Julia Winterträume Band 9

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EIN MILLIONÄR FÜR CLAIRE von REID, MICHELLE
Claires Gefühle spielen völlig verrückt! Erst umsorgt Andreas Markopoulou sie zärtlich, dann macht ihr der griechische Multimillionär ein Angebot, mit dem sie alle Sorgen um ihre Familie auf einen Schlag los wäre: Sie soll ihn heiraten. Doch von Liebe kein Wort!

ROSAROT WIE DIE LIEBE von GRAHAM, LYNNE
Das ging ja gründlich schief! Heimlich wollte Poppy ihrem gut aussehenden Chef eine Valentinskarte schicken. Nur wird sie dabei ertappt, und prompt weiß die ganze Firma: Poppy ist in den Boss verknallt! Es dauert nicht lange, und auch Santino selbst erfährt davon …

FALCON HOUSE - SCHLOSS DER HOFFNUNG von MORTIMER, CAROLE
Der erfolgreiche Drehbuchautor Sam ist entsetzt: Seine Schwester hat kurzerhand ihre Freundin Crys für eine Woche in seinem Schloss einquartiert! Mit hitzigen Wortgefechten fordert ihn die eigensinnige Schönheit heraus - noch mehr aber mit ihren heißen Küssen …


  • Erscheinungstag 04.11.2014
  • Bandnummer 0009
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702502
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Reid, Lynne Graham, Carole Mortimer

JULIA WINTERTRÄUME BAND 9

MICHELLE REID

Ein Millionär für Claire

die zarte claire erscheint dem griechischen Millionär Andreas Markopoulou wie die perfekte ehefrau – um die Ansprüche seiner Familie zufrieden zu stellen. er selbst erwartet nicht viel von einer ehe; schon einmal wurde er enttäuscht. Mit ihrer Zärtlichkeit bringt claire jedoch seine Überzeugungen ins Wanken. Kann sie ihm den Glauben an die liebe zurückgeben?

LYNNE GRAHAM

Rosarot wie die Liebe

Sie ist süß, frech und romantisch: So viel weiß der erfolgsunternehmer Santino Aragone über seine Marketingassistentin Poppy. Bei einer Valentinsfeier in seiner Firma stellt er überdies fest, wie leidenschaftlich sie sein kann … Und plötzlich sieht Santino sich mit neuen, ungewohnten Gefühlen konfrontiert. Sollte das etwa … liebe sein?

CAROLE MORTIMER

Falcon House – Schloss der Hoffnung

ein paar schöne tage in einem luxuriösen Schloss in yorkshire verbringen, ihre Sorgen vergessen – so hatte crys es geplant. nicht eingeplant war Sam, ihr Gastgeber. Groß und attraktiv, ein richtiger traummann … da kann crys seinen Küssen nicht widerstehen. doch leider hat Sam sich geschworen, nie wieder eine feste Bindung einzugehen …

1. KAPITEL

„Eine Adoption?“ Claire konnte es nicht fassen. „Ich soll Melanie zu wildfremden Leuten geben?“

Aschfahl und am ganzen Körper bebend, stand sie im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer ihres kleinen Apartments und betrachtete ungläubig ihre Tante. Sie hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Hatte sie in diesen letzten furchtbaren Wochen nicht schon genug durchgemacht?

Und nun zu allem Überfluss auch noch dies. „Das ist nicht dein Ernst, Tante Laura.“ Unwillkürlich presste sie das Baby in ihren Armen enger an sich. „Das lasse ich nicht zu.“

„Es geht hier nicht um dich.“ Ihre Tante wirkte entschlossen. „Sei nicht so egoistisch. Du schaffst es nicht allein. Sieh dich doch um!“

„Das stimmt nicht! Ich komme sehr gut allein zurecht.“

Laura Cavell schnitt ein Gesicht. Sie trug einen schicken Zweiteiler, war dezent geschminkt, duftete nach teurem Parfüm, und ihr blondes Haar war nach der neusten Mode frisiert. Mit kaltem Blick musterte sie das kleine Zimmer. Ihre Miene sprach Bände.

In dem Apartment herrschte ein einziges Chaos. Überall waren Babysachen verstreut – auf dem Boden, den wenigen Stühlen und in der kleinen Küche. Es war zwar erst Oktober, doch das berühmt-berüchtigte englische Wetter ließ bereits den Winter erahnen.

Vor dem kleinen elektrischen Heizgerät stand ein Wäscheständer mit nassen Strampelanzügen. Nicht sehr praktisch, aber was blieb ihr, Claire, anderes übrig? Sie konnte es sich nicht leisten, in den Waschsalon zu gehen. Die Fenster der Wohnung waren zwar beschlagen, und es war kalt und klamm, das nahm sie allerdings gern in Kauf.

„Ich habe dich nur gebeten, mir etwas Geld für die Miete zu leihen.“ Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Sie kam sich vor wie eine Bettlerin, die bei einer Königin um ein Almosen bat. Warum tue ich mir das an? dachte sie verzweifelt. Es war sinnlos. Ihre Tante würde ihr nicht einen Penny geben. Sie war geizig und herzlos. Und die nächsten Worte ihrer Tante gaben ihr recht.

„Was denkst du dir eigentlich? Warum sollte ich dich unterstützen? Melanie ist nicht deine Tochter, und ich bin nicht die Wohlfahrt. Gib sie zur Adoption frei, und du bist alle Probleme los.“

„Sie ist meine Schwester, Tante Laura! Ich werde sie nie in fremde Hände geben.“ Melanie war das Einzige, was sie noch hatte.

„Deine Halbschwester.“ Laura Cavell ließ diesen Einwand nicht gelten. „Du weißt nicht einmal, wer ihr Vater ist.“ Widerwillig blickte sie auf das dunkelhaarige, südländisch aussehende Baby, das Claire schützend im Arm hielt.

„Das ist mir egal.“ So langsam verlor sie die Geduld. Wie konnte ihre Tante es wagen, so mit ihr zu sprechen? Was mischte sie sich überhaupt ein? Ihre Mutter hatte eine Affäre mit einem spanischen Kellner gehabt – na und? Sie war glücklich gewesen, und das hatte sie, Claire, ihr von Herzen gegönnt, nach allem, was sie mit ihrem ersten Mann durchgemacht hatte. „Melanie gehört zur Familie. Punkt und aus. Ich werde sie nicht weggeben.“

Warum hatte sie ihre Tante überhaupt um Hilfe gebeten? Sie hatte doch gewusst, dass sie auf Granit biss! Laura Cavell lebte nur für ihren Beruf. Sie war Assistentin eines mächtigen Aufsichtsratsvorsitzenden einer der größten europäischen Banken. Geld bedeutete ihr alles. Sie hatte, ohne zu zögern, Liebe und die Aussicht auf Kinder für ihre Karriere geopfert. Eine Frau wie sie verstand nichts von Romantik und Familienbanden. Claire hätte am liebsten geweint. Sie hatte sich noch nie so allein und hilflos gefühlt.

„Du bist erst einundzwanzig, Claire“, sagte ihre Tante streng. „Noch vor einem Monat hast du studiert. Sieh dich doch an! Du hast dein Studium aufgegeben. Jetzt sitzt du hier und hast nicht einmal einen Job. Wovon wollt ihr beide leben? Du kannst ja nicht einmal die Miete für dieses furchtbare Apartment bezahlen. Ich zweifle an deinem Verstand.“

„Ich werde schon eine Arbeit finden.“

„Ach ja? Als was denn? Als Kellnerin? Als Putzfrau? Willst du wirklich die Böden anderer Leute schrubben? Wer kümmert sich um das Kind, wenn du nicht da bist? Ein Babysitter kostet Geld. Deine Mutter hat dir nichts hinterlassen, hast du das schon vergessen?“

„Ich habe Anspruch auf staatliche Hilfe.“

„Bestimmt. Davon kannst du aber nicht in Saus und Braus leben. Denk wenigstens an das Baby. Glaubst du, Melanie wird dir später einmal dafür danken, dass sie in bitterer Armut leben musste?“

Claire schloss kurz die Augen. Hatte ihre Tante recht? War sie zu egoistisch gewesen? Wäre die Kleine bei Adoptiveltern vielleicht besser aufgehoben? Claire war verzweifelt und wusste weder aus noch ein.

Was sollte sie bloß tun? Schweigend ging sie zum Kinderbett, legte das Baby hinein und deckte es zu. Es war gerade einmal drei Jahre her, da war die Welt noch in Ordnung gewesen. Ihre Eltern waren sehr glücklich miteinander gewesen und hatten sie, ihre einzige Tochter, von ganzem Herzen geliebt. Bis die Firma ihres Vaters Konkurs machte. Sie verloren alles – die Ersparnisse, die Möbel, das Haus.

Sie waren gezwungen, in eine Mietwohnung im Londoner East End zu ziehen. Ihr Vater konnte mit der Schande nicht weiterleben und nahm sich das Leben.

Victoria Stenson, ihre Mutter, wurde nie damit fertig, dass sich der Mann, mit dem sie so lange verheiratet gewesen war, so einfach davon stahl und sie im Stich ließ.

Plötzlich hatte sie keine Freunde mehr und auch kein Geld. Ihr Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Verzweifelt suchte sie Arbeit. Wer aber stellte jemanden ohne Berufserfahrung ein? Schließlich wandte sie sich an ihre Schwester, die ihr einen Job in einer der besten Boutiquen Londons vermittelte.

Mit ihren zweiundvierzig Jahren war Victoria Stenson immer noch eine Schönheit, nach der sich die Männer umdrehten. Sie hatte ein Faible für Mode und einen Blick dafür, was den Kundinnen am besten stand. Schnell arbeitete sie sich ein, und der kleine Laden war bald ein Muss für alle reichen Frauen der Stadt. Ihre Chefin war so zufrieden mit ihr, dass sie sie eines Tages nach Madrid schickte, wo sie mit einem Lieferanten verhandeln sollte.

Als Victoria wieder zurückkam, strahlte sie übers ganze Gesicht und schien zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig glücklich zu sein. Es dauerte nicht lange, bis Claire herausfand, was geschehen war.

„Ich bin schwanger.“ Das Geständnis ihrer Mutter war zuerst ein Schock, aber spätestens als Melanie nach acht Monaten geboren wurde, war alles vergessen. Dieses kleine perfekte Wesen mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut zog sie sofort in ihren Bann. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Zwei Wochen nach der Geburt ging Victoria Stenson wieder zur Arbeit. Es war August, Claire hatte Semesterferien und konnte auf das Baby aufpassen. Später wollten sie ein Kindermädchen einstellen. Die Zukunft schien gesichert, und sie waren zufrieden wie schon lange nicht mehr.

Doch das Schicksal war gnadenlos. Victoria Stenson erlitt bei der Arbeit eine starke, nicht zu stoppende Nachblutung. Die Ärzte im Krankenhaus konnten ihr nicht mehr helfen. Plötzlich hatte Claire vor dem Nichts gestanden. Die Trauer und Verzweiflung waren übermächtig gewesen – nur der Gedanke an Melanie hatte sie aufrechterhalten.

Draußen hupte jemand, und Laura Cavell sah ungeduldig auf die Uhr. „Ich muss los. Hörst du mir eigentlich zu? Gibst du das Kind nun zur Adoption frei?“

Sanft strich Claire ihrer kleinen Schwester über die Wange. Tränen stiegen ihr in die Augen. Das Leben war so ungerecht. Sie wollte Melanie behalten und ihre Eltern zurückhaben. Warum bestrafte man sie so? „Was können wir tun?“, flüsterte sie.

Laura Cavell lächelte zufrieden. Anscheinend hatte das Mädchen endlich Vernunft angenommen! „Es gibt lange Wartelisten beim Jugendamt. Sehr viele Ehepaare wünschen sich ein Kind. Sie wären dir bestimmt unendlich dankbar …“

Claire wirbelte herum. „Darauf kann ich verzichten.“ Sie funkelte ihre Tante böse an.

„Schon gut.“ Laura Cavell seufzte leise. Warum war alles nur so schwierig? „Sie könnten dem Kind ein liebevolles Zuhause geben. Es wird Melanie an nichts fehlen.“

Was ist mit mir? dachte Claire verzweifelt. Nie wieder würde sie dieses kleine Wesen im Arm halten oder es heranwachsen sehen. Ihre Schwester war für sie verloren. Sie konnte den Gedanken daran nicht ertragen.

„Wir regeln das ganz diskret.“ Ihre Tante schien nicht zu merken, was in ihr vorging. „Es gibt private Vermittlungsstellen. Die Ehepaare werden auf Herz und Nieren geprüft. Das wäre für Melanie das Beste, glaub mir. Sie werden ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen.“

Natürlich. Das war das einzige Argument, das Claire nicht widerlegen konnte.

„Du könntest weiterstudieren und deinen Abschluss machen. Ich bin bereit, dich dabei zu unterstützen. Dies hier …“, wieder blickte sie sich verächtlich um, „… ist nicht akzeptabel. Du machst nicht nur dich unglücklich, sondern auch das Kind. Sieh es endlich ein!“

„Ich … denke darüber nach.“ Hatte sie das wirklich gesagt? Claire konnte es nicht fassen. Es war, als würde ihr jemand das Herz herausreißen.

„Gut.“ Laura Cavell nickte erleichtert. „Ich werde morgen einige Agenturen anrufen.“ Wieder hupte jemand, und Laura schüttelte entnervt den Kopf. „Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Sie musterte ihre Nichte – das aschfahle Gesicht, die traurigen Augen, in denen sich die Verzweiflung spiegelte – und beschloss, großzügig zu sein. Sie nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche, zog ein Bündel Scheine heraus und legte diese auf den Tisch. „Das sollte für die nächsten Tage reichen. Wenn ich wiederkomme, erwarte ich, dass du dich entschieden hast.“

Claire betrachtete das Geld lange. „Danke“, erwiderte sie schließlich und zwang sich zu einem Lächeln.

Ihre Tante wandte sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Du solltest deinen gesunden Menschenverstand einschalten, meine Liebe, und nicht auf das hören, was dein Herz dir sagt.“

Claire stand noch lange da und blickte starr auf die Scheine. Meine dreißig Silberlinge, dachte sie bekümmert. Es war nichts anderes. Niedergeschlagen ging sie zum Tisch und nahm das Geld, um es zu zählen. Sie war schon gespannt darauf, wie hoch die Summe für Verrat heutzutage war.

In diesem Augenblick fiel etwas aus dem Geldbündel zu Boden. Erschrocken bückte sie sich, hob die goldene Kreditkarte ihrer Tante auf und lief hinaus auf den Flur. Sie hörte noch, wie unten die Eingangstür geschlossen wurde. Zu spät! Das Apartment befand sich im ersten Stock, vielleicht kam sie ja noch rechtzeitig, bevor ihre Tante davonfuhr.

Draußen blies ihr ein eisiger Nordostwind ins Gesicht, und Claire verschränkte frierend die Arme vor der Brust. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sich einen Mantel überzustreifen. Schnell blickte sie sich um. Wo war ihre Tante? Die Straße war zwar schmal, wurde jedoch von den Autofahrern gern als Abkürzung genutzt, und deshalb herrschte immer sehr viel Verkehr.

Auf beiden Seiten standen viktorianische Reihenhäuser, die vor vielen Jahren einmal elegant gewesen sein mochten. Der Zahn der Zeit hatte mittlerweile an ihnen genagt. Die Vermieter waren nur auf das schnelle Geld aus und nicht bereit zu investieren. So war der Stadtteil langsam, aber sicher verfallen.

Alte Autos parkten rechts und links am Straßenrand. Die große Limousine, in die Laura Cavell gerade einstieg, hätte man in so einer Gegend bestimmt nicht erwartet. „Tante Laura!“, rief Claire, allerdings vergebens. Die Wagentür schloss sich hinter ihrer Tante, und der Fahrer gab Gas.

Ohne nachzudenken und auf die Kälte zu achten, lief Claire auf die Straße. Dann ging alles sehr schnell. Jemand hupte wütend, und sie wirbelte herum. Ein Lieferwagen kam direkt auf sie zu.

Das Geräusch von quietschenden Bremsen, der stechende Geruch von verbranntem Gummi und die erschrockenen Schreie der Passanten – all das nahm sie nur undeutlich wahr. Obwohl ihr klar war, was geschehen würde, stand sie wie erstarrt da. Später konnte sie sich sogar noch an das entsetzte Gesicht des Lieferwagenfahrers erinnern, der nicht mehr ausweichen konnte.

Erstaunlicherweise bemerkte sie den Aufprall kaum. Es war nur ein leichter Stoß. Sie hatte keine Schmerzen. Wo war sie? Anscheinend lag sie auf der Straße. Wer war der Fremde mit den dunklen Augen, der sich über sie beugte? „Sie ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ich konnte nichts dafür!“ Das musste der Lieferwagenfahrer sein, aber sie konnte ihn nicht sehen.

Der gut aussehende Mann vor ihr betrachtete sie besorgt. „Bewegen Sie sich nicht.“ Er sprach mit einem leichten Akzent. Seine Stimme war tief und sinnlich, und Claire lächelte verträumt. Sie fühlte sich gut, nichts tat ihr weh, und sie wollte auch gar nicht aufstehen. Irgendwie komisch, dachte sie, es ist alles so unwirklich. „Sterbe ich?“

Anscheinend hatte sie den Gedanken laut ausgesprochen, denn der Fremde schüttelte energisch den Kopf. „Das werde ich verhindern. Darauf können Sie sich verlassen.“

Was für eine Arroganz! Glaubte er, er könnte Gott spielen? Jetzt begann er, sie abzutasten. Was sollte das? Eigentlich wollte Claire protestieren, doch es fühlte sich … gut an. Nachdenklich sah sie ihn an. Er war ungefähr Mitte dreißig. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, er hatte markante, vertrauenerweckende Gesichtszüge. Das Attraktivste an ihm waren allerdings seine Augen.

Sie waren so dunkel und geheimnisvoll – wie ein tiefer Ozean. Dieser Mann war faszinierend und zog sie magisch an. Was war los mit ihr? Waren das noch die Nebenwirkungen des Unfalls?

Plötzlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Eigentlich war ihr nicht kalt … oder doch? Immerhin hatten sie schon den ersten Frost gehabt. Warum lag sie überhaupt hier? Sie hatte keine Zeit, sie musste irgendwohin … Zum Teufel, sie konnte sich nicht erinnern, was so dringend gewesen war!

Der Fremde deckte sie mit etwas Weichem zu – sein Jackett –, und sie fühlte sich seltsam geborgen. Wie gern hätte sie die Augen geschlossen und wäre einfach eingeschlafen! Das Atmen fiel ihr schwer. „Meine Brust tut weh“, flüsterte sie.

Er fluchte leise und drehte sich dann um. „Hat schon jemand den Krankenwagen gerufen?“ Mit wem sprach er? Egal, dachte Claire. Er passte schon auf, dass ihr nichts passierte. Sie fühlte sich sicher wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

„Ja“, erklang im nächsten Moment eine unangenehm schrille weibliche Stimme. „Ich kann es nicht fassen. Sie ist einfach vor das Auto gelaufen!“

Ihre Tante! Claire zuckte zusammen und stöhnte leise.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte der fremdländische Mann besorgt und wandte sich ihr wieder zu. „Sie dürfen sich nicht bewegen.“

„Was machst du für Dummheiten, Mädchen? Bist du denn völlig verrückt geworden?“ Laura Cavell beugte sich über sie. Man merkte ihr deutlich an, wie erzürnt sie war.

Mühsam öffnete Claire die rechte Hand. Erst jetzt spürte sie die Schmerzen im Handgelenk. Auf dem zerknitterten Geldbündel lag die goldene Kreditkarte. Und plötzlich fiel ihr alles wieder ein. „Du hast sie verloren. Ich dachte, du brauchst sie vielleicht.“

Eine kleine Ewigkeit lang blickten alle schweigend auf die Kreditkarte. Der Fremde hatte sich als Erster gefasst. „Ist das Ihre Nichte, Miss Cavell?“

„Ja.“ Dieses eine Wort enthielt so viel Verachtung. Claire wäre am liebsten im Erdboden versunken. Warum hasste ihre Tante sie so sehr?

„Ich muss mich entschuldigen, Mr Markopoulou.“ Ihre Tante schien irgendwie besorgt zu sein. Ihretwegen bestimmt nicht! Weswegen dann? „Überlassen Sie alles mir. Wenn Sie jetzt zum Flughafen fahren, erreichen Sie die Maschine nach Madrid noch rechtzeitig.“

In diesem Augenblick verstand Claire, was vor sich ging. Der Fremde war der Aufsichtsratsvorsitzende, für den ihre Tante arbeitete! Dieser Tycoon, der über Leichen ging … „Es ist alles in Ordnung.“ Mühsam stützte sie sich auf den Ellbogen. „Helfen Sie mir bitte auf.“

„Ich denke nicht daran. Sie bleiben schön liegen, bis der Notarzt kommt.“ Widerspruch war er anscheinend nicht gewohnt. Sein Wunsch war Befehl.

Auch das noch! Wenn sie im Krankenhaus landete, was wurde dann aus Melanie … Oh nein! Sie hatte das Baby allein gelassen! Mühsam stand sie auf. Ihr Kopf schmerzte, ihr war schwindelig und übel.

„Wo wollen Sie hin?“ Der Fremde hatte sich ebenfalls erhoben und betrachtete sie kopfschüttelnd.

„Ich muss los.“ Claire machte einige zaghafte Schritte, blieb dann aber stehen. Die Kreditkarte! Sie hielt sie immer noch in der Hand. Langsam drehte sie sich zu ihrer Tante um und reichte sie ihr. „Hier.“

Laura Cavell warf ihr einen eisigen Blick zu, nahm die Karte und steckte sie schweigend ein.

Claire wandte sich ab und stellte fest, dass der gut aussehende Mann sich ihr in den Weg gestellt hatte. „Vielen Dank für Ihre Hilfe“, flüsterte sie und wollte an ihm vorbeigehen. Plötzlich blieb sie stehen. Etwas stimmte nicht. Es war so kalt, und er trug nur ein Hemd … Wo war sein Jackett? Natürlich! Er hatte sie damit zugedeckt. Wo war es?

Suchend blickte sie sich um. Da – mitten auf der Straße. „Oh … Es tut mir leid!“ Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er kam ihr zuvor. Er bückte sich, und sie betrachtete bewundernd seinen geschmeidigen, schlanken, muskulösen Körper. Er erinnerte sie an einen Athleten, der …

Sie stand bestimmt unter Schock! Ihr Handgelenk tat weh, die Kopfschmerzen hatten sich verschlimmert, sie konnte immer noch nicht durchatmen – und sie verschlang diesen Mann förmlich mit Blicken. Claire schwankte, und er nahm ihren Arm. „Also gut. Miss Cavell, gehen Sie voran. Wir bringen Ihre Nichte in ihre Wohnung.“

Ihre Tante gehorchte schweigend. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

Claire wollte protestieren, doch er schüttelte warnend den Kopf. Tante Laura wird außer sich vor Wut sein, überlegte sie verzagt, als sie die Treppe in den ersten Stock hinaufgingen. Vor der Haustür angekommen, blieb Claire stehen und befreite sich aus seinem Griff. „Es ist alles in Ordnung. Sie können zum Flughafen fahren.“

„Ach ja? Sehen Sie sich doch einmal im Spiegel an. Ihr rechtes Handgelenk scheint gebrochen zu sein, Sie haben eine blutende Wunde am Kopf, und Ihr Atem rasselt – was bedeutet, dass Sie sich wahrscheinlich eine oder mehrere Rippen gebrochen haben. Wir warten jetzt gemeinsam auf den Arzt.“

Das konnte alles nur ein Albtraum sein! Sollte sie im Leben nie mehr Glück haben? Was geschah mit Melanie, wenn sie ins Krankenhaus musste?

Schnell betrat sie das Apartment. Ihre Tante war schon vorgegangen und stand mit säuerlicher Miene vor dem Wäscheständer mit den nassen Babysachen – wahrscheinlich damit ihr Chef ihn nicht entdeckte. Die Situation war irgendwie komisch, und Claire hätte beinah gelacht, wenn da nicht der Fremde an der Tür gewesen wäre.

Sie spürte förmlich, wie er sich kritisch in ihrer kleinen Wohnung umblickte. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Dieser Mann war reich, besaß unzählige Limousinen und elegante Häuser. Seine Kleidung war maßgeschneidert, und sein Anzug hatte sicherlich mehr gekostet, als sie im ganzen Jahr an Miete zahlte. Eine so spartanische Einrichtung hatte er bestimmt noch nie gesehen!

Plötzlich schämte sie sich. Warum, wusste sie nicht, denn normalerweise war es ihr egal, was Wildfremde über sie dachten. Vielleicht war er aber auch nicht so wie andere? Langsam wandte sie sich um … und zuckte zusammen, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er verriet Abscheu. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt.

In diesem Augenblick seufzte Melanie leise. Der Mann wirbelte herum und war völlig fassungslos, als er das Baby entdeckte. Es konnte also noch schlimmer kommen! Die Erniedrigung war nicht mehr zu ertragen. „Sie brauchen nicht zu bleiben“, sagte Claire feindselig. „Mir wäre es sogar lieber, wenn Sie endlich verschwinden würden!“

„Claire!“ Ihre Tante war außer sich.

„Lasst mich einfach nur in Ruhe!“ Wütend ging Claire zum Kinderbettchen. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Schwester tief und fest schlief. Plötzlich fiel die Anspannung von ihr ab, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Es war alles so hoffnungslos. Sie war ganz auf sich selbst gestellt, Melanie sollte von Adoptiveltern großgezogen werden, und nun noch der Unfall …

Ihr Handgelenk und ihre Rippen schmerzten immer stärker. „Bitte gehen Sie.“ Ihr wurde schwindelig, sie wollte sich noch am Bett festhalten, schaffte es jedoch nicht. Und plötzlich wurde alles um sie her schwarz.

Als Claire langsam das Bewusstsein wiedererlangte, befand sie sich auf einer Trage in einem Krankenwagen. Erstaunt blickte sie sich um. Sie traute ihren Augen kaum. Neben ihr saß nicht ihre Tante, sondern der fremde Mann, und er hatte Melanie auf dem Arm.

Bevor sie etwas fragen konnte, waren sie schon im Krankenhaus angekommen. Claire wurde in die Notaufnahme gebracht und geröntgt. Wenigstens ist keine Rippe gebrochen, dachte sie erleichtert, als der Arzt ihr die Diagnose mitteilte. Das war die gute Nachricht. Die schlechte betraf ihr Handgelenk. Der Knochen musste gerichtet werden, und die Ärzte wollten sofort operieren.

„Was ist mit Melanie?“, erkundigte sie sich besorgt. Das Narkosemittel begann schon zu wirken, sie konnte kaum noch klar denken. „Wo ist Tante Laura?“

„Soll ich sie kommen lassen?“ Es war nicht zu fassen. Der Mann war immer noch da. Hatte er etwa die ganze Zeit im Warteraum gesessen? Wollte er nicht nach Mailand fliegen? Oder war es Madrid gewesen?

„Nein …“ Ihr fielen die Augen zu. „Bitte lassen Sie nicht zu, dass man sie mir wegnimmt …“

„Versprochen.“

Sie liebte diese tiefe Stimme. Es war das Erste, woran Claire sich erinnerte, als sie zwei Stunden später wieder aufwachte. Sie lag in einem Bett, ihr Handgelenk war eingegipst, und ihr Arm befand sich in einer Schlinge. Wenigstens konnte sie die Finger bewegen. Wie aber sollte sie Melanie füttern und wickeln? Acht Wochen, hatte der Arzt gesagt. Entmutigt schloss sie die Augen. Vielleicht war alles nur ein böser Traum. Wenn sie jetzt einschlafen würde …

„Wie geht es Ihnen?“, fragte eine ihr nur allzu vertraute männliche Stimme.

2. KAPITEL

Claire öffnete langsam die Augen und betrachtete den großen, schlanken Mann, der vor ihrem Bett stand. Sie konnte es nicht fassen: Tante Lauras Arbeitgeber, der mächtige Aufsichtsratsvorsitzende einer Bank, war immer noch bei ihr im Krankenhaus! Er hatte doch nicht etwa die ganze Zeit gewartet?

„Wie fühlen Sie sich?“ Forschend betrachtete er sie.

„Als hätte mir jemand eine Holzhammernarkose verabreicht.“ Sie schnitt ein Gesicht.

„Das sind die Nachwirkungen des Betäubungsmittels. Es dauert etwas, bis sie abgeklungen sind. Sobald Sie sich gut genug fühlen, dürfen Sie nach Hause.“

Es ging ihr gleich viel besser. Warum also warten? Langsam setzte sie sich auf und schlug die Decke zurück. Erst jetzt merkte sie, wie sie aussah. Ihre Jeans waren zerrissen und verschmutzt, und fast alle Knöpfe der Bluse waren abgerissen. Ganz im Gegensatz zu dem elegant gekleideten Fremden, der sie durchdringend von Kopf bis Fuß musterte. Der Unfall und die Stunden im Krankenhaus hatten bei ihm keine Spuren hinterlassen. Anscheinend war es für ihn normal, den barmherzigen Samariter zu spielen, Jungfrauen und Babys in Not zu retten … Oh nein!

„Wo ist Melanie?“ Erschrocken stand sie auf, hielt sich am Bett fest und blickte sich suchend um. Sie hatte das kleine Mädchen ganz vergessen! Wie hatte sie nur so verantwortungslos sein können!

Jetzt hatte sie den Fremden verärgert. Er funkelte sie böse an. „Ich dachte, Sie hätten inzwischen mehr Vertrauen zu mir. Ihrer Tochter geht es gut.“

„Warum sollte ich Vertrauen zu Ihnen haben?“ So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. „Weil meine Tante für Sie arbeitet?“

Der Fremde verspannte sich. Claire wusste nicht, warum er so reagierte, und es war ihr auch egal. „Was erwarten Sie? Ich habe Sie nicht gebeten, mich ins Krankenhaus zu fahren. Vielleicht sind Sie ja einer von diesen Männern, die unschuldigen jungen Frauen in Notsituationen Hilfe anbieten und sie dann verführen. Warum fliegen Sie nicht endlich nach Mailand und lassen mich in Ruhe?“ Die Beine versagten ihr den Dienst, und sie setzte sich aufs Bett. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Warum war sie so unhöflich zu ihm? Nach allem, was er für sie getan hatte?

„Madrid“, sagte er unwillkürlich. Dann schüttelte er den Kopf. „Wie alt sind Sie? Achtzehn? Sie mögen zwar jung und in einer Notsituation sein, aber Sie sind ganz gewiss nicht unschuldig.“ Er lachte spöttisch. „Immerhin haben Sie eine Tochter, Miss Stenson. Das passt nicht zusammen.“

Claire schloss kurz die Augen. Wieso dachte er …? Hatte ihre Tante denn nichts erzählt? Selbst wenn, was gab ihm das Recht, sich als Moralapostel aufzuspielen? „Ich bin einundzwanzig, nicht achtzehn.“ Ihre Stimme klang eisig. „Melanie ist nicht meine Tochter, sondern meine Schwester. Unsere Mutter ist zwei Wochen nach ihrer Geburt gestorben.“

Ihre Worte hatten ihn betroffen gemacht, doch genau das wollte sie nicht. Er konnte sich sein Mitleid sparen. „Was fällt Ihnen ein, mich zu beleidigen? Meine Unschuld geht Sie nichts an, verdammt noch mal! Scheren Sie sich zum Teufel!“

In diesem Moment kam eine Krankenschwester mit Melanie auf dem Arm herein. „Oh gut, Sie sind wach.“ Fröhlich lächelte sie Claire an, als sie das schlafende Baby neben sie aufs Bett legte. Sie schien die angespannte Atmosphäre nicht zu bemerken. „Hier möchte jemand zu Ihnen. Wir haben sie gefüttert, gewickelt und richtig verwöhnt. Sie haben also die nächsten Stunden frei.“

„Vielen Dank.“ Claire war erleichtert. „Sie sind alle sehr nett zu uns.“

„Das ist doch selbstverständlich. Wenn Sie sich besser fühlen, können Sie gehen.“ Die Krankenschwester drehte sich um und ging hinaus.

Claire hätte sie am liebsten zurückgehalten, denn sie wollte nicht mit diesem Mann allein sein. Leider fiel ihr keine gute Ausrede ein. Sie beschloss, ihn zu ignorieren, und wandte sich ihrer Schwester zu. Melanie schien es gut zu gehen. Sie lächelte zufrieden im Schlaf. Erleichtert strich Claire ihr über die Wange.

„Es tut mir leid.“ Seine Worte kamen so überraschend, dass sie zusammenzuckte. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es steht mir nicht zu, Ihnen Vorhaltungen zu machen. Wie Sie Ihr Leben gestalten, ist Ihre Sache.“

Sieh an, dachte sie, er macht einen Rückzieher. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie nahm seine Entschuldigung an, indem sie nickte, und wechselte dann das Thema. „Wie heißen Sie? Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen. Immerhin haben wir fast den halben Tag miteinander verbracht.“

„Hat Ihre Tante mich nie erwähnt?“

Claire schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass sie für den Aufsichtsratsvorsitzenden einer großen Bank arbeitet.“

Er schien verblüfft, was sie überraschte. Dieser Mann war ein Buch mit sieben Siegeln! „Ich heiße Andreas Markopoulou und komme aus Griechenland.“

Was sollte sie darauf antworten? Claire nickte wieder und betrachtete ihn forschend. Daher hatte er also die südländischen Gesichtszüge, die ihn so attraktiv machten. Sie blickte ihm in die Augen, und es schien, als hätte sich ein Bann über sie gelegt, den sie nicht brechen konnten.

Andreas Markopoulou fing sich als Erster. „Wir sollten gehen.“ Seine Stimme klang heiser.

„Oh … ja, natürlich.“ Claire stand auf und wollte Melanie hochnehmen.

„Ich trage sie.“ Andreas Markopoulou ging zum Bett, verharrte aber mitten in der Bewegung. „Es ist kalt draußen. Vielleicht möchten Sie noch einmal mein Jackett haben?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern legte es ihr um die Schultern. Danach nahm er Melanie auf den Arm, und sie verließen zu dritt das Krankenhaus.

Es wehte immer noch ein eisiger Wind, und eine frostige Nacht schien sich anzukündigen. Dankbar zog Claire das Jackett enger um sich. In diesem Moment fuhr auch schon die rote Limousine vor, und ein kahlköpfiger Mann in einer grauen Chauffeurs-Livree stieg aus. Er ging um die auf Hochglanz polierte Kühlerhaube herum und öffnete die hintere Tür. „Guten Abend, Madam, Sir.“

Es dauerte einen Moment, bis Claire sich gesetzt hatte – ihre Rippen schmerzten beinah unerträglich – und in der Lage war, sich umzusehen. Die Ausstattung des Wagens war luxuriös. Lederpolster, Minibar, Computer, Telefone und andere technische Wunderwerke – eben alles, was ein hoch bezahlter Manager so brauchte.

Es war so überwältigend … und passte genau zu Andreas Markopoulou. Dieser hatte neben ihr Platz genommen und die Tür geschlossen. Doch wo war Melanie?

„Ganz ruhig“, sagte er, als er merkte, wie Claire erschrak. „Es geht ihr gut. Nikos kümmert sich um sie. Ich zeige es Ihnen.“ Er drückte einen Knopf, und die getönte Trennscheibe bewegte sich nach unten. Neben dem Chauffeur saß Melanie, sicher angeschnallt in einem Kindersitz!

Claire konnte es nicht fassen. Andreas Markopoulou hatte wirklich an alles gedacht. Sie traute dem Frieden allerdings nicht so recht. Warum kümmerte er sich so fürsorglich um sie? Was hatte er vor? Ein Mann wie er tat nichts ohne Hintergedanken. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, und ich möchte mich bedanken.“

„Das ist doch selbstverständlich.“ Er ließ die Scheibe wieder hochgleiten.

Sie lehnte sich zurück, so gut es ging. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Der Sitz ist nicht neu, oder? Haben Sie ihn geliehen?“ Bitte sag nicht, dass der Chauffeur ihn gekauft hat, ging es ihr durch den Kopf.

Ihr stummes Flehen wurde nicht erhört. Sein Schweigen sprach Bände. „Ich kann es Ihnen nicht zurückzahlen“, fügte sie bestürzt hinzu.

„Das erwarte ich auch nicht.“ Er winkte ab, gab dem Chauffeur ein Klopfzeichen und blickte nach draußen, während sich die Limousine in Bewegung setzte. Für ihn war das Thema erledigt. Geld spielte keine Rolle.

Claire war anderer Meinung. Sie wollte keinem Menschen etwas schuldig bleiben – und schon gar nicht wildfremden Männern. „Ich werde meine Tante bitten, Ihnen Ihre Auslagen zu erstatten.“

„Vergessen Sie’s.“

„Das will ich aber nicht“, rief sie aufgebracht. „Ich lasse mich nicht aushalten!“

Ihr Protest schien ihn nicht im Geringsten zu stören. „Schnallen Sie sich an.“ Sie wollte noch etwas sagen, doch allein sein sanfter Tonfall brachte sie zum Schweigen. „Keine Widerworte. Sie können es sowieso nicht ändern. Der Sitz ist gekauft. Ich habe ihn bezahlt. Ende der Diskussion.“

Claire blickte ihn entsetzt an. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen. Ihr Befehle erteilt. Dieser Mann schüchterte sie ein, mehr als ihre Tante es je vermocht hatte. Mit zittrigen Fingern versuchte sie, den Gurt zu schließen, aber es gelang ihr nicht. „Ich bekomme ihn nicht zu.“ Sie fühlte sich so hilflos. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie sollte sie für Melanie sorgen, wenn sie nicht einmal die einfachsten Dinge zustande brachte?

Andreas Markopoulou beugte sich zu ihr herüber, nahm den Gurt und befestigte ihn. Dann sah er auf, merkte, wie verzweifelt sie war, und seufzte leise. „Ich muss mich schon wieder entschuldigen. Manchmal bin ich zu schroff, vor allem wenn man meinen Anweisungen nicht sofort Folge leistet. Ich wollte Sie nicht kränken, Miss Stenson. Es ist mein Fehler gewesen, nicht Ihrer …“

„Falls Sie das nächste Mal wieder Geld für uns ausgeben wollen, fragen Sie mich bitte vorher.“ Es war zwar nicht besonders klug, wieder damit anzufangen, doch sie wollte es ihm ein für alle Mal klarmachen.

Diesmal hatte er sich besser unter Kontrolle. „In Ordnung. Was macht Ihr Handgelenk? Haben Sie Schmerzen?“

„Es geht schon.“ Das war eine glatte Lüge. Der Schmerz wurde immer stärker, und als sie ihre Finger betrachtete, entdeckte Claire am Daumen eine hässliche Schwellung.

Wie gern hätte sie sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und ein Jahr lang geschlafen! Sie war so erschöpft. Nur leider war das nicht möglich. Sie konnte ihrer Verantwortung nicht entrinnen. Melanie verließ sich auf sie. Womöglich machte Tante Laura ihre Drohung wahr und nahm ihr das Kind weg! Jetzt, wo sie, Claire, nicht für sie sorgen konnte … Eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Trotzig wischte sie sie weg.

„Was ist los?“ Andreas Markopoulou betrachtete sie besorgt.

Claire schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Was sollte sie sagen? Sie konnte ihm ja wohl kaum erzählen, dass seine geschätzte Assistentin so herzlos war und ihre eigene Nichte zur Adoption freigeben wollte. Die Situation war verzweifelt.

Ich hätte mich tatsächlich beinah überzeugen lassen, dachte Claire entsetzt. So etwas durfte nie wieder geschehen. Sie brachte es nicht übers Herz, Melanie in fremde Hände zu geben! Dafür würde sie kämpfen, koste es, was es wolle!

Schnell wandte sie sich ab und blickte hinaus in die Dämmerung. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, wo sie waren. Die Gegend kam ihr sehr bekannt vor – nur war es nicht das East End, sondern der elegante Londoner Stadtteil, in dem sie noch vor drei Jahren gewohnt hatte! Überrascht blickte Claire Andreas Markopoulou an. „Wo bringen Sie mich hin?“ Sie fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich.

Seine dunklen Augen waren unergründlich. „Zu mir nach Hause.“

Was? Claire war alarmiert. „Sie können uns doch nicht einfach … Ach, jetzt weiß ich.“ Erleichtert lächelte sie. „Tante Laura wartet dort auf uns.“

Schweigen. Er blickte sie spöttisch an, und ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Er schien sich über sie lustig zu machen!

Dieser Mann war eiskalt. Die Gefühle anderer interessierten ihn nicht. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber aus dem fahrenden Auto zu springen war keine gute Lösung. Außerdem – was sollte aus Melanie werden?

In diesem Augenblick hielt die Limousine. Andreas Markopoulou beugte sich zu Claire herüber und löste den Sicherheitsgurt. „Wir sind da.“ Als sie unwillkürlich vor ihm zurückschreckte, runzelte er die Stirn. „Ganz ruhig. Sie brauchen keine Angst zu haben.“

Ach nein? Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein! Wollte er sie für dumm verkaufen? Noch vor einer Stunde hätte sie ihm alles geglaubt, doch irgendetwas musste geschehen sein, denn er war wie verwandelt. Ein berechnender, rücksichtsloser Mann, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. War das sein wahres Gesicht? Wenn ja, machte es ihr Angst.

Nikos, der Chauffeur, öffnete die Tür, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, aber Claire ignorierte ihn. Er sollte ruhig wissen, dass sie nicht freiwillig hier war! Sie biss sich auf die Lippe, als die Schmerzen beinah unerträglich wurden. Allerdings schaffte sie es allein, auch wenn sie sich danach erschöpft an die Limousine lehnen musste.

Schweigend blickte sie sich um. Sie hatte mit ihren Eltern ganz in der Nähe gewohnt, sie kannte die Gegend also sehr gut. Das war beruhigend. So wusste sie wenigstens, wohin sie im Notfall flüchten konnte.

Inzwischen hatte der Chauffeur Melanie losgeschnallt und aus dem Sitz gehoben. Er reichte sie seinem Chef, und Claire hätte beinah laut protestiert. Was fiel Andreas Markopoulou eigentlich ein? Es war ihre Schwester. Er hatte kein Recht, sie auf dem Arm zu halten.

Wieder schien er ihre Gedanken gelesen zu haben, denn er sah auf und betrachtete sie forschend. „Alles in Ordnung?“

Nein, dachte sie erzürnt, gib mir Melanie zurück, und lass uns gehen. Sie durfte nicht hierbleiben. Das flaue Gefühl verstärkte sich. Die innere Stimme warnte sie immer lauter und nachdrücklicher.

„Folgen Sie mir.“ Das war ein Befehl, keine Bitte. Ihr selbst ernannter Beschützer ging auf eines der eleganten weißen viktorianischen Reihenhäuser zu, und Claire blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine ältere, südländisch aussehende Frau kam ihnen mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Als sie Melanie entdeckte, streckte sie erfreut die Arme aus. Sie schien es nicht erwarten zu können, sie endlich halten zu dürfen.

„Das ist Lefka, meine Haushälterin.“ Andreas Markopoulou übergab der Frau das kleine Bündel. „Wie Sie sehen, ist sie sehr kinderlieb. Sie wird sich um Ihre Schwester kümmern, solange Sie hier sind.“

Claire wollte protestieren, doch die Haushälterin war schneller. Sie sagte etwas auf Griechisch, wandte sich dann ab und verschwand mit Melanie im Haus.

„Normalerweise ist sie nicht so kurz angebunden“, sagte er lächelnd. „Sie ist nur so glücklich, wieder für ein Baby sorgen zu können. Kommen Sie bitte herein.“

Claire nickte. Sie hatte keine andere Wahl. Forschend blickte sie sich in der Eingangshalle um, die geschmackvoll mit Antiquitäten eingerichtet und in warmen Farben gehalten war. Man fühlte sich sofort heimisch.

Andreas Markopoulou streifte ihr vorsichtig das Jackett ab. „Danke“, flüsterte sie, aber sie fühlte sich plötzlich noch viel verletzlicher.

Sie verschränkte die Arme und folgte ihm einen langen Gang entlang zu einer Tür. Er öffnete sie und ließ ihr den Vortritt. Schweigend ging sie an ihm vorbei und sah sich um. Schwere Eichenmöbel, Holzvertäfelung, Bücherregale, ein gemütliches Feuer im Kamin – nur keine Spur von ihrer Tante. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen wahr geworden zu sein. „Wo ist Tante Laura?“ Ihre Stimme bebte.

Andreas Markopoulou schloss die Tür hinter sich und ging zu einem großen Schreibtisch, auf dem ein Telefon und ein Laptop standen. Dann wandte er sich Claire zu und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Ich kann mich nicht erinnern, Miss Cavell erwähnt zu haben.“

Ich weiß, dachte sie niedergeschlagen. Sie hatte nur gehofft … „Warum haben Sie uns hierhergebracht?“

Er schaltete den Computer an, tippte kurz etwas ein und sah mit gerunzelter Stirn auf das Display. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis er endlich aufblickte. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Sie schien ihn verärgert zu haben.

„Ich dachte, das wäre klar“, antwortete er ungeduldig. „Sie haben einen Unfall gehabt. Ihr Handgelenk ist eingegipst, und Sie können kaum für sich selbst, geschweige denn für ein Baby sorgen. Deshalb werden Sie so lange bei mir wohnen, bis Sie wieder gesund sind.“

„Das kommt nicht infrage!“ Claire war entsetzt.

„Nein? Er lächelte spöttisch, und sie fragte sich, warum er so unnahbar war und seine Mitmenschen so vor den Kopf stieß. „Sie haben keine andere Wahl.“

Das war ja wohl die Höhe! Natürlich hatte sie die. Für wen hielt er sich eigentlich? „Was mischen Sie sich ein?“ Wütend funkelte sie ihn an. „Meine Familie geht Sie nichts an. Wir kommen schon allein zurecht. Meine Tante …“

„Ist im Ausland“, unterbrach er sie. „Machen Sie sich nichts vor, Miss Stenson. Wir beiden wissen, dass sie sich lieber beide Arme brechen würde, als bei Ihnen das Hausmädchen zu spielen. Mit ihr brauchen Sie nicht zu rechnen.“

Wieso bloß? Sie verstand die Welt nicht mehr. Er konnte ihre Tante doch nicht einfach fortschicken. „Warum haben Sie das getan?“

Andreas Markopoulou dachte nicht daran, ihr zu antworten, sondern konzentrierte sich wieder auf den Laptop. Nach einer Weile schaltete er ihn aus und klappte ihn zu. Dann straffte er sich und sah sie an.

Claire war aschfahl und zitterte am ganzen Körper. Unwillkürlich hatte er Mitleid mit ihr. Er seufzte leise. „Warum setzen Sie sich nicht? Soll ich aus der Küche etwas zu essen kommen lassen? Sie müssen doch Hunger haben.“

Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, nichts mehr von ihm anzunehmen, bis sie herausgefunden hatte, was er im Schilde führte. Wie gern hätte sie ihm mitgeteilt, wohin er sich … Denk nach, ermahnte sie sich. Sie hatte Durst, und ihr war kalt. Es half keinem, wenn sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. „Eine Tasse Tee wäre schön.“

Andreas Markopoulou nickte, griff nach dem Telefonhörer und gab einige Anweisungen. Nachdem sie den ersten Schritt gemacht hatte, war der zweite gar nicht so schwer. Sie ging zum Ledersofa, das vor dem Kamin stand, setzte sich vorsichtig und schloss die Augen.

Die Wärme tat ihr gut, und sie fühlte sich gleich besser. Jetzt noch ein schönes heißes Schaumbad … Nur, wie sollte sie das mit einem Gips anstellen? Schon das Ausziehen war ein Problem. Sie sank tiefer in die Polster und spürte, wie die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. Vielleicht konnte sie ja etwas …

„Claire!“

Erschrocken öffnete Claire die Augen. War sie tatsächlich eingeschlafen? Sie wusste es nicht. Andreas Markopoulou stand vor ihr. „Ich störe Sie nur ungern, aber Lefka möchte wissen, was sie Melanie zu essen geben soll.“

Sie hatte schon wieder ihre kleine Schwester vergessen! Wie hatte sie nur so egoistisch sein können! Schnell sprang sie auf. „Au!“ Der Schmerz war kaum auszuhalten. Claire krümmte sich und stöhnte laut.

Ehe sie sich’s versah, hatte Andreas Markopoulou den Arm um sie gelegt und stützte sie. Dabei fluchte er leise. „Wie kann man nur so unvorsichtig sein, verdammt noch mal!“ Das war noch der harmloseste Vorwurf.

Seine Ermahnungen konnte er sich sparen! „Hal… halten Sie den Mund.“

Andreas Markopoulou gehorchte tatsächlich. Nach einer ihr endlos vorkommenden Ewigkeit ebbte der Schmerz ab, und sie barg erschöpft den Kopf an seiner muskulösen Brust. Es war so schön, und sie fühlte sich geborgen. Sein herbes Aftershave duftete wundervoll, ja betörend. Sie fühlte sich wie verzaubert.

„Was ist los mit Ihnen?“, fragte er unvermittelt. „Essen Sie nicht genug? Sie bestehen ja nur noch aus Haut und Knochen.“

Diese harten Worte machten alles zunichte. „Es ist alles in Ordnung.“ Claire befreite sich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück. Er ließ sie gewähren. „Melanie bekommt Milchpulver.“ Claire biss sich auf die Lippe. Sie hatte nichts mitgebracht – keine Fläschchen, Windeln, Strampelanzüge und auch kein Spielzeug. „Ich muss zurück in meine Wohnung.“

„Brauchen Sie nicht. Wir haben alles hier.“

Was sollte das schon wieder heißen? Er konnte in der kurzen Zeit unmöglich eine komplette Babyausstattung beschafft haben!

Andreas Markopoulou sah ihr skeptisches Gesicht, und seine Augen funkelten spöttisch. „Kommen Sie mit in die Küche, und überzeugen Sie sich selbst. Dann können Sie Lefka auch gleich zeigen, wie die Milch zubereitet werden muss.“

Schon wieder ein Befehl! Sprang Andreas Markopoulou immer so mit seinen Mitmenschen um? Setzte er sich grundsätzlich über alles hinweg, was ihm nicht gefiel? Nun gut, sie würde nachgeben. Im Moment jedenfalls. Melanie zuliebe. Ohne zu zögern, folgte sie ihm durch die Halle zu den hinteren Räumen des Hauses.

Die Küche war der Traum einer jeden Hausfrau. Gewachstes Holz, unglasierte rote Fliesen. In der Mitte befand sich ein großer gusseiserner Herd, auf dem zahlreiche Töpfe standen. Es duftete appetitanregend, und Claire lief das Wasser im Mund zusammen.

Eine dunkelhaarige Frau in ihrem Alter beugte sich gerade über ein Kinderreisebett. Als sie sie hereinkommen sah, richtete sie sich auf und trat schweigend zur Seite.

Melanie war hellwach und betrachtete ihre Umgebung mit großen Augen. Erleichtert musterte Claire sie. Ihre Schwester trug einen neuen rosafarbenen Strampelanzug und war offensichtlich sehr zufrieden mit sich und der Welt. „Können Sie mir bitte helfen? Ich möchte sie gern auf den Arm nehmen.“ Hoffentlich hörte Andreas Markopoulou dann auf, sie so durchdringend anzublicken.

„Sicher.“ Er beugte sich über das Bettchen, hob das Baby heraus und wandte sich anschließend Claire zu. „Können Sie sie überhaupt halten? Sie sollten Ihre Rippen nicht belasten.“

Claire sah sich um. Am besten war es, wenn sie am großen Tisch Platz nahm. Dann konnte sie Melanie auf der Platte absetzen. Gesagt, getan. Gleich darauf hatte sie ihre Schwester im Arm. Claire neigte den Kopf und küsste sie zärtlich auf die Stirn.

Spätestens jetzt war für jeden ersichtlich, wie sehr sie dieses Kind liebte. Andreas Markopoulou, war nicht blind. Nur übte dieses friedliche Bild eine ganz andere Wirkung auf ihn aus. Er verspürte nackte Wut und hatte die Hände zu Fäusten geballt.

„Ach, da sind Sie ja.“ Lefka kam aus einem der anderen Räume, und Claire blickte auf. Die Haushälterin lächelte zufrieden. „Gut. Sie lieben sie.“ Das war eine Feststellung, keine Frage. „Melanie ist ein Engel. Sie hat mein Herz jetzt schon – wie sagt man – gestohlen?“ Sie sprach mit einem starken griechischen Akzent.

Sie meinte es ernst, davon war Claire überzeugt.

„Könnten Sie mir zeigen, wie ich die Milch zubereiten soll? Unsere Kleine hat bestimmt bald Hunger. Meine Tochter Althea wird Melanie solange halten.“

Als Claire eine Stunde später die Küche verließ, war sie sicher, dass ihre Schwester bestens versorgt war. Es schien ihr, als wäre eine schwere Last von ihren Schultern genommen. Sie hatte sich entschieden. Lefkas Freundlichkeit hatte den Ausschlag gegeben. Schnell machte sie sich auf die Suche nach ihrem Gastgeber. Er saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Laptop, schrieb und telefonierte gleichzeitig.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die schweren roten Vorhänge waren zugezogen, und einige strategisch gut platzierte Lampen verbreiteten ein sanftes Licht. Das Feuer im Kamin brannte hell und verströmte eine angenehme Wärme.

Andreas Markopoulou blickte auf und entdeckte Claire, die noch an der Tür stand. Kurz angebunden verabschiedete er sich von seinem Gesprächspartner und schaltete das Handy aus. Der Schein des Feuers fiel auf sein Gesicht, und es wirkte plötzlich viel sanfter und entspannter. Er sah jünger aus als vorher und weniger Furcht einflößend.

Sie nahm allen Mut zusammen. „Ich bleibe hier.“

3. KAPITEL

„Melanie zuliebe.“ Das hätte ich auch höflicher sagen können, dachte Claire, aber sie brachte es einfach nicht fertig. Bestimmt erwartete Andreas Markopoulou, dass sie ihm dankbar war – nun, darauf sollte er lieber nicht hoffen. Sie hatte nachgegeben, war schwach geworden, und sie verachtete sich dafür. Nur leider hatte sie keine andere Wahl gehabt. Sie musste die bittere Pille schlucken.

Die letzte Stunde in der Küche hatte ihr gezeigt, wie wenig sie im Augenblick in der Lage war, für Melanie zu sorgen. Lefka und ihre Tochter Althea kümmerten sich aufopfernd um die Kleine. Sie bemutterten sie wie die Henne das Küken. Sie, Claire, konnte also ganz beruhigt sein. Doch sie war es nicht.

Sie wusste auch, warum. Andreas Markopoulou, dieser undurchschaubare Grieche, raubte ihr den letzten Nerv. Jetzt stand sie an der Tür seines Arbeitszimmers und wartete schweigend auf seinen spöttischen Kommentar.

Er nickte nur kurz, sagte aber nichts. Was, keine Schadenfreude? Damit hatte sie nicht gerechnet. Er ist der geborene Diplomat, überlegte Claire spöttisch. Ein Meister der Verstellung.

„Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“ Er stand auf.

„Nein, danke. Althea wollte das tun. Ich muss allerdings noch einmal in meine Wohnung, denn ich brauche neue Sachen …“ Sie sah, wie er sie von oben bis unten betrachtete, und errötete. Ihre Kleidung war zerrissen, und sie kam sich vor wie eine Bettlerin, die das Glück hatte zu erfahren, wie die Reichen dieser Welt lebten. Das Gefühl behagte ihr überhaupt nicht.

„Schreiben Sie auf, was Sie benötigen, und geben Sie Althea die Liste. Sie wird mit ihrem Vater hinfahren und alles besorgen.“ Seine Stimme klang kühl, geschäftsmäßig.

„Danke“, antwortete Claire höflich. Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. „Altheas Vater?“

„Nikos, mein Chauffeur.“ Andreas Markopoulou kam langsam auf sie zu. „Ich habe der Familie eine Wohnung im obersten Stock zur Verfügung gestellt.“

Claire trat einen Schritt zurück. Dieser Mann war gefährlich. Sie begann, am ganzen Körper zu zittern. Er blieb vor ihr stehen, umfasste ihr Gesicht und brachte sie dazu, ihn anzusehen. Seine Nähe war betörend, er strahlte eine pure Männlichkeit aus, die ihre Nerven vibrieren ließ.

Er betrachtete sie lange und durchdringend. „Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten“, sagte er schließlich leise.

„Wie kommen Sie darauf? Ich habe keine Angst vor Ihnen.“ Claire erkannte ihre Stimme nicht mehr wieder. Erzürnt befreite sie sich aus seinem Griff. Jetzt duzte er sie auch schon!

Andreas Markopoulou seufzte leise und wandte sich ab. „Übrigens, ich habe deinen Haustürschlüssel.“

Wie bitte? Claire glaubte, sich verhört zu haben. Wie kam er …? Natürlich! Er bestimmte ja nur zu gern über das Leben anderer Menschen und erteilte Befehle, die bedingungslos auszuführen waren. Fremde Schlüssel zu beschlagnahmen gehörte bestimmt zu seinen leichtesten Übungen!

„Als man dich ins Krankenhaus gebracht hat, habe ich Nikos beauftragt, sich um deine Wohnung zu kümmern.“ Er drehte sich zu ihr um und betrachtete sie mit einem unergründlichen Ausdruck.

„Wie fürsorglich!“ Sie war so wütend! Was fiel ihm eigentlich ein? „Habe ich überhaupt noch ein Zuhause? Oder haben Sie meine Sachen schon hierher bringen lassen?“ War alles etwa ein abgekartetes Spiel? Die Vermutung lag nahe. Immerhin hatte er zahlreiche teure Babysachen und Spielzeug gekauft. Wozu das Ganze?

Andreas Markopoulou verspannte sich. „Du beleidigst mich. Ich würde ohne deine Erlaubnis nie deine Wohnung betreten, geschweige denn etwas anrühren. Das wäre Diebstahl.“

„Sie haben mich hierher entführt. Ist das nicht auch ein Verbrechen?“

Jetzt hatte sie ihn wirklich verärgert. „Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Du schaffst es nicht allein. Es ist für euch beide das Beste. Schluss jetzt mit dieser sinnlosen Diskussion. Sie führt zu nichts, und ich habe Wichtigeres zu tun.“

Claire kam sich vor wie ein Kind, das gerade von einem Erwachsenen getadelt worden war, und sie hasste dieses Gefühl. So ließ sie sich nicht behandeln! Schweigend wandte sie sich ab, ging zur Tür und umfasste die Klinke.

„Lass es.“ Andreas Markopoulou stand direkt hinter ihr.

Unwillkürlich zuckte sie zusammen. „Was?“, flüsterte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Er antwortete nicht, sondern drehte sie langsam zu sich um. Als er ihr verzweifeltes Gesicht sah, schüttelte er aufgebracht den Kopf.

Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Sie zeigte Schwäche, und genau das wollte sie nicht. Wenn sie weinte, verachtete er sie nur noch mehr. „Ich kann nicht bleiben.“ Ihre Stimme überschlug sich beinah.

„Warum nicht?“ Plötzlich schien er nicht mehr wütend zu sein. „Nur weil wir uns streiten? Das heißt noch lange nicht, dass wir nicht miteinander auskommen werden. Wir möchten eben beide unseren Kopf durchsetzen. Was ist schon dabei?“

Du hast ja auch kein Problem damit, dachte sie böse. Seit sie ihn kannte, hatte er jede Schlacht gewonnen. Im Gegensatz zu ihr hatte er einen starken Willen, und das ließ er sie spüren. Langsam war sie mit ihrer Geduld am Ende. Was gab ihm das Recht, sie so herablassend zu behandeln?

„Soll ich dir einen guten Rat geben?“ Wenn er sie duzte, konnte sie das auch! „Sei nicht so überheblich. Nur so überstehen wir vielleicht die nächsten Wochen, ohne uns an die Kehle zu gehen.“ Sie wirbelte herum, ging zur Tür und verließ das Arbeitszimmer. Er hielt sie nicht zurück.

Wenig später führte Althea sie in eines der eleganten, geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer im ersten Stock. Verblüfft blickte Claire sich um. Es handelte sich eher um ein Apartment! Sanftes Blau und Grün dominierten, und die hellen Möbel passten farblich genau dazu.

Eine Tür führte zu einem großen ganz in Weiß gehaltenen Badezimmer und eine andere zu einem Ankleideraum mit vielen Regalen. Wehmütig dachte Claire an die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß. Zwei Schubladen hätten völlig ausgereicht!

Schließlich kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Wo sollte sie Melanies Reisebett aufstellen? Plötzlich hielt sie inne. Verdammt! Daran hatte sie nicht gedacht. Sie konnte das Baby nachts nicht füttern oder wickeln – nicht mit dem verletzten Arm! Sie blickte auf. „Wo soll meine Schwester schlafen?“

Althea stand schüchtern an der Tür und wartete auf die Liste. Claire sollte sie ihr diktieren, da sie mit der linken Hand nur schlecht schreiben konnte. „Mamma hat vorgeschlagen, dass sie neben meinem Bett schläft. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.“

Damit waren sie und ihre Schwester zum ersten Mal getrennt – nicht nur durch eine Wand, nein, ein ganzes Stockwerk lag zwischen ihnen. Claire biss sich auf die Lippe. Allein der Gedanke daran war unerträglich. Aber sie hatte keine andere Wahl. Es war das Beste für Melanie.

Gleich darauf ging Althea mit der Liste hinaus, um ihren Vater zu suchen, und Claire beschloss, sich durch ein schönes heißes Bad abzulenken. Nur leider hatte sie dabei den Gips vergessen. Etwas ratlos stand sie vor der großen Wanne. Nein, das funktionierte nicht. Auch wenn sie sich schon so gefreut hatte … Vielleicht eine Dusche?

Verlangend blickte Claire zu der gläsernen Kabine in der Ecke hinüber. Daneben hing ein weißer Frotteebademantel. Warum eigentlich nicht? Sie würde es einfach versuchen. Mühsam streifte sie sich die zerrissenen Jeans, die schmutzige Bluse, den Slip und den BH ab. Hoffentlich kam Althea bald mit ihren Sachen zurück. Sie, Claire, konnte ja nicht die ganze Zeit im Bademantel herumlaufen! Schnell wandte sie sich ab … und blickte in den verzierten Spiegel an der Wand. Erschrocken zuckte sie zusammen.

Sie sah aus, als wäre sie verprügelt worden. Die Wunde an der Schläfe war eher klein und hatte schon aufgehört zu bluten, aber darunter hatte sich eine große Beule gebildet. Die Schwellung über den Rippen hatte sich schwarz-bläulich verfärbt. Kein Wunder, dass die Schmerzen unerträglich waren. Das war allerdings noch nicht alles.

Sie hatte sich lange nicht mehr im Spiegel betrachtet, und deshalb war ihr nicht aufgefallen, wie dünn sie geworden war. Jetzt verstand sie, warum Andreas Markopoulou so reagiert hatte. Wie viel Kilo hatte sie abgenommen? Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie keine Zeit mehr gehabt, auf sich zu achten. Noch vor einigen Monaten war sie attraktiv gewesen – jedenfalls hatte sie es geglaubt! Aber jetzt…

Und was war mit ihrem wunderschönen Haar geschehen? Glanzlos hing es hinunter und umrahmte ihr aschfahles Gesicht. Unter den Augen lagen tiefe Ringe. Die schlaflosen Nächte und die vielen Tränen hatten deutliche Spuren hinterlassen.

Was hatte sie sich nur angetan? Wo war die glückliche, immer lächelnde, gut aussehende junge Frau geblieben? Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, mit traurigem Blick, hässlichen Prellungen und blauen Flecken.

Nein, ich lasse mich nicht unterkriegen, dachte sie energisch. Sie hatte schon schlimmere Zeiten überstanden. Nach einer ausgiebigen warmen Dusche sah die Welt bestimmt schon wieder anders aus.

Als Claire viel später mit frisch gewaschenem Haar und nach Duschgel duftend aus der Kabine stieg und sich mit der gesunden Hand abtrocknete, fühlte sie sich tatsächlich viel besser, wahrscheinlich weil sie es ganz allein geschafft hatte. Es war zwar schwierig gewesen – die ganze Zeit hatte sie den eingegipsten Arm nach draußen gehalten –, aber es war ihr gelungen. Ein kleiner Sieg.

Ermutigt streifte sie sich den Bademantel über … und stand vor dem nächsten Problem. Wie sollte sie den Gürtel verknoten? Egal, dachte sie, darum kümmere ich mich später.

Sie nahm ein Handtuch, trocknete sich das Haar und ging dabei ins Schlafzimmer zurück. Dort angekommen, blickte sie auf und verspannte sich. „Oh!“

Andreas Markopoulou stand mitten im Raum und wirbelte herum, als er ihren leisen Ausruf hörte. Eine kleine Ewigkeit lang betrachteten sie sich schweigend. Claire fühlte sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Sie konnte sich nicht bewegen.

„Was ist los, Claire?“, fragte er schließlich entnervt. „Du hast keinen Grund, Angst vor mir zu haben. Ich werde dich nicht anrühren, falls du das glaubst. Allerdings bin ich kein Heiliger. Wenn du nicht bald den Bademantel schließt, kann ich für nichts garantieren.“

Du meine Güte! Das hatte sie tatsächlich vergessen. Entsetzt ließ sie das Handtuch fallen und raffte den Bademantel zusammen. „Schon einmal etwas von Anklopfen gehört?“ Ihre Stimme bebte. Sie war noch nie so verlegen gewesen.

„Das habe ich, aber du hast nicht geantwortet. Ich dachte, du schläfst. Deshalb bin ich hereingekommen.“

„Ach ja? Das ist ja noch schlimmer. Wer gibt dir das Recht, einfach so hereinzuplatzen? Wenn ich tatsächlich tief und fest geschlafen hätte, was hättest du getan? Mich beobachtet?“

Andreas beantwortete ihre Fragen nicht, und das erzürnte Claire über alle Maßen. Stattdessen besaß er sogar noch die Frechheit, sie anzufunkeln! Er schien tatsächlich zu erwarten, dass sie sich für sein Eindringen entschuldigte! Dieser Mann trieb sie noch in den Wahnsinn!

Ungeduldig schüttelte er den Kopf. „Diese ganze Unterhaltung ist reine Zeitverschwendung.“ Er kam energisch auf sie zu, und sie wich erschrocken zurück.

„Bleib stehen“, befahl er. Als sie nicht gehorchte, packte er das Revers ihres Bademantels. Sie saß in der Falle. Andreas Markopoulou stand vor ihr wie ein Racheengel, der nichts Gutes im Schilde führte. Er war zornig, das spürte sie genau. Doch da gab es noch etwas anderes, das sie nicht deuten konnte.

Plötzlich beugte er sich zu ihr herunter. Er will mich küssen, überlegte sie entsetzt und wollte protestieren, aber es gelang ihr nicht. Sie stand wie erstarrt da, ihr Herz klopfte wild, und ihr Puls raste.

Wieder überraschte Andreas sie, indem er nur den Gürtel verknotete. Claire konnte es nicht fassen. Sie kam sich vor wie in einer Achterbahn. Es war ein Wechselbad der Gefühle – Panik, Erleichterung und …

Dann küsste er sie und nahm ihr völlig den Wind aus den Segeln. Sie hatte keine Kraft mehr, sich gegen ihn zu wehren. Er presste rücksichtslos die Lippen auf ihre, und die Welt um sie her verblasste. Es gab nur noch ihn.

Claire blickte ihm direkt in die dunklen, einem tiefen Ozean gleichenden Augen. Nicht mehr lange, und sie war rettungslos verloren. Sie sank immer schneller und tiefer. Jeder Gedanke war wie ausgelöscht. Das Wasser stieg und …

Plötzlich ließ Andreas sie los. „Jetzt solltest du Angst haben.“ Er wandte sich ab.

Regungslos blieb sie mitten im Zimmer stehen. Sie schwiegen beide, und man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen gehört. Verzweifelt versuchte Claire, Ordnung in ihr Gefühlschaos zu bringen.

Andreas hatte sie geküsst, aber nicht, weil er sich von ihr angezogen fühlte. Er war wütend, und er hatte sie bestrafen wollen. Warum nur? Weil sie ihn herausgefordert und sein Ego verletzt hatte? Er sollte seine schlechte Laune tunlichst woanders abreagieren! „Wenn du das noch einmal machst, kratze ich dir die Augen aus.“ Ihre Stimme bebte.

„Dann solltest du nächstes Mal nicht halb nackt herumlaufen.“

Zum Teufel mit ihm! Sie hätte ihm eine gehörige Ohrfeige verpassen sollen. Wenn sie nur nicht so unsicher auf den Beinen gewesen wäre … Allerdings war dieser eine Kuss eine Offenbarung gewesen. Sie wollte nicht mehr daran denken. So etwas durfte nie wieder geschehen. Ein Blick in diesen geheimnisvollen, tiefen Ozean, und sie war verloren.

Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie entnervt. Was hatte sie gemacht, bevor sie Andreas Markopoulou entdeckt hatte? Ach ja, sie hatte sich das Haar getrocknet. Suchend blickte sie sich um. Das weiße Handtuch lag auf dem Boden. Anscheinend hatte sie es fallen lassen. Es aufzuheben kam mit den geprellten Rippen nicht infrage. Also ging sie zum Frisiertisch, setzte sich auf den kleinen Hocker und begann, sich zu kämmen.

Andreas stand mit dem Rücken zu ihr und betrachtete anscheinend fasziniert den Fernsehschrank aus poliertem Holz, in dem sich außerdem noch eine teure Musikanlage befand. Althea hatte ihr gezeigt, wie man damit umging. In diesem Zimmer fehlte wirklich nichts!

„Was willst du?“, fragte Claire schließlich unfreundlich, als sie das Schweigen nicht länger aushielt.

Er drehte sich zu ihr um, und sie hätte ihn am liebsten geschüttelt. Dieser Mann war so kalt, beherrscht und arrogant. Es war, als würde er auf einem hohen Berg sitzen und verächtlich auf seine Mitmenschen herabblicken. Diese Vorstellung brachte sie zum Lächeln.

Andreas sah es und runzelte die Stirn. „Was machen deine Rippen?“ Wahrscheinlich hielt er es für das Beste, nicht nachzuhaken, was sie so belustigte.

„Sie tun weh.“

„Und das Handgelenk?“

„Es geht.“ Claire schnitt ein Gesicht.

„Dann ist das hier genau das Richtige.“ Andreas nahm ein Röhrchen mit Tabletten aus der Tasche. „Ein Schmerzmittel. Deswegen bin ich hier. Der Arzt hat es mir gegeben. Ich habe es ganz vergessen.“ Er stellte es auf den Fernsehschrank und wandte sich anschließend wieder ihr zu. „Wie stark sind die Schmerzen wirklich?“

Sie entdeckte etwas in seinen Augen, das sie zuerst nicht deuten konnte. War es Besorgnis? Beinah hätte Claire „unerträglich“ gesagt, doch sie wollte keine Schwäche zeigen. „Sie sind auszuhalten.“

Andreas durchschaute sie sofort. „Lüg mich nicht an, Claire.“

„Also gut.“ Es war besser nachzugeben. „Es tut höllisch weh.“ Entsetzt spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. Nicht schon wieder!

Er fluchte leise, ging ins Badezimmer und kam mit einem Glas Wasser zurück. Dann öffnete er das Röhrchen, nahm zwei Tabletten heraus und hielt sie ihr schweigend hin. Dankbar nahm Claire sie und spülte sie mit einem Schluck kühlen Wassers hinunter.

Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie wollte sie mit dem Glas fortwischen, aber er war schneller. Sanft strich er ihr übers Gesicht. Die Berührung war so zärtlich, dass Claire ihn am liebsten gebeten hätte weiterzumachen. Sie wollte sich an seine muskulöse Brust schmiegen und einfach nur weinen, bis sie erschöpft war. „Ich kann kaum aufstehen“, flüsterte sie verzweifelt. „Es tut alles weh – meine Hand, meine Hüfte, meine Rippen … Außerdem muss ich die ganze Zeit heulen.“

Ehe sie sich’s versah, hob er sie hoch, trug sie zum Bett und legte sie sanft darauf. „Du hast einen Unfall gehabt und stehst unter Schock. Tränen sind da ganz normal.“ Er deckte sie fürsorglich zu.

Claire beobachtete ihn. Er sah nicht mehr wütend aus, sondern eher wie ein besorgter Vater. „Wie alt bist du?“

Andreas richtete sich auf und blickte ihr in die blauen Augen. „Ich bin schon ein Tattergreis.“ Damit war das Thema für ihn erledigt. „Schlaf jetzt, damit das Schmerzmittel wirken kann. Wir essen in …“, er blickte auf seine goldene Armbanduhr, „… zwei Stunden. Bis dahin ist Althea auch wieder zurück. Sie wird dir ein Tablett hinaufbringen.“ Dann wandte er sich ab und ging hinaus.

Claire hatte das Gefühl, als wäre plötzlich das Feuer im Kamin ausgegangen. Sie zog die Decke höher. Was für ein Vergleich! dachte sie kopfschüttelnd. Andreas Markopoulou war doch eher eisig wie ein Kühlschrank und nicht heiß wie hell lodernde Flammen …

Sie beschloss, das Abendessen unten einzunehmen, denn sie wollte Lefka und ihrer Tochter nicht noch mehr Arbeit machen. Althea hatte ihr beim Anziehen geholfen – sie trug jetzt Jeans und ein weites schwarzes T-Shirt, das beim An- und Ausziehen keine großen Probleme verursachte. Die Haushälterin hatte inzwischen Melanie gebadet und gefüttert, und Claire freute sich schon darauf, ihre Schwester zu sehen.

Das Esszimmer war ganz in Gold- und Grüntönen gehalten. Ein Feuer loderte im Kamin, und klassische Musik lief im Hintergrund. Andreas hatte schon am großen Tisch Platz genommen. Er trug ein hellblaues Hemd und eine maßgeschneiderte graue Hose … und er hatte Melanie auf dem Arm.

„Du siehst gut aus.“ Zufrieden betrachtete er ihr glänzendes Haar. Sie hatte sich viel Mühe beim Bürsten gegeben, bevor sie heruntergekommen war.

„Ich fühle mich auch besser.“ Claire schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Ist Melanie brav gewesen?“

„Lefka schwärmt in den höchsten Tönen von ihr. Sie ist hingerissen von ihr. Ich kann es ihr nicht verdenken. Deine Schwester ist ein Engel.“

Er meinte es tatsächlich ernst! All der Ärger war von ihm abgefallen, und plötzlich war Andreas ein ganz anderer Mensch. Liebevoll, fürsorglich, ein guter Vater eben. „Sie ist wach. Möchtest du sie halten?“

„Oh ja, bitte.“ Sie hatte sich so sehr nach diesem kleinen Wesen gesehnt. Schnell setzte sie sich auf einen Stuhl, und Andreas legte ihr die Kleine in den Schoß. Melanie erkannte sie sofort und streckte die Ärmchen nach ihr aus.

„Sie weiß, wer du bist.“ Er schien überrascht zu sein.

„Natürlich. Ich bin ihre Ersatzmutter.“ Sanft sprach sie mit ihrer Schwester, und diese lauschte fasziniert. Sie hatte Andreas ganz vergessen. Für sie zählte nur das Baby, und sie war glücklich und erleichtert, dass es Melanie gut ging. Er beobachtete sie beide nachdenklich, läutete dann, und Lefka kam mit einer Suppenterrine herein.

Das Abendessen schmeckte hervorragend. Es gab eine reichhaltige Gemüsesuppe, danach in kleine Stücke geschnittene, gebratene Hähnchenbrust auf einem Reisbett, die Claire ohne Schwierigkeiten nur mit der Gabel essen konnte.

Sie lehnte den vollmundigen Rotwein ab, der zum Hauptgang serviert wurde, und ließ sich Mineralwasser bringen. Und sie unterhielten sich – was bedeutete, dass sie redete und Andreas zuhörte. Zwischendurch stellte er einige kurze Fragen, und ehe sie sich’s versah, erzählte sie ihm ihre ganze Lebensgeschichte.

Schließlich legte sie die Serviette auf den Tisch und lehnte sich zurück. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, um die Frage zu stellen, die sie schon den halben Tag lang beschäftigte. „Warum hast du meine Tante fortgeschickt?“

Er trank einen Schluck Wein und betrachtete sie forschend. „Sie hat euch nie sehr nahe gestanden, oder?“

Das war keine Antwort, sondern eine Gegenfrage. Claire hätte ihn am liebsten geschüttelt, aber sie blieb höflich. „Stimmt. Tante Laura findet, dass meine Mum etwas … zu freizügig gewesen ist.“ Sie zuckte die Schultern. „Sie ist eben die hübschere von ihnen beiden gewesen. Alle haben sie verwöhnt. Meine Tante ist ganz anders. Sie hätte so etwas nie zugelassen. Niemand darf sich in ihr Leben einmischen. Sie kann gut mit Geld umgehen und steht im Beruf ihre Frau. Darauf ist sie stolz.“

Andreas nickte, und sie fühlte sich ermutigt. Es schien ihn wirklich zu interessieren. „Gefühle haben keinen Platz in ihrem Leben.“

„Ihr seid doch eine Familie. Empfindet sie denn gar nichts für euch?“

„Sie möchte, dass ich meine Schwester zur Adoption freigebe.“

„Du hast dich noch nicht entschieden.“ Das war eine Feststellung. Er hatte ihre Miene richtig gedeutet.

Was geht dich das an? dachte Claire bitter und stand auf. Andreas hatte sie die ganze Zeit ausgehorcht und sich ihr Vertrauen erschlichen. Was hatte er vor? Warum wollte er so viel über sie wissen? „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“ Kühl blickte sie ihn an. „Warum hältst du Tante Laura von uns fern?“

Autor

Michelle Reid

Michelle Reid ist eine populäre britische Autorin, seit 1988 hat sie etwa 40 Liebesromane veröffentlicht.

Mit ihren vier Geschwistern wuchs Michelle Reid in Manchester in England auf. Als Kind freute sie sich, wenn ihre Mutter Bücher mit nach Hause brachte, die sie in der Leihbücherei für Michelle und ihre...

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