Julia Winterträume Band 13

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  • Erscheinungstag 06.11.2018
  • Bandnummer 0013
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711795
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cindi Myers, Natasha Oakley, DonnaAlward

JULIA WINTERTRÄUME BAND 13

1. KAPITEL

Liebe und Ski fahren passen nicht zusammen. Maddie Alexander erinnerte sich an diesen Rat einer älteren, zynischen Kollegin, während sie vor der Skihütte der Pistenwacht von Crested Butte beobachtete, wie sich ein klassischer Skiunfall anbahnte.

Eine Blondine in rosafarbener Skikleidung versuchte, die Aufmerksamkeit eines dunkelhaarigen Skifahrers auf sich zu lenken.

Die Sonne, die für Januar milden Temperaturen und der Umstand, dass Ferien waren, hatten für einen regelrechten Ansturm auf die Pisten gesorgt.

Weil die Blonde nur noch Augen für den attraktiven Dunkelhaarigen hatte, achtete sie nicht darauf, wo sie hinfuhr, und geriet auf die Buckelpiste. Dort ruderte sie wie wild mit den Armen, um ihr Gleichgewicht zu halten, doch vergebens. Sie segelte schwungvoll über einen steilen Hügel und landete unbeholfen auf dem Rücken, während das Objekt ihrer Begierde ebenso nichts ahnend wie elegant weiterwedelte.

Unwillkürlich stiegen in Maddie Erinnerungen an andere Unfälle auf, die sie beobachtet hatte. Selbst das größte Unglück konnte so harmlos beginnen: In der einen Minute war noch alles in bester Ordnung, in der nächsten bestand die Welt nur noch aus Schmerzen und Leid.

Maddie stieg in ihre Skier und fuhr schnell zu der Frau, die stöhnend auf dem Rücken lag. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Maddie.

„Mein Knie.“ Die Blonde versuchte sich aufzusetzen, sank jedoch sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück in den Schnee. „Ich glaube, ich habe mich am Knie verletzt.“ Sie gab einige Flüche von sich, bevor sie wieder vor Schmerzen stöhnte.

Die Art und Weise, wie das Bein der jungen Frau verdreht war, ließ tatsächlich nichts Gutes ahnen.

Maddie öffnete die Bindungen ihrer Skier und stellte sie in Form eines X einige Meter hügelaufwärts. Dann drückte sie die Sprechtaste ihres Funkgeräts, um Verstärkung anzufordern. „Ich brauche auf der Resurrection-Abfahrt einen Ackja“, erklärte sie. „Hier liegt eine Frau mit einer Knieverletzung.“

„Ich schicke dir Hagan“, kündigte Scott Adamson an, der heute für die Funkzentrale verantwortlich war.

Maddie runzelte die Stirn. Natürlich musste ihr ausgerechnet der Kollege zugeteilt werden, den sie am wenigsten leiden konnte. Nicht, dass Hagan Ansdar nicht ein hervorragender, erfahrener Skifahrer und Lebensretter war. Aber leider gehörte er zu jenen Männern, die sich ihrer Qualitäten zu sehr bewusst waren. Ganz besonders gegenüber dem weiblichen Geschlecht.

Sie kniete sich neben die Blondine. „Können Sie Ihr rechtes Bein bewegen?“

Die Frau schüttelte den Kopf, ohne auch nur den Versuch zu machen.

„Und was ist mit dem linken?“, fragte Maddie. Das linke Bein schien unverletzt, doch mit Sicherheit ließ sich das in der wattierten Skihose nicht sagen.

Wieder schüttelte die Frau nur den Kopf. „Ich will es gar nicht probieren, bestimmt tut es weh.“ Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig, und Tränen flossen ihre Wangen hinunter. „Jetzt ist mein ganzer Urlaub ruiniert!“, heulte sie.

Maddie unterdrückte ein Stöhnen. Wie war sie nur hier gelandet! Noch vor Kurzem hatte sie zu den besten Skirennläuferinnen ihres Landes gehört, und plötzlich stand sie hier und musste hysterische Skihäschen trösten. Sie versuchte, die Verletzte von ihren Schmerzen abzulenken, doch eigentlich hätte sie ihr am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Doch bevor es dazu kam, hörte die Frau plötzlich auf zu weinen und zauberte, nur Sekunden bevor Hagan Ansdar mit einem eleganten Schwung neben ihr landete, ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.

Maddie hatte sich zwar geschworen, seinem Charme nicht zu erliegen, doch einfach war das nicht. Groß, blond, breitschultrig – ein Mann wie ein Wikinger.

„Was liegt an?“, fragte er mit noch stärkerem norwegischem Akzent als üblich.

„Wahrscheinlich eine Verletzung des Meniskus oder des vorderen Kreuzbands.“

Hagan zog eine Augenbraue hoch. „Ich wusste gar nicht, dass du Medizin studiert hast.“

Maddie errötete. Natürlich war das nicht mehr als die übliche Frotzelei zwischen Kollegen, aber irgendwie wurmte es sie trotzdem. „Habe ich auch nicht. Aber ich hatte schon oft genug mit Skiverletzungen zu tun, um einen Klassiker wie diesen zu erkennen, wenn ich ihn sehe.“

Auch wenn sie das jüngste Mitglied der Pistenwacht von Crested Butte war: In zehn Jahren im Skiweltcup hatte sie eine ganze Reihe spektakulärer Unfälle miterlebt. Vor fünf Jahren hatte sie sich auch selbst einmal eine Kreuzbandverletzung zugezogen. Schon bei dem Gedanken daran begann ihr Knie zu pochen. „Außerdem habe ich den Sturz beobachtet.“

Hagan kniete sich neben die Blondine und nahm ihre Hand. „Hallo“, sagte er mit einer Stimme, die Eis zum Schmelzen bringen konnte. „Ich bin Hagan. Und wie heißen Sie?“

Die Augen der Frau wurden immer größer, während sie den nordischen Gott näher betrachtete, der da gerade zu ihrer Rettung geeilt war. „Hi“, sagte sie strahlend. „Ich bin Julie.“

„Sie haben also Schmerzen im Knie, Julie?“

„Ja, im rechten Knie.“ Sie sah auf ihr abgeknicktes Bein hinunter.

„Tut Ihnen sonst noch etwas weh?“ Vorsichtig betastete Hagan ihr Bein und untersuchte es gründlich.

Nach Maddies Auffassung zu gründlich.

Doch Julie schien das nicht zu stören. Sie klapperte mit den Augenlidern und hauchte: „Nein, nur das Knie, glaube ich. Aber irgendwie ist mir schwindlig.“

„Sie sind schwer gestürzt.“ Hagan legte eine Hand stützend auf Julies Hinterkopf und fasste ihr mit der anderen ans Handgelenk, um ihren Puls zu überprüfen. „Es ist nur natürlich, dass Sie das Gefühl haben, keine Luft zu bekommen.“

Julie nickte. Ihre Aufmerksamkeit war völlig auf Hagan fixiert. Es war, als würde Maddie gar nicht existieren.

Maddie schüttelte den Kopf und begann, den Ackja für Julies Abtransport bereit zu machen.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Hagan. „Wie sind Sie gestürzt?“

„Ich weiß nicht. Ich fuhr ganz normal, und plötzlich bin ich hingefallen.“

Maddie versuchte, ein abfälliges Schnauben zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht ganz.

Hagan sah sie streng an. „Gib einen Funkspruch an das Krankenhaus durch, dass wir ihnen eine junge Frau mit einer Knieverletzung bringen“, befahl er Maddie.

Sie gehorchte. Anschließend brachte sie den Ackja unmittelbar neben Julie in Position und legte die Verletzte gemeinsam mit Hagan hinein.

Er sicherte Julie mit Gurten und breitete fürsorglich eine Decke über sie. „Ist alles in Ordnung? Liegen Sie bequem?“, fragte er.

Julie strahlte ihn an. „Oh ja. Vielen Dank!“

Als Maddie gerade dachte, sie könne diesen unsinnigen Dialog nicht mehr länger ertragen, hielten Scott und ein anderer Kollege, Eric, mit dem Schneemobil neben ihnen, um den Ackja damit ins Tal zu befördern. „Scott und ich bringen sie hinunter und dann gleich ins Krankenhaus“, erklärte Eric. „Ich muss ohnehin in einigen Minuten an der Talstation sein.“

Maddie half noch, Julies Skier auf dem Schneemobil zu verstauen, dann fuhren Eric und Scott los, den Ackja im Schlepptau. Maddie und Hagan würden ihnen auf Skiern folgen, um die Formalitäten zu erledigen.

„Das wird schon wieder“, meinte Hagan, als sich das Schneemobil entfernte.

„Natürlich.“ Und Julie würde zweifellos der ganzen Welt von dem großen Helden vorschwärmen, der sie aus ihrer Not gerettet hatte. „Bilde ich mir das eigentlich nur ein, oder wird dein Akzent stärker, wenn du mit einem hübschen Mädchen sprichst?“

Hagan drehte sich um und musterte sie prüfend von Kopf bis Fuß.

Maddie machte sich auf einen ironischen Kommentar über ihr eigenes Äußeres gefasst. Gut, sie war sicher nicht hässlich, aber eben auch kein Glamour-Girl wie diese Julie. In den Jahren, in denen sie als Profi im Skizirkus unterwegs gewesen war, hatte immer alles schnell gehen und praktisch sein müssen. Deshalb verwendete sie selten Make-up und trug ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Doch Hagan lästerte nicht. Stattdessen verzogen sich seine Mundwinkel zu etwas, was man beinahe für ein Lächeln halten konnte und was ihn nur noch attraktiver machte. Schließlich sagte er: „Das musst du dir einbilden.“

Irgendwie warf sie diese locker ausgesprochene, so offensichtliche Lüge innerlich aus der Bahn. So wie vieles andere an diesem Mann. Schon an ihrem ersten Arbeitstag hatten drei Kolleginnen aus dem Team Bemerkungen darüber fallen lassen, dass Hagan ein Frauenheld war. Sie sagten es ohne Kritik und mit der freundlichen Nachsicht, die ältere Schwestern gegenüber einem übermütigen jüngeren Bruder an den Tag legen. Außerdem hatten die Kolleginnen erwähnt, dass er sich ausschließlich um Touristinnen bemühte, die nicht lange im Ort blieben. Sie, Maddie, bräuchte sich daher keine Hoffnungen zu machen.

Als ob sie Interesse an ihm hätte! Sie wusste alles über Playboys auf Skiern. In ihrer ersten Saison als Skiprofi hatte ihr ein Österreicher beinahe das Herz gebrochen. Später behauptete er Journalisten gegenüber, mit jeder Rennläuferin des US-Olympiateams geschlafen zu haben.

Schon schlimm genug, dass sie bei der Pistenwacht arbeiten musste. Da brauchte sie nicht auch noch Typen wie Hagan um sich.

Maddie holte sich ihre Skier, die noch immer einige Meter entfernt als X im Schnee steckten.

„Was waren das eigentlich für merkwürdige Töne von dir, als ich Julie gefragt habe, wie der Unfall passiert ist?“, erkundigte sich Hagan, während beide in ihre Skier stiegen.

„Sie hat behauptet, sie wisse es nicht. Aber in Wirklichkeit hat sie einem dunkelhaarigen Skifahrer schöne Augen gemacht und konnte sich deshalb nicht auf die Piste konzentrieren.“

„Und ich dachte immer, es sind die Männer, die den Frauen hinterherstarren, nicht umgekehrt.“

Pah! Als wüsste er nicht genau, dass er – wo immer er auftauchte – sofort im Mittelpunkt des weiblichen Interesses stand.

Hagan stieß sich ab und begann zügig mit der Abfahrt ins Tal.

Maddie nahm die Herausforderung an. Er mochte vielleicht längere Beine haben, aber sie war sicher, dass niemand bei der Pistenwacht so schnell fahren konnte wie sie.

Tatsächlich gelang es ihr bald, Hagan zu überholen. Was gab es Schöneres, als im Geschwindigkeitsrausch über den Schnee zu gleiten! Elegant wich sie anderen Skifahrern auf der Strecke aus und erreichte die Talstation mit einigem Vorsprung gegenüber Hagan.

Maddie erwartete ihn mit einem triumphierenden Grinsen, mit einem Scherz über seine Langsamkeit auf den Lippen.

Doch sein finsterer Gesichtsausdruck brachte sie zum Schweigen. „Glaubst du eigentlich, dass du hier immer noch auf der Rennstrecke bist? Wir von der Pistenwacht nehmen den Leuten ihre Skipässe ab, wenn wir sie bei dem Tempo erwischen. Damit gefährdest du nicht nur dich, sondern auch andere Skiläufer.“

Die Kritik war berechtigt. Trotzdem traf Hagan sie hart. Als hätte Maddie es nötig, sich von diesem Don Juan auf Skiern belehren zu lassen. „Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, dass ich keine Rennläuferin mehr bin“, fauchte sie. „Es besteht keine Gefahr, dass ich das so schnell vergesse.“ Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, war es das Erste, woran sie dachte. Ihr Lebensziel war für immer außerhalb ihrer Reichweite gerückt – durch eine einzige falsche Bewegung auf einer eisigen Piste in der Schweiz.

„Ich habe dich nur höflich darauf hingewiesen, dass du nicht so schnell fahren solltest, das ist alles.“ Hagans Stimme klang erstaunlich sanft.

Maddie senkte den Kopf. Seine Freundlichkeit war noch schwerer zu ertragen als der Tadel zuvor. Aber sie musste zugeben, dass er recht hatte. Sie war wirklich nicht auf einer Rennstrecke. „In Zukunft werde ich vorsichtiger sein.“

Nicht zum ersten Mal hatte sie durch ihre Impulsivität ihr Ziel aus den Augen verloren und sich falsch verhalten. Nur hatte sie gedacht, das liege endgültig hinter ihr. Aber offenbar gab es Dinge, die man nie lernte.

Hagan betrachtete sie schweigend. Er hielt sich im Umgang mit Frauen für einen Experten, doch Maddie Alexander war noch sprunghafter in ihren Launen als die meisten anderen weiblichen Wesen. Binnen weniger Minuten hatte ihre Stimmung von genervt über scherzend zu trotzig und nun zerknirscht gewechselt.

Als neuestes Mitglied der Pistenwacht hatte Maddie die harmlosen Frotzeleien ihrer Kollegen gelassen über sich ergehen lassen, aber irgendeine seiner Äußerungen – oder vielleicht auch bloß seine Existenz – schien sie auf die Palme gebracht zu haben.

„Was genau ist es, das du an mir nicht leiden kannst?“, wollte er schließlich wissen, während sie ihre Skier abschnallten und schulterten.

Überrascht wandte sich Maddie zu ihm um. „Mach dich nicht lächerlich. Ich kenne dich doch gar nicht gut genug, um dich nicht leiden zu können.“

Hagan ging ihr nach und holte sie ein, als sie ihre Skier neben dem Krankenhauseingang in den Skiständer stellte. Er hielt ihr die Tür auf und ließ sie vor sich eintreten.

Maddie murmelte ein „Dankeschön“ und glitt an ihm vorbei. Dabei passte sie auf, dass sie ihn nicht versehentlich berührte.

„Dann solltest du mich vielleicht besser kennenlernen.“

Schon während er diesen Satz sagte, wurde ihm klar, dass das der falsche Ansatz gewesen war, wenn er mit Maddie Frieden schließen wollte.

Prompt drehte sie sich um und stapfte los in Richtung Krankenhaus, das unmittelbar bei der Talstation am Fuße des Berges gelegen war.

Als er ihr nachblickte, fiel ihm zum ersten Mal auf, was für eine makellose Figur und welchen eleganten Gang sie hatte. Mit Sicherheit war sie als Skirennläuferin eine Klasse für sich gewesen.

Unwillig schüttelte Hagan den Kopf, wie um ihr Bild loszuwerden. Auch wenn Maddie noch so gut aussah – sie war eine Kollegin, also jemand, den er jeden Tag sehen würde und der zudem auch noch in Crested Butte wohnte. Damit schied ein Date mit ihr aus. Er hatte schon vor Jahren gelernt, dass er sich am besten an die Touristinnen hielt, wenn er nur kurze, belanglose Affären wollte.

Na schön, dann brauchte er sich wenigstens nicht in Acht davor zu nehmen, dass er vielleicht doch noch Interesse für sie entwickeln könnte. Aus irgendwelchen Gründen wollte sie anscheinend nichts mit ihm zu tun haben. Das war zwar nicht die übliche Art, wie Frauen auf ihn reagierten, aber er konnte damit leben.

Auch wenn es ihn irgendwie störte.

Der Portier wies ihnen den Weg in das Untersuchungszimmer, in dem sich Julie befand. Sie saß auf einer Liege, ihr Knie in Handtücher und Eis gewickelt.

Hagans Freund, Dr. Ben Romney, sah sich gerade ihre Röntgenbilder an. „Sie haben einen kleinen Meniskusriss, aber das kommt wieder in Ordnung. Wahrscheinlich müssen wir Sie noch nicht einmal operieren.“

„Dank Hagan“, flötete Julie. „Bestimmt wäre es viel schlimmer geworden, wenn er nicht so schnell gekommen wäre.“

Hagan lächelte etwas gezwungen. Julie war hübsch, trug teure Kleidung und himmelte ihn offensichtlich an. Aber mit ihrem verletzten Knie würde sie in den nächsten Wochen nicht besonders mobil sein. Außerdem schreckte er davor zurück, Frauen näherzukommen, die sich während seiner Dienstzeit verletzt hatten. Obwohl er seinen Job sonst durchaus nutzte, um Frauen kennenzulernen.

Vielleicht hielten manche Menschen – unter ihnen bestimmt auch Maddie – das für eine merkwürdige Art von Moral, doch er legte die Regeln selbst fest, nach denen er lebte, und das war eine davon.

Ben ließ Julie in der Obhut einer Krankenschwester und forderte Hagan und Maddie mit einer Handbewegung auf, ihm in sein Büro zu folgen. „Sieht aus, als hättest du gerade eine neue Eroberung gemacht“, sagte er grinsend zu Hagan, nachdem er die Bürotür hinter sich geschlossen hatte.

Hagan schüttelte den Kopf. „Bestimmt bricht sie den Urlaub ab, jetzt, wo sie verletzt ist.“ Er ließ sich in einen der beiden Sessel vor Bens Schreibtisch fallen. „Kennst du Maddie schon? Sie ist neu in unserem Team.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Maddie!“ Ben streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Ben. Ben Romney.“

„Angenehm. Ich bin Maddie.“

„Was führt dich zur Pistenwacht?“

„Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Und der Job bei der Pistenwacht klang spannend.“

Hagan war bewusst, dass diese Erklärung bestenfalls die Spitze des Eisbergs sein konnte. Warum sollte sich eine ehemalige Weltklasse-Sportlerin in einen abgelegenen Skiort in Colorado zurückziehen, um dort die Babysitterin für Touristen zu spielen, wenn sie genauso gut einen hoch bezahlten Job als Beraterin eines Skiherstellers, als Werbeträgerin für eine Skimode-Marke oder als Trainerin annehmen konnte?

„Maddie war Skirennläuferin, bevor sie zu uns gekommen ist. Sie fuhr im Weltcup und war eine heiße Kandidatin für die Olympia-Teilnahme“, erläuterte er seinem Freund Ben. Offenbar hatte sie das Skiteam nach einem schweren Unfall verlassen, aber er kannte keine Einzelheiten.

Ben beugte sich interessiert vor. „Wie heißt du denn mit Nachnamen?“

Maddie sah unglücklich zu Hagan. Aber warum störte es sie so, dass er ihre Vergangenheit erwähnte? Schließlich war die Geschichte kein Geheimnis. Wahrscheinlich hatten Millionen von Menschen ihren Sturz im Fernsehen live verfolgt. „Alexander. Maddie Alexander.“

„Maddie Alexander! Selbstverständlich habe ich schon von dir gehört! Vor allem natürlich in der Sportberichterstattung. Aber dein Fall wurde auch in einigen medizinischen Fachzeitschriften beschrieben. Dein Schienbein wurde mit Titanschrauben fixiert, und du hast ein künstliches Hüftgelenk bekommen, richtig?“

Maddie nickte tapfer, doch alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie wirkte, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Als Hagan das sah, sprang er auf und schob ihr einen Sessel hin. „Setz dich“, befahl er. Während Maddie gehorchte, warf er seinem Freund einen missbilligenden Blick zu.

Ben wurde rot, als er bemerkte, welche Wirkung seine Ausführungen auf Maddie hatten. „Entschuldige bitte, ich vergesse immer wieder, dass Unfallchirurgie nicht für jeden so aufregend ist wie für mich. Heather muss mich regelmäßig daran erinnern, dass sie nicht wild darauf ist, beim Essen über Operationen zu sprechen.“

„Eine weise Frau“, befand Hagan grinsend. Vor allem, weil Heather sich nach einem kurzen Abenteuer mit ihm im letzten Sommer dann doch für Ben entschieden hatte, der sich viel liebevoller um sie kümmerte, als er, Hagan, das je gekonnt hätte.

Es klopfte kurz an der Tür, bevor eine Krankenschwester den Kopf hereinsteckte und ankündigte, dass Julie entlassen werden konnte, sobald der Arzt die Papiere unterzeichnet hatte.

„Wir sollten auch besser zurück an die Arbeit gehen“, meinte Hagan.

Maddie stand auf.

„War nett, dich kennenzulernen“, sagte Ben. „Willkommen bei uns in Crested Butte.“

„Danke.“ Sie lächelte freundlich.

Hagan spürte einen kurzen Impuls von Eifersucht, weil sie ihn noch nie so liebenswürdig angesehen hatte.

Aber das hieß wahrscheinlich nur, dass sein Ego wirklich überdimensional entwickelt war. Schließlich wollte er ja nichts von Maddie. Doch es gab keinen Grund, weshalb sie nicht Freunde werden sollten.

Sie folgten Ben hinaus in die Aufnahme des Krankenhauses, wo Julie schon mit einem Paar Krücken wartete. „Oh, Hagan, wärst du so nett, mir hinaus zum Wagen meiner Freundin zu helfen?“, zwitscherte sie.

„Sicher.“ Hagan nahm ihr eine der Krücken ab, und Julie stützte sich auf ihn statt auf die Krücke.

Nachdem sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, drückte sie ihm einen Zettel in die Hand. „Ruf mich an“, flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor sie ihn zum Abschied auf die Wange küsste.

Hagan steckte den Zettel wortlos in die Tasche und schloss die Tür hinter ihr.

„Ich gehe schon mal vor und fülle den Bericht aus“, kündigte Maddie an, während sie ihre Skier aus dem Skiständer holte. „Du kannst ihn ja später noch ergänzen, wenn du willst.“

Ben stellte sich neben Hagan. „Was hast du ihr getan?“, fragte er.

„Nichts.“

Bens Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er Hagan nicht glaubte. „Aber du stehst auf sie, richtig?“

Hagan warf ihm einen grimmigen Blick zu. „Du weißt genau, dass ich mich von den Einheimischen fernhalte.“

„Hm.“ Ben sah nachdenklich in die Richtung, in der Maddie verschwunden war. „Möglicherweise ist sie eifersüchtig auf dich und Julie.“

„Unwahrscheinlich.“ Er würde es merken, wenn Maddie an ihm interessiert wäre. Oder?

„Vielleicht solltest du deine Regel, dich von den Einheimischen fernzuhalten, ausnahmsweise einmal vergessen“, schlug Ben vor. „Sie sieht gut aus, fährt zweifellos hervorragend Ski und ist wie du bei der Pistenwacht. Das wäre doch eine tolle Frau für dich!“

„Nicht mein Typ“, brummte Hagan. Sicher, Maddie war attraktiv und hatte eine interessante Lebensgeschichte, aber für seinen Geschmack war sie zu unausgeglichen und zu leicht reizbar. Abgesehen davon fühlte er sich in ihrer Gegenwart nervös und unbehaglich. „Ich halte mich lieber an die Touristinnen.“ Seine Strategie, unverbindliche Beziehungen einzugehen, um emotionale Verwicklungen auszuschließen, hatte sich in den vergangenen zehn Jahren als äußerst erfolgreich erwiesen. Es gab keinen Grund, daran etwas zu verändern.

„Wenn du glaubst, dass du es auf Dauer vermeiden kannst, dich zu verlieben, bist du schiefgewickelt. Eines Tages kommt auch für dich die Richtige. Denk nur an Max!“

Hagans bester Freund Max Overbridge wollte im Frühling, sobald der Schnee geschmolzen war, seine Freundin Casey Jernigan heiraten. Hagan hatte sich bereits als Trauzeuge verpflichten müssen. „Der Unterschied zwischen mir und Max besteht darin, dass er sich verlieben wollte, egal was er sagt. Aber das gilt nicht für mich.“

Für ihn war die Ehe ein goldener Käfig. Eine Illusion, die einem Mann ewiges Glück vorgaukeln sollte. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Das hatte er am eigenen Leib schmerzlich erfahren müssen, und diese bittere Erfahrung reichte ihm. So etwas wollte er auf keinen Fall noch einmal erleben.

2. KAPITEL

Maddie füllte den Unfallbericht aus und legte ihn in Hagans Fach, damit er ihn unterschreiben und gegebenenfalls ergänzen konnte, wenn er das Gefühl hatte, dass etwas fehlte. Sollte er Fragen haben, konnte er ja über Funk mit ihr Kontakt aufnehmen, aber sie würde hier sicher nicht auf ihn warten, wie er es bestimmt von seinen Skihäschen gewohnt war.

Sie hatte von mehreren Seiten gehört, dass er seinen Job hervorragend machte, doch deshalb musste sie ihn trotzdem nicht mögen. Wenn ihr Leben irgendwann wieder geordnet und ihr nach einer Beziehung sein sollte, dann auf keinen Fall mit einem Frauenhelden wie Hagan. Am besten hielt sie sich bei der Arbeit von ihm fern, so gut es ging.

Als sie das Büro verlassen wollte, kam gerade ihre Kollegin und Mitbewohnerin Andrea Dawson herein. Sie war ähnlich klein wie Maddie, und ihre glatten, schwarzen Haare und die mandelförmigen Augen verrieten ihre asiatische Herkunft. Andrea stammte ursprünglich aus China, war aber schon als Baby von einem Paar aus Crested Butte adoptiert worden und deshalb sozusagen auf Skiern aufgewachsen.

„Hast du etwas Dringendes vor?“, erkundigte sich Andrea.

Maddie schüttelte den Kopf. „Nein, wieso, was liegt an?“

„Ich habe gerade gehört, dass einige Snowboarder drüben auf der Phoenix-Abfahrt die gesicherte Piste verlassen haben. Ich muss hin, um sie zurückzuholen, und könnte Verstärkung gebrauchen.“

„Sicher.“ Die ungesicherten Pistenabschnitte waren mit gelben Seilen unmissverständlich abgesperrt, doch es gab immer Menschen, die glaubten, dass solche Regeln für sie nicht galten, und einfach unter den Seilen durchkrochen.

„Ich hasse diesen Teil unseres Jobs“, sagte Andrea, während sie gemeinsam mit dem Silver-Queen-Lift bergauf fuhren. „Dafür, dass man den Typen das Leben rettet, muss man sich auch noch blöd anquatschen lassen. Wenn sie keine Lawinen auslösen würden, die auch Unbeteiligte unter sich begraben, könnten sie meinetwegen fahren, wo sie wollen. Wenn sie sich unbedingt umbringen wollen – bitte.“

Maddie lachte. „Wenn mir jemand frech kommt, dann zahle ich es ihm meistens mit gleicher Münze heim. Das ist eine wunderbare Möglichkeit, gleichzeitig noch privaten Frust abzulassen.“

„Wirklich? Wenn das so ist, werde ich dir gleich zusehen und versuchen, von dir zu lernen!“

„Vielleicht sind die Jungs ja vernünftig, und ich brauche gar nicht laut zu werden“, hoffte Maddie.

Doch Andrea lachte: „Haha, als ob das schon mal vorgekommen wäre.“

Oben am Berg sahen sie tatsächlich zwei Snowboarder in einer tiefen Rinne etwa hundert Meter jenseits der Absperrung.

Einer der beiden, er trug eine knallgrüne Pudelmütze, hatte sich mit seinem Anorak an einem tief hängenden Ast verhakt. Er versuchte sich zu befreien, während sein rot gekleideter Freund, der etwa fünfzig Meter weiter unten auf ihn wartete, ihn zur Eile drängte.

„Hast du ein Problem?“, fragte Maddie, als sie und Andrea etwas oberhalb der beiden zum Stehen kamen.

Der Junge mit der grünen Pudelmütze brummte mit finsterer Miene: „Nein, überhaupt nicht, ich komme schon zurecht.“

„Ihr befindet euch im Sperrgebiet“, klärte Andrea die beiden auf.

„Wirklich?“ Der Rote hatte seinen erstaunt-unschuldigen Gesichtsausdruck für solche Fälle wahrscheinlich vor dem Spiegel geübt. „Wir hatten schon überlegt, ob wir vielleicht irgendwie von der Piste abgekommen sind, aber wir waren nicht sicher.“ Er grinste entwaffnend. „Sorry.“

„Jungs, vergesst es. Wir haben die Spuren gesehen, wo ihr die Absperrung überquert habt. Direkt neben einem Verbotsschild“, erklärte Maddie.

„Na und, wo liegt das Problem?“, fragte die grüne Pudelmütze trotzig. „Wir tun doch niemandem etwas.“

„Noch nicht“, antwortete Andrea. „Aber es gibt einen Grund, weshalb dieses Gebiet abgesperrt ist. Hier herrscht nämlich höchste Lawinengefahr.“

„Und wenn ihr eine Lawine auslöst, müssen wir euch ausbuddeln, und das gehört nicht gerade zu unseren Lieblingsbeschäftigungen“, ergänzte Maddie.

„Das gehört nicht gerade zu unseren Lieblingsbeschäftigungen“, äffte Rotjacke sie nach.

Maddie sah kopfschüttelnd zu Andrea. „Ich fürchte, wir werden den beiden ihre Skipässe abnehmen müssen.“

„Außerdem kann in Fällen wie diesem ein Bußgeld von bis zu 1000 Dollar verhängt werden.“

„Dazu müsst ihr uns erst mal kriegen!“, rief Grünmütze, der sich inzwischen erfolgreich aus der Umklammerung des Astes befreit hatte, kämpferisch und stürzte sich in die Abfahrt.

„Okay, sie bekommen auch das Bußgeld aufgebrummt, so viel ist schon mal klar“, bemerkte Maddie forsch. Doch als sie den felsigen, fast vertikalen Abhang hinuntersah, wurde ihr etwas mulmig zumute.

Bestimmt war das Gefälle nicht steiler als die Pisten während ihrer Rennkarriere, doch schon bei dem Anblick bekam sie feuchte Hände, und ihr Herz begann zu rasen. Seltsam, wie sie in manchen Situationen von dem Schrecken ihres Sturzes eingeholt wurde. Sie konnte nur hoffen, dass das ein Ende hatte, wenn sie in ihrem neuen Job mehr Routine gewann.

„Wir brauchen ihnen nicht nachzufahren“, beruhigte sie Andrea, die ihre Angst bemerkt zu haben schien.

„Nicht?“ Maddie hoffte, dass sie ihre Erleichterung einigermaßen erfolgreich verbergen konnte.

Andrea schüttelte den Kopf. „Nein, diese Rinne führt direkt zur Bergstation des East-River-Lifts. Wir funken einfach nach unten, dass jemand sie dort abfangen soll.“ Sie nahm das Funkgerät aus ihrem Rucksack und gab eine Beschreibung der beiden Snowboarder an die Kollegen durch.

Anschließend schulterten Maddie und Andrea ihre Skier und verließen die Gefahrenzone zu Fuß.

Als sie zwanzig Minuten später unten ankamen, wo Rotjacke und Grünmütze sich mit Eric und Marcie unterhielten, wünschte sich Maddie einen Fotoapparat, um die verdutzten Gesichter der beiden festzuhalten.

Andrea lächelte sie freundlich an: „Scheint, als hätten wir euch doch noch eingeholt.“ Bevor die beiden etwas sagen konnten, zogen Maddie und Andrea Scheren aus ihren Rucksäcken und schnitten die Skipässe der Pistenrowdys ab. „Entweder kommt ihr mit uns, und wir erledigen den Papierkram in aller Ruhe, oder wir rufen die Polizei und lassen euch festnehmen“, erklärte ihnen Andrea die möglichen Alternativen.

„Mit welcher Begründung soll uns die Polizei festnehmen?“, fragte Grünmütze.

„Zum Beispiel für unbefugtes Betreten von Privatgrund oder für die Verletzung der Vorschriften über Vorsichtsmaßnahmen beim Skifahren“, antwortete Maddie. „Und wenn euch das noch nicht reicht, fällt uns bestimmt noch mehr ein.“

Die beiden Jungs sahen einander an und gestanden sich ihre Niederlage schließlich ein, sodass Eric sie mit dem Schneemobil ins Tal bringen konnte.

Nachdem Maddie und Andrea diese unangenehme Episode erfolgreich abgeschlossen hatten, war es halb vier Uhr, und die Lifte begannen zu schließen. Zu dieser Tageszeit war es Aufgabe der Pistenwacht, den gesamten Berg zu räumen, also alle Pisten abzufahren, um sicherzustellen, dass niemand dort zurückblieb.

Das war Maddies liebste Tageszeit, wenn sie, allein mit ihren Gedanken und einem Gefühl ungeheurer Freiheit, die verlassenen Hügel hinunterglitt. In diesen Momenten fühlte sie sich nicht wie eine unterbezahlte, überarbeitete Mitarbeiterin der Pistenwacht, sondern für einige Zeit wieder wie die hoch talentierte Rennläuferin, die alles erreichen konnte.

Bis Maddie alle ihr zugewiesenen Strecken abgefahren hatte und sich in den Umkleideraum schleppte, war es nach fünf. Sie fühlte sich angenehm müde und war zufrieden mit dem Verlauf des ersten Tages ihrer zweiten Woche bei der Pistenwacht. Es war zwar nicht gerade ein Traumjob, aber zumindest konnte sie hier Ski fahren, so viel sie wollte. Sie setzte sich neben Andrea auf die Bank und zog die Skistiefel aus.

„Im Eldo ist heute Abend eine Party. Kommst du mit?“, fragte Andrea.

„Was ist das Eldo?“

„Eine Bar unten im Ort, in der Elk Avenue. Die meisten von uns sind regelmäßig dort.“

Maddie schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht so richtig in Partystimmung.“

„Komm schon“, bettelte Andrea. „Willst du den ganzen Abend allein in der Wohnung verbringen und grübeln?“

„Wer sagt denn, dass ich grüble?“, wehrte sich Maddie, doch wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Andrea recht hatte.

„Du solltest ausgehen und ein paar Leute kennenlernen“, erklärte Andrea. „In dieser Stadt gibt es jede Menge gut aussehende Männer. Bei einigen von ihnen lohnt es sich, ihre Bekanntschaft zu machen.“

Ob Andrea von Männern wie Hagan Ansdar sprach? Maddie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sie wusste bereits alles über Hagan, was sie wissen musste. Er war ein Playboy, der sein attraktives Äußeres und seinen durchtrainierten Körper als Selbstverständlichkeit ansah und schamlos ausnutzte, um sich an Frauen heranzumachen.

„Gibt dir einen Ruck“, ließ Andrea nicht locker. „Wenn dir die Party keinen Spaß macht, kannst du immer noch mit dem Bus zurück nach Hause fahren.“

Gegen diesen Vorschlag konnte Maddie nichts sagen. Deshalb saß sie einige Minuten später neben Andrea in dem Gratis-Shuttlebus, der regelmäßig zwischen allen wichtigen Orten des Skigebiets und der Stadt Crested Butte verkehrte.

Die Hauptstraße von Crested Butte, die Elk Avenue, war links und rechts gesäumt von bunten Häusern, die entweder noch aus dem viktorianischen Zeitalter stammten oder dieser Periode nachempfunden waren.

Das Eldo befand sich im ersten Stock eines Gebäudes am Ende der Straße.

Maddie folgte Andrea die Treppe hinauf und durch die Glastür in einen Raum mit lärmender Musik, angeregten Gesprächen und dem Geräusch aufeinanderprallender Billardkugeln. In wie vielen solchen Bars rund um die Welt war sie mit ihren Skikollegen wohl schon gewesen?

Dieses Lokal unterschied sich in nichts von all den anderen – selbst die Frau mit Krücken in einer Ecke, der Mann mit der Knieschiene an der Bar und die merkwürdigen Wollmützen vieler Gäste waren ein vertrauter Anblick für Maddie. Das hier war ihre Welt. Und deshalb hatte sie sich auf den so wenig prestigeträchtigen Job bei der Pistenwacht eingelassen.

Während sie sich hinter Andrea an der Bar vorbeidrängte, winkte Maddie einigen bekannten Gesichtern zu. Nach zehn Tagen in der Stadt hatte sie schon einige Menschen kennengelernt. Trotzdem gab es mehr Leute, die sie kannten, als umgekehrt. Das hatte sie ihrer kurzen, aber steilen Karriere als Skirennläuferin zu verdanken. Wahrscheinlich vor allem dem Artikel in der Zeitschrift Sports Illustrated, in dem sie als größte Medaillenhoffnung der Vereinigten Staaten bei den Olympischen Winterspielen 2006 gehandelt worden war.

Doch statt 2006 in Turin auf dem Siegerpodest zu stehen, hatte sie – abwechselnd weinend und fluchend – in einem Krankenhausbett gelegen.

Sie schüttelte die Erinnerung ab und folgte Andrea zu mehreren zusammengeschobenen Tischen, an denen bereits Eric, Scott und einige andere Kollegen saßen. Auch Hagan war dabei, doch er saß mit zwei Snowboardern, die ihr Andrea als Max und Zephyr vorstellte, weiter unten am Tisch.

Scott füllte zwei Plastikbecher mit Bier aus einem Krug und reichte sie an Maddie und Andrea weiter. Eigentlich mochte Maddie Bier nicht besonders gern, doch es tat gut, von den Kollegen so selbstverständlich und freundlich aufgenommen zu werden. Es war schon Jahre her, dass sie sich das letzte Mal lange genug an einem Ort aufgehalten hatte, um Freundschaften zu schließen. Deshalb waren die Liebenswürdigkeit und Offenheit der Leute aus dem Ort etwas ungewohnt für sie, aber keineswegs unangenehm.

Anderseits hatte sie keine Ahnung, wie lange sie hier in Crested Butte bleiben würde. Eigentlich hatte sie den Job bei der Pistenwacht nur als Notlösung angenommen. Als willkommene Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben, bis sie wusste, was sie nun mit ihrem Leben anfangen wollte. Maddie hatte das Gefühl, auf etwas zu warten, doch sie hatte keine Ahnung, worauf.

Wahrscheinlich würde es das Beste sein, sich vorerst einfach an den Lebensstil hier anzupassen. Vielleicht würde sie sich dadurch weniger einsam fühlen.

Sie betrachtete den jungen Mann neben Hagan, der eine Mähne blonder Rastalocken trug. „Zephyr heißt du?“, wiederholte sie fragend, weil sie nicht sicher war, ob sie seinen Namen richtig verstanden hatte.

„Ja. Ich bin Rockgitarrist“, fügte er erklärend hinzu und spielte einige Takte Luftgitarre.

„Cool.“ Vielleicht war er ja berühmt, und Maddie kannte ihn nur nicht. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie kaum Zeit gehabt, sich für irgendetwas anderes als für das Skifahren zu interessieren.

„Aber im Augenblick habe ich die Musik auf Eis gelegt, um mich auf das Snowboarden zu konzentrieren“, fuhr Zephyr fort. „Ich möchte an dem Freeskiing-Wettbewerb im nächsten Monat teilnehmen.“

Der Freeskiing-Wettbewerb war die größte derartige Veranstaltung des Landes. Dabei maßen sich die mutigsten Skifahrer und Snowboarder miteinander. Alle großen Namen der alternativen Wintersportarten würden vertreten sein. „Warst du schon einmal dabei?“

„Nein, noch nie. Ich bin eigentlich nicht besonders ehrgeizig, aber ich bin gut.“

„Das ist er wirklich“, warf der muskulöse Mann neben ihm ein, der Maddie als Max vorgestellt worden war. „Außerdem ist er verrückt.“

„Das ist eine gute Voraussetzung für solche Wettbewerbe“, antwortete Maddie. Sie trank einen Schluck Bier. Was sonst brachte einen Menschen dazu, im Höllentempo vereiste Berge hinunterzurasen oder über Abhänge in verschneite Schluchten zu springen? Einen besseren Auslöser für einen Adrenalinschub gab es überhaupt nicht. Ob sie je aufhören würde, dieses Gefühl zu vermissen? „Andererseits hieß es bei uns Rennläufern immer: Die Frage ist nicht, ob du dich verletzt, sondern wann.“

„Ich weigere mich, darüber nachzudenken.“

„Manche Leute glauben, es mache sie stärker, wenn sie sich ihren Ängsten stellen.“ Hagans Stimme mit dem leichten nordischen Akzent drang durch das allgemeine Gemurmel in der Bar an Maddies Ohr.

Sie sah zu ihm und stellte fest, dass er sie mit undurchdringlicher Miene anstarrte. „Und manche Leute glauben Dinge, die einfach nicht stimmen.“ Sie beugte sich in seine Richtung und hielt seinem Blick stand, weil sie ihm nicht das Gefühl vermitteln wollte, er könne sie einschüchtern. „Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Welchen Ängsten stellst du dich?“

Auf seiner Stirn formte sich eine kaum merkliche Falte. „Ich habe nicht gesagt, es sei eine gute Idee, sich seinen Ängsten zu stellen. Manchmal ist es klüger, solchen Situationen einfach aus dem Weg zu gehen.“

Maddie traute ihren Ohren kaum. Sie hatte eher erwartet, er würde behaupten, vor gar nichts Angst zu haben. Aber seine Antwort gefiel ihr. Doch wovor konnte sich ein Mann wie Hagan fürchten? Egal. Was kümmerte es sie schon, was er dachte oder tat?

Entschlossen fasste sie Scott am Arm. „Lass uns tanzen.“

„Oh … okay.“ Er ließ sich von ihr auf die winzige Tanzfläche zerren und begann, sich im Takt der Musik zu bewegen, wenn auch ein bisschen steif. „Nur damit du es weißt, Lisa und ich sind zusammen.“ Er deutete mit dem Kopf auf eine rothaarige Frau mit einer aufregenden Figur, die am Ticketschalter arbeitete.

Maddie kam sich schrecklich dumm vor. Sie hatte wirklich nicht bemerkt, dass die beiden ein Paar waren. „Schon gut, es ist ja nur ein Tanz.“ Eigentlich hatte sie sowieso nicht tanzen, sondern nur eine Weile vom Tisch flüchten wollen.

„Okay, ich wollte auch nur, dass du es weißt.“

Sie hatte gehofft, sich durch die Bewegung besser zu fühlen und die Gedanken an Ängste beim Skifahren aus ihrem Kopf verbannen zu können. Doch es funktionierte nicht. Stattdessen begann ihr Knie wehzutun. Und in ihrem Magen stellte sich ebenfalls ein Schmerz ein, wenn auch ein ganz anderer. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Nicht nur heute Abend ins Eldo, sondern generell hier nach Crested Butte und zur Pistenwacht.

Maddie hatte sich Crested Butte ausgesucht, weil es weit entfernt von jeder größeren Stadt und auch vom internationalen Skizirkus war, aber trotzdem gute Bedingungen zum Skifahren bot. Denn Ski fahren war das Einzige, was sie wirklich konnte. Trotzdem gehörte sie nicht hierher, in diese Stadt, in der jeder jeden kannte und alle Menschen bestens miteinander auszukommen schienen.

Ihr Leben dagegen hatte bisher nur aus Reisen, hartem Wettkampf und konsequentem Training bestanden. Im Vergleich dazu irritierten sie die Langsamkeit, Lockerheit und der Umstand, dass bei allem, was die Menschen hier unternahmen, der Spaßfaktor im Vordergrund zu stehen schien.

Sobald der Song endete, bedankte sie sich bei Scott für den Tanz, schnappte sich ihren Mantel und verschwand, während die anderen am Tisch Zephyr und seinem Freund gespannt beim Armdrücken zusahen. Der Verlierer musste dem Sieger am nächsten Tag das Snowboard wachsen.

Maddie eilte die Treppe hinunter. Draußen erwartete sie die klirrend kalte Nachtluft. Sie blieb auf dem Bürgersteig neben der Bar stehen und starrte hinauf in den sternenklaren Himmel. Was ist eigentlich dein Problem?, schimpfte sie mit sich selbst. Sie führte doch ein angenehmes Leben. Anstatt zu bedauern, was sie verloren hatte, sollte sie besser optimistisch nach vorn blicken und sich auf ihre Zukunft konzentrieren.

Aber wie würde die aussehen? Im vergangenen Jahrzehnt hatte sie ihr Ziel klar vor Augen gehabt: die Olympischen Spiele. Und damit die Anerkennung als eine der weltbesten Skirennläuferinnen.

Doch das war nun vorbei. Ersatzlos gestrichen. Kein Wunder, dass sie sich leer und verloren fühlte!

„Es gibt bessere Orte, um sich die Sterne anzuschauen, als den Bürgersteig vor dem Eldo.“ Plötzlich stand Hagan neben ihr. Er trug einen schicken rotschwarzen Parka, aber keine Kopfbedeckung. Der Nachtwind fuhr durch sein weißblondes Haar.

„Du wirst frieren ohne Mütze“, stellte Maddie fest.

Er steckte die Hände in die Jackentaschen. „Daran bin ich gewöhnt. Wo ich aufgewachsen bin, war es kälter als hier.“

Maddie richtete ihren Blick wieder zu den Sternen. Entweder das, oder sie musste weiter Hagan ansehen. Sie wusste nicht, ob es sein gutes Aussehen, die ruhige Kraft oder sein unerschütterliches Selbstvertrauen war, um das sie ihn so beneidete. Auf jeden Fall war sie sich in seiner Gesellschaft all ihrer eigenen Fehler und Mängel ständig voll bewusst.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er sie einen Augenblick später.

„Alles bestens.“ Kalt, aber okay. Sie zog ihren Mantel enger um sich. „Ich werde den nächsten Bus zu meinem Apartment nehmen und früh zu Bett gehen.“

Eigentlich hatte das eine Aufforderung an Hagan sein sollen, zurück ins Lokal zu verschwinden. Doch als sie sich auf den Weg Richtung Bushaltestelle machte, ging er neben ihr her. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Warum bist du mir nach draußen gefolgt?“

„Weil du mich interessierst.“

Bei dieser offenen Äußerung schnappte sie verblüfft nach Luft. War sie nicht schon von mehreren Seiten über Hagans Grundsatz belehrt worden, sich nicht mit Einheimischen einzulassen? „Warum? Stehst du auf gescheiterte Existenzen?“

Hagan hob fragend eine Augenbraue. „Hast du etwas gegen Norweger? Oder magst du generell keine Männer? Warum bist du so abweisend?“

Maddie ließ die Schultern hängen. Er hatte schon wieder recht. Sie war eine ganz schöne Zicke und ließ ihre schlechte Laune an ihm aus. Auch wenn er ein Frauenheld war und ihr sein übertriebenes Selbstbewusstsein, das schon an Arroganz grenzte, ziemlich auf die Nerven ging – bisher hatte er nichts gesagt oder getan, was die Feindseligkeit, die sie ihm entgegenbrachte, gerechtfertigt hätte.

Außerdem war er ein Arbeitskollege, jemand, den sie in den kommenden Wochen und Monaten ständig sehen würde. Sie musste lernen, mit ihm auszukommen. „Tut mir leid“, entschuldigte Maddie sich. „Am besten fangen wir noch einmal neu miteinander an.“

Sie blieb an der Bushaltestelle stehen und streckte Hagan die Hand entgegen. „Hi, mein Name ist Maddie Alexander. Ich bin neu in der Stadt.“

Auf Hagans Lippen erschien der Anflug eines Lächelns. „Wie nett, Sie kennenzulernen, Miss Alexander. Ich bin Hagan Ansdar.“ Er nahm ihre Hand, hielt sie fest und sah Maddie mit seinen klaren, blauen Augen unverwandt ins Gesicht. Kein Wunder, dass ihm die Frauen reihenweise zu Füßen lagen.

Maddie zog ihre Hand hastig weg, bevor es ihr genauso erging. Und dabei hatte sie gedacht, sie sei immun gegen seinen Charme.

„Was führt Sie zu uns nach Crested Butte, Miss Alexander?“, fragte er voller Interesse, als hätten sie sich tatsächlich gerade erst kennengelernt.

„Die Landschaft hier ist sehr reizvoll, und die Arbeit bei der Pistenwacht hat mich interessiert.“

„Ich hätte erwartet, dass Sie sich nach Ihrem Karriereende als Rennläuferin spannenderen Aufgaben widmen würden“, sagte Hagan offen. „Vielleicht bei einem Hersteller von Skiausrüstung oder Skikleidung.“

„Diese Jobs gehen an die Medaillengewinner.“

„Aber die Bezahlung bei der Pistenwacht ist ziemlich mies“, bohrte Hagan mit fragendem Blick weiter.

Da musste sie ihm zustimmen. Glücklicherweise war es ihr gelungen, während ihrer aktiven Zeit etwas Geld zurückzulegen. Derzeit war es ihr wichtiger, ihr Leben zu ordnen und in den Griff zu bekommen, als viel Geld zu verdienen.

„Ich war den Mitgliedern der Pistenwacht, die mich nach meinem schweren Unfall aufgesammelt haben, sehr dankbar und wollte ihnen gern etwas dafür zurückgeben. Das gilt natürlich auch für die Ärzte und Krankenschwestern, die mich operiert und anschließend über Monate hinweg betreut haben, aber ich habe nun mal keine einschlägige Ausbildung. Außerdem habe ich mir natürlich einen Beruf gewünscht, bei dem ich viel Ski fahren kann. Auch wenn ich keine Rennen mehr bestreiten kann, ist Skifahren trotzdem meine liebste Beschäftigung.“

„Du fährst auch hervorragend.“ Ohne es zu bemerken, war Hagan zurück zum vertrauteren Du gewechselt. „Du bringst eine solche natürliche Anmut mit, dass es ein Vergnügen ist, dir zuzusehen.“

Maddie wusste nicht, was sie mehr aus der Fassung brachte: das unerwartete Kompliment oder das Wissen, dass er sie beobachtet hatte. Schnell wechselte sie das Thema. „Und was bringt einen Mann aus Norwegen nach Crested Butte, Colorado?“, stellte Maddie die Gegenfrage.

Als er nicht sofort antwortete, sah sie ihm ins Gesicht. Sein Mund bildete einen schmalen Strich, und seine Augen waren nachdenklich zusammengekniffen. „Wahrscheinlich ist Crested Butte für viele Menschen ein guter Ort, um sich zurückzuziehen oder vielleicht sogar völlig vor der Welt zu verstecken.“

Bei seinen Worten lief ein Schauer über ihren Rücken. Wollte er ihr unterstellen, dass sie vor etwas davonlief? Oder meinte er etwa sich selbst?

Der Shuttlebus fuhr an die Bürgersteigkante. Er war vollgestopft mit grölenden Touristen. Für Maddie und Hagan gab es nur zwei voneinander getrennte Sitzplätze, sodass sie ihre Unterhaltung nicht weiterführen konnten.

Hagan saß einige Reihen vor Maddie. Sie studierte von ihrem Platz aus sein scharf geschnittenes Profil und fragte sich, ob sie ihm nicht vielleicht doch unrecht tat, wenn sie ihn einfach nur als Frauenhelden sah.

3. KAPITEL

Hagan starrte geradeaus auf die Straße, während der Bus die serpentinenreiche Bergstraße hinaufkroch. Er war dankbar, dass das Gespräch mit Maddie unterbrochen worden war. Zum Glück war der Bus überfüllt, und sie konnten nicht nebeneinandersitzen. Die Distanz zwischen ihnen kam Hagan höchst willkommen. Noch vor einigen Augenblicken, als er mit Maddie in der Kälte gestanden und beobachtet hatte, wie ihre Gefühle hinter der undurchdringlichen Miene nur so brodelten, hatte ihn der Wunsch fast überwältigt, sie zu küssen.

In den vergangenen Jahren hatte er viele Frauen geküsst und mit beinahe ebenso vielen geschlafen. Das war zwar ein angenehmer Zeitvertreib gewesen, aber die Frauen waren für ihn immer austauschbar gewesen, und für keine von ihnen hatte er irgendwelche tiefer gehenden Gefühle empfunden. Wie anders war es bei Maddie.

Das beunruhigte ihn. Normalerweise brauchte er keine anderen Menschen. Er genoss die Gesellschaft seiner Freunde, und er mochte die Frauen, mit denen er ausging, doch sein persönliches Wohlbefinden hing keineswegs von ihnen ab. Sein Herz zu sehr an einen Menschen zu hängen war der beste Weg zu einer Enttäuschung.

Hagan stieg an der ersten Haltestelle aus dem Bus und ging an mehreren Ferienwohnanlagen vorbei zu dem Parkplatz, auf dem er seinen Geländewagen abgestellt hatte. Von hier aus musste er weitere fünf Meilen auf schmalen Wegen zurücklegen, um zu seiner Hütte in einem ausgedehnten, einsamen Waldstück der Forstbehörde zu gelangen.

Das aus zwei Zimmern bestehende Gebäude war ursprünglich als Jagdhütte für den Sommer gebaut worden, doch Hagan hatte es isoliert und einen Holzofen eingebaut. Außerdem hatte er ein großes Bett und neue Elektrogeräte angeschafft, sodass es nun eine praktische und gut ausgestattete Junggesellenunterkunft geworden war.

Er öffnete die Tür, die er aufgrund der einsamen Lage nur selten abschloss. Drinnen wartete ein dicker, grauweiß gestreifter Kater auf ihn, der ihm um die Füße strich und mit lautem Miauen sein Abendessen forderte. Die Katze, die er nach der Figur eines Drachens aus der nordischen Mythologie Fafner getauft hatte, war ihm vor zwei Jahren zugelaufen und fühlte sich seither bei ihm zu Hause.

Nachdem Hagan Jacke und Schuhe ausgezogen hatte, öffnete er eine Dose Katzenfutter und fütterte den Kater. Dann schaltete er den Computer ein, der auf dem Klapptisch in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine kleine, offene Küche. Im Obergeschoss befanden sich ein Schlafzimmer und ein bescheidenes Bad.

Während der Kater zufrieden schmatzte, legte Hagan noch einige Holzscheite in den Ofen, richtete sich einen Teller mit Käse, Aufschnitt und Brot her und schenkte sich ein Bier ein. Dann setzte er sich damit an den Computer.

Schon einen Augenblick später war er so vertieft in das Programm, an dem er arbeitete, dass er alles um sich herum vergaß. Die Softwareentwicklung war ein Überbleibsel aus seinem früheren Leben. Doch während sie damals für ihn gleichermaßen Beruf und Leidenschaft gewesen war, übte er sie heute nur noch als Hobby aus, von dem außer ihm niemand etwas wusste.

Erst einige Stunden später, nachdem er konzentriert gearbeitet hatte, lehnte er sich erschöpft und zufrieden zurück und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Über der Eingangstür hing ein Paar altmodischer Holzskier. Als kleiner Junge war er mit solchen Skiern in die Schule nach Frederikstad gefahren. Auf einem Regal neben dem Ofen stand ein typisch norwegischer Bierkrug aus Keramik, den ihm seine Schwester vor zwei Jahren zu Weihnachten geschickt hatte.

Er liebte diese Hütte. Sie war sein Unterschlupf, in dem er selten Freunde empfing. Eine Frau hatte er überhaupt noch nie mit hierhergebracht. Alles war aufgeräumt und ordentlich, genauso wie sein Leben. Er mochte seine Arbeit. Und obwohl die Bezahlung schlecht war, hatte er – genau wie Maddie – keine Geldsorgen, weil er auf Ersparnisse von früher zurückgreifen konnte.

In der Stadt hatte er gute Freunde, und einsam war er nur, wenn er selbst es so wollte. Insgesamt war er zufrieden mit seinem Leben und hatte auch allen Grund dazu.

Trotzdem hatte er in den letzten Tagen eine gewisse Ruhelosigkeit verspürt. Zu dem Zeitpunkt, als Maddie heute Abend das Eldo verlassen hatte, war er ebenfalls zum Aufbruch bereit gewesen. Ursprünglich hatte er die Nummer auf dem Zettel anrufen wollen, den diese Julie ihm am Nachmittag zugesteckt hatte.

Doch Maddie, diese geheimnisvolle junge Frau, die voller Zorn und Leidenschaft zu stecken schien, hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er musste sich eingestehen, dass er sich von ihr angezogen fühlte. Ob es ihm gefiel oder nicht: Sie übte eine Faszination auf ihn aus, die er schon seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.

Er musste unbedingt herausfinden, was so besonders an ihr war. Nur dann konnte er sich wirksam davor schützen, ihrem Zauber ganz und gar zu verfallen.

Als Maddie am nächsten Morgen aufwachte, schneite es bei einer Temperatur um null Grad heftig. Unter diesen Bedingungen wäre jedes Rennen abgesagt worden, sodass sie sich im Bett umdrehen und weiterschlafen hätte können. Doch diesen Luxus gab es bei der Pistenwacht nicht. Seufzend stand sie auf.

In der Hütte oben am Silver-Queen-Lift studierte sie den Dienstplan. Scott, der hinter ihr auftauchte, meinte: „Heute sollte es ein ruhiger Tag werden. Erstens ist das Wetter miserabel, zweitens ist ein normaler Wochentag. Unter diesen Umständen finden meist nur ein paar wenige, hartgesottene Skifahrer und Snowboarder den Weg auf die Piste.“

„Das Wetter ist zwar schrecklich, aber bei dem vielen frischen Pulverschnee müssten die Pistenbedingungen exzellent sein.“

Als sie den vertrauten nordischen Akzent hörte, drehte sich Maddie um.

Hagan stand im Türrahmen, den er mit seiner Größe beinahe ausfüllte. Zumindest schien es ihr so. „Ich fahre hinüber auf die Peel-Abfahrt.“ Er nickte Maddie zu. „Kommst du mit?“

Peel war eine extrem steile Strecke. Maddie hatte das Gelände kurz nach ihrer Ankunft zur Einführung besichtigt und befahren, sich seither aber davon ferngehalten. „Nein, danke. Dafür suchst du dir besser jemand anderen.“

„Ich will aber niemand anderen“, erwiderte Hagan hartnäckig. „Hast du etwas gegen die Abfahrt oder gegen mich?“

Nach ihrer Unterhaltung gestern Abend musste Maddie zugeben, dass sie den Mann wesentlich sympathischer als noch am Anfang fand. Er machte sie unsicher, beeindruckte und überraschte sie, doch seinen sportlichen und fachlichen Fähigkeiten vertraute sie. Er zählte zu den erfahrensten Mitgliedern des Teams. Für schwierige Einsätze riefen alle Kollegen ihn zu Hilfe. Und gestern Abend hatte er behauptet, man solle sich seinen Ängsten stellen.

Wenn sie sich also jemals in schwieriges Gelände vorwagen wollte, dann am besten mit ihm. Schließlich war sie nicht zuletzt deshalb zur Pistenwacht gekommen – um ihre Angst zu überwinden. Abgesehen davon war sie als Rennläuferin noch anspruchsvollere Strecken gefahren.

„Na, gut“, lenkte sie schließlich ein. „Ich bin dabei.“

„Seid aber vorsichtig“, ermahnte sie Scott. „Die Sicht ist wirklich sehr schlecht.“

Schneeböen trafen wie Nadelspitzen auf ihre Gesichter, sobald sie die schützende Hütte verlassen hatten. Maddie zog den Reißverschluss ihres Parkas bis zum Kinn hoch. Jeder normale Mensch würde es sich bei diesem Wetter mit einer Tasse Kakao vor dem Kamin gemütlich machen, anstatt sich auf Skier zu stellen und einen Steilhang hinunterzufahren.

„Es wird besser, wenn wir erst im Windschatten der Bäume sind“, versprach Hagan. Er musste schreien, um den heulenden Wind zu übertönen.

Maddie folgte ihm durch eine schmale Schneise, die in den Wald geschlagen worden war. Der Wind war hier wirklich schwächer. Außerdem hatte der viele Schnee alle Felsen und Baumstümpfe, die beim letzten Mal sichtbar gewesen waren, unter sich begraben. Maddie entspannte sich. Das war ja gar nicht so schlimm. Zudem hatten sie die ganze Abfahrt für sich allein. Außer ihnen war weit und breit niemand zu sehen.

Doch sobald sie die schützende Baumschneise verlassen hatten, wurden die Bedingungen schlagartig wieder schlecht. Boden und Himmel verschmolzen in unerbittlichem Weiß miteinander, sodass man kaum noch wusste, wo unten und oben war.

Maddie fuhr langsamer. Sie musste gegen ein aufsteigendes Schwindelgefühl ankämpfen. Glücklicherweise gab es dafür Techniken, die ihr vertraut waren. Sie versuchte, ihre Knie stärker zu beugen, möglichst in der Nähe von Bäumen zu fahren und sich auf einen vor ihr liegenden Orientierungspunkt – in diesem Fall Hagans rote Uniformjacke – zu konzentrieren.

Doch Bäume gab es auf der Strecke immer weniger. Gleichzeitig wurde die Distanz zwischen ihr und Hagan zunehmend größer, bis sie ihn aufgrund der schlechten Sicht kaum noch erkennen konnte. Vor einem besonders steilen Abschnitt hielt sie an. Mit klopfendem Herzen sah sie nach unten.

„Du kannst das!“, sprach sie sich selbst Mut zu und umklammerte ihre Skistöcke. Doch ihre Stimme zitterte, und Maddie spürte, wie sie unter den Handschuhen schwitzte.

„Worauf wartest du?“, hörte sie Hagan plötzlich schreien.

Er musste bemerkt haben, dass sie ihm nicht gefolgt war, und zurückgegangen und hochgestiegen sein. Stand sie wirklich schon so lange wie versteinert an dieser Stelle?

„Ich … ich komme sofort!“, rief sie. Hoffentlich würde er glauben, dass der Wind das Zittern in ihrer Stimme verursacht hatte.

Mit Nachdruck rammte sie ihre Stöcke in den Schnee und schwor sich, jetzt wirklich abzufahren. Direkt zu Hagan hinunter. Ohne ein einziges Mal anzuhalten. Sie wusste genau, dass sie es konnte.

Startbereit beugte sie sich vor, als ein Anfall von Übelkeit sie zwang, sich wieder aufzurichten. Durch ihren Kopf rasten Bilder, wie sie sich mehrfach auf der Piste überschlug, als wäre sie eine Gummipuppe. Maddie biss die Zähne so stark zusammen, dass ihr Kiefer zu schmerzen begann.

„Hast du ein Problem?“, schrie Hagan herauf.

Ja!, wollte sie schreien. Ich kann das nicht. Auch wenn sie mit Sicherheit alle erforderlichen Fähigkeiten hatte, um diese Abfahrt zu bewältigen – was ihr fehlte, waren die nötigen Nerven. Genau das war ihr Problem gewesen, als sie nach ihrer Genesung ins Team zurückgekehrt war. Auch der Trainer hatte ihr das gesagt: Du hast keinen Mut mehr, Maddie. Nach einer schweren Verletzung kann so etwas passieren.

Trotz ihres brennenden Wunsches, ihre Karriere weiter zu verfolgen, hatte sie es nicht geschafft, die Angst zu besiegen.

„Los, komm schon runter!“, rief Hagan. „Es sei denn, du willst da oben überwintern! Oder soll ich Scott anfunken, damit er dich mit dem Schneemobil abholt?“, witzelte er.

Maddie schloss die Augen. Nein! Sie würde sich zum Gespött der Kollegen machen, wenn sie ein Schneemobil benötigte, um diesen Berg zu verlassen. Als Mitglied der Pistenwacht musste sie in der Lage sein, alle Pisten selbst unter den schwersten Bedingungen zu befahren. Wenn sie das nicht schaffte, wozu war sie dann überhaupt nütze?

Sie atmete tief durch und stieß sich ab. Doch schon beim nächsten Schwung wenige Meter weiter unten musste sie wieder anhalten. Die Übelkeit und das Gefühl, dass sie fallen und vielleicht sogar sterben würde, überwältigten sie.

Als sie es nach einer Ewigkeit bis zu Hagan hinuntergeschafft hatte, blieb sie neben ihm stehen. „Was glotzt du so?“, fragte sie, obwohl sie seine Augen hinter seiner Skibrille gar nicht erkennen konnte. Doch der argwöhnische Zug um seinen Mund gefiel ihr nicht.

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte er noch einmal.

„Lass mich in Ruhe, und fahr endlich los!“ Am liebsten hätte Maddie ihm ihren Skistock über den Kopf gezogen, aber dazu hätte sie ihn heben und damit den Verlust ihres Gleichgewichts riskieren müssen.

Hagan öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Dann schloss er ihn wieder und stieß sich ab.

Maddie starrte ihm hinterher, neidisch auf den eleganten und sicheren Stil, mit dem er sich bewegte und alle Schwünge absolvierte. Bei ihm sah alles so einfach aus. Genau wie bei ihr früher. Bis sie nach dem Unfall ihr ganzes Selbstvertrauen verloren hatte. Dieser Verlust schmerzte sie noch schlimmer als all die physischen Verletzungen, die sie davongetragen hatte.

Nur mit größter Entschlossenheit bewältigte sie die Abfahrt schließlich. Obwohl ihre Knie zitterten, rauschte sie am Ende des steilen Geländes, wo Hagan auf sie wartete, schwungvoll an ihm vorbei und nahm volle Fahrt auf. Sie wollte diesen Berg möglichst schnell verlassen. Sollte Hagan sie wegen der überhöhten Geschwindigkeit doch anschwärzen und rausschmeißen lassen – das war ihr in dem Moment wirklich egal.

Doch Hagan hielt mit ihrem rasenden Tempo Schritt. Er rief ihr zwar nach: „Warte, Maddie, warte!“, aber sie ignorierte ihn.

Sie hatte vor seinen Augen die Nerven verloren und sich komplett lächerlich gemacht. Spätestens morgen würde das jedes einzelne Mitglied des Teams wissen. Wenn sie Glück hatte, würde sie ihren Job behalten, aber ihre Würde hatte sie in jedem Fall verloren.

Hagan ließ sich hinter Maddie zurückfallen und beobachtete ihren Geschwindigkeitsrausch mit einer Mischung aus Verwunderung und Ärger. Oben auf der steilen Piste war sie ein anderer Mensch gewesen. Wo war die elegante Skiläuferin geblieben? Stattdessen hatte er eine verkrampfte Anfängerin gesehen. Wenn das die wahre Maddie war, dann war sie hier fehl am Platz.

Vor dem Restaurant an der Talstation bremste sie abrupt in einer Schneewolke, stieg aus den Skiern, stellte sie betont lässig in einen der Ständer und stiefelte in das Gebäude, ohne sich nach ihm umzudrehen.

Zephyr, der gerade herauskam, starrte ihr verblüfft nach. Als Hagan schließlich vor ihm zum Stehen kam, erkundigte sich Zephyr: „Was ist denn mit der los? Sie war ziemlich grün im Gesicht.“

„Wir haben die Peel-Abfahrt genommen, da hat sie gleich nach den ersten paar Schwüngen die Nerven verloren.“

„Du bist mit ihr über Peel abgefahren? Kein Wunder, dass sie das nicht gepackt hat.“

„Warum?“ Hagan wischte sich den Schnee von den Schultern und sah den Freund stirnrunzelnd an. „Als angebliche Ex-Olympiakandidatin muss sie doch wohl in der Lage sein, eine schwarze Piste zu bewältigen.“

„Das ist sie auch mit Sicherheit, aber nach diesem Sturz …“ Zephyr schüttelte den Kopf. „Bestimmt ist das posttraumatischer Stress oder etwas in der Art. Du weißt schon, wie wenn Soldaten ihre Erlebnisse aus dem Krieg immer wieder und wieder durchleben. Wahrscheinlich hat sie da oben am Berg an den Unfall gedacht und war wie gelähmt vor Angst. Soweit ich weiß, waren damals die Wetterbedingungen ähnlich – auch mit Schneefall und schlechter Sicht.“

Hagan warf ihm einen bewundernden Blick zu. Manchmal vergaß er, dass unter Zephyrs bunter Snowboarder-Mütze ein wirklich kluger Kopf steckte. „Ich wusste zwar, dass sie einen Unfall hatte, aber war der wirklich so schlimm?“

Zephyr nickte einige Male schweigend. „Noch schlimmer! Das Video steht auf YouTube. Sieh es dir selbst an, wenn du mir nicht glaubst.“ Er sah zu der Tür, durch die Maddie verschwunden war. „Wenn du mich fragst, ist es ein Wunder, dass sie überhaupt wieder auf Skiern steht. Was hat die Frau körperlich und psychisch durchgemacht.“

Hagan sah Maddie den Rest des Tages nicht mehr. Vermutlich ging sie ihm aus dem Weg. Er war hin und her gerissen zwischen schlechtem Gewissen, dass er sie gegen ihren Willen auf diese steile Piste mitgeschleppt hatte, und Ärger, dass sie ihm nichts von ihrem Problem gesagt hatte.

Auch wenn er zugeben musste, dass er das an ihrer Stelle genauso wenig getan hätte. Aber sie war eine Frau. Waren Frauen nicht besser darin, ihre wahren Gefühle einzugestehen?

Als Zephyr ihn nach der Schicht aufforderte, ihn zum Konzert einer neuen Band in einem nahe gelegenen Klub zu begleiten, lehnte er ab und fuhr nach Hause in seine Hütte.

Nachdem er Fafner gefüttert und sich selbst eine Suppe heiß gemacht hatte, setzte er sich vor den Computer und suchte bei YouTube nach den Stichwörtern ‚Skiunfall‘ und ‚Maddie Alexander‘.

Bei dem Videoausschnitt handelte es sich anscheinend um eine Aufzeichnung der Live-Übertragung aus St. Moritz, wo eines der letzten Weltcup-Rennen vor den Olympischen Spielen stattgefunden hatte.

Maddie, in einem hautengen Rennanzug des amerikanischen Skiteams in den Farben rot, weiß und blau, stieß sich aus dem Starthaus ab und raste einen eisig-blau glitzernden Steilhang hinunter.

Obwohl oben am Start noch die Sonne geschienen hatte, wurde Maddie beim Wechsel zur nächsten Kamera beinahe von einer Nebelbank verschluckt. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit nahm sie eine scharfe Kurve, schwankte und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Mit Erfolg. Sofort ging sie zurück in die Hocke, um wieder Fahrt aufzunehmen.

Bei der nächsten Kurve hörte Hagan das Kratzen der Stahlkanten auf dem Eis in den Computerlautsprechern. Er verkrampfte sich und klammerte sich am Tisch fest, als Maddie in eine Bodenwelle geriet und durch die Luft sauste. Viel zu hoch, das sah er sofort. Gemeinsam mit den Zuschauern am Pistenrand hielt er die Luft an und stieß einen Schrei aus, als sie im ungünstigsten Winkel hart auf dem eisigen Untergrund aufprallte.

Ihr lebloser Körper purzelte wie der einer Puppe den Hang hinunter, schlug wieder und wieder auf und fiel immer weiter. Als sie nach einer scheinbar endlosen Strecke endlich zum Liegen kam, standen ihre Arme und Beine in völlig unnatürlichen Stellungen vom Körper ab. Das Videobild wurde schwarz. Die Aufzeichnung war zu Ende.

Trotzdem starrte Hagan wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Hätte er es nicht besser gewusst, wäre er sicher gewesen, dass die Frau aus dem Video tot sein musste. Wie hatte sie einen solchen Sturz nur überleben und danach sogar wieder Ski fahren können? Es war ein Wunder.

Hagan zwang sich, die Tischkante loszulassen, an der er sich die ganze Zeit verkrampft festgeklammert hatte. Kein Wunder, dass Maddie auf der Peel-Abfahrt die Nerven verloren hatte! Die Rahmenbedingungen heute und bei dem Unfall, der ihre Karriere beendet hatte, waren wirklich verblüffend ähnlich gewesen.

Warum hatte sie ihm nicht einfach gesagt, er solle ein Schneemobil anfordern, um sie sicher ins Tal zu bringen? Er brauchte nicht lange, um sich die Antwort auf diese Frage selbst zu geben. Schließlich wusste auch er das eine oder andere über falschen Stolz.

Und dann hatte er im Eldo auch noch große Reden geschwungen über Menschen, die sich ihren Ängsten stellen sollten. Kein Wunder, dass sie sich ihm nicht anvertraut hatte! Als hätte er die Weisheit gepachtet. In Wirklichkeit hielt er sich nämlich an seinen zweiten Rat, brenzligen Situationen besser aus dem Weg zu gehen.

Sein ganzes Leben war auf diesem Grundsatz aufgebaut. Ein Leben, dem zwar echte Wärme fehlte, ihm dafür aber volle Kontrolle über alle Ereignisse und Gefühle erlaubte. Oh ja, über Kontrolle wusste er alles, was es zu wissen gab.

Aber über Mut, da konnte er von Maddie noch so einiges lernen!

4. KAPITEL

Maddie versuchte verzweifelt, Hagan in den folgenden Tagen zu meiden. Sie schämte sich zutiefst, dass sie sich vor ihm so hatte gehen lassen.

Bei jedem anderen Teamkollegen hätte sie es besser verkraftet als bei ihm. Aber natürlich hatte es vor ihm passieren müssen. Er war so schrecklich perfekt. Ein hervorragender Skifahrer und besonnener Lebensretter, der unter allen Umständen die volle Kontrolle über jede Situation behielt. Das Letzte, was sie brauchte, war dieser Mann, der ihr ständig ihre eigenen Mängel und Unvollkommenheiten vor Augen führte.

Doch Crested Butte war ein kleiner Ort, und Maddie würde Hagan nicht dauerhaft aus dem Weg gehen können. Sie nahm sich vor, gelassen zu bleiben und den Vorfall auf dem Berg auf keinen Fall mit ihm zu diskutieren, egal was er auch sagen mochte.

Als sie am Freitagabend zusammen mit Andrea, Scott, Lisa, Zephyr und Trish im Eldo saß, starrte sie ständig auf die Tür. Und tatsächlich: Kurz nach acht traten Hagan und Max ein.

Hastig wandte sich Maddie ab und tat so, als interessiere sie sich ungeheuer für Zephyrs schräges Outfit, das er sich für den Snowboard-Wettbewerb, an dem er teilnehmen wollte, ausgedacht hatte. „Was jemand trägt, sagt viel über den betreffenden Menschen aus“, stellte er gerade ernsthaft fest.

„Dementsprechend müssten deine Klamotten sagen ‚Dieser Mann ist völlig verrückt‘“, warf Trish ein.

Zephyr grinste nur.

„Wo ist eigentlich Casey?“, wandte sich Trish an Max, der sich inzwischen neben sie gesetzt hatte.

„Sie trifft gemeinsam mit Heather Hochzeitsvorbereitungen“, antwortete Max.

„Für wessen Hochzeit?“, fragte Trish nach. „Für eure oder Heathers?“

Maddie hatte kürzlich erfahren, dass nicht nur Max und Casey, sondern auch Dr. Ben Romney und seine Freundin Heather Allison, die wiederum die Chefin von Casey beim örtlichen Tourismusverband war, in einigen Wochen heiraten würden.

Max zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Ich überlasse das alles ihr. Sie soll mir einfach sagen, wann ich wohin kommen soll, um ‚Ja‘ zu sagen. Alles andere interessiert mich nicht. Meinetwegen könnten wir auch einfach auf das nächste Standesamt gehen und es hinter uns bringen.“

„Aber eine Hochzeit sollte schon mehr sein als nur ein nüchternes Unterschreiben irgendwelcher Papiere!“, protestierte Andrea sofort. „Sie sollte ein romantischer Tag sein, den man sein Leben lang nicht vergisst und mit dem man angenehme Erinnerungen verbindet.“

„Das glauben vielleicht Frauen“, mischte sich Scott ein. „Aber Männer haben keine Ahnung, was das ganze Theater eigentlich soll.“

„Wenn eine Hochzeit so abgewickelt würde wie ein Rechtsgeschäft, hätten die Menschen vielleicht realistischere Erwartungen an die Ehe“, gab Hagan zu bedenken.

Scott lachte. „Hört, hört, was unser Casanova Nummer eins zu diesem Thema zu sagen hat! Als hättest du irgendeine Ahnung, wovon du sprichst.“

Hagan verzog keine Miene.

Maddie wollte damit aufhören, ihn dauernd anzustarren, doch sie schaffte es nicht. Dieser Mann war ihr ein Rätsel. Immer, wenn sie dachte, sie hätte sich ein Bild von ihm gemacht, überraschte er sie erneut – wie zum Beispiel mit dieser Aussage über die Ehe.

Als hätte er gespürt, dass sie ihn ansah, wandte Hagan sich plötzlich um. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Rasch senkte sie den Kopf, doch die kurze Zeit davor hatte gereicht, um einen traurigen Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen.

Oder doch nicht? Nein, das musste sie sich eingebildet haben. Weshalb sollte Hagan, der jede Frau auf der Welt haben konnte, auch traurig sein?

„Entschuldigt mich einen Augenblick.“ Maddie schob ihren Stuhl nach hinten, stand auf und ging auf die Toilette. Sie brauchte etwas Zeit, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden und sich all die Antworten zurück ins Gedächtnis zu rufen, die sie sich überlegt hatte, falls Hagan ihr Versagen auf der Piste zur Sprache bringen würde.

Sie trödelte so lange wie nur irgend möglich auf der Toilette herum, frisierte sich und trug frisches Lipgloss auf.

Nicht, dass sie Angst hatte, wieder hinauszugehen. Sie war bereit für alles, was Hagan ihr zu sagen hatte. Zorn, das hatte sie in der langen Reha-Zeit gelernt, konnte einem über alle möglichen unangenehmen Situationen hinweghelfen. Wenn man sich nur genug auf seine Wut konzentrierte, fanden Schmerz und Scham keinen Raum.

Schließlich nahm sie allen Mut zusammen, packte Bürste und Lipgloss zurück in ihre Tasche und trat entschlossen über die Schwelle der Tür, die zurück in den Gastraum führte. Völlig überraschend rannte sie vor der Damentoilette gegen eine Wand aus unnachgiebigen, männlichen Muskeln.

Hagan packte sie geistesgegenwärtig mit der Hand am Ellbogen, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. „Ich hatte gehofft, einige Worte mit dir wechseln zu können“, sagte er.

Maddie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Es war ganz schön schwer, drohend auszusehen, wenn man einem Riesen wie Hagan gegenüberstand. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch natürlich gelang ihr das nicht. Wenn sie ihm nicht mit aller Kraft ihre Handtasche über den Kopf ziehen wollte, hatte sie keine Chance gegen ihn. „Ich habe dir nichts zu sagen“, erklärte sie trotzig.

„Ich dir schon“, erwiderte er mit fester Stimme.

Oje, sie hatte es ja gewusst. Jetzt würde er ihr gleich erklären, dass sie bei der Pistenwacht nichts zu suchen hatte, wenn es schwarze Abfahrten gab, die sie sich nicht zutraute. Bestimmt fragte er sich, wie sie es mit derartigen Schwächen überhaupt je in die Auswahl für den Olympia-Kader geschafft hatte.

„Es tut mir leid, dass ich dich da hochgeschleppt habe“, begann Hagan. „Ich hätte dich sofort in Ruhe lassen sollen, als du abgelehnt hast.“

Maddie blinzelte erstaunt. All die wütenden Sätze, die sie eingeübt hatte, blieben ihr im Hals stecken. Hagan entschuldigte sich bei ihr und gab zu, dass er einen Fehler gemacht hatte? War sie im falschen Film gelandet?

Hagan löste den festen Griff, mit dem er ihren Ellbogen umklammert hatte, und schob sie galant in Richtung Ausgang. „Lass uns irgendwo hingehen, wo wir reden können. Allein.“

Autor

Cindi Myers
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