Julia Gold Band 112

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ITALIENISCHE ROMANZE von LEE WILKINSON
Neuanfang in Venedig? Als Nicola einen Palazzo erbt, ist dieser Traum zum Greifen nah. Doch plötzlich macht der atemberaubende Dominic ihr das Erbe streitig. Gegen seine unverschämten Vorwürfe weiß sie sich zu wehren, aber wie soll sie seinen Verführungskünsten widerstehen?

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  • Erscheinungstag 09.09.2023
  • Bandnummer 112
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519656
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lee Wilkinson, Barbara McMahon, Kim Lawrence

JULIA GOLD BAND 112

1. KAPITEL

Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr und erinnerte Nicola an die Endlichkeit des Lebens. Vor drei Wochen hatte sie erfahren, dass ihr väterlicher Freund John Turner gestorben war. Und vor wenigen Tagen war sie durch einen weiteren Brief der Kanzlei Harthill und Berry zu diesem Termin gebeten worden.

Sie saß kerzengerade und gefasst vor dem massiven Schreibtisch des Anwalts und mochte die Tasse Tee, die man ihr angeboten hatte, kaum anrühren.

Mr. Harthill hatte ihr bei der Begrüßung warmherzig sein Beileid ausgesprochen, als wäre sie die Tochter oder eine nahe Verwandte des Verstorbenen gewesen. Jetzt setzte er mit der Lesebrille auch eine geschäftsmäßige Miene auf. „Als mein Klient das letzte Mal in London war, bat er mich, sein Testament zu ändern und Sie als Alleinerbin seines Vermögens einzusetzen, Mrs. Whitney.“

Nicola sah ihn verständnislos an. „Wie bitte?“

„Sie sind die Alleinerbin“, wiederholte der Anwalt. „Wenn wir die Formalitäten geregelt haben, sind Sie eine wohlhabende Frau.“

Für einen Moment herrschte Stille, und Nicola vernahm wieder das unheimliche Ticken der Uhr. Sie hatte John Turner nicht lange, aber recht gut gekannt. Von einem Vermögen wusste sie jedoch nichts. Das Ganze musste ein Missverständnis sein.

„Das kann ich nicht glauben“, sagte sie leise.

„Mr. Turner hatte keine eigenen Kinder“, erklärte Mr. Harthill geduldig.

Das stimmte. Zumindest hatte John sie nie erwähnt.

„Zu dem Nachlass gehört auch ein kleiner Palazzo in Venedig. In Ca’ Malvasia hatte er mit seiner Frau gelebt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, verbrachte er dort seine glücklichsten Jahre.“

Von seinem Elternhaus in London hatte John ihr erzählt. Er wollte es verkaufen, weil es zu groß für ihn war und er sich sowieso meist auf Reisen befand. Aber ein Palazzo in Venedig? Den Namen Ca’ Malvasia hatte sie noch nie gehört. Johns Frau Sophia war zwar Italienerin gewesen, aber Nicola hatte nie darüber nachgedacht, wo sie gemeinsam gelebt hatten.

„Ist Mr. Turner dort gestorben?“, fragte sie.

Mr. Harthill schüttelte den Kopf. „Ca’ Malvasia hat er nach dem Tod seiner Frau vor vier Jahren nicht mehr betreten. Mein Klient starb auf einer Geschäftsreise in Rom an einem Herzinfarkt.“

Nicola faltete unwillkürlich die Hände in ihrem Schoß. Hoffentlich war jemand bei ihm gewesen. Der Gedanke, dass John einsam gestorben war, quälte sie.

„Mr. Turner wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte“, sagte der Anwalt. „Deshalb traf er Vorkehrungen. Er beauftragte mich, Ihnen dieses nach seinem Tod zu geben. Darin finden Sie auch die Schlüssel zu dem Palazzo in Venedig.“

Er überreichte ihr einen dicken Umschlag, der an sie adressiert war.

„Falls Sie Ca’ Malvasia besichtigen möchten, kann ich Sie meinem Kollegen in Venedig avisieren. Signor Mancini war jahrelang der Anwalt der Familie. Er wird Ihnen sicher gern bei der Organisation der Anreise behilflich sein und Ihnen den Palazzo zeigen. Er könnte Sie auch beraten, falls Sie verkaufen wollen. Ich bin sicher, dass er einen angemessenen Preis für Sie erzielt.“

Nicola schwirrte der Kopf. „Ich brauche Zeit“, murmelte sie. „Ich muss nachdenken. Meine Arbeit …“

„Überstürzen Sie nichts.“ Mr. Harthill begleitete sie zur Tür. „Und scheuen Sie sich nicht, mich in Anspruch zu nehmen, wenn Sie irgendetwas brauchen.“

Nicola bedankte sich mit einem Lächeln.

Sobald sie die Haustür aufgeschlossen hatte, stürzte ihr Sandy entgegen. Nicola und Sandy kannten sich vom College, wo sie beide Wirtschaftswissenschaften studiert hatten. Seit drei Jahren teilten sie eine Wohnung im Londoner Stadtteil Bayswater.

„Ich platze vor Neugier“, rief Sandy und zog sie mit sich in die Küche. „Der Tee ist schon gebrüht.“

Nicola fiel wieder auf, wie verschieden sie waren. Ihre Freundin war klein und hatte einen wilden roten Lockenkopf, während sie selbst das blonde Haar zu einem Knoten geschlungen trug. Sandy war quirlig und offenherzig, Nicola eher ruhig und zurückhaltend. Schon bevor sie ihren jungen Ehemann bei einem Autounfall verloren hatte, neigte sie dazu, sich abseits zu halten, während Sandy sich ins Leben warf.

Eigenartigerweise hatten sich die Freundinnen Jobs ausgesucht, die vordergründig nicht zu ihrem Wesen passten. Die kontaktfreudige Sandy nutzte ein Zimmer als Büro und saß den ganzen Tag allein vor dem Computer, um für ihre Kunden Wirtschaftsdaten zu recherchieren. Die scheue Nicola dagegen reiste viel und hatte mit Menschen zu tun, weil sie Konferenzen und Tagungen organisierte.

Sandy schenkte Tee ein. „Schieß los! Was wollte der Anwalt von dir?“

Nicola trank einen Schluck. „John hat mich als Alleinerbin eingesetzt. Er war offenbar ziemlich wohlhabend.“

Sandy riss die Augen auf. Und als Nicola ihr von dem Palazzo in Venedig erzählte, pfiff sie durch die Zähne. „Nicht zu fassen!“

„Hier sollen die Schlüssel drin sein.“ Nicola zog den Umschlag aus ihrer Tasche.

„Mach es nicht so spannend“, sagte Sandy, während ihre Freundin das Klebeband entfernte. Zum Vorschein kamen ein Bund alter geschmiedeter Schlüssel, ein kleiner Lederbeutel, der mit einer Schnur zusammengehalten wurde, und ein Brief, der Johns Handschrift trug. Nicola las:

Nicola, liebe Freundin, obwohl wir uns nicht lange kennen, bist Du für mich die Tochter geworden, die ich nie hatte. Deine Warmherzigkeit und Freundlichkeit bedeuten mir viel.

In dem Lederbeutel findest Du Sophias Ring. Seit ihrem Tod trage ich ihn an einer Kette um den Hals. Aber nun wird es Zeit, ihn abzulegen und Mr. Harthill in Gewahrsam zu geben, damit Du ihn erhältst.

Es ist ein besonderer Ring. Meine geliebte Frau trug ihn immer, auch an dem Tag, als wir uns kennenlernten. Sie glaubte daran, dass der Ring seiner Trägerin Glück bringt. Aus diesem Grunde möchte ich, dass Du ihn bekommst. Und ich bin sicher, dass Sophia damit einverstanden wäre.

Wir waren nicht mehr ganz jung, als wir einander begegneten, denn wir hatten beide schon eine Ehe hinter uns. Doch Sophia war die große Liebe meines Lebens. Ich hoffe und glaube, ihr ging es ebenso mit mir. Leider blieben uns nur fünf gemeinsame glückliche Jahre.

Auch dir war nur ein kurzes Glück mit deinem Mann vergönnt. Und du warst viel zu jung für einen solchen Verlust. Ich weiß nur zu gut aus eigener Erfahrung, wie schwer der Tod eines geliebten Menschen zu verschmerzen ist. Doch bitte, trauere nicht ewig. Wende Dich wieder dem Leben zu und werde glücklich!

John

Nicola standen Tränen in den Augen. Sie reichte der Freundin stumm den Brief und öffnete den Beutel. Als der Ring in ihre Handfläche glitt, zog sie scharf den Atem ein.

Der Ring war kunstvoll aus Gold gearbeitet, und in die Verzierungen waren zwei gleich große, schimmernd grüne, ovale Steine eingelassen.

„So einen habe ich noch nie gesehen“, sagte Sandy ehrfurchtsvoll.

„Ich auch nicht. Sieht aus wie eine Maske mit Smaragd-Augen.“

Sandy lächelte. „Deine Augen haben fast die gleiche Farbe. Der Ring ist wie für dich geschaffen. Probier ihn mal an.“

Nicola zögerte. War es richtig, diesen Ring zu tragen? Irgendwie kam er ihr seltsam, fast unheimlich vor. Doch dann streifte sie ihn über.

Er war ein wenig zu groß, denn nach Jeffs Tod hatte sie abgenommen, und Sandy lag ihr dauernd in den Ohren, dass sie mehr essen müsse, um auf ihr altes Gewicht zu kommen.

„Fantastisch!“, rief Sandy. „Vielleicht ein bisschen zu auffallend, um damit in den Supermarkt zu gehen.“

„Stimmt. Er passt eher für einen Bummel über die Piazza San Marco.“

„Wirst du ihn trotzdem tragen?“

„Ich hätte Angst, ihn zu verlieren. Aber ich werde ihn nach Venedig mitnehmen. Vielleicht passt er mir, wenn ich jeden Tag Spaghetti als Vorspeise esse.“

Sandy lachte. „Das würde dir guttun. Und dein Italienisch ist so perfekt, dass du vielleicht sogar noch Hauptspeise und Nachtisch bestellen könntest, ohne dass man dich gleich als Touristin erkennt.“

Nicola drehte den Ring an ihrem Finger. „Vielleicht sollte ich tatsächlich fahren. Ich könnte Urlaub nehmen und eine Weile in Venedig bleiben.“

„Na endlich!“, jubelte Sandy. „Das klingt ja fast nach Lebensfreude. Du hast seit Jeffs Tod keinen Urlaub mehr genommen.“

„Was hätte es für einen Sinn gehabt? Meinst du, es macht Spaß, unter lauter fremden Leuten allein im Hotel zu wohnen? Das kenne ich von der Arbeit nur allzu gut.“

Sandy nahm ihre Hand. „Du brauchst nicht in einem Hotel zu übernachten. Du hast doch deinen eigenen Palazzo.“

„An den kann ich beim besten Willen noch nicht glauben.“

„Komisch, dass John nie erzählt hat, dass er ein Haus in Venedig besitzt“, sagte Sandy.

„Vielleicht waren zu viele Erinnerungen damit verbunden. Er hat den Tod seiner Frau nie verwunden. Das war auch der Grund, warum er so hart arbeitete und es ihn nie lange in einer Stadt hielt.“

Nicola verstummte. Machte sie es nicht ebenso? Mit dem gleichen Misserfolg? Auch ihr folgte die Trauer überall hin.

Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie sich mit John befreundet hatte. Gewöhnlich ging sie neuen Bekanntschaften aus dem Weg. Doch John und sie waren sozusagen über Nacht Freunde geworden. Und sie hatte das nicht einmal merkwürdig gefunden.

„John und ich hatten viele Gemeinsamkeiten“, sagte sie. „Trotz des Altersunterschieds von mehr als dreißig Jahren. Ich mochte ihn sehr. Ich vermisse ihn.“ Sie schluckte. „Ich würde mir gerne die Stadt und das Haus ansehen, wo er mit seiner Frau lebte.“

„Dann tue es“, ermunterte sie Sandy.

„Hast du Lust mitzukommen? Ich lade dich ein.“

„Das klingt verführerisch. Aber ich habe viel zu tun. Und Brent würde mich sicher nicht allein nach Venedig fahren lassen. Er hält alle Italiener für unwiderstehliche Schürzenjäger. Wer weiß, vielleicht hat er ja recht.“

„Das ist doch Unsinn!“

Sandy zwinkerte ihr zu. „Wenn du zurück bist, sind wir schlauer.“

Ohne auf die Anspielung ihrer Freundin einzugehen, verzog Nicola das Gesicht. „Ich habe überhaupt keine Lust zu fliegen. Flughäfen sind so langweilig. Vielleicht sollte ich …“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Ja, ich könnte mit dem Auto fahren.“

„Jetzt übertreibst du aber“, sagte Sandy. „Seit Jeffs Tod hast du dich nicht mehr hinter ein Steuer gesetzt.“

„Anfang Juni wird das Wetter schön sein. Ich miete einen Wagen, fahre ganz gemütlich runter und schaue mir die Gegend an. Auf jeden Fall möchte ich Innsbruck besuchen.“

Sandy wurde ernst. „Sag mal, Nicola, könntest du ab jetzt die Miete auch alleine aufbringen, wenn ich ausziehe? Brent möchte mit mir zusammenleben. Ich halte ihn schon eine Weile hin, weil ich dich nicht im Stich lassen wollte.“

Nicola lächelte. „Warum startet ihr das Experiment nicht in dieser Wohnung? Sie ist größer als seine. Wenn alles gut geht, macht ihr vielleicht bald Flitterwochen in einem venezianischen Palazzo.“

„Und du?“

„Wenn ich zurückkomme, werde ich weitersehen.“

In den kommenden Wochen hatte Nicola viel zu erledigen. Sie mietete einen zusätzlichen Bodenraum, um ihre Möbel unterzustellen, sie organisierte für die Zeit des Urlaubs ihre Arbeit und setzte sich mit Signor Mancini in Verbindung, um mit ihm einen Besichtigungstermin für Ca’ Malvasia zu verabreden. Der Anwalt war sehr zuvorkommend, ja er bestand sogar darauf, sich auch um ihre Anreise zu kümmern und die Hotelbuchungen zu übernehmen.

Aus ihr unerklärlichen Gründen war der Mann Nicola jedoch unsympathisch, obwohl sie ihn nur vom Telefon kannte. Sie empfand seine galante Art als aufdringlich. Doch da sie vor der Abreise an vieles zu denken hatte, nahm sie seine Hilfe an. Nur das Angebot, sie in Venedig persönlich in Empfang zu nehmen und ins Hotel zu begleiten, lehnte sie entschieden ab. Sie wollte sich nicht verpflichten, zu einer bestimmten Stunde anzukommen.

Ihr letzter Halt vor Venedig war Innsbruck. Sie erreichte die malerische österreichische Stadt am frühen Nachmittag und parkte den Wagen in der Tiefgarage des Hotels Bregenzerwald nahe der berühmten Maria-Theresia-Straße. Ihren schweren Koffer ließ sie im Wagen. Nur mit der Reisetasche über der Schulter stieg sie in den Fahrstuhl, der sie in das elegante Foyer brachte.

Um diese Tageszeit wirkte es wie ausgestorben. Doch die Rezeption war besetzt, und in einer der verlassenen Sitzgruppen saß ein stiernackiger Mann mit einer Zeitung auf dem Schoß. Er starrte sie einen Moment lang an, bevor er sich wieder seiner Lektüre zuwandte.

Sobald Nicola in ihrem Zimmer war, sputete sie sich. Sie wollte so viel wie möglich von der Stadt sehen, bevor sie am nächsten Morgen wieder abreiste. Sie sprang unter die Dusche und schlüpfte in ein cremefarbenes Leinenkleid mit passender Jacke.

Dann bat sie an der Rezeption um einen Stadtplan. Als sie das Hotel verließ, saß der stiernackige Mensch immer noch da. Er hatte das Blatt sinken lassen, sprach in sein Handy und schlug wie ertappt die Augen nieder, sobald sich ihre Blicke trafen. Nicola hastete an ihm vorbei nach draußen.

Es reizte sie, in eine der wartenden Pferdekutschen zu steigen, um sich die Stadt zeigen zu lassen. Doch nach der langen Autofahrt war es richtiger, zu Fuß zu gehen. Als Erstes lief sie zum Inn und stand eine Weile am Ufer, um in die reißende Strömung des milchig grünen Flusses zu schauen. Die fernen Berge waren immer noch mit Schnee bedeckt, aber hier unten im Tal schien die Sonne mit solcher Kraft, dass Nicola ihre Jacke über den Arm nahm.

Sie spazierte in die Altstadt zum berühmten Goldenen Dach, das dem Hofstaat als Loge diente, wenn auf dem Stadtplatz öffentliche Veranstaltungen stattfanden. Dann ließ sie sich einfach treiben, genoss die geschäftige Atmosphäre, beobachtete Touristen, die alte Häuser mit Laubengängen bestaunten, und staunte selbst.

In einer engen mit Kopfstein gepflasterten Straße trat sie zurück, um eine bemalte Fassade anzuschauen. Dabei blieb sie mit einem Absatz ihrer Pumps hängen. Ausgerechnet in diesem Augenblick näherte sich eine Pferdekutsche. Noch bevor sie Zeit hatte zu überlegen, ob sie ihren Schuh preisgeben sollte, wurde sie plötzlich von zwei starken Armen umfangen und beiseitegerissen. Fast im gleichen Augenblick rumpelte die Kutsche vorbei.

Für eine Sekunde drückte sie erschrocken den Kopf gegen eine feste Schulter. Seide streifte ihre Wange, und der frische Duft eines männlichen Eau de Toilette stieg ihr in die Nase. Sie löste sich aus der Umklammerung. „Danke, vielen Dank“, murmelte sie.

„Ich fürchte, die Aktion hat unnötig dramatisch auf Sie gewirkt …“ Die Stimme klang angenehm und hatte einen fast unhörbaren charmanten Akzent. „Trotzdem gut, dass ich gerade zur Stelle war, um Ihnen aus der Verlegenheit zu helfen.“

Verlegenheit? Nicola sah ihren Retter an und rang um Fassung. Der Mann sah einfach umwerfend aus.

Irgendwie erinnerte er sie ein bisschen an ihren Mann. Doch Jeff hatte offenherzige blaue Augen gehabt. Die Augen des Fremden waren grau und undurchdringlich. Überhaupt wirkte er eher streng als gutmütig. Wie gemeißelt, dachte Nicola, als sie sich in sein ebenmäßiges Gesicht mit der geraden Nase und dem festen Mund vertiefte. Dann bemerkte sie, dass er das dichte kohlrabenschwarze Haar wohl deshalb so kurz trug, weil es sich lockte. Da musste sie unwillkürlich lächeln.

„Ich befreie Ihren Schuh, bevor er endgültig ruiniert ist“, sagte der Mann, machte einen Schritt auf die Straße und bückte sich. Nicola war fasziniert, wie geschmeidig er sich bewegte, obwohl er groß und breitschultrig war. Er trug Freizeitkleidung, eine graue Hose und ein graues Hemd. Doch sie hielt ihn nicht für einen Touristen.

„Der Absatz ist ein bisschen zerkratzt, mehr ist nicht passiert“, sagte er und ging in die Knie. Zu ihrem Entsetzen griff er nach ihrem bloßen Fuß und streifte den Schuh darüber. Als er sich wieder zur vollen Größe aufgerichtet hatte, war sie bleich vor Verlegenheit.

„Sie sehen immer noch elend aus. Wie wäre es mit einer Tasse Tee? Die kann Wunder bewirken.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihren Ellenbogen und führte sie um die Ecke zu einem kleinen mit Stuck verzierten Haus, dessen überstehendes Dach bis an die Nachbarhäuser reichte. Durch einen Laubengang gelangten sie in einen hellen Innenhof. Dort standen Tische mit rot karierten Decken.

„Oder möchten Sie lieber drinnen sitzen? Vielleicht stört Sie die Sonne. Sie haben so eine zarte Haut.“

Nicola schüttelte den Kopf. „Ich sitze gerne draußen.“

„Gut.“ Er nahm ihr die Jacke ab und hängte sie über die Stuhllehne.

Sobald sie Platz genommen hatten, erschien ein weiß gekleideter Kellner mit einem Krug Eiswasser und zwei Gläsern.

„Möchten Sie vielleicht zum Tee ein Stück Kuchen?“, fragte ihr Begleiter. „Hier im Stadtbiesl schmeckt er hervorragend.“

„Nein, danke. Nur Tee mit Zitrone, bitte. Ich habe spät zu Mittag gegessen.“

Er gab die Bestellung in flüssigem Deutsch auf. Doch Nicola glaubte nicht, dass er Deutscher war.

„Sie scheinen sich gut auszukennen“, sagte sie.

„Ja, ich bin von Zeit zu Zeit hier.“ Er betrachtete sie. „Sie scheinen sich besser zu fühlen. Machen Sie hier Ferien?“

„Ich bin nur auf der Durchreise. Morgen fahre ich nach Venedig weiter.“

„Die Fahrt über den Brenner ist wunderschön.“

Der Tee wurde in einer Kanne serviert. Der Fremde fragte, ob sie einschenken wolle.

Sie tat es, fühlte sich aber ungeschickt dabei, weil er sie beobachtete. Und als sie ein Stück Zitrone in ihre Tasse legen wollte, rutschte es ihr aus der Hand und plumpste in den Tee, sodass ihr Kleid ein paar Spritzer abbekam.

Sofort sprang der Mann auf, zog ein blütenweißes Taschentuch aus der Hosentasche, tunkte es in die Wasserkaraffe und rieb die bräunlichen Flecken aus dem Stoff.

Er tat es umsichtig und ganz unpersönlich, doch Nicola reagierte auf die Berührung wie auf eine Zärtlichkeit und fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Schließlich ließ er von ihr ab und begutachtete das Resultat. „Ganz wegbekommen habe ich die Flecken nicht, aber sie fallen nicht mehr auf.“

„Danke.“ Ihre Stimme klang fremd und rau.

„Es war mir ein Vergnügen.“

Sie suchte nach Gesprächsstoff. „Leben Sie in Innsbruck?“, fragte sie ein wenig atemlos.

„Nein, ich bin geschäftlich hier.“ Er sah sie unverwandt an. „Ich wohne in Venedig.“

„Oh …“ Ihr Herz tat einen Doppelschlag.

Er sah sie immer noch an, als erwartete er eine Reaktion. „Ich heiße Loredan. Dominic Irving Loredan.“

„Dann sind Sie Italiener.“ Das war alles, was ihr einfiel.

„Nur zur Hälfte. Mein Vater war Amerikaner, aber meine Mutter war Italienerin.“

Das erklärte also seinen leichten Akzent und auch seine Art, mit den Händen zu sprechen. Sie waren schön, sehr männlich und gepflegt. Auch das war Nicola aufgefallen.

„Und Sie sind Engländerin.“

„Ja. Ich heiße Nicola Whitney.“

Er schaute auf ihren Ehering. „Mrs. Whitney, wie ich sehe.“

„Ja … Nein … Also, ja, doch …“

Er hob die Brauen. „Sie sind sich offenbar nicht ganz sicher.“

„Ich … Ich bin Witwe“, stammelte sie.

Das war das zweite Mal, dass sie freiwillig zugab, Witwe zu sein. Sie wollte nicht bemitleidet werden. Und überhaupt mochte sie nicht daran erinnert werden, dass Jeff gestorben war.

„Für eine Witwe sind Sie sehr jung“, sagte er.

„Ich bin fünfundzwanzig.“

„Wann ist ihr Mann gestorben?“, wollte er wissen.

„Vor drei Jahren.“

„Und Sie tragen immer noch den Ehering?“

Nicola sagte nicht laut, dass sie sich immer noch verheiratet fühlte. Sie schwieg.

„Sie haben Ihren Mann durch einen Unfall verloren?“

So war es. Wenn es um Fakten ging, konnte sie antworten. „Ja, durch einen Autounfall.“

„Dann leben Sie jetzt also allein?“

„Ich teile meine Wohnung mit Sandy.“

„Reist er mit Ihnen?“

„Nein. Und Sandy ist kein Mann, sondern eine Frau.“ Nicola wunderte sich, dass sie den Irrtum aufklärte. Gewöhnlich tat sie das nicht, wenn er Fremden unterlief. Ja, sie erzählte sogar, woher sie Sandy kannte und warum ihre Freundin nicht mitgekommen war.

„Dann arbeiten Sie also im gleichen Beruf.“

„Nein. Ich bin Konferenzmanagerin für Westlake Business Solutions.“

„Klingt interessant. Das machen Sie sicher gut.“

„Ich denke, schon.“

„Und welche Voraussetzungen muss man mitbringen?“ Seine Augen bekamen einen eigenartigen Ausdruck, als er hinzufügte: „Außer dem richtigen Aussehen, natürlich.“

„In dieser Hinsicht gibt es keine Voraussetzungen“, wehrte sie ab. „Aber man muss das Geschäft verstehen, ein Gespür dafür entwickeln, was die verschiedenen Kunden brauchen, und Einfälle haben. Außerdem hilft es, wenn man mindestens noch eine Fremdsprache beherrscht.“

„Und wo organisieren Sie diese Konferenzen?“

„Überall auf der Welt. In Tokio, Sydney, Atlanta, Quebec, Paris, London.“

Er beugte sich vor. „Dann sind Sie also viel unterwegs.“

„Mehr oder weniger, ja. Es ist ein ziemlich anstrengender Job.“

„Aber Sie lernen doch sicher viele Menschen kennen? Wichtige Geschäftsleute.“

Sie wusste nicht, worauf er mit seiner Frage hinauswollte, und fühlte sich plötzlich unwohl. „Ich treffe solche Leute erst, wenn sie zu den Tagungen kommen, und habe mit ihnen nur zu tun, wenn etwas nicht reibungslos klappt.“

Er bemerkte ihr Unbehagen und lehnte sich zurück. „Entschuldigen Sie! Es war unhöflich, Sie über Ihr Privatleben und Ihre Arbeit auszufragen. Sie haben Ferien, und die Sonne scheint.“

Sie fühlte sich sofort versöhnt und fragte sich, woher die Anspannung gekommen war. Lag es daran, dass der Mann sie an Jeff erinnerte? Oder daran, dass sie fast verlernt hatte, sich auf persönliche Gespräche einzulassen?

„Was haben Sie sich für den Rest des Tages in Innsbruck vorgenommen?“, fragte er.

„Ich möchte so viel wie möglich von der Stadt sehen.“

„Darf ich meine Begleitung anbieten? Ich habe meine Geschäfte erledigt und könnte Ihnen die Stadt zeigen.“

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was sollte sie antworten? Dieser Mann beunruhigte sie. Nicht nur, weil er sie an Jeff erinnerte, sondern weil er sie verlegen machte. Trotzdem wollte sie nicht, dass sich ihre Wege jetzt schon trennten.

Sie kam sich wie ein Schulmädchen vor, das kaum seiner Aufregung Herr wurde. „Danke. Das wäre sehr nett von Ihnen.“

Ob er sich über ihre Förmlichkeit amüsierte oder sich darüber freute, weil sie sein Angebot angenommen hatte, wusste sie nicht. Jedenfalls lächelte er, sodass sie seine ebenmäßigen weißen Zähne bewundern konnte.

Es war das erste Mal, dass er lächelte, und sie war hingerissen davon.

Er hinterließ einen Geldschein auf dem Tisch. „Dann sollten wir jetzt aufbrechen.“

Während er sie zurück auf die Straße führte, legte er für einen Moment die Hand auf ihren Rücken. Die Berührung löste in Nicola heilloses Durcheinander aus. Sie hatte Jeff abgöttisch geliebt, aber an wildes Herzklopfen und Kribbeln im Bauch konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Liebe zueinander war tief, zärtlich und vertrauensvoll gewesen.

Dominic Loredan merkte offenbar nicht, was mit ihr geschehen war. Er spielte den Fremdenführer. „Fast alles, was sehenswert ist, liegt dicht beisammen in der Altstadt. Jedenfalls die historischen Gebäude. Vielleicht sollten wir mit der Hofburg und der Hofkirche beginnen. Sie wurden einander gegenüber …“

Nicola nahm nicht auf, was er sagte, sondern beobachtete, wie er die Lippen bewegte. Sein Mund wirkte streng, fast asketisch, doch zugleich so sinnlich, dass ihr kleine Schauer den Rücken hinunterliefen.

„Das Abendessen sollten wir dann in Schloss Liedl einnehmen.“

Sie senkte den Blick. „Schloss Liedl?“

„Es wurde im 16. Jahrhundert erbaut und diente anfangs als Festung, später als königliches Jagdschloss. Heute ist dort ein erstklassiges Restaurant untergebracht. Von der Terrasse aus hat man einen herrlichen Blick über die Stadt.“

„Klingt verlockend“, sagte sie und betrachtete die blassen Teeflecken auf ihrem Kleid. „Ich fürchte nur, dafür bin ich nicht passend gekleidet.“

„Ich muss mich auch umziehen. In welchem Hotel übernachten sie?“

„Im Bregenzerwald.“

„Was für ein Zufall“, sagte er. „Ich habe dort das Zimmer Nummer 54.“

Sie konnte es kaum glauben. „Und ich Nummer 56.“

Den Rest des Nachmittags verlebte Nicola wie im Rausch. Seit drei Jahren war sie nicht mehr so glücklich gewesen.

Dominic Loredan war ein angenehmer und interessanter Begleiter mit ausgezeichneten Stadtkenntnissen, Sinn für Schönheit und einem trockenen Humor.

Schließlich, als sie fast alles gesehen hatten, taten Nicola die Füße weh und ihre Schuhe waren staubig. Deshalb ließ sie sich gerne zu einer Kutschfahrt zurück zum Hotel überreden.

Dominic begleitete sie bis vor die Zimmertür. „Wie lange brauchen Sie?“

Nicola überlegte. „Ungefähr eine halbe Stunde.“

„Gut. Ich werde an Ihre Tür klopfen.“ Er lächelte und strich ihr über die Wange.

Sie hielt den Atem an und schaute ihm wie hypnotisiert in die Augen. Da neigte er den Kopf und küsste sie auf die Lippen. Es war nur ein flüchtiger Kuss, aber er versetzte sie in einen traumartigen Zustand. In dem verharrte sie, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Erst danach schloss sie ihre Tür auf.

2. KAPITEL

Mit einem Mal hatte sie es eilig. Sie musste ihren Koffer aus der Tiefgarage holen. Doch sie fand ihren Autoschlüssel nicht. Hektisch suchte sie das Zimmer ab und entdeckte ihn schließlich auf dem Frisiertisch. Merkwürdig, sie hatte ihn doch auf die Kommode gelegt. Vielleicht war das Zimmermädchen noch einmal da gewesen und hatte umgeräumt. Doch weil ihr in einer Schrecksekunde durch den Kopf geschossen war, dass man sie bestohlen haben könnte, prüfte sie sicherheitshalber den Inhalt ihrer Reisetasche. Alles war noch da. Pass, Geld und das Schmuckkästchen ihrer Großmutter.

Sie öffnete es. Nichts fehlte. Weder die Perlenkette, die Jeff ihr geschenkt hatte, noch das Medaillon ihrer Großmutter. Auch die Schlüssel zu Johns Haus in Venedig lagen noch darin. Sie seufzte und legte das Kästchen zurück in die Tasche.

Dann eilte sie nach unten zu ihrem Leihwagen. Doch die Heckklappe ließ sich nicht bewegen. Hatte sie soeben das Schloss über die Zentralverriegelung versperrt, statt es zu öffnen? Sie versuchte es ein zweites Mal, und die Klappe sprang auf. Der Wagen musste also über Stunden unverschlossen gewesen sein.

Ihr Koffer lag dort, wo sie ihn verstaut hatte. Im Reißverschluss war ein Stückchen Stoff eingeklemmt. Eigentlich passierte ihr das nie. Doch an diesem Morgen hatte sie in Eile gepackt. Vielleicht war ihr deshalb diese Nachlässigkeit unterlaufen. Aber hätte sie das nicht gleich merken müssen?

Der verlegte Autoschlüssel, der unverschlossene Wagen, der verklemmte Kofferreißverschluss, was bedeutete das alles? Wenn sich schon jemand die Mühe gemacht hatte, ihren Schlüssel zu entwenden und den Koffer zu öffnen, warum hatte er sich nicht mitsamt Auto davongemacht?

Wahrscheinlich war alles nur eine Verkettung von Zufällen. Schließlich war heute ein seltsamer Tag voller Überraschungen. Wenn sie nicht gerade in dem Moment mit dem Absatz stecken geblieben wäre, als eine Pferdekutsche vorbeikam, hätte sie Dominic Loredan niemals kennengelernt, obwohl er im selben Hotel gleich neben ihr wohnte.

Sie wischte ihre Gedanken beiseite. Sie hatte Zeit verloren und musste sich beeilen, damit sie nicht zu spät kam. Also nahm sie den Koffer, verriegelte den Wagen und machte sich auf den Rückweg.

In Windeseile duschte sie und zog das Kleid aus grauem Seidenchiffon an. Sandy hatte sie dazu überredet. „Man weiß nie“, hatte die Freundin geunkt.

Das Kleid wirkte romantisch. Es hatte ein enges Oberteil und einen langen schwingenden Rock. Beim Anblick der dazugehörenden rot gefütterten Stola überfielen Nicola wieder Zweifel wegen der Farbe. „Du kannst doch nicht ewig in Sack und Asche gehen“, hatte Sandy gesagt.

Nicola legte die Stola zu ihrer Abendhandtasche und begann, das üppige blonde Haar hochzustecken. Ihre grünen Augen hatten einen fremden Glanz, und die Wangen ihres herzförmig geschnittenen Gesichts glühten. Sah so eine trauernde Witwe aus?

Als die Frisur fertig war, betrachtete sie den schmalen Goldreif an ihrem Finger. Sie hatte ihn seit vier Jahren nicht abgelegt. Mehr als drei davon trug sie ihn als Witwe. Sie war mit Jeff nicht einmal ein Jahr lang verheiratet gewesen, bevor er starb. John hatte recht. Wer seinen Liebsten verloren hatte, brauchte Zeit zum Trauern. Aber niemand sollte sein Leben lang trauern.

Für sie war der Moment gekommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Vorsichtig streifte sie den Ehering ab und legte ihn zu dem übrigen Schmuck in das Kästchen.

Dann holte sie ihre Kosmetiktasche und setzte sich wieder vor den Spiegel. Zum ersten Mal seit drei Jahren lag ihr wieder daran, schön auszusehen.

Da ihre Augenbrauen und Wimpern von Natur aus dunkel waren und sie eine makellose Haut besaß, gab es nicht viel zu korrigieren. Sie puderte sich die kleine gerade Nase, trug grünlichen Lidschatten auf und zog die Lippen mit einer natürlich wirkenden Farbe nach. Und schon war sie fertig.

Als es klopfte, griff sie nach Handtasche und Stola und öffnete die Tür.

Dominic Loredan trug einen eleganten dunklen Abendanzug mit schwarzer Krawatte und sah fantastisch aus. Er betrachtete sie von oben bis unten mit einem so merkwürdigen Blick, dass sie innerlich zitterte. „Sie sind wirklich das Hübscheste, was ich je gesehen habe“, sagte er schließlich.

Nicola war sich nicht sicher, ob er das als Kompliment meinte. Doch als er ihre Hand galant an die Lippen zog, waren alle Bedenken verflogen, und ihr Herz klopfte vor Glück. Sie lächelte. „Ich habe vergessen, Ihnen für den schönen Nachmittag zu danken.“

Er nahm ihr die Stola ab und legte sie um ihre Schultern. Dann bot er ihr den Arm. „Der Abend soll noch schöner werden.“

Es war noch hell und die Luft so lau, dass sie gut mit offenem Verdeck fahren konnten. Dominic lenkte den Wagen aus der Stadt heraus bergauf, vorbei an Baumgruppen, abschüssigen Wiesen und einem kleinen, mit Blumen geschmückten Heiligenschrein, der am Wegesrand stand. Hoch über ihnen lagen Sennhütten und eine Kapelle. Schließlich tauchte vor dem Gebirgsmassiv eine Burg mit Türmen auf.

„Schloss Liedl“, sagte Dominic.

„Wie aus einem Bilderbuch“, staunte Nicola.

Die Straße führte in Serpentinen zum Schloss. Sie erreichten den gepflasterten, mit Fackeln beleuchteten Hof durch einen Torbogen. Dort stiegen sie aus. Dominic übergab den Autoschlüssel einem herbeieilenden Angestellten, der den Wagen durch einen zweiten Torbogen davonfuhr.

Nicola legte den Kopf in den Nacken, um die grauen Mauern zu betrachten. Sie fröstelte, denn hier in den Bergen war es deutlich kälter als im Tal. Dominic zog die Stola enger um sie.

„Danke.“ Sie lächelte. Seit langer Zeit hatte sie sich nicht mehr so umsorgt gefühlt.

Am Portal des Gebäudes begrüßte sie ein untersetzter blonder Mann. Später fand Nicola heraus, dass er der Baron von Salzach war. Er sprach Englisch mit einem deutlich österreichischen Akzent und führte sie durch die mit Fahnen dekorierte Eingangshalle in den kerzenerleuchteten Speisesaal. Dort spielte ein Streichquartett Stücke von Mozart für die elegant gekleideten Gäste.

Als sie den Raum durchquerten, fiel Nicola auf, dass mehrere Damen Dominic verstohlen bewundernde und ihr neidische Blicke zuwarfen.

Über eine geschwungene ausgetretene Steintreppe stiegen sie hinauf zur Terrasse. Auch sie war mit Fahnen geschmückt. Doch Nicola entdeckte nur wenige, meist besetzte Tische.

„Hier ist es nicht so stickig“, sagte Dominic und lächelte ihr zu. Offenbar meinte er weder die Temperatur noch die Luftqualität.

Sobald sie an einem mit Kristallgläsern gedeckten und Blumen geschmückten Tisch Platz genommen hatten, verbeugte sich der Baron, wünschte ihnen einen angenehmen Abend und verabschiedete sich.

Nicola war von den Holzkohlefeuern fasziniert, die in Metallbecken brannten. Sie standen in regelmäßigen Abständen vor der hüfthohen Terrassenmauer. „Sie passen wunderbar hierher.“

„Und sie wärmen“, sagte Dominic. „Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es nämlich frisch. Vor ein paar Jahren gab es sie noch nicht und selbst abgehärtete Gäste mussten eine Lungenentzündung riskieren, wenn sie die Aussicht genießen wollten.“

Nicola schaute in das weite Flusstal, in dem Innsbruck unter ihnen lag. „Der Blick ist es wert.“

„In der Dunkelheit ist er noch beeindruckender.“

Er hatte nicht zu viel versprochen. Während sie das vorzügliche Essen genossen, gingen in der Stadt die Lichter an und strahlten durch die dunkelblaue Dämmerung zu ihnen herauf.

Dominic nippte den ganzen Abend nur von dem trockenen leichten Riesling, aber er sorgte dafür, dass Nicolas Glas immer voll war. Sie achtete nicht darauf, wie viel sie trank. Sie war bezaubert von der Atmosphäre des Schlosses und mehr noch von dem Mann, der ihr Gesellschaft leistete.

Solange sie aßen, vermied er persönliche Themen. Doch danach nahm er plötzlich ihre Hand und fragte, warum sie keinen Ehering mehr trage. Sie war so überrascht von der Berührung und der Frage, dass sie nach den richtigen Worten rang. „Mir schien es an der Zeit, ihn abzulegen“, sagte sie schließlich. „Ich bin länger Witwe, als ich Ehefrau war.“

Er gab ihre Hand frei. „Wie lange waren Sie denn verheiratet?“

„Nicht mal ein Jahr …“

Ehe Nicola sich versah, wurde sie gesprächig. Das war sonderbar, denn gewöhnlich blieb sie Fremden gegenüber wortkarg. Nur John hatte sie sich geöffnet. „… Jeff und ich haben an meinem einundzwanzigsten Geburtstag ganz traditionell geheiratet.“

„Und wie lange kannten Sie sich?“

„Wir hatten fast unser ganzes Leben zusammengelebt.“

Er hob fragend die Brauen.

„Nicht so, wie Sie vielleicht vermuten.“ Sie musste ausholen, um alles zu erklären. „Jeffs Eltern waren eigentlich auch meine Eltern. Meine Pflegeeltern. Meine Großeltern waren mit ihnen lange befreundet. Ein Jahr, nachdem mein Großvater gestorben war, kam meine Großmutter ins Krankenhaus. Jeffs Eltern nahmen mich auf. Und als meine Großmutter bald darauf starb, blieb ich bei ihnen. Damals war ich gerade fünf.“

„Und Ihr späterer Ehemann?“

„Er war ein paar Monate älter als ich und das einzige Kind meiner Pflegeeltern.“

„Haben sie niemals versucht, Sie zu adoptieren?“

Nicola sah ihn gedankenverloren an. „Sie hätten es wahrscheinlich gern getan. Aber sie waren nicht mehr jung, als Jeff geboren wurde, und deshalb zu alt, um mich zu adoptieren.“

„Warum sind Sie nicht bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen?“

Sie lächelte traurig. „Ich habe sie nicht gekannt. Und eigentlich auch nicht vermisst, bis zu dem Tag, als ich erfuhr, dass andere Kinder Mutter und Vater haben. Da nahm mich meine Großmutter auf den Schoß, streichelte mich und erzählte mir, dass meine Eltern davongegangen seien. Aber ich konnte mir darunter nichts vorstellen und dachte, dass sie in den Himmel gekommen wären. Auch meine Stiefeltern ließen mich noch jahrelang in dem Glauben, meine Eltern seien gestorben.“

Sie sah ihn eine Weile schweigend an. Dann seufzte sie.

„Als ich sechzehn war, erzählten sie mir die Wahrheit. Meine Mutter hieß Helen, war das einzige Kind meiner Großeltern und schon mit dreizehn ziemlich frühreif. Jedenfalls wurde sie mit knapp sechzehn schwanger.“ Nicola stockte.

„Am liebsten hätte sie abgetrieben, doch meine Großmutter bestand darauf, dass sie das Kind austrug.“ Nicolas Stimme wurde immer leiser. „Helen fühlte sich der Mutterschaft nicht gewachsen. Sie lehnte mich schon ab, als ich noch im Mutterleib war. Ein paar Wochen nach meiner Geburt verschwand sie und ließ mich bei ihrer Mutter zurück.“

„Ihre Großmutter muss damals noch jung gewesen sein.“

Nicola nickte. „Ja, sie war gerade Mitte fünfzig, als sie starb. Nach einer Operation, bei der es tragische Komplikationen gab.“

Dominic rieb sich nachdenklich das Kinn. „Sie und ihr Mann sind also praktisch wie Geschwister aufgewachsen.“

Diese Sichtweise war ihr irgendwie unangenehm. „Wir waren uns immer sehr nah. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, gingen in dieselbe Schule. Wir stritten uns nie. Ich kann mich an keinen Moment meines Lebens erinnern, in dem ich Jeff nicht liebte. Und ihm ging es ebenso.“

„Eigenartig, dass Sie nie zankten wie andere Geschwister“, sagte Dominic.

Nicola antwortete ehrlich. „Ich hatte nur Jeff, bis ich ins College kam. Unsere Eltern ermunterten uns nicht, mit anderen Kindern zu spielen, und wir vermissten sie nicht. Wir hatten uns.“

„Und wann wurden Sie und Jeff ein Liebespaar?“

„Wir vertrösteten uns bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Seit Jeffs Tod bedauere ich, dass wir auch danach noch warteten. Drei Jahre haben wir verschwendet. Wir taten es aus Respekt. Unsere Eltern waren sehr gottesfürchtig und lebten nach einer strengen Moral. Sex ohne Ehe war für sie undenkbar.“

„Darauf haben Sie Rücksicht genommen?“

„Wir wollten beide studieren und hatten kein Geld. Jeff schlug vor zu heiraten und vertraute sich unseren Eltern an. Sie versprachen uns ihren Segen, wenn wir bis zu unseren Abschlüssen warteten. Sie bestanden auf dieser Prüfungszeit.“

Dominic sah sie skeptisch an.

„Das muss Ihnen schrecklich altmodisch vorkommen, aber wir wurden dazu erzogen, den elterlichen Willen zu befolgen. Ich hatte nur Gutes von meinen Pflegeeltern erfahren und wollte nicht undankbar sein. Deshalb versprachen wir zu warten.“

Er sah sie durchdringend an. „Dieses Versprechen haben Sie sicher über Bord geworfen, als sie das Studentenleben kennenlernten, oder?“

Nicola senkte den Blick. „Das College lag ganz in der Nähe. Deshalb war es vernünftig, zu Hause wohnen zu bleiben.“

Um Dominics Mund zuckte ein spöttisches Lächeln.

Nicola ärgerte sich darüber und versuchte, sich zu rechtfertigen. „Unsere Eltern wollten es so. Sie meinten, wir seien zu Hause am besten aufgehoben.“

„Mit Sicherheit waren Sie das.“

Noch bevor sie seine ironische Bemerkung kommentieren konnte, stellte er die nächste Frage. „Sie beendeten also das College, bevor sie in Weiß heirateten. Und dann?“

Sie hatte noch nie gut lügen können, deshalb antwortete sie wahrheitsgemäß. „Ich zog in Jeffs Zimmer.“

Dominic blieb ernst. „Empfanden Sie das nicht als … Einschränkung?“

Ja, sie hatte es so empfunden, mehr noch als Jeff. „Es war nicht gerade das, was ich mir freiwillig ausgesucht hätte. Aber wir verdienten nicht gleich genügend Geld, obwohl Jeff inzwischen Diplom-Designer war und ich Wirtschaftswissenschaften und Sprachen studiert hatte. Unsere Eltern wollten uns so lange beherbergen, bis wir uns ein eigenes Haus leisten konnten. Jeff war damit einverstanden.“

Dominic schüttelte unwillig den Kopf.

„Ich weiß, das klingt ein bisschen bieder und langweilig …“

„Es klingt lebensfremd und engstirnig“, sagte er ärgerlich.

Nicola errötete.

Er merkte, dass sie verletzt war. „Das hätte ich nicht sagen dürfen.“

„Schon gut“, sagte sie leichthin. „Es war nicht so schlimm, wie Sie es sich ausmalen. Schließlich waren Jeff und ich endlich zusammen.“ Sie seufzte. „Aber es wäre schön gewesen, wenn wir unser eigenes Zuhause gehabt hätten.“

„Heißt das, Sie sind nie aus Ihrem Elternhaus herausgekommen?“

Sie senkte den Blick. „Ich bekam schnell einen Job, aber Jeff hatte Pech. Die erste Firma, bei der er arbeitete, machte Pleite. Wir waren immer noch abhängig, als sich der Unfall ereignete.“

„Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie seit dem Tod Ihres Mannes mit einer Freundin zusammenwohnen. Es überrascht mich, dass Sie nicht zu Hause geblieben sind.“

„Unsere Eltern starben bei demselben Unfall. Sie und Jeff wollten mich von der Arbeit abholen, als ein Lastwagen außer Kontrolle geriet.“

„Dann sind Sie also völlig allein zurückgeblieben.“

„Sandy hat sich rührend um mich gekümmert.“

Er beugte sich vor. „Und wie sind Sie mit Ihrer Freiheit zurechtgekommen?“

Sie sah ihn erschrocken an. „Freiheit? Was Sie so nennen, empfinde ich als Einsamkeit. Ich habe Jeff schrecklich vermisst.“

Er nickte. „Was war er eigentlich für ein Mensch?“

„Er sah Ihnen ähnlich“, platzte sie heraus.

Von diesem Vergleich war Dominic offenbar wenig begeistert. „Da Sie Ihren Mann liebten, sollte ich mich geschmeichelt fühlen. Doch Sie kennen mich nicht gut genug, um das beurteilen zu können“, sagte er kühl.

„Ich finde … Ich meine das Aussehen“, murmelte sie. Doch als sie versuchte, Jeff zu beschreiben, spürte sie immer deutlicher, dass es zwischen ihm und dem Mann, der ihr gegenübersaß, außer der Größe und Haarfarbe keine Ähnlichkeit gab.

Neben Dominic hätte ihr Mann wahrscheinlich schlaksig, ja schmächtig gewirkt.

Sie erschrak vor diesem Gedanken, fühlte sich treulos und schob ihn deshalb beiseite.

Zumindest hatten beide Männer schwarzes lockiges Haar. Dominic trug es männlich kurz geschnitten, Jeff hatte gar nicht erst versucht, es zu zähmen. Überhaupt hatte er eher wie ein großer Junge gewirkt, empfindsam und verträumt. Dominic hingegen strahlte Härte und Autorität aus. Jeff war von Natur aus freundlich, sanftmütig und rücksichtsvoll gewesen. Dominic vermochte sie nicht einzuschätzen. Doch die Art, wie er ihr die Stola um die Schultern gelegt hatte, ließ vermuten, dass er wie viele tatkräftige Männer auch zärtlich und fürsorglich sein konnte.

Wie sehr sie das vermisste! Zärtlichkeit und Fürsorge.

Dominic missdeutete den wehmütigen Ausdruck ihrer Augen. „Wir sollten besser das Thema wechseln. Sie sehen traurig aus. Es ist gewiss schwer für Sie, über Ihren verstorbenen Mann zu sprechen.“

„Bis vor Kurzem war mir das nicht möglich“, gab sie zu. „Aber allmählich fange ich an, mich mit dem Verlust abzufinden.“

Heute Abend war es ihr tatsächlich leichtgefallen zu reden. Sie fühlte sich fast befreit, weil der Kummer sie nicht mehr erdrückte.

Dominic beobachtete sie. „Herzlich willkommen in der Welt“, sagte er. „Was für Pläne haben Sie für die kommende Zeit?“

„Ich werde vielleicht einen Monat in Venedig bleiben. Ich verspreche mir viel von diesen Ferien. Vielleicht werde ich mein Leben verändern. Ich hoffe es jedenfalls …“

Er sah sie gespannt an.

Sie zögerte und entschloss sich, nichts von John und dem wahren Grund ihrer Reise zu erzählen. Sie wollte nicht zu offenherzig sein. „Das ist der erste Urlaub, seit ich bei Westlake arbeite. Es war Zeit für eine Pause. Mal sehen, was danach kommt.“

Dominic winkte den Kellner heran, um für Nicola einen Kaffee, für sich einen Espresso und für beide einen Cognac zu bestellen. Nachdem der Kellner die Getränke und eine Schale mit Schokolade gebracht hatte, nahm er das Gespräch wieder auf. „Waren Sie schon einmal in Venedig?“

„Noch nie. Obwohl ich schon immer dorthin fahren wollte. Ich stelle es mir wunderbar vor mit den vielen Kanälen, Brücken und alten Gebäuden. Wahrscheinlich quillt die Stadt über von Touristen.“

„Eigentlich nur in den Sommermonaten und zur Karnevalszeit. Aber sie halten sich immer in ganz bestimmten Ecken auf. Es gibt viele Viertel in Venedig, in die sich kaum ein Tourist verirrt.“

„Wohnen Sie schon lange dort?“

„Mein ganzes Leben, abgesehen von meiner Studienzeit in Oxford und einem Jahr, das ich auf Reisen verbrachte. Mein Vater war, wie gesagt, Amerikaner, aber die Familie meiner Mutter lebt seit der Zeit der Dogen in Venedig, als es noch eine reiche Republik war. Auch heute, fünfhundert Jahre nach seiner Blütezeit, ist es immer noch eine der bemerkenswertesten Städte der Welt.“

Nicola entging nicht, wie begeistert und stolz er erzählte.

„Für mich ist Venedig immer reizvoll. Nicht nur bei Sonnenschein, auch wenn der Regen peitscht oder Nebel von der Adria in die Stadt zieht. Und abends auf der Piazza San Marco kann man zuschauen, wie sich alle Paare in Liebespaare verwandeln. Ganz gleich, wie alt sie sind, sie halten dort alle Händchen.“

Nicola malte sich aus, mit Dominic Hand in Hand dort herumzuschlendern. Kleine Schauer liefen ihr den Rücken hinunter.

„Es wird kühl“, sagte er. Und noch ehe sie Einwände erheben konnte, bat er den Ober um die Rechnung. „Wir haben beide morgen eine lange Fahrt vor uns. Ich muss sehr früh aufbrechen.“

Während der Fahrt zurück ins Tal schwieg Dominic und konzentrierte sich auf die kurvige Straße. Nicola hing ihren Gedanken nach. Schade, dass dieser zauberhafte Abend zu Ende ging. Ob sie diesen Mann jemals wiedersah? Sie hoffte, dass er sie nach ihrer Adresse in Venedig fragte oder vorschlug, morgen früh mit ihm zu frühstücken.

Dominic begleitete sie wieder bis vor die Zimmertür und wartete geduldig, bis sie den Schlüssel in ihrer Handtasche gefunden hatte. Als es ihr nicht gleich gelang, ihn ins Schloss zu stecken, nahm er ihn ihr aus der Hand. „Sie erlauben?“

„Selbstverständlich.“

Kaum hatte er geöffnet, trat sie ein und legte Schlüssel und Handtasche auf dem Tischchen hinter der Tür ab. Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass er gleich fortginge. Sie wirbelte herum, verlor dabei das Gleichgewicht und fand nur Halt, weil sie die Hände gegen seine Brust stemmte. Durch den Stoff des Hemdes spürte sie die Wärme seines Körpers. Ihr wurde schwindelig, sie fühlte sich wie beschwipst. „Danke für den schönen Abend. Ich habe ihn sehr genossen.“

Dominic stand stocksteif da und machte keine Anstalten, ihr die Situation zu erleichtern. Sie machte einen Schritt zurück. „Entschuldigung.“

Obwohl er keine Regungen zeigte, glaubte Nicola für einen Moment, dass hinter der Maske der Selbstbeherrschung widersprüchliche Gefühle in ihm kämpften. Doch dann lächelte er unvermutet. „Ich freue mich, dass Ihnen der Abend gefallen hat.“

„Also, dann gute Nacht“, sagte sie ein wenig unsicher.

„Gute Nacht, Nicola!“

Es war das erste Mal, dass er ihren Namen aussprach.

Wie gebannt beobachtete sie, wie seine Lippen die Silben formten. Warum küsste er sie nicht? Sie sehnte sich danach.

Da nahm er sie bei den Armen und legte den Mund auf ihre Lippen. Sein Kuss blieb abwartend. Erst als sie ihm schüchtern die Hände in den Nacken legte, gab er die Zurückhaltung auf.

Die Leidenschaft, mit der er sie nun küsste, und die Hingabe, mit der sie den Kuss erwiderte, lösten in Nicola eine blitzartige Erkenntnis aus: Hier und jetzt kreuzten sich Vergangenheit und Zukunft. Es war wie eine helle Offenbarung. Und dann umhüllte sie weiche wonnevolle Dunkelheit.

Nicola erhob keine Einwände, als Dominic sie ins Zimmer führte und die Tür hinter sich schloss. Wieder beugte er sich über sie. Während er sie küsste, erforschten seine Hände ihren Körper, die schmale Taille, den Schwung der Hüften, die Linie des Rückens. Schließlich öffnete er den Reißverschluss ihres Kleides, schob es von den Schultern und ließ es zu Boden fallen. Mit den Lippen strich er sanft über ihren Nacken und biss zärtlich in ihre Schulter. Nicola wand sich in seinen Armen.

Er küsste sie wieder und wieder, öffnete den Verschluss ihres trägerlosen BHs und streichelte ihre festen Brüste, bis sie meinte, vor Sehnsucht zu vergehen. Dann löste er sich von ihrem Mund, um die erregten Spitzen mit den Lippen zu verwöhnen, bis sie vor Lust aufstöhnte und sein Haar streichelte.

Im nächsten Augenblick hatte er sie hochgehoben und trug sie zum Bett. Bis auf das Licht, das von der Straße durch das Fenster drang, war es dunkel im Raum. Doch Nicola sah das Glühen in Dominics Augen, als er sich neben sie setzte und begann, sie von den letzten Kleidungsstücken zu befreien.

3. KAPITEL

Es hatte Nicola lange niemand mehr in den Armen gehalten. Sie war ausgehungert nach Liebe und deshalb ungeduldig. Doch Dominic ließ sich Zeit. Er entkleidete sie mit sanften und geschickten Händen. Dann bat er sie, ihr Haar zu öffnen. Während sie den Knoten löste, entledigte er sich seiner Kleidung.

Er setzte sich wieder auf die Bettkante, ließ ihr üppiges seidenweiches blondes Haar durch seine Finger rinnen und küsste sie.

Endlich legte er sich zu ihr und begann ein aufreizendes Liebesspiel. Er streichelte genießerisch ihren Körper. „Du bist wunderschön.“ Er liebkoste sie mit Mund und Händen, bis Nicola glaubte, den Verstand zu verlieren. Noch nie hatte sie ein solches Verlangen gequält. Alles, was Dominic tat, steigerte ihr Begehren. Als er schließlich in sie eindrang, zitterte sie vor Erregung und drängte verzweifelt nach Erfüllung.

Nicola schlug die Augen auf und räkelte sich. Wie entspannt und zufrieden ihr Körper war. Ihr Herz quoll über vor Glück.

Sie drehte sich zur Seite. Dominic lag nicht mehr neben ihr. Auch seine Sachen waren verschwunden. Er musste wohl auf sein Zimmer gegangen sein. Sie strich über das Kopfkissen, auf dem er gelegen hatte, und dachte nach.

Wie schrecklich einsam sie gewesen war! Die Jahre ohne Liebe, ohne Wärme, ohne Freude kamen ihr jetzt wie eine Ewigkeit vor. Doch nun hatte das Schicksal ihr eine zweite Gelegenheit zum Glück geboten. Und sie hatte zugegriffen. War das überstürzt und leichtsinnig gewesen?

Eine Beziehung brauchte Zeit. Ehe sich Freundschaft und Vertrauen entwickelt hatten, sollte man sich tunlichst mit keinem Mann einlassen. So hatte sie bisher gedacht. Doch Dominic hatte sie sich hingegeben, obwohl sie ihn nur flüchtig kannte. Sie wusste so gut wie nichts von ihm. Nur, dass er intelligent, charmant und unterhaltsam war, einen trockenen Humor besaß und einen altmodischen Hang zur Ritterlichkeit.

Sie hörte wieder die Warnungen ihrer Pflegemutter und musste zugeben, dass sie unvorsichtig und gedankenlos gehandelt hatte.

Dennoch fühlte sie keinerlei Bedauern. Sie fragte sich nur, wie das alles geschehen konnte.

Der Alkohol hatte ihr sicher manche Hemmungen genommen. Doch sie konnte sich nicht damit entschuldigen, zu viel getrunken zu haben. Sie hatte Dominic vom ersten Moment an unwiderstehlich gefunden. Und die Atmosphäre im Schloss tat dann ein Übriges. Einen besseren Ort, um eine Frau zu verführen, hätte Dominic nicht aussuchen können.

Sie war ihm deshalb nicht böse. Im Gegenteil! Alles, was geschehen war, hatte sie im Stillen ersehnt. Vielleicht sogar mehr als er. Die Art, wie sie ihm in der Tür in die Arme gestolpert war, musste er gewissermaßen als Aufforderung verstanden haben. Er hatte sie zu nichts gezwungen. Sie war allzu willig gewesen.

Und sie hatte Glück gehabt. Dominic war ein begnadeter Liebhaber. Er bemühte sich, einer Frau alles zu schenken, und konnte sein eigenes Verlangen zügeln.

Sie musste an Jeff denken. Er war lieb und zärtlich gewesen, warmherzig und fürsorglich. Aber erst seit der vergangenen Nacht wusste Nicola, was sie bei ihm vermisst hatte: Leidenschaft und die nötige Erfahrung, um eine Frau glücklich zu machen.

Oder tat sie ihm unrecht? Vielleicht war sie selbst zu gehemmt gewesen, um die körperliche Seite der Ehe zu genießen. Vielleicht wären die Fesseln der prüden Erziehung zerrissen, wenn sie das Elternhaus verlassen hätten.

Es war sinnlos, darüber nachzudenken. Dieser Abschnitt ihres Lebens war zu Ende. Ein neuer hatte begonnen. Sie wünschte sich, dass Dominic darin die tragende Rolle spielte.

Dominic! Wollte er nicht früh aufbrechen? Sie sah auf die Uhr. Es war nach halb neun. Wahrscheinlich wartete er im Frühstücksraum auf sie und fragte sich, wo sie abblieb.

Sie machte sich in Windeseile fertig und packte. Als sie im leichten Jackenkleid vor dem Spiegel stand, schaute ihr eine fremde junge Frau entgegen. Sie hatte Ähnlichkeit mit der alten Nicola. Doch das glückliche Lächeln um den Mund war neu.

Einen Moment lang zögerte sie, das Haar hochzustecken, weil sie sich mit Herzklopfen daran erinnerte, wie Dominic damit gespielt hatte. Aber dann tat sie es doch, weil es einfach praktischer war. Voller Vorfreude stürmte sie nach unten.

Der Frühstücksraum lag nach Osten, war freundlich und hell. An drei oder vier Tischen saßen Gäste. Von Dominic keine Spur.

Sie war also schneller als er gewesen. Er würde staunen, wenn er gleich käme. Sie holte sich einen Fruchtsaft und ein Stück Gebäck vom Buffet und setzte sich an einen Tisch mit zwei Stühlen. Als der Kellner kam, bestellte sie Kaffee.

Während sie wartete, knabberte sie an dem Croissant und trank zwei Tassen Kaffee. Dann ging sie nach oben und klopfte an Dominics Tür.

Keine Antwort.

Wahrscheinlich war er unter der Dusche. Sie klopfte stärker, doch niemand öffnete. Während sie noch unentschlossen auf dem Flur herumstand, kam ein Zimmermädchen mit Reinigungswagen und frischer Bettwäsche und öffnete das Zimmer 54. So erfuhr Nicola, dass Dominic es bereits geräumt hatte. Wahrscheinlich bezahlte er gerade die Hotelrechnung.

Sie holte rasch ihr Gepäck und nahm den Fahrstuhl zum Foyer. Dort herrschte reges Treiben. Auch der stiernackige Mensch saß dort wieder herum. Nur Dominic konnte sie nicht entdecken. Also fuhr sie in die Tiefgarage, um Tasche und Koffer in ihrem Wagen zu verstauen. Danach schaute sie sich um, wo Dominic gestern Abend seinen Sportwagen geparkt hatte. Er war verschwunden.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube.

Er konnte doch nicht einfach grußlos abgefahren sein!

Sie eilte zurück zur Rezeption. „Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?“, fragte sie.

Der Empfangschef reichte ihr einen Umschlag. „Entschuldigung, gnädige Frau. Der hätte Ihnen schon mit der Rechnung übergeben werden müssen.“

Nicola ließ sich atemlos in einen Sessel fallen und riss den Umschlag auf. Die Handschrift auf dem Hotelbriefpapier war klar und schwungvoll.

Berufliche Verpflichtungen zwingen mich zum frühen Aufbruch. Du hast so friedlich geschlafen, dass ich Dich nicht stören wollte.

Hab eine gute Reise! Ich freue mich, Dich in Venedig wiederzusehen.

Dominic

Er freute sich auf ein Wiedersehen? Aber er wusste doch gar nicht, wo sie wohnte. Und sie kannte seine Adresse nicht. Wie sollten sie sich denn in Venedig wieder finden?

Nicola starrte auf das Blatt Papier. Es dämmerte ihr, dass er sich einfach davongemacht hatte. Warum sonst enthielt dieser Brief nicht wenigstens eine Telefonnummer?

Unglücklich biss sie sich auf die Unterlippe.

Ihr ganzes Leben war sie übervorsichtig und zurückhaltend gewesen, nur gestern Nacht nicht. Und prompt bekam sie die Rechnung dafür.

Sie hatte sich wie eine Idiotin benommen. Sie hatte geglaubt, dass diese Nacht auch für Dominic etwas Besonderes war. Ja, sie hatte sogar von Liebe fantasiert. Doch ihm bedeutete sie nichts.

Er hatte routiniert den guten Liebhaber gespielt. Er sah gut aus. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass sich ihm Frauen an den Hals warfen, und ließ einfach keine Gelegenheit aus.

Wieder erinnerte sie sich an die Szene in der Tür, an die Sekunde, in der er gezögert hatte, sich auf sie einzulassen. Vielleicht verachtete er sie sogar. Sie hätte im Erdboden versinken mögen vor Scham.

Ob er verheiratet war?

Sie hatte ihn nicht danach gefragt und zweifelte daran, dass er die Wahrheit zugegeben hätte.

Wahrscheinlich hatte er Frau und Kinder. Er war Halbitaliener und lebte in Italien. Dort heirateten die Leute ziemlich jung, und er musste so um die dreißig sein.

Am liebsten hätte sie den Brief in den nächsten Papierkorb geworfen, doch sie legte ihn in ihre Handtasche. Er war das Einzige, was sie von Dominic hatte – außer ihren Erinnerungen.

Es war ein wunderschöner Frühsommertag, aber ihre Vorfreude auf die Reise war verflogen. Bedrückt und beschämt verließ sie Innsbruck und fuhr gen Süden.

Immer wieder sagte sie sich, dass es sinnlos war, Gedanken an Dominic Loredan zu verschwenden. Doch sie konnte es nicht lassen.

Nur der Blick auf die malerische Landschaft während der Fahrt über den Brenner lenkte sie ein wenig ab. Danach wollte sie sich mit Musik betäuben. Sie erwischte eine CD mit dem Klavierkonzert von Rachmaninow, dessen Klangwelt ihre Pflegeeltern als zügellos bezeichnet hatten. Sie geriet ins Träumen.

Bereits in der Morgendämmerung war sie schon einmal aufgewacht. Sie ruhte in Dominics Armbeuge, ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Er lag mit geöffneten Augen auf dem Rücken. Überglücklich, weil er bei ihr war, kuschelte sie sich an ihn. Er zog sie enger zu sich und legte eine Hand auf ihre Brust.

Sofort begann ihr Herz zu klopfen. Sie streichelte seinen Oberkörper und ertastete die Muskeln unter der glatten, sonnengebräunten Haut. Als sie hörte, dass er den Atem scharf einzog, erwachte in ihr das Verlangen, ihm zurückzugeben, was er ihr geschenkt hatte. Sie wurde mutig und schob ihre Hand langsam weiter nach unten über seinen flachen Bauch.

Er drehte den Kopf und presste die Lippen auf ihr Haar. „Wenn du so weitermachst, bekommst du es mit einem Problem zu tun“, flüsterte er.

Sie hatte in der Liebe noch nie gespielt, doch nun nahm sie die Herausforderung an. „Von welchem Problem sprichst du?“

„Von einem großen Problem.“

„Damit werde ich fertig.“

Kaum hatte sie das gesagt, war er über ihr und drückte sie in die Kissen. „Bist du sicher?“, fragte er zärtlich.

Was dann geschehen war, ließ Nicola wieder erglühen. Doch die Erinnerung an das Vergnügen, das sie einander bereitet hatten, erzeugte nicht nur die Hitze der Leidenschaft, sondern auch brennende Schamgefühle.

Am Nachmittag erreichte sie Venedig. Nach der Fahrt über die Ponte della Liberta hatte ihre Fahrt auf der Piazzale Roma ein Ende. Hier musste jeder sein Auto abstellen. Nicola wusste nicht, wohin sie sich orientieren sollte. Deshalb hielt sie in einer Parkbucht und beobachtete das Treiben.

Busse kamen an und fuhren ab. Der Platz war brechend voll mit Menschen und gesäumt mit Ständen, an denen man Reiseproviant und Erfrischungen kaufen konnte. Es war heiß, laut, staubig. Es stank nach Abgasen und gebratenen Zwiebeln.

„Du englisch? Machen Ferien?“, rief jemand durch das geöffnete Autofenster. Es war ein elf- oder zwölfjähriger Junge in einem verwaschenen T-Shirt und mit Turnschuhen an den bloßen Füßen.

Nicola nickte.

„Ich passe auf Koffer. Du parken Auto. Dann ich zeige dir Schiff. Vaporetto!“

Sollte sie diesem Bengel ihr Gepäck anvertrauen? Oder verschwand er damit, sobald sie ihm den Rücken zukehrte?

Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. „Du sprichst sehr gut Englisch.“

„Ich lerne von Frau von mein Cousin. Sie hat lange gelebt in Amerika. Tu Koffer dorthin!“ Er zeigte auf den Bürgersteig neben sich. „Ich warte.“

Alles Wertvolle, was sie bei sich hatte, befand sich in ihrer Reisetasche. Sie riskierte also wenig, wenn sie den Koffer hierließ. Es wäre eine Wohltat, ihn auf dem Rückweg vom Parkhaus nicht durch die Hitze schleppen zu müssen.

Er sah, dass sie noch schwankte. „Ist okay. Ich nicht stehlen.“

„Wie heißt du?“

„Carlo Foscari“, antwortete er prompt.

Nicola stieg aus und strich sich den Rock glatt. Als sie aufschaute, bemerkte sie einen Mann, der sich dicht neben ihr aufgepflanzt hatte. Er war unrasiert und starrte sie an.

Sie erinnerte sich an Sandys Worte über italienische Männer und tat, als ob sie ihn nicht bemerkte.

Nachdem sie den schweren Koffer zu Carlo geschleppt und abgesetzt hatte, war der Kerl schon verschwunden.

Sie holte einen Geldschein aus ihrer Tasche, riss ihn in der Mitte durch und gab eine Hälfte dem Jungen.

Er grinste und stopfte das Papier in die Hosentasche. „Du mir nicht trauen.“

Sie lächelte. „Würdest du Vertrauen haben, wenn du an meiner Stelle wärst?“, fragte sie auf Italienisch.

Er sch...

Autor

Lee Wilkinson

Lee Wilkinson wuchs im englischen Nottingham als einziges Kind sehr liebevoller Eltern auf. Nach dem Abschluss auf einer reinen Mädchenschule versuchte sie sich in verschiedenen Berufen, u.a. war sie Model für Schwimmbekleidung. Mit 22 traf sie Denis. Sie heirateten ganz traditionell in Weiß, verbrachten ihre Flitterwochen in Italien und...

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