er im Rückspiegel einen Blick auf das historische Gebäude in der kleinen Stadt Shottery. Nach dem Konkurs von George Willoughby hatte Vido Stanford House vor zwei Wochen gekauft. Doch erst heute hatte er es sich nach all den Jahren wieder angesehen. Ich habe es für dich getan, Mutter, dachte er. Eines seiner Ziele hatte er erreicht, aber es gab noch mehr zu tun.

„Und?“, fragte Camilla.

Während er durch das schöne schmiedeeiserne Tor auf die Straße zurückfuhr, überlegte er, wie viel er ihr verraten sollte. Als sich das Tor hinter ihm schloss, hielt er an, drehte sich um und betrachtete noch einmal die stattliche Fassade des Hauses. Das alles gehörte jetzt ihm. Plötzlich war er so aufgeregt, dass es ihm beinah den Atem raubte. Von einem solchen Haus hatte er früher nur träumen können.

Stanford House zu besitzen bedeutete für ihn einen persönlichen Triumph.

„Meine Mutter wurde hier fristlos entlassen, vollkommen zu Unrecht.“ Auch wenn seine Stimme ruhig klang, war sein Blick bei diesen Worten hart. Sophias Arzt hatte ihm bestätigt, dass ihr Gesundheitszustand vor allem deshalb so schlecht gewesen war, weil sie zu viele Sorgen gehabt und Willoughby zu viel von ihr verlangt hatte. Wie bedauerlich, dass sie diesen Triumph nicht miterleben konnte! Über ihren Tod war er immer noch nicht hinweg, und er war fest entschlossen, das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, zu halten.

„Was danach passiert ist, hat ihr und auch mein Leben kaputtgemacht. Es war die reinste Hölle. Obwohl ich noch zur Schule ging, musste ich in der Fabrik, die auch Mr. Willoughby gehörte, Nachtschichten einlegen. Bis er auch mich hinausgeworfen hat – wegen Diebstahls, obwohl er genau wusste, dass seine Enkelin die Schuldige war. Diese Leute haben es zu verantworten, dass ich als Dieb abgestempelt wurde.“

Noch heute litt er darunter, wie sehr man ihn damals gedemütigt hatte. Ärger und Zorn spiegelten sich in seinem Gesicht. „Ich werde sie zwingen, sich für alles, was sie uns angetan haben, zu entschuldigen“, fuhr er fort. „Ich habe meiner Mutter auf ihrem Sterbebett versprochen, unsere Ehre wiederherzustellen. Deshalb brauchte ich Macht über Willoughby und seine schreckliche Enkelin.“

„So rachsüchtig kenne ich dich gar nicht“, erwiderte Camilla erstaunt.

„Weil du nicht weißt, wie sehr man uns gedemütigt hat. Mir hat es körperlich wehgetan, wie ein Aussätziger behandelt zu werden. Sämtliche Arbeitskollegen haben vor mir ausgespuckt“, erzählte er bitter. „Die Enkelin war sehr geschickt. Sie hat ausgerechnet das Geld verschwinden lassen, das die Arbeiter für einen Betriebsausflug gesammelt hatten.“

„Und wieso hat man dich verdächtigt?“, fragte Camilla verblüfft.

„Sie hat das Geld in meinen Spind gelegt.“

„Aber warum hat sie das getan?“

„Aus Hass. Sie hat behauptet, ich würde mit anderen Frauen schlafen, obwohl wir beide ein Paar waren. Und sie hat mir vorgeworfen, ich interessiere mich nur wegen ihres Geldes für sie.“ Zornig blitzten seine Augen auf.

„Was natürlich nicht stimmte.“

„Nein. Ganz im Gegenteil, ich war so schockiert, dass es mir die Sprache verschlagen hat. Kannst du jetzt verstehen, dass mir die Sache so wichtig ist?“

„Ja. War sie schön?“ Camilla klang mitfühlend.

Bei der Erinnerung an die damals sechzehnjährige Anna stiegen die seltsamsten Emotionen in ihm auf. Mit ihren langen Beinen hatte sie sich so geschmeidig und verführerisch bewegt, dass sie ihn bis in seine Träume verfolgt hatte. Aber schon im Kindergarten hatte man sie wegen ihrer langen und nicht ganz geraden Nase als Hexe bezeichnet.

Unentschieden zuckte er mit den Schultern. „Ich habe sie geliebt. Sie wirkte so warmherzig und unschuldig und hat mich oft zum Lachen gebracht. Doch in Wahrheit war sie herzlos und hinterhältig.“ Vido wusste nicht, wo und wie Anna jetzt lebte. Doch er würde sie finden, so viel stand fest.

Durch eine Ironie des Schicksals hatte Willoughby seinen gesamten Besitz verloren. Wohingegen Vido nicht mehr der arme, Hunger leidende Junge war, sondern reich – so reich, dass man es sich kaum vorstellen konnte. Dabei war er erst achtundzwanzig.

Bei dem Gedanken lächelte er spöttisch und legte den Kopf zurück. Wie helles Gold glänzte sein Haar in der Sonne, und seine weißen Zähne bildeten einen aufregenden Kontrast zu seiner gebräunten Haut.

Unglaublich, wie attraktiv dieser Mann ist, dachte Camilla. Unvermittelt umfasste sie sein Kinn und küsste ihn, bevor er sich zurückziehen konnte. Er ließ es geschehen und erwiderte den Kuss halbherzig. Seit Annas Verrat war sein Herz gepanzert. Seitdem war es keiner Frau mehr gelungen, Gefühle in ihm zu wecken.

Dabei war Camilla zweifellos eine schöne Frau, sehr weltgewandt, intelligent und in jeder Hinsicht eine Bereicherung für seine Firma. Vido hatte versucht, sie zu lieben. Denn er sehnte sich nach einer Frau und Kindern. Aber daran war nicht zu denken. Erst musste er die Dämonen der Vergangenheit vertreiben und endlich Frieden finden.

„Lass uns weiterfahren“, sagte er rau, startete den Motor und bog auf die Hauptstraße, um zurück nach London zu fahren.

Anna kniete in dem kleinen Vorgarten und jätete Unkraut. Als sie sich aufrichtete und das Ergebnis ihrer Arbeit betrachtete, gestand sie sich ein, dass sie die herrlichen Gärten und den riesigen Park von Stanford House vermisste, durch die sie als ungeliebtes und wenig liebenswertes Kind so oft gestreift war.

Gedankenverloren befühlte sie ihre Nase, die inzwischen eine normale Größe hatte und zu ihrem Gesicht passte. Anna lächelte. Dass sie früher ziemlich hässlich gewesen war, hatte sie sehr belastet. Doch erst das Ende der Freundschaft mit Vido hatte ihr Selbstbewusstsein vollends erschüttert.

Kurzerhand verdrängte sie den Schmerz, der ihr Herz wie ein Schraubstock zu umschließen drohte. Warum alte Wunden aufreißen? Natürlich hatte sie Vido heiß und innig geliebt. Aber sie hatte es ihm verheimlicht, aus Angst, dass er sie auslachen würde. Immerhin war er der beliebteste Junge der Schule gewesen, während sie nur eine hässliche graue Maus gewesen war. Jedenfalls hatten die anderen Mädchen sie so genannt.

Sicher, er hatte sie einige Male geküsst, und in den Momenten hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Doch ihr Großvater und ihre Klassenkameradinnen hatten ihr schnell die Augen geöffnet: Vido war ungemein ehrgeizig und sie die Erbin eines großen Vermögens. Aus welchem anderen Grund hätte sich ein so gut aussehender Junge für ein so hässliches Mädchen interessieren sollen?

Sogar heute noch schmerzte die Wahrheit. Als sie damals begriffen hatte, dass er nur ein gefühlloser Mitgiftjäger war, stürzte für sie eine Welt ein. Lediglich Mittel zum Zweck zu sein tat scheußlich weh.

Immerhin gehörte das alles der Vergangenheit an. Bald würde sie heiraten und hoffentlich endlich die Wunden heilen können, die Vido ihr zugefügt hatte.

Glücklicherweise gefiel es ihrem Verlobten Peter, dass sie so schweigsam und zurückhaltend war. Emotionale und temperamentvolle Frauen waren ihm verhasst. Mit Peter hatte sie jemanden gefunden, der sie schätzte und akzeptierte, wie sie war. Ihr zukünftiger Ehemann war eher nüchtern und aufmerksam. Zu schade, dass er weder leidenschaftliches Verlangen noch brennende Sehnsucht in ihr weckte.

Nachdem Stanford House verkauft worden war und ihr Großvater einen Schlaganfall erlitten hatte, war sie in das nahe gelegene Cottage gezogen, in dem in besseren Tagen der Gärtner gewohnt hatte. Oft hielten Touristen vor dem schmucken kleinen Häuschen an, um es zu fotografieren.

Wenn Großvater sich doch nur für den Gedanken, in dem hübschen Cottage zu wohnen, erwärmen könnte, überlegte Anna. Aber das war mehr als unwahrscheinlich. Er kam nicht damit zurecht, sein gesamtes Vermögen verloren zu haben, und es war ihm zuwider, in einfachen Verhältnissen zu leben.

Von daher war es kein Wunder, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte. Aus dem einst so schroffen, dominanten Mann war ein hilfloser und ängstlicher Mensch geworden. Anna empfand tiefes Mitleid mit ihm und hoffte, dass es ihm bald wieder besser gehen würde.

Angespannt betrachtete Vido das glänzende, volle schwarze Haar, das der schlanken Frau über den Rücken fiel. Selbst nach zehn Jahren erkannte er Annas herrlichen Körper noch auf Anhieb.

Sofort und gegen seinen Willen überkam ihn eine verheerende Mischung aus Verlangen und Abscheu. Gleichzeitig ärgerte er sich maßlos darüber, dass er diese hinterhältige, gemeine Frau immer noch begehrte.

„Es ist sonst nicht dein Stil, einfach anzuhalten, wenn dir eine Frau auffällt, und sie ungeniert zu mustern“, stellte Camilla belustigt fest.

Um etwas Ordnung in das Chaos seiner Gefühle zu bringen, atmete Vido einmal tief durch. Warum geriet er bei Annas Anblick so sehr aus dem Gleichgewicht? War er etwa ein Masochist? Begehrte er Anna wirklich, obwohl sie ihn verachtete? Mit finsterer Miene beobachtete er sie.

„Ich glaube, es ist Anna“, antwortete er betont gleichgültig.

„Ah ja. Wenn du ihr die Meinung sagen willst, dann steig aus.“ Liebevoll sah Camilla ihn an und legte ihm eine Hand auf den Arm.

Am liebsten hätte er sie weggeschoben. Er verstand selbst nicht, warum er auf diese harmlose Geste so heftig reagierte, und beherrschte sich. „Ja, ich will tatsächlich kurz mit ihr reden“, erklärte er und stieg aus.

Die kleine innere Stimme, die ihm zuflüsterte, er wolle noch viel mehr, ignorierte er hartnäckig. Unbegreiflicherweise hatte Annas Anblick ein Verlangen in ihm ausgelöst, wie es stärker nicht sein könnte. Er sehnte sich danach, sie zu besitzen, sie unter sich stöhnen zu hören. Voller Lust sollte ihr herrlicher Körper sich ihm entgegenbeugen.

Während er versuchte, das sexuelle Verlangen, das ihn wie aus heiterem Himmel überfallen hatte, zu verdrängen, funkelten seine Augen vor Wut. Unbestreitbar waren seine Gefühle in Aufruhr geraten. Angeblich vergaß man seine erste große Liebe nie – auf ihn traf das offenbar wirklich zu.

Dabei hatte Anna ihm vorgeworfen, mit anderen Mädchen zu schlafen, und ihn verächtlich und kühl gefragt, ob er vielleicht alle jungen Frauen in der Umgebung mit Geschlechtskrankheiten infizieren wolle. Außerdem hatte sie überall herumerzählt, dass er kriminell wäre.

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch ging er langsam auf den Holzzaun zu. Ohne ihn zu bemerken, arbeitete Anna in dem winzigen Vorgarten weiter. Als sie sich aufrichtete, verkrampfte sich sein Magen. Sie war tatsächlich noch schöner als damals. Ihre Figur war weiblicher geworden, die nach wie vor langen, schlanken Beine waren leicht gebräunt, die Haut makellos und die Hüften verführerisch gerundet. In den engen Shorts wirkte sie wie die reine Versuchung.

Früher war sie sehr zurückhaltend gewesen. Nicht einmal er hatte ihre hohen festen Brüste berühren dürfen. Angestrengt bemühte er sich, seine Leidenschaft zu zügeln. Schließlich war sein vorrangiges Ziel, den Namen Pascali reinzuwaschen.

Dass sie nicht weit vom Anwesen wohnte, verhieß nichts Gutes. Immerhin wollte er in Stanford House sein Büro einrichten, und sollte sie das Gerücht in die Welt setzen, er hätte einen schlechten Charakter, könnte das enorm geschäftsschädigend für ihn sein. Mit ihren boshaften Bemerkungen konnte Anna ihm sehr schaden.

Während Vido hasserfüllt ihren Rücken betrachtete, versteifte sie sich plötzlich, drehte sich um – und reagierte genau so, wie er es gehofft hatte.

„Vido!“, rief sie entsetzt und wich ein paar Schritte zurück, denn er wirkte seltsam bedrohlich. Nur zu deutlich spürte sie sein sexuelles Verlangen und kam sich plötzlich schwach und hilflos vor.

Warum eigentlich? Schon früher hatte er eine starke erotische Ausstrahlung verbreitet. Für ihn waren Frauen nichts anderes als Lustobjekte. So schnell, wie sie gekommen war, verwandelte Annas Angst sich in Zorn, und sie blickte ihn verächtlich an.

Sofort fiel ihm auf, dass sie ihre Nase operieren lassen hatte. Anna war atemberaubend schön. Wieder und wieder musste er sie ansehen, bis er seine Verblüffung überwunden hatte.

Ihre Haut schimmerte golden, und die großen grauen Augen funkelten. Auf einmal und ohne es zu merken, legte sie die Finger an ihre Nase. Das hatte sie schon damals gemacht, wenn jemand sie ansah. Unwillkürlich hatte er das Gefühl, Anna beschützen zu müssen. Doch dann ermahnte er sich, seine Gefühle nicht an sie zu verschwenden.

Lange hatte er geglaubt, sie wäre ein armes reiches Mädchen, das niemand liebte. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und ihr Großvater liebte sie nicht. Darüber hatte Vido sich als Junge sehr aufgeregt.

Verächtlich verzog er die Lippen. Denn heute wusste er, dass sie nur deshalb nicht geliebt worden war, weil sie nicht liebenswert war. Anna war genauso kalt und gefühllos wie ihr Großvater. Auch wenn sie sich äußerlich verändert hatte, war sie immer noch derselbe Mensch – boshaft und hinterhältig.

„Anna.“ In seiner Stimme schwang deutliche Ablehnung. „Was für eine Überraschung.“

Sie schluckte. „Ja“, erwiderte sie nur. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

Demonstrativ verschränkte Vido die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Zaun. Während er sie abschätzig musterte, verspürte sie so etwas wie Sehnsucht nach seinen Zärtlichkeiten. Natürlich war das nur die Reaktion auf die Erinnerungen, die sein unerwartetes Auftauchen auslöste – zumindest redete sie sich das ein. Vor Jahren hatten sie sich an den Händen gehalten, viel gelacht, sich heimlich geküsst, und sie hatte sich in seiner Gesellschaft sehr wohl gefühlt.

Beherrscht zwang Anna sich, sich auch daran zu erinnern, wie demütigend es gewesen war, als sie endlich begriffen hatte, dass er es nur auf ihr Erbe abgesehen hatte. Damit hatte er ihr das Herz gebrochen.

Stumm wartete sie darauf, dass er etwas sagte, und musterte ihn dabei verstohlen. Heute war sein Haar etwas heller als damals und perfekt geschnitten. Dass er Italiener war, sah man auf den ersten Blick. Vido trug einen eleganten und offenbar sehr teuren Leinenanzug. Und im Gegensatz zu früher umgab ihn eine Aura von Reichtum und Macht.

Aber er war immer noch genau so, wie sie ihn sich in ihren Träumen vorgestellt hatte: wie ein römischer Gott mit goldblondem Haar und seelenvollen dunklen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrahmt wurden. Doch im Moment strahlte er etwas Bedrohliches aus, das Anna unruhig machte.

Noch eine Erinnerung stieg in ihr auf – wie zornig er geworden war, als sie sich damals so heftig gestritten hatten. Sicher wäre es verkehrt, die Warnungen ihres Großvaters vor Vidos krimineller Energie außer Acht zu lassen.

„Was machst du hier?“, fragte sie kühl.

„Ich fahre nach London“, antwortete er langsam.

Dann hat er mich wohl nur zufällig entdeckt, dachte sie erleichtert. Anfangs hatte sie befürchtet, er wäre nach Shottery zurückgekommen, um sie zu quälen. Als sie über seine Schulter zum Auto sah, bemerkte sie die fantastisch aussehende Blondine in dem silberfarbenen Wagen. Die Frau lächelte belustigt, was Anna beunruhigte.

„Lass dich nicht aufhalten, deine Freundin wartet“, mit diesen Worten versuchte sie, sich von ihm zu verabschieden und drehte sich halb um. Auf keinen Fall durfte er merken, was sie empfand. Schlimm genug, dass sie ihn immer noch so sehr begehrte, als hätte er sie nie getäuscht und betrogen. Vermutlich hatte er gedacht, dass sie sich über seine Aufmerksamkeit freuen müsste, weil sie so hässlich war und sich niemand für sie interessierte. Aber zum Glück hatte sie ihn weggeschickt.

Wegen ihrer Unverschämtheit hatte seine Mutter ihre Stelle in Stanford House verloren, und Vido war auf die schiefe Bahn geraten. Nächtelang hatte er sich mit irgendwelchen Frauen vergnügt, war erst frühmorgens nach Hause gekommen und zu erschöpft gewesen, um für die Schule zu lernen. Dabei war er sich immer so sicher gewesen, ein Stipendium für das Studium zu bekommen. Das hatte er vergessen können, weil ihm Sex wichtiger gewesen war als alles andere. Wie dumm und naiv ich doch gewesen bin, dachte sie.

„Camilla hat viel Geduld und wartet gern, bis ich alles erledigt habe“, erklärte er.

Was ist er doch für ein arroganter und selbstgefälliger Mensch, schoss es Anna durch den Kopf. Sie sah ihn an und wünschte sogleich, sie hätte es nicht getan, denn seine Augen erwiderten ihren Blick voller Verlangen. Mit den sinnlichen Lippen und der lässigen Haltung wirkte er viel zu erotisch.

Ich weiß doch genau, wie er ist, ermahnte sie sich. Aber es nützte nichts. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihn begehrte, sosehr sie sich auch zusammennahm und sich an alles erinnerte, was er ihr angetan hatte. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie ihr ohnehin geringes Selbstbewusstsein völlig verloren hatte. Sein Verrat und sein Betrug hatten dazu geführt, dass sie sich jahrelang zurückgezogen und wie eine Nonne oder Einsiedlerin gelebt hatte.

„Deine Freundin tut mir leid. Du hast deine Einstellung Frauen gegenüber offenbar nicht geändert, oder?“ stellte sie fest und musterte ihn verächtlich von Kopf bis Fuß. Er war groß und schlank und viel zu attraktiv. Aber insgesamt ist er nur ein mieser Casanova, sagte sie sich. „Frauen sind für dich also immer noch so etwas wie ein Spielzeug“, fügte sie bitter hinzu.

Nichts hatte sich geändert, Anna warf ihm immer noch Unfreundlichkeiten und grundlose Verdächtigungen an den Kopf. Doch er würde sie schon noch dazu bringen, ihn respektvoll zu behandeln.

„Eine geduldige und verständnisvolle Frau, die im Auto auf mich wartet, macht aus mir noch keinen Chauvinisten“, entgegnete er.

„Ach, das interessiert mich doch gar nicht“, erwiderte sie kühl.

„Aber es wird dich noch interessieren. Wohnst du jetzt hier?“, fragte er.

Wie konnte er so überheblich und selbstbewusst dastehen, obwohl er sie betrogen und belogen hatte und nicht viel besser war als jeder kleine Gauner? Doch weil die Gefühle, die Vido in ihr weckte, sie vollkommen aus dem Gleichgewicht brachten, schwieg sie lieber und widmete sich wieder dem Garten.

„Wohnst du jetzt hier?“, wiederholte er.

Ihr wurde klar, dass er nicht gehen würde. „Ja“, antwortete sie. Plötzlich dachte sie an ihren Verlobten, dem sie bald das Jawort geben würde. Und auf einmal schien Peters freundliches Gesicht vor ihren Augen zu verschwimmen, um Vidos Bild Platz zu machen. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich, und sie bekam Angst. Sicher, Peter stellte keine Bedrohung dar. Aber liebte sie ihn? Reichten ihre Gefühle für ihn aus, um ein ganzes Leben mit ihm zu verbringen?

„Warum?“ Als sie ihn verständnislos ansah, fügte er betont langsam hinzu: „Warum wohnst du hier – in dem Cottage?“

„Weil mein Großvater das Haus verkaufen musste.“

„Ihr hattet also finanzielle Probleme“, stellte er zufrieden fest.

Dieser gemeine Kerl. Empört presste Anna die Lippen zusammen. Was wollte er hier? Den Triumph auskosten und boshafte Bemerkungen machen?

„Hier habt ihr nicht viel Platz, nur ein Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Dabei seid ihr doch an das große Haus gewöhnt.“ Seine Stimme klang seidenweich. „Ich war ein paar Mal in dem Cottage, weil ich mich gut mit dem Gärtner verstanden habe. Er war ein Dienstbote – genau wie ich.“

Am liebsten hätte sie sich im Haus vergraben. Aber das hätte Vido als Sieg empfunden. Also blieb sie stehen und wünschte, ihre Shorts wären nicht ganz so kurz und verwaschen und ihr T-Shirt nicht voller Erde. Das trug alles dazu bei, dass sie sich ihm gegenüber im Nachteil fühlte.

„Es ist groß genug“, behauptete sie trotzig.

„So? Wo schläft denn dein Großvater?“, fragte er beharrlich weiter. „Auf dem Sofa?“

„Er hatte einen Schlaganfall und liegt im Krankenhaus. Den Verkauf des Hauses hat er nicht verkraftet“, erwiderte sie kühl. „Bist du nun zufrieden?“

Zu ihrer Überraschung veränderte sich seine Miene. Er schien ehrlich bestürzt zu sein.

„Das tut mir leid“, sagte er schließlich schroff.

„Ach ja?“

Finster zog er die dunklen Augenbrauen zusammen. „Wie geht es ihm?“

„Er kann nicht richtig sprechen und ist halbseitig gelähmt. Aber er wird sich wieder erholen.“

„Dann wirst du wahrscheinlich auf dem Sofa schlafen müssen, oder?“, spottete er.

Natürlich würde sie auf dem Sofa schlafen. Wo sonst? Allerdings fürchtete sie sich davor, mit ihrem Großvater in dem kleinen Cottage zu leben. Seit er die Fabrik nicht mehr besaß, war er noch schwieriger geworden.

„Warum sollte es dich interessieren, wo ich schlafe? Kümmere dich lieber um deine Freundin. Sie langweilt sich schon. Und lass mich bitte allein, ich möchte weiterarbeiten“, fuhr sie ihn gereizt an.

Statt zu gehen, stellte er sich direkt neben sie. „Ich finde es interessant, wie das Schicksal manchmal spielt. Jetzt bin ich reich, und du bist arm“, flüsterte er in ihr Ohr.

Er war ihr viel zu nah. Schnell trat sie einige Schritte zurück.

„Das Schicksal? Du bist doch bestimmt mit schmutzigen Geschäften so reich geworden, dass du dir Luxusautos und Designeranzüge kaufen kannst“, entgegnete sie bissig.

„Vorsichtig, Anna“, warnte er sie sanft. „Was du da behauptest, könnte man durchaus als Verleumdung bezeichnen. Ich habe mein Geld durch harte Arbeit verdient. Natürlich gehört auch ein gewisses Talent dazu.“

„Meinst du Charme, gutes Aussehen und schön verpackte Lügen? Oder hast du den direkteren Weg gewählt und eine dumme, reiche Frau gefunden, die dir ihr Vermögen überschrieben hat?“

„Was bist du doch für ein rachsüchtiger Mensch“, erklärte er zornig.

„Kannst du die Wahrheit nicht vertragen, Vido?“

„Verrat mir nur eines, Anna: Wie fühlt es sich an, arm zu sein?“, fragte er hämisch.

„Das müsstest du doch wissen.“ Angespannt, nervös und aufgewühlt, wie sie war, fehlte nicht mehr viel, und sie würde die Beherrschung verlieren. Dann könnte er wirklich triumphieren.

„Armut ist zermürbend und deprimierend, nicht wahr?“ Bei diesen Worten klang seine Stimme gefährlich sanft.

Jetzt sah Anna ihm direkt in die Augen. Trotz seines Ärgers wirkte er so erotisch, dass sie erbebte.

„Ja“, gab sie leise zu. Warum quälte er sie so? Offenbar gefiel es ihm, dass sie jetzt in bescheidenen Verhältnissen lebte. Der Mann musste krank sein.

„Ich erinnere mich nur zu gut an die vielen schlaflosen Nächte“, erzählte er. „Ich lag hellwach im Bett und habe überlegt, woher das Geld kommen soll, das wir zum Leben brauchen. Wenn Rechnungen kamen, bin ich in Panik geraten. Ich wusste, dass wir in der Falle saßen. Und es gab keinen Ausweg, egal, wie viel und wie hart ich gearbeitet habe.“

Als ob er meine derzeitigen Lebensumstände beschreibt, dachte sie. Mit dem wenigen Geld, das ihr zur Verfügung stand, kam sie kaum zurecht. Obwohl sie nicht billigte, was er damals getan hatte, konnte sie inzwischen sehr gut nachvollziehen, dass er der Armut hatte entfliehen wollen.

„Offenbar hast du es geschafft, da herauszukommen.“ Sie strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. „Aber du warst ja auch nicht zu stolz, Geld von meinem Großvater anzunehmen. Sozusagen Schmerzensgeld, falls du mich und das Dorf verlassen würdest. Ansonsten hätte er die Polizei eingeschaltet. Er hat deiner Mutter viel Kummer erspart und es dir ermöglicht, ein neues Leben zu beginnen“, stellte sie verächtlich fest. „Du solltest ihm dankbar sein.“

„Dankbar? Deinem Großvater?“, stieß er so zornig hervor, dass Anna erschrocken zurückwich.

Seine Miene wirkte geradezu hasserfüllt. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, an seine Schandtaten erinnert zu werden. Vermutlich störte das die hohe Meinung, die er von sich selbst hatte.

Ohne es zu merken, ballte Vido die Hände zu Fäusten. Denn Willoughby hatte ihr nur die halbe Geschichte erzählt. Obwohl Annas Großvater ihm mit der Polizei gedroht hatte, hatte Vido das Geld zurückgewiesen und den alten Mann aufgefordert, sich zum Teufel zu scheren. Diesen Teil der Geschichte hatte Annas Großvater ihr verschwiegen.

Vido gegenüber hatte Willoughby damals jedoch zugegeben, dass Anna das Geld aus der Kasse der Arbeiter genommen und in seinem Spind versteckt hatte, um ihm eine Lektion zu erteilen.

Für Vido wäre die Sache damit erledigt gewesen. Aber seine Mutter hatte geweint und war beinahe zusammengebrochen. Ihre Schwester bot ihr an, nach Italien zurückzukommen und mit Vido bei ihr zu wohnen. Seiner Mutter zuliebe hatte er seinen Stolz überwunden und das Geld schweren Herzens doch angenommen, um mit ihr nach Italien fliegen zu können.

Sich als Bittsteller an den älteren Mann zu wenden war entsetzlich erniedrigend gewesen. Dieses Erlebnis würde er am liebsten für immer vergessen.

Sekundenlang überlegte er, ob er mit Anna darüber reden sollte, entschied sich aber dagegen. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass Willoughby einen Schlaganfall erlitten hatte. Damit wurde es sehr unwahrscheinlich, dass Anna die Wahrheit von ihrem Großvater erfuhr – wie Vido es sich eigentlich gewünscht hätte.

Mir wird schon etwas einfallen, damit sie zugibt, dass sie das Geld in meinen Spind gelegt hat, überlegte Vido. Dann erst würde er ihr erklären, warum er Willoughbys Bestechungsgeld angenommen hatte. Vielleicht konnte er an sie herankommen, indem er es ausnutzte, dass sie sich immer noch körperlich zueinander hingezogen fühlten.

„Übrigens: Ich möchte dir zu deiner Nase gratulieren“, sagte er vollkommen unvermittelt. „Du bist sehr schön.“ Obwohl sein Zorn noch nicht verraucht war, klang seine Stimme sinnlich und verführerisch.

Ein Kribbeln auf der Haut, ein Ziehen im Bauch – Anna sehnte sich nach ihm, mehr als ihr lieb war. Zugleich war ihr klar, dass er nur mit ihr spielte. „Das behaupten andere auch“, erwiderte sie betont gleichgültig.

Interessiert betrachtete Vido ihre linke Hand. Natürlich konnte er nicht wissen, dass sie ihren Verlobungsring beim Arbeiten im Garten und beim Kochen nicht trug. Kühl blickte sie ihn an.

Doch seine Miene hellte sich auf, und er erwiderte eindringlich Annas Blick. In diesem Moment wünschte sie, sie würde ihn immer noch lieben. Dann hätte sie wenigstens eine Erklärung für ihre merkwürdigen Gefühle, die sie vollkommen verwirrten und die sich nicht unterdrücken ließen.

So sehr hatte sie sich noch nie nach einem Mann gesehnt. Schockiert registrierte sie, wie ihr Verlangen wuchs und wuchs.

War sie etwa so zügellos wie ihre Mutter? Von ihrem Großvater hatte Anna viel über das anstößige Verhalten ihrer Mutter gehört. Allerdings hatte sie nichts Anstößiges daran finden können, sondern war der Meinung, dass ihre Mutter einfach eine sehr temperamentvolle, lebenslustige und leidenschaftliche Frau gewesen war.

Doch ihre eigene Sehnsucht nach Vido drohte gerade außer Kontrolle zu geraten. Am liebsten hätte sie jede Zurückhaltung, die sie sich in all den Jahren auferlegt hatte, rückhaltlos von sich geworfen.

Was für ein erschreckender Wunsch, ausgerechnet von diesem Mann berührt und liebkost werden zu wollen. Doch sie hatte jahrelange Übung darin, ihre Gefühle und Wünsche zu verbergen, sodass es ihr auch jetzt gelang, sich vorbildlich zu beherrschen und sich nichts anmerken zu lassen.

„Du solltest wirklich weiterfahren“, erklärte sie kühl.

Wie spöttisch sich seine Lippen daraufhin verzogen. Fühlt er sich vielleicht herausgefordert und beabsichtigte, ihr seinen Willen aufzuzwingen? Doch das würde ihm nicht gelingen. Nicht, solange sie noch ein Wörtchen mitzureden hatte.

„Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich dir“, sagte er ihr zum Abschied, wobei in seinen Augen ein rätselhaftes Lächeln lag.

Sie rang nach Atem. „Nicht, wenn ich dich zuerst sehe“, entgegnete sie hitzig. „Es war bestimmt kein Vergnügen.“

„Für mich schon. Und das nächste Mal wird es noch erfreulicher sein. Darauf kannst du dich verlassen.“

Irritiert wandte sie sich ab, hörte Vido weggehen und endlich auch eine Autotür zuschlagen.

Erleichtert atmete Anna tief aus. Sofort löste sich auch ihre innere Anspannung ein wenig. Geradezu lächerlich, dass sie so heftig auf einen Mann reagierte, der ihr so viel angetan hatte. Nachdem er mit seiner Mutter nach Italien geflogen war, hatte sie dermaßen unter der Trennung gelitten, dass sie in der Schule gnadenlos schikaniert worden war. Infolgedessen hatte ihr Großvater sie zähneknirschend auf eine Privatschule geschickt.

Danach war Anna noch einsamer gewesen als zuvor. Nur beim Kochen hatte sie vergessen, wie unglücklich sie war. Nach ihrer Schönheitsoperation war sie auf eine Hotelfachschule gegangen, und zu diesem Zeitpunkt hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben durch Schönheit geglänzt.

Völlig zerschlagen ging sie ins Haus, wusch sich die Hände und machte sich einen Kaffee. Ihr ganzer Körper schien vor Sehnsucht zu schmerzen. Das war eine völlig neue Erfahrung für sie, allerdings eine, die ihr missfiel. Hilflos fühlte sie sich Vidos faszinierender Ausstrahlung ausgesetzt, verstört verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, mit ihm zu schlafen, und das obwohl sie sich nicht liebten.

„Dieser verdammte Kerl soll es ja nicht wagen, mir noch einmal über den Weg zu laufen“, sagte sie laut vor sich hin und schüttete viel zu viel Zucker in den Kaffee. Ihr Leben war auch so schon schwierig genug.

2. KAPITEL

„Vido! Die Leute sind da!“, rief Camilla ihm von der Tür aus zu.

„Okay, ich sehe sie mir gleich an.“

„Du wirst dich wundern“, verkündete sie leicht belustigt.

Zwei Monate nach dem Kauf waren die Umbauarbeiten endlich abgeschlossen. Sofort hatte er die neuen Büroräume bezogen und die englische Niederlassung seines Mailänder Unternehmens von London nach Shottery verlegt.

Alles war in Rekordzeit fertig geworden. Nur die Küche musste noch modernisiert werden.

Und dann würde er genüsslich mit Anna abrechnen. Höchste Zeit, dass sein guter Ruf wiederhergestellt wurde!

Mit geballter Energie ging er in sein neues Büro. Zufrieden sah er sich um und atmete den Duft des Flieders ein, der in einer edlen Vase auf der Fensterbank stand.

Nun brauchte er nur noch einen guten Koch oder eine gute Köchin. Mit etwas Glück könnte er noch heute jemanden einstellen. Seine Sekretärin hatte alle eingegangenen Bewerbungen durchgesehen und die infrage kommenden Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Nun saß eine Gruppe verschiedenster Bewerber in der Empfangshalle und wartete darauf, aufgerufen zu werden.

Gut gelaunt ging Vido in den kleinen Nebenraum mit den Monitoren der Überwachungskameras und setzte sich in den Ledersessel. Ungefähr zwanzig Leute warteten in der Halle, mehr oder weniger angespannt.

Nur eine der Frauen wirkte völlig entspannt – bei ihrem Anblick hielt er sekundenlang den Atem an.

„Weißt du jetzt, was ich gemeint habe?“ Camilla stellte sich lächelnd hinter ihn.

„Anna“, sagte er leise. Auf einmal erinnerte er sich wieder daran, dass sie schon früher gern gekocht und viel von seiner Mutter gelernt hatte. Mit ihrer herzlichen Art war es Sophia sehr schnell gelungen, das Herz des scheuen, schweigsamen Mädchens zu gewinnen.

„Es ist unglaublich, wie begeisterungsfähig Anna ist und wie temperamentvoll sie sein kann“, hatte Sophia ihm oft erzählt. Und auch Vido hatte damals herausgefunden, dass die so still und zurückhaltend wirkende Anna ebenso emotional und temperamentvoll war wie er.

Offenbar war sie Köchin geworden. Aber sollte sie seine Köchin werden? Im Grunde gefiel ihm die Idee besser, als er sich eingestehen wollte. Dennoch verwarf er sie sofort wieder. Schließlich musste er an das Betriebsklima denken. Ihre unbewältigte Vergangenheit stand einer Zusammenarbeit im Weg. Außerdem war Anna eine durch und durch hinterhältige Person.

Trotzdem wäre es sicher interessant, sich mit ihr zu unterhalten – vielleicht würde ja etwas ganz anderes daraus.

Da Camilla ihn gespannt beobachtete, bat er sie: „Lass sie als Letzte hereinbringen. Ach, und Steve soll die Leute zu mir bringen, damit sie dich nicht sieht.“

Während der Bewerbungsgespräche wanderten seine Gedanken immer wieder zu Anna. Heute trug sie das lange, glänzende dunkle Haar hochgesteckt, und sie übertraf an Schönheit alle anderen. Außerdem wirkte sie ausgesprochen gelassen und überlegen.

Als einzige aller Bewerber hatte sie in einem der Kochbücher gelesen, die er auf den kleinen Tisch hatte legen lassen. Alle anderen Frauen und Männer interessierten sich hingegen nur für die verschiedenen Zeitschriften.

Unvermittelt und abrupt verabschiedete sich Vido von einer Bewerberin, deren Lebenslauf sich fast wie ein Science-Fiction-Roman las. Er war enttäuscht, dass bisher noch niemand seinen hohen Erwartungen entsprochen hatte. Jetzt blieb nur noch Anna übrig.

Als er Steve über die Sprechanlage bat, Anna hereinzuführen, verkrampfte sich sein Magen. Ihm blieben höchstens dreißig Sekunden, um sich wieder zu beruhigen. Er betrachtete das Foto seiner verstorbenen Mutter, das auf seinem Schreibtisch stand. Niemals würde er vergessen, wie es ihr das Herz gebrochen hatte, dass ihr Sohn als Dieb beschimpft worden war. Wieder erinnerte er sich daran, wie er aus Willoughbys Büro gekommen war und noch einmal durch die ganze Fabrik zum Ausgang gehen musste. Dieser Augenblick war einer der schlimmsten seines Lebens gewesen. Alle Kollegen hatten ihn hasserfüllt angeblickt, und eine Flut von Schimpfwörtern hatte sich über ihn ergossen. Weil er angeblich versucht hatte, das mühsam zusammengesparte Geld für einen Betriebsausflug zu stehlen, hatten sie vor ihm ausgespuckt. Damals schwor er, sich eines Tages an den Willoughbys zu rächen und seinen guten Ruf wiederherzustellen.

Endlich beruhigte Vido sich und wurde wieder zu dem tatkräftigen, entschlossenen Geschäftsmann, dem man nachsagte, er hätte ein goldenes Herz, und der seine Mitarbeiter so großzügig bezahlte, dass sie sehr gut leben konnten.

Da er keinen Bewerber gefunden hatte, der in das Team passte, musste er wohl noch eine Anzeige aufgeben. Und er und seine Leute mussten weiterhin Fertiggerichte essen.

Inzwischen saß Anna ganz allein in dem Raum. Sie war immer nervöser geworden, während ein freundlicher junger Mann die anderen der Reihe nach aufgerufen hatte. Nur sie war übrig geblieben.

Während der Wartezeit hatte man ihnen etwas zu essen gebracht. Dazu hatte es Erdbeeren gegeben – wahrscheinlich aus ihrem alten Garten. Nachdem sie das Kochbuch ganz durchgeblättert hatte, schwirrten lauter neue Ideen in Annas Kopf.

Voller Anerkennung betrachtete sie die frisch renovierte Empfangshalle. Der große Raum wirkte dezent luxuriös. Für Anna war es eine Wohltat, wieder in dem Haus zu sein, in dem sie aufgewachsen war. Die Freude darüber, wie geschmackvoll und elegant es eingerichtet war, ließ ihr Herz höher schlagen. An den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten, hingen schwere Vorhänge, und die wertvollen alten Stilmöbel passten hervorragend zu dem Haus.

In mehreren wunderschönen Vasen standen Blumen aus dem Garten, deren Duft den ganzen Raum erfüllte. Zweifellos hatte der neue Besitzer einen guten Geschmack.

„Miss Willoughby?“

Mit Herzklopfen stand Anna auf und folgte dem jungen Mann.

„Ich bin Steve und ein Arbeitstier“, stellte er sich freundlich lächelnd vor.

„Ich bin Anna, Pizzabäckerin in Stratford und auch ein Arbeitstier“, erwiderte sie belustigt.

„Willkommen in unserem Paradies. Es ist wirklich ein wunderschöner Arbeitsplatz“, fügte er begeistert hinzu. „Und viel Glück.“

„Danke, das werde ich brauchen.“

Den Job zu bekommen war sehr wichtig für sie. Denn in der Stellenanzeige hatte es geheißen, man bekäme auf Wunsch eine Dreizimmerwohnung zur Verfügung gestellt. Drei Zimmer wären groß genug für Anna und ihren Großvater. Und sicher würde er sich freuen, wieder in seinen geliebten Gärten und dem Park herumspazieren zu können. Nicht zuletzt ihm zuliebe wollte sie die Stelle unbedingt bekommen.

Auch für Peter war es wichtig, dass sie heute Erfolg hatte. Mit seiner Hilfe hatte sie sich intensiv auf das Bewerbungsgespräch vorbereitet. Von ihm wusste sie auch, dass Solutions Inc. eines der erfolgreichsten Unternehmen weltweit war. Angeblich hatte es einen ausgezeichneten Ruf. Von Annas Anstellung versprach Peter sich eine gute Chance, später selbst einen Job in der Firma zu bekommen.

„Sie müssen nicht nervös sein“, sagte der junge Mann mitfühlend und blieb stehen.

„Ist es so offensichtlich?“, fragte sie entsetzt.

„Ihr Blick verrät es“, lächelte er. „Atmen Sie einmal tief durch.“ Er wartete, bis sie damit fertig war. „Und? Fühlen Sie sich besser?“

„Viel besser. Aber meine Hände zittern immer noch. Ich möchte den Job unbedingt haben.“

„Dann drücke ich die Daumen, dass Sie Erfolg haben. Wir sind da.“ Vor der Tür zu dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Großvaters blieb er stehen und klopfte an, bevor er die Tür öffnete.

Aufgeregt betrat Anna den Raum. Was für ein seltsames Gefühl, unter ganz anderen Vorzeichen plötzlich wieder in diesem Zimmer zu sein!

„Lächeln Sie einfach. Mr. Pascali mag es, wenn die Leute lächeln“, erklärte Steve.

Weil sie glaubte, sich verhört zu haben, hielt sie inne. „Mr. Pascali?“, wiederholte sie leise und hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen.

„Ja“, antwortete er genauso leise. „Er verlangt sehr viel von seinen Angestellten, ist aber auch sehr fair. Ohne Frage ist er der beste Arbeitgeber, den ich mir vorstellen kann.“

Unfassbar, dass damit Vido gemeint sein sollte! Doch das war wahrscheinlich Ansichtssache. Wenn der junge Mann sie nicht in den Raum gedrängt und die Tür hinter ihr geschlossen hätte, wäre Anna sicher geflüchtet.

Bevor sie Vido anblickte, sah sie sich in dem schönen Raum mit den hohen Regalen um, die voller Bücher waren. Wie zu erwarten, saß er an einem riesigen Schreibtisch.

In dem weißen Seidenhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, sah er fantastisch aus. Allerdings erinnerte er Anna vor allem an eine Raubkatze, die sich nach längerer Fastenzeit jeden Moment auf ihre Beute stürzen wird. Irritiert und nervös vergaß sie alles, was Peter ihr beigebracht hatte. In einem normalen Bewerbungsgespräch hätte sie jetzt selbstbewusst und entschlossen auf Vido zugehen müssen. Aber sie wussten beide, dass sie weder das eine noch das andere war. Und als Vido sie abschätzend von oben bis unten musterte, verunsicherte sie das noch mehr.

Den Kopf voll der unterschiedlichsten Empfindungen, konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich muss kämpfen oder die Flucht ergreifen, ermahnte sie sich leicht verzweifelt. Natürlich war es sehr unwahrscheinlich, dass sie jetzt überhaupt noch eine Chance hatte, den Job zu bekommen – selbst wenn sie bereit wäre, für diesen Mann zu arbeiten, den sie zutiefst verachtete. Nein, sie verschwendete hier nur ihre Zeit.

Doch wenn sie jetzt davonlief, würde Vido sie für feige halten und denken, sie hätte Angst vor ihm. Er durfte nicht merken, dass er sie völlig aus dem Konzept brachte. Nachdem sie all ihren Mut gesammelt hatte, beschloss sie zu kämpfen.

„Anna, willkommen in meinem Haus“, begrüßte er sie spöttisch, stand auf und reichte ihr die Hand. Offenbar war sie schockiert, dass er der neue Besitzer von Stanford House war. Ein Umstand, der ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen zauberte.

„Vido.“ Ihre Stimme klang so heiser, dass sie die beunruhigendsten Gefühle in ihm auslöste. Zögernd ging sie langsam auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

Ihm war klar, dass er ihre Hand etwas zu lange festhielt. Am liebsten hätte er Anna umarmt und getröstet, weil sie so verletzlich wirkte. Doch das wäre ausgesprochen dumm, schließlich war Anna kalt und gefühllos.

Auf einmal entriss sie ihm ihre Hand. „Seit wann weißt du, dass ich mich um den Job beworben habe?“, fragte sie unvermittelt, wobei ihre Augen ihn zornig anfunkelten.

Wenn sie wütend ist, ist sie noch begehrenswerter, dachte er und verdrängte den Wunsch, sie auf seinem Schreibtisch zu lieben. Damit musste er noch warten.

„Ich habe es erst heute Morgen erfahren“, antwortete er schärfer als beabsichtigt.

„Und trotzdem hast du mich stundenlang warten lassen“, warf sie ihm vor.

Wie gut, dass sie nicht ahnte, wie schwer es ihm gefallen war, bis jetzt zu warten. Mit jedem Bewerber, der vor ihr an der Reihe gewesen war, war seine innere Anspannung gewachsen, bis er sie kaum noch aushalten konnte, und jetzt brachte ihn Annas Nähe beinah um den Verstand. Aber was sprach eigentlich dagegen, seine Rache mit einer Verführung zu beginnen? Vielleicht wäre das ein guter Auftakt.

„Ja, das stimmt“, gab er zu. Verdammt, ich muss mich zusammennehmen, dachte er ärgerlich. Auch wenn es nichts daran auszusetzen gab, sie zu begehren, durfte er nicht die Kontrolle über sich verlieren.

„Das ist gemein“, schnaubte sie.

„Vielleicht wollte ich dich als Letzte sehen, damit wir uns länger unterhalten können.“ Neugierig wartete er auf ihre Reaktion, doch sie sah ihn nur an. „Wie gefällt dir das Haus?“ Er musste sich unbedingt ablenken und seine überreizten Nerven beruhigen.

Für einen Moment zögerte sie. „Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber es gefällt mir sehr gut. Du hast dem Haus seinen früheren Glanz zurückgegeben.“

Mit diesem Eingeständnis hatte Vido nicht gerechnet. „Es hat mir sehr viel Spaß gemacht“, sagte er leise.

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Setz dich doch.“ Wieder fiel ihm auf, wie geschmeidig sie sich bewegte, als sie sich in den Sessel ihm gegenüber setzte. Und das, obwohl es ihm schien, als könne sie sich kaum noch auf den Beinen halten.

Ihr anthrazitgraues Kostüm saß perfekt, vermutlich stammte es noch aus besseren Zeiten. Als sie bemerkte, dass er sie betrachtete, errötete sie.

„Ich wusste, dass wir uns wiedersehen würden. Doch ich habe nicht damit gerechnet, dass es unter diesen Umständen geschehen würde“, begann er.

Kühl sah sie ihn an. „Ich hingegen hatte gehofft, dich nie wiedersehen zu müssen.“ An ihrem Ton erkannte er, dass sie die Wahrheit sagte. „Ich weiß selbst nicht, warum ich mich gesetzt habe“, fügte sie hinzu.

Erstaunlich, wie ehrlich sie war. Sie versuchte gar nicht erst, ihm als ihrem möglichen Arbeitgeber zu schmeicheln. Der Gedanke, sie für sich arbeiten zu lassen, hatte etwas Faszinierendes. Aber nein, unmöglich, er musste es vergessen.

„Vielleicht aus Neugier? Oder weil es dein Schicksal ist? Immerhin gibt es noch einiges zu klären“, erwiderte er langsam.

„Da irrst du dich aber gewaltig“, entgegnete sie. „Was war, ist längst Vergangenheit. Es gibt nichts mehr zu klären.“

In der Tat, das wäre schön, dachte er. Aber sie musste ihm einige Fragen beantworten, und er hatte ein Versprechen einzulösen.

„Das mag für dich so sein. Aber ich wohne jetzt in deiner Nähe, und deshalb können wir die Vergangenheit nicht ignorieren. Denn jedes Mal, wenn ich dich sehe oder an deinem Cottage vorbeifahre, muss ich daran denken, was geschehen ist.“

„Nichts ist geschehen“, protestierte sie.

Für sie sah es vermutlich tatsächlich so aus. Aber die Willoughbys hatten seiner Mutter und ihm das Leben zur Hölle gemacht. Unwillkürlich presste er die Lippen zusammen. „Anna, es ist sehr viel geschehen. Das musst du mir glauben.“

Als erinnerte sie sich an die traumhaften Tage, die sie miteinander verbracht hatten, berührte sie gedankenverloren ihre Lippen. Und sogleich glaubte er, wieder ihre warmen, sinnlichen Lippen und ihren Körper an seinem zu spüren.

„Ich kann nicht verstehen, warum du das Haus gekauft hast. Und ich habe nicht geahnt, dass du der Besitzer der Firma bist, sonst hätte ich mich nicht auf die Stelle beworben“, stieß sie hervor.

Noch nie zuvor hatte Vido eine Frau so sehr begehrt. Wenn er Anna nur ansah, verspürte er ein heißes, sehnsüchtiges Verlangen.

„Ist es für dich denn so wichtig, dass ich nun der Besitzer bin?“, fragte er betont sanft.

„Natürlich. Das weißt du genau.“ Wie um sich zu schützen, legte sie die Arme um sich. „Niemals würde ich für einen Mann wie dich arbeiten. Niemals. Wenn nicht ausgerechnet du hier sitzen würdest, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt, die Stelle zu bekommen“, endete sie ärgerlich und leicht enttäuscht.

Weil er sich so nach ihr sehnte und sie unbedingt lieben wollte, dachte er darüber nach, ihr den Job zu geben. Doch dann ermahnte er sich, vernünftig zu sein. Nur weil er sie begehrte, konnte er sie noch lange nicht einstellen. Das wäre seinen Mitarbeitern gegenüber unfair. Außerdem war sie sehr standesbewusst und fühlte sich anderen überlegen. Nie würde sie eine Reinmachefrau oder einen Gärtner als ihresgleichen akzeptieren. Dass sie jetzt vor ihm saß, war sein Privatvergnügen. Nachdem er sie in sein Bett gelockt und dazu gebracht hätte, ihre Schuld einzugestehen, würde er sie endgültig aus seinem Leben streichen.

„Willst du damit andeuten, ich wäre dir gegenüber voreingenommen?“, fragte er und fragte sich gleichzeitig, wie weich sich ihre Haut wohl anfühlen mochte.

„Natürlich bist du das. Das ist doch klar.“

Um Himmels willen, er musste sich zusammennehmen. Zumal sie offenbar aufstehen und gehen wollte. Doch das passte nicht in seine Pläne, er wollte sie noch so lange wie möglich hier festhalten. „Eine Einstellung hängt davon ab, wie gut jemand kochen kann und in das Team passt.“

Erstaunt sah sie ihn an. „Aber …“, begann sie und befeuchtete ihre trockenen Lippen. Fasziniert beobachtete Vido sie. Als er ihre weißen Zähne aufblitzen sah, hätte er beinahe laut gestöhnt. Vor lauter Begehren konnte er kaum noch einen klaren Gedanken fassen. „Du bist verrückt. Wir können nicht zusammenarbeiten.“

„Es wäre bestimmt kein intimes Verhältnis“, stellte er fest und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die vor ihm aufstiegen: Anna in der Küche, und er … Nein, er durfte sich nicht immer wieder ablenken lassen. „Du würdest kochen, und ich würde essen“, fügte er leicht spöttisch hinzu.

Warum zum Teufel redete er mit ihr überhaupt noch über den Job? Schließlich wäre es viel besser, ihr die Bewerbungsunterlagen zurückzugeben und ihr ein ganz anderes Angebot zu machen. Trotzdem fand er die Vorstellung, Anna als Köchin für sich arbeiten zu lassen, reizvoll. Du liebe Zeit, verlor er etwa allmählich den Verstand? Nein, er verzehrte sich nach ihr, das war alles. Und sie konnte er haben, ohne sie einzustellen, dessen war er sich sicher.

Nach wie vor bemüht, sich zusammenzunehmen, suchte er nach einer unverfänglichen Bemerkung. „Warum hast du dich eigentlich beworben?“, fragte er schließlich.

„Vido, macht es denn überhaupt Sinn, dass wir unsere Zeit mit dieser Posse verschwenden?“ Ihr Blick war verächtlich, ihr Ton entnervt.

„Vielleicht“, antwortete er. „Willst du den Job haben?“

„Ich wollte ihn haben.“

Sie ist ernsthaft enttäuscht, das ist gut, dachte er. „Heißt das, du würdest nur meinetwegen darauf verzichten?“

Mit großen Augen sah sie ihn an, fassungslos, als hätte er etwas unglaublich Dummes gesagt. Wahrscheinlich hatte er das auch getan. „Soll das ein Scherz sein? Es klang alles so gut in der Anzeige. Von so einem Job habe ich immer geträumt.“

„Aber?“ Unmöglich, den Blick von ihren Lippen zu wenden, die ungemein verführerisch und sinnlich wirkten. Schade, dass Anna so falsch war.

„Es gibt wirklich ein großes Aber“, erwiderte sie heiser.

Was sollte er jetzt machen? Ursprünglich hatte er ihren Großvater zwingen wollen, die Wahrheit zuzugeben. Schließlich hatte der alte Mann ihm gestanden, dass Anna das Geld in Vidos Spind gelegt hatte. Genau das sollte er vor Anna wiederholen. Doch weil er krank war, konnte Vido ihn schlecht unter Druck setzen.

Zwei Dinge störten ihn. Zum einen gefiel es ihm überhaupt nicht, dass er sie so begehrte, und zum anderen ärgerte es ihn, dass sie, ohne mit der Wimper zu zucken, unerhörte Gerüchte über ihn verbreiten würde. In der übrigen Welt genoss Vido den Ruf, ehrlich und vertrauenswürdig zu sein – und zwar vollkommen zu Recht. Und das sollte auch so bleiben. Auf Annas Unterstellungen konnte er getrost verzichten. Und das ließ sich am besten erreichen, indem er sie einstellte und in sein Bett lockte.

Also gut, ich werde ihr den Job doch geben, beschloss er. Und nachdem sie in seinen Armen zu Wachs geworden war, würde er sie zwingen, ihre Schuld einzugestehen.

3. KAPITEL

Nachdenklich spielte Vido die möglichen Folgen seiner Entscheidung durch. Die Sache hatte einige Vorteile, das lag auf der Hand. Wenn Anna mehr Zeit mit ihm verbrachte, würde sie erkennen, wie er wirklich war, und ihre schlechte Meinung über ihn ändern.

Sobald sie eine Weile in seiner Firma gearbeitet hätte, müsste ihr klar werden, dass er sehr ehrlich war und ihm die Ehre seiner Familie extrem viel bedeutete. Dann würde sie sich auch endlich seine Version der Geschichte anhören.

Warum ihm das so wichtig war, wusste er selbst nicht. Jedenfalls würde sich Anna für all die Beleidigungen und ihr schäbiges Verhalten in Grund und Boden schämen.

Wie weit wäre ihre Beziehung zu diesem Zeitpunkt wohl schon gediehen? Ob Anna ihn anflehen würde, bei ihr zu bleiben? Was für eine genussvolle Vorstellung, sie zu verführen. Schon jetzt, wo er nur daran dachte, spielten seine Hormone verrückt. Sicher wäre Annas Kapitulation sehr aufregend.

Anschließend wäre er innerlich frei und könnte eine warmherzige Frau wie Camilla heiraten, eine Frau, die ihn liebte und Kinder mit ihm haben wollte. Allerdings kam Camilla dafür nicht mehr infrage, denn sie hatte sich unsterblich in den Gärtner verliebt.

„Ich glaube, wir können das Gespräch als beendet betrachten“, erklärte Anna in diesem Moment.

Ihm wurde bewusst, dass er viel zu lange geschwiegen hatte. „Nein. Ich habe nur nachgedacht. Wir müssen noch über deine berufliche Qualifikation reden, sonst könntest du dich später beschweren und mir Diskriminierung vorwerfen. Das möchte ich vermeiden. Ich habe den Ruf, ausgesprochen fair zu sein.“

Soll ich ihr von der Arbeitsvermittlung erzählen und von den Arbeitsuchenden, die sich geradezu darum reißen, in meinem Unternehmen arbeiten zu können, überlegte er. Vermutlich würde sie ihm sowieso nicht glauben, also entschied er sich dagegen.

„So?“, erwiderte sie abweisend.

Da hatte er den Beweis: Sie glaubte ihm kein Wort. Aber sie wird mich noch auf Knien um Verzeihung bitten, schwor er sich. Selbst sie würde einsehen müssen, dass auch arme Menschen durch und durch ehrlich und anständig waren und er es nie auf ihr Erbe abgesehen hatte.

Keine sechs Monate würden seine Mitarbeiter Annas Snobismus hinnehmen. Bis dahin hätten sie ihr aber längst demonstriert, dass alle Angestellten, egal, welchen Beruf sie ausübten, ihren Beitrag zum Erfolg eines Unternehmens leisteten. Offensichtlich brauchte Anna diese Lektion.

Vidos Miene wurde hart. „Du kannst dich gern erkundigen. Ich bin dafür bekannt, gerecht und großzügig zu sein. Und ich lege Wert darauf, dass mein Ruf nicht beschädigt wird. Lass uns also am besten so tun, als wären wir uns noch nie begegnet. Deshalb erzähle ich dir zuerst etwas über meine Firma und mich. Hinterher verrätst du mir, warum du unbedingt diesen Job haben willst. Anschließend musst du noch die Fragen beantworten, die ich auch den anderen Bewerbern gestellt habe. Okay?“

Skeptisch sah sie ihn mit ihren grauen Augen an. Offenbar überlegt sie, wie sie sich entscheiden soll. Betont gleichgültig erwiderte er ihren Blick, während sein Herz vor Vorfreude viel zu heftig klopfte.

In jedem Fall brauchte er ihr Einverständnis. Denn es war wichtig, dass sie ihm freiwillig ins Netz ging. Wie lange er sie darin zappeln lassen würde, wollte er jetzt noch nicht entscheiden.

Ich sollte aufstehen und gehen, dann hätte ich meine Würde bewahrt, dachte Anna. Doch Vidos starke Ausstrahlung und sein beinah hypnotischer Blick ließen sie zögern. Stumm blieb sie sitzen und wagte nicht, sich zu rühren. Dann, als wäre es ihr egal, ob sie das Gespräch fortsetzten oder nicht, zuckte sie mit den Schultern und reichte ihm ihren Lebenslauf.

Vor Aufregung unfähig, auch nur ein einziges Wort zu lesen, tat Vido so, als würde er lesen.

„Ich habe schließlich nichts zu verlieren, oder?“ Herausfordernd sah sie ihn an. Wieder einmal fiel ihm auf, wie lang und dicht ihre schwarzen Wimpern waren. „Erzähl mir, wie du aus eigener Kraft und nur mit deinem Können und Wissen zu Geld gekommen bist.“

Sie tut gerade so, als hätte ich Freudenhäuser eröffnet und wäre im illegalen Drogenhandel tätig gewesen, ärgerte er sich. Eines Tages würde sie jedoch zu Kreuze kriechen und Abbitte leisten. Darauf freute er sich jetzt schon.

„Ich werde dir erzählen, wie mein Unternehmen arbeitet“, antwortete er knapp. „Du brauchst jedoch nicht zu wissen, wie ich mein Vermögen erworben habe.“

„Schämst du dich etwa für das, was du getan hast?“

Prompt versteifte er sich. Diese kleine Hexe! Mit jeder Beleidigung, die sie ihm entgegenschleuderte, wurde sein Wunsch nach Rache und Gerechtigkeit stärker.

„Keineswegs. Aber es würde zu lange dauern, alle Einzelheiten zu erwähnen. Eines Tages wirst du alles erfahren, das kann ich dir versichern. Momentan musst du dich mit den wesentlichsten Informationen begnügen. Im Allgemeinen werde ich benötigt, wenn es irgendwo brennt. Wenn Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, trete ich auf den Plan. Ich sorge dafür, dass die Umsätze wieder steigen, Streitigkeiten unter den Mitarbeitern bereinigt und Gewinne erzielt werden. Meine Aufgabe ist es, Rivalitäten und Machtkämpfe unter den Angestellten aufzudecken, anzusprechen und zu beenden, damit sich alle wieder auf die Arbeit konzentrieren und produktiv arbeiten können.“

Erstaunt registrierte er, dass Anna ihm aufmerksam zuhörte und ernsthaft interessiert schien. Er fuhr sachlich fort: „Meine Firma in Mailand habe ich ‚Il Conciliatore‘ genannt, was so viel wie ‚Der Vermittler‘ heißt. Vor zwei Jahren habe ich eine Niederlassung in London gegründet, die ich jetzt hierher verlegt habe.“

„Warum?“, fragte sie misstrauisch.

„Ich brauchte mehr und größere Räume. Die Lage hier ist günstig, und außerdem gefällt mir die Umgebung. In diesem Dorf war ich schließlich einmal zu Hause. Für meine Mitarbeiter und ihre Familien erhöht sich die Lebensqualität – auch ein Punkt, der mir wichtig war. Aber komm jetzt bitte nicht auf falsche Gedanken. Ich bin kein Softie …“

„Du liebe Zeit, das würde ich dir sowieso niemals abnehmen“, unterbrach sie ihn.

Warte nur ab, der Spott wird dir schon noch vergehen, dachte er. „Man hat festgestellt, dass Menschen besser und effektiver arbeiten und seltener krank werden, wenn sie zufrieden und glücklich sind.“

„Mit anderen Worten, weil deine Angestellten dich für einen Menschenfreund halten, arbeiten sie mehr und härter“, stellte sie zuckersüß fest. „Aber warum musste es unbedingt Stanford House sein?“

„Für meine Zwecke brauchte ich ein großes und repräsentatives Haus.“ Warum sollte er ihr verraten, dass einige andere Häuser für seine Zwecke genauso geeignet gewesen wären?

„Ausgerechnet Stanford House zu kaufen war sicher auch eine Art Rache“, unterbrach ihn Anna provozierend.

„Ja, in der Tat, es war ein erhebendes Gefühl“, gab er zu. „Das kannst du mir nicht verübeln. Vor vielen Jahren stand ich hier, in diesem Raum, und habe deinen Großvater um einen Gefallen gebeten. Meine Mutter hatte sich beschwert, dass sie viele Überstunden machen musste, ohne dafür bezahlt zu werden. Daraufhin wurde sie prompt entlassen. Ich habe meinen ganzen Stolz überwunden und deinen Großvater gebeten, sie weiterzubeschäftigen, weil wir das Geld dringend brauchten. Doch er hat nur dagesessen, genau an diesem Platz, wo ich jetzt sitze, und mich ausgelacht. Zum Abschied hat er mir meine uneheliche Geburt vorgehalten und mich von zwei kräftigen Männern hinausbefördern lassen, natürlich durch die Hintertür.“ Wenn er sich an diese schreckliche Begegnung erinnerte, wurde er immer noch wütend.

„Das tut mir leid. Mein Großvater war dem Personal gegenüber sehr streng.“ Ganz eindeutig fühlte Anna sich unbehaglich. „Aber vergiss nicht, er liegt im Krankenhaus, weil er das Haus verkaufen musste.“

„Was willst du damit sagen? Du müsstest doch eigentlich wissen, dass allein sein schlechtes Management dafür verantwortlich ist, dass er alles verkaufen musste. Ich weiß, dass es der Fabrik schon vor zehn Jahren nicht besonders gut ging. Und ich habe einen sehr guten Preis für das Haus bezahlt, was seine Schulden erheblich reduziert hat. Die Krankheit deines Großvaters hat nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun. Oder bist du anderer Meinung?“, fragte er scharf.

„Nein.“ Zerknirscht senkte sie den Blick. „Es tut mir leid, den Eindruck erweckt zu haben, du hättest etwas damit zu tun. Er hätte dich nicht so grob behandeln dürfen. Das habe ich nicht gewusst.“

„Ich nehme die Entschuldigung an“, antwortete er angespannt.

„Aber wozu brauchst du ein Wohnhaus? Warum hast du kein Bürogebäude gekauft?“, fragte sie mit finsterer Miene.

„Weil es mir lieber ist und ich damit schon in Mailand großen Erfolg hatte. Die Kunden schätzen die privatere Atmosphäre. Anfangs fahren wir sowieso zu den Firmen, die uns um Hilfe bitten. Nach den ersten Gesprächen lade ich das Management in der Regel für ein verlängertes Wochenende zu mir ein. Bei solchen Gelegenheiten erfahre ich viel mehr als in nüchternen Büros.“

„Und sind deine Mitarbeiter immer dabei?“ Angeregt beugte sie sich vor. In ihren Augen leuchtete Interesse, und ihre Haut schimmerte golden.

Verdammt, musste er sich immer wieder ablenken lassen? Wieder tat er, als konzentriere er sich auf den Lebenslauf. Wenn er sie dazu bringen wollte, sein Angebot anzunehmen, musste er wachsam bleiben.

„Jeder kann sich beteiligen, wenn er will. Wir essen zusammen und reden über alles Mögliche.“ Bestimmt würde es mir Spaß machen, auch sie daran zu beteiligen, überlegte er. Es musste ihm einfach gelingen, sie zu überzeugen. „Wir arbeiten alle sehr eng zusammen. Aus dem Grund wähle ich meine Mitarbeiter auch sehr sorgfältig aus.“

Bei diesen Worten verzog sie spöttisch die Lippen. „Dann vergessen wir meine Bewerbung am besten.“

„Hältst du dich etwa für zu fein, um mit meinem Gärtner oder meiner Reinmachefrau an einem Tisch zu sitzen?“, fuhr er sie an.

„Nein, überhaupt nicht. Ich habe es gesagt, weil du dich sowieso gegen mich entscheiden wirst“, entgegnete sie. „Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast. Ich gehe jetzt.“

„Du bleibst hier!“, forderte er sie so energisch auf, dass sie verblüfft sitzen blieb. „Du gehst erst, wenn das Vorstellungsgespräch beendet ist.“ Zufrieden stellte er fest, dass er das erreicht hatte, was er wollte: Sie blieb sitzen. „Jetzt bist du an der Reihe. Weshalb sollte ich dich einstellen?“ Spöttisch und arrogant, so hörte sich seine Frage an.

Das gab den Ausschlag. Statt zu verschwinden, werde ich ihm meine Fähigkeiten so schildern, dass er mich am liebsten einstellen würde, überlegte sie. Während sie es sich bequemer machte, versuchte sie, sich an Peters Tipps und Ratschläge zu erinnern.

„Wie du aus dem Lebenslauf ersehen kannst, bin ich gelernte Köchin“, begann sie. „Ich habe die Hotelfachschule als Beste meines Jahrgangs abgeschlossen und sofort das Angebot eines bekannten Londoner Restaurants erhalten. Man wollte mich dort als zweite Köchin einstellen, und ich sollte bei Bedarf den Chefkoch vertreten. Das ist sehr ungewöhnlich für eine Köchin direkt nach der Ausbildung, aber der Schulleiter hatte mich empfohlen. Nachdem ich einige Tage probeweise in London gearbeitet hatte, bat mich die Geschäftsführung zu bleiben.“

„Wie hieß das Restaurant?“

„‚La Scala‘“, erwiderte sie nicht ohne Stolz. „Das Zeugnis ist dem Lebenslauf beigefügt.“

Tatsächlich war Vido beeindruckt. Im ‚La Scala‘ speisten die Berühmten und Reichen, und der Chefkoch war über die Grenzen des Landes bekannt für seine fantastische Küche. „Du hast dort drei Jahre gearbeitet. Anschließend warst du Chefköchin im ‚Georgio’s‘ in Stratford. Und jetzt“, fügte er nach einem letzten Blick in den Lebenslauf hinzu, „arbeitest du als Pizzabäckerin.“ Sein Blick wirkte spöttisch. „Das ist ein ziemlicher beruflicher Abstieg. Vielleicht warst du den Anforderungen doch nicht gewachsen.“

„Im Gegenteil, ich beherrsche meine Arbeit im Schlaf.“

Gespannt sah er sie an. „Warum hast du das ‚La Scala‘ dann verlassen?“

Schmerzerfüllt erinnerte sie sich an den Augenblick, als ihre Pläne durchkreuzt worden waren. Aber sofort nahm sie sich wieder zusammen und straffte die Schultern. „Ich musste nach Stratford zurückkehren, weil mein Großvater mich brauchte.“

„Soll das heißen, du hast deinem Großvater zuliebe auf eine glänzende Karriere verzichtet?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Ja. Ich hatte keine andere Wahl.“

„Du hast alles aufgegeben, um deinem Großvater das Essen zu kochen, bevor er seinen Kummer abends mit Whisky betäubt hat?“

Weil er die Situation so zutreffend beschrieben hatte, errötete Anna. „Er brauchte mich“, erklärte sie steif.

„Aber du hättest dein eigenes Leben führen und dich um deine Zukunft kümmern müssen. Er ist ein selbstsüchtiger alter Mann, niemals hätte er von dir fordern dürfen …“

„Ich konnte ihn in der Situation doch nicht allein lassen“, unterbrach sie ihn empört. „Hättest du deine Mutter etwa allein gelassen?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Na bitte.“

„Aber meine Mutter hat mich geliebt“, wandte er sanft ein. „Sie hat Tag und Nacht gearbeitet, um mir …“

Wieder fiel sie ihm ins Wort. „Mein Großvater hat auch auf einiges verzichtet, um mich großzuziehen.“

„Ach ja? Ich hatte eher den Eindruck, dass du dich ihm in jeder Hinsicht anpassen musstest.“

„Ich habe keine Lust, noch länger mit dir über meinen Großvater zu reden. Außerdem hat das überhaupt nichts mit dem Vorstellungsgespräch zu tun. Du musst nur wissen, dass und wo ich einige Jahre als Köchin gearbeitet habe und allein deshalb noch kein eigenes Restaurant besitze, weil ich zu Hause bleiben musste. Im ‚Georgio’s‘ hatte ich sehr unregelmäßige Arbeitszeiten. Deshalb musste ich dort kündigen. Mein derzeitiger Job ist sehr langweilig, ich bin für diese Arbeit reichlich überqualifiziert.“

„Suchst du etwas Aufregenderes?“ Seine Miene wirkte undurchdringlich, obwohl er bis vor einer Sekunde ihre Beine gemustert hatte, so eindringlich, dass sie unter seinem Blick erbebt war.

Sekundenlang war sie irritiert. Aber Vido war ein Mann, für den es völlig normal war, Frauen interessiert zu mustern. Sie durfte es nicht persönlich nehmen.

„Natürlich. Jemand hat mich auf die Anzeige aufmerksam gemacht, und …“

„Jemand?“, wiederholte er.

Statt einer Antwort berührte Anna ihren Verlobungsring, der Vido erst jetzt auffiel.

„Mein Verlobter“, erklärte sie ruhig.

„Bist du erst seit kurzem verlobt?“

Ihr fiel ein, dass sie bei der ersten Begegnung mit Vido im Garten den Ring nicht getragen hatte. „Nein, seit sechs Monaten.“ Auch wenn Peter nur selten Gefühle zeigte, war Anna überzeugt, dass er sie liebte. Immerhin hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, obwohl sie eher eine freundschaftliche Beziehung hatten.

„Hast du konkrete Heiratspläne?“ Vidos Stimme klang schroff.

„Ja. Wir heiraten in zwei Monaten.“ Bei der Vorstellung, mit Peter verheiratet zu sein, regten sich Zweifel in ihr. Seit ihrer Kindheit war sie empfänglich für Schmeicheleien, was sicher mit ihrem schlechten Selbstbewusstsein zusammenhing. Deshalb war sie damals auch auf Vido hereingefallen. Machte sie mit Peter vielleicht denselben Fehler?

„Wenigstens kannst du jetzt sicher sein, dass es kein Mann mehr auf dein Vermögen abgesehen hat“, stellte Vido fest.

Ohne es zu wissen, hatte er damit ins Schwarze getroffen, und Anna durchzuckte ein Schauer. Denn über dieses Thema dachte sie schon seit einigen Monaten nach. Als ihr Großvater Konkurs angemeldet hatte, war Peter schockiert gewesen und ganz blass geworden.

„Peter hat eine gut bezahlte Stelle in der Innenstadt“, erklärte sie.

„So?“ Vidos Blick wurde hart. „Du wolltest erzählen, weshalb du dich beworben hast.“

„Mir hat vor allem gefallen, dass es um die italienische Küche geht.“

„Ah ja. Dann kennst du dich damit aus?“

„Vido, bitte lies meinen Lebenslauf genauer. Die italienische Küche ist meine Spezialität.“

„Könntest du ein Essen für zwanzig oder dreißig Personen zubereiten?“

„Problemlos“, erwiderte sie selbstsicher. „Ich stelle sogar die Menüs selbst zusammen.“

„Hast du ein paar Beispiele?“

Sie zog einige beschriebene Blätter aus ihrer Tasche und reichte sie ihm – Menüs, die sie für Peters Kunden zusammengestellt hatte.

Während Vido schweigend las, konnte Anna ihn ungestört beobachten: die dunklen Wimpern, die lange, gerade Nase, die sinnlichen Lippen und sein Lächeln. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet, mochten die Gerichte auch noch so köstlich sein.

Als er aufsah, schien er seine Feindseligkeit zumindest vorübergehend vergessen zu haben. „Mein Kompliment. Du hast meinen Appetit angeregt.“

Obwohl ihr klar war, dass er nur die Menüs meinte, wurde ihr schwindlig. Anna, reiß dich zusammen, so verführt er alle Frauen, dachte sie, und trotzdem wurde ihr Mund trocken.

„Das hatte ich auch vor“, gestand sie.

„Vielleicht wirst du es eines Tages bereuen“, entgegnete er rätselhaft.

„Warum?“ Ihre Stimme klang heiser.

Seinem mysteriösen Lächeln zufolge, schien er Pläne mit ihr zu haben.

„Was hat dich sonst noch gereizt?“, fragte er unvermittelt.

Sie erschrak. „Wie bitte?“ Dieser Mann irritierte sie viel zu sehr, das war gefährlich.

„An dem Job“, erklärte er.

„Oh.“ Sie nahm sich zusammen. „Auch das möblierte Apartment mit den zwei Schlafzimmern.“

„Dann könntest du in der Freizeit wieder durch die Gärten und den Park deines ehemaligen Zuhauses streifen.“

Damit er nicht merkte, wie enttäuscht sie war, senkte Anna den Blick. Es wäre zu schön gewesen, wenn sie den Job bekommen hätte. „Mein Großvater würde sich freuen, hier wohnen zu können“, gab sie widerwillig zu.

Vido nickte, scheinbar verständnisvoll. Aber sie kannte ihn zu gut. „Eine kostenlose Wohnung in dem Haus, das er als seins betrachtet.“

„Okay, ich habe verstanden“, schnaubte sie. „Aber er würde niemals in einem Haus leben wollen, das dir gehört.“

„Wie schade. Vielleicht würde er dann schneller gesund.“ Ein leichtes Bedauern schwang in seiner Stimme. Am liebsten hätte Anna ihm das Gesicht zerkratzt. „Wahrscheinlich hat dich auch das hohe Gehalt gereizt“, fuhr er fort.

„Es war nicht das Wichtigste. Alles andere war mir wichtiger.“ Ich hasse ihn wirklich aus tiefstem Herzen, dachte sie.

„Aber dann hättet ihr wieder ein besseres Leben.“

„Ja. Bist du nun zufrieden?“, rief sie zornig. „Genießt du es, dass die Verhältnisse jetzt umgekehrt sind? Wenn ja, müsstest du von dir eine genauso schlechte Meinung haben wie von meinem Großvater und mir. Du hast immer geglaubt, wir hätten uns Menschen, die weniger glücklich waren als wir, überlegen gefühlt. Jetzt bist du in derselben Position wie wir damals, und du tust so, als wärst du der Größte.“

„Ich bin auch nur ein Mensch. Weshalb sollte ich nicht froh sein, dass die Gerechtigkeit gesiegt hat?“

„Gerechtigkeit nennst du es, wenn ein Lügner und Dieb, für den Moral ein Fremdwort ist, sich rücksichtslos den Weg nach ganz oben gebahnt hat?“

„Du bist ungemein leidenschaftlich und temperamentvoll, Anna“, stellte er angespannt fest. „Dabei habe ich dich immer für kühl und beherrscht gehalten.“

Ihm gegenüber kann ich einfach nicht kühl und beherrscht bleiben, dachte sie verbittert.

Schweigend betrachtete er sie. Die Atmosphäre im Raum war zum Zerreißen gespannt, und Anna hatte Mühe, normal zu atmen. Ihr schien es, als dominierte Vido den ganzen Raum. Ob es ihr gefiel oder nicht: Seine faszinierende Ausstrahlung machte ihn unwiderstehlich.

Und auch wenn Anna klar war, dass sie einen größtmöglichen Abstand zu Vido halten sollte, fühlte sie sich magisch zu ihm hingezogen. Als sie sich das eingestand, stieg Panik in ihr auf.

„Da ich alle Fragen beantwortet habe, kann ich jetzt wohl gehen.“ Sie stand auf. „Oder hast du noch etwas auf dem Herzen?“

„Glaubst du denn, es könnte noch mehr geben?“, fragte er sanft.

Warum brachten seine Andeutungen sie nur dermaßen aus der Fassung? Anna wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sie gern noch mit ihm machen würde. Entsetzt über ihre erotischen Fantasien, erwiderte sie angespannt: „Ich wüsste nicht, was.“ Dabei klang ihre Stimme viel zu unsicher.

„Wir können uns etwas ausdenken, wenn du möchtest“, bot er an. „Ich bin für alles zu haben.“

Bis in den entlegensten Winkel ihres Körpers schien seine tiefe Stimme zu dringen. Es ist demütigend, wie ich auf diesen Mann reagiere, sagte Anna sich. Noch nie hatte Peter solche Reaktionen in ihr ausgelöst. Da konnte doch etwas nicht stimmen. Wenn sie sich vorstellte, mit Peter zu schlafen, empfand sie nichts als Widerwillen. Darüber sollte sie nachdenken.

„Ich aber nicht“, fuhr sie ihn an. „Wir haben genug Zeit verschwendet. Auf Wiedersehen.“ Verdammt! So sehr hatte sie sich diesen Job gewünscht, sie wäre sogar bereit gewesen, für Vido zu arbeiten. Deshalb fiel es ihr unendlich schwer, zur Tür zu gehen.

„Anna, warte!“

Überrascht blieb sie stehen und drehte sich um, während er auf sie zukam und ihr den Weg versperrte.

Ganz dringend musste sie so schnell wie möglich den Raum verlassen, bevor Vido merkte, wie unglücklich, erregt und durcheinander sie war.

„Ich möchte dich meinen Mitarbeitern vorstellen“, sagt er.

Mit großen Augen sah sie ihn an. „Warum das denn?“

„Weil ich hungrig bin.“

Warum gab er immer so zweideutige Antworten? Seiner spöttischen Miene nach zu urteilen, machte er es absichtlich, um sie zu verunsichern.

„Dann hol dir etwas aus dem Fast-Food-Restaurant.“

„Bitte, Anna. Wir sind schon ganz verzweifelt. Und ich will ehrlich sein: Ich brauche dringend eine Köchin, denn nächste Woche habe ich Gäste eingeladen, denen ich kein Essen vorsetzen will, das ich im Restaurant bestellen muss. Außerdem kennst du dich hervorragend in der italienischen Küche aus. Deine Menüs haben mir den Mund ganz wässrig gemacht.“

„Das sollten sie ja auch. Ich habe sie schließlich nur aufgeschrieben, um den Mitbewerbern etwas vorauszuhaben“, behauptete sie.

„Aber du hast noch viel mehr damit bewirkt: Du kommst mir unwiderstehlich vor.“ Er machte eine Pause. „Ich mache dir einen Vorschlag. Koch uns doch jetzt einfach etwas zu essen, irgendein ganz normales Gericht. Wir sind zwölf Personen. Wenn du uns magst und meine Mitarbeiter mit dir und dem Essen zufrieden sind, stelle ich dich sechs Monate zur Probe ein.“

Genau davon hatte sie geträumt. Aber sie durfte nicht vor lauter Freude den Kopf verlieren. Schließlich durfte man Vido nicht trauen.

„Ist das auch nicht nur ein Vorwand, um heute Abend ein gutes Essen zu bekommen?“, fragte sie misstrauisch.

Seine Miene wurde hart. „Nein. Es ist ein ernst gemeintes Angebot.“

„Kein Spiel? Um zu erreichen, dass ich Ja sage, damit du mir dann eine Absage erteilen kannst.“

„Um Himmels willen, hast du wirklich eine so schlechte Meinung von mir? Du bist hoch qualifiziert, und ich könnte mir keine bessere Köchin vorstellen. Aber ich muss wissen, ob du dich mit meinen Angestellten verstehst. Denn die endgültige Entscheidung liegt bei ihnen. So ist das bei uns immer.“

Nach wie vor war Anna skeptisch. Gerade hatte Vido indirekt zugegeben, dass es für ihn ein gewisser Triumph gewesen war, das Haus zu kaufen. Vielleicht würde er es ja noch viel mehr genießen, sich von ihr bedienen zu lassen.

Wenn ihr Großvater erfuhr, dass sie den Job nicht genommen hatte, wäre er sicher sehr traurig. Denn mit dem großzügigen Gehalt hätte sie ihm eine Kur bezahlen können. Stattdessen würden sie weiter in dem winzigen Cottage wohnen und sich gegenseitig auf die Nerven gehen. Und sie müsste hart und viel in der langweiligen Pizzeria arbeiten, um das Nötigste zum Leben zu verdienen. Was für niederschmetternde Aussichten!

Verzweifelt wehrte sie sich dagegen, der Versuchung zu erliegen und doch Ja zu sagen. „Du weißt selbst, dass ich dein Angebot nicht annehmen kann.“ Hartnäckig kämpfte sie gegen die Tränen, die ihr vor lauter Enttäuschung in die Augen traten. „Wir beide können einfach nicht unter einem Dach leben. Deshalb bleibe ich bei meinem Nein.“

4. KAPITEL

Mit vor der Brust verschränkten Armen versperrte Vido Anna immer noch den Weg. „Es tut mir leid, dass das, was in der Vergangenheit zwischen uns geschehen ist, dich so getroffen hat.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie ausweichend.

„Na ja, wenn es nicht so wäre, würdest du dich über mein Angebot freuen. Vielleicht befürchtest du, ich würde dich so schlecht behandeln, wie dein Großvater meine Mutter und die anderen Hausangestellten damals behandelt hat.“

„Mach dich nicht lächerlich. Das würdest du gar nicht wagen“, entgegnete sie hitzig. Ich habe nur Angst vor mir selbst und vor meinen Gefühlen, fügte sie insgeheim hinzu. Jedes Mal, wenn er sie so rätselhaft ansah, geriet sie vollkommen aus dem Gleichgewicht. Erschwerend hinzu kam die brennende Sehnsucht, die sie in seiner Nähe empfand.

„Wo liegt dann das Problem?“ Seine Stimme klang plötzlich hart. „Befürchtest du vielleicht, ich würde die kriminelle Energie entwickeln, die du mir unterstellst, und dir das Portemonnaie stehlen?“

„Das hast du wohl kaum noch nötig, schließlich hast du es ja irgendwie zu etwas gebracht.“

„Irgendwie? Kaum zu glauben, wie sehr du mich verachtest“, sagte er.

Kein Wunder, er hat ja auch nichts anderes verdient, dachte sie. „Dir müsste doch klar sein, dass es nicht funktionieren würde. Wir würden uns nur streiten. Außerdem wird mein Großvater das Haus nicht betreten, weil es jetzt dir gehört.“

Autor

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