Liebe ist der größte Schatz

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Eine junge Dame, die Nacht für Nacht mutig das Schloss ihres Gastgebers durchsucht - Ein Herzog, der ihr auf die Schliche kommt und ihr Geheimnis ergründen will -Eine Begegnung zweier Menschen, die ihr Herz vor der Liebe verschlossen haben - Und eine lange verschollene Schatzkarte, die zum Trumpf im Spiel um das Lebensglück des Duke of Carisbrook und Miss Emma Seaton wird - In ihrem Roman voller Geheimnisse, spannender Ereignisse und romantischer Begegnungen beweist Sophia James: "Liebe ist der größte Schatz".


  • Erscheinungstag 30.12.2007
  • Bandnummer 496
  • ISBN / Artikelnummer 9783863499365
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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London, Mai 1822

Asher Wellingham, neunter Duke of Carisbrook, stand neben seinem Gastgeber Lord Henshaw am Rand der Tanzfläche. Unauffällig betrachtete er die junge Dame, die soeben ohne Chaperone neben dem Orchesterpodest Platz genommen hatte.

„Wer ist das, Jack?“, fragte der Duke betont gleichgültig. In Wahrheit war ihm die Unbekannte bereits aufgefallen, kaum dass sie den Salon betreten hatte – eine so schöne Frau in solch schlichter Aufmachung sah man nicht oft auf einer Gesellschaft. Ungewöhnlich war auch, dass sie offensichtlich Vergnügen daran fand, still für sich dazusitzen und die Gäste zu beobachten.

„Lady Emma Seaton, die Nichte der Countess of Haversham“, beantwortete Lord Henshaw die Frage seines Freundes und fügte hinzu: „Sie kam vor ungefähr sechs Wochen nach London, und seither bemühen sich die Gentlemen scharenweise darum, ihr vorgestellt zu werden.“

„Wo lebt sie?“

„Auf dem Land, würde ich denken. Wie es aussieht, hat sie noch keine des Frisierens kundige Zofe hier in London angestellt – ihre Haartracht ist, sagen wir, etwas außergewöhnlich.“

Asher ließ nun den Blick über das üppige Durcheinander nachlässig hochgesteckter blonder Locken schweifen, und im Stillen pflichtete er Lord Henshaw bei, denn gekonnt war die Frisur in der Tat nicht arrangiert. Erstaunlicherweise betörte ihn der Anblick ihrer sonnengebleichten goldenen Locken im gleichen Maße, wie er ihn beunruhigte.

Es geschah selten, dass Menschen ihn zu überraschen vermochten, geschweige denn, dass sie ihn faszinierten. Dieses bemerkenswert unbefangene Mädchen indes, das völlig unpassend gekleidet war, stimmte ihn neugierig. Bislang war ihm keine Frau begegnet, die während der Mahlzeit ihre Handschuhe anbehielt und sogar den verhüllten Finger ableckte, nachdem die Marmeladenfüllung eines Kekses darauf getropft war.

Sie hatte nicht vornehm auf dem Teller herumgestochert wie jede andere ihrer Geschlechtsgenossinnen in diesem Raum, sondern sich von sämtlichen Speisen, die serviert worden waren, reichlich genommen, um sich anschließend dem Menü zu widmen, als ginge es um Leben und Tod. Womöglich hatte es in ihrem Leben Zeiten gegeben, in denen nicht genug zu essen vorhanden war. Dies würde ihren gesunden Appetit und den Eifer, mit dem sie alles verzehrt hatte, erklären.

Leicht gereizt stellte Asher fest, dass die junge Dame nicht nur seine Blicke auf sich lenkte, sondern die zahlreicher Ballgäste, und kaum dass sie sich erhob, wurde das Wispern aufgeregter. Ihre hohe schlanke Gestalt betonte den viel zu kurzen Saum ihres Kleides, über dessen unschickliche und unmodische Länge die Umstehenden, wie er hören konnte, spitze Bemerkungen machten. Lady Emma Seaton ist sich ihrer Erscheinung offenbar nicht gewahr, dachte er und fluchte unhörbar. Was kümmerte ihn diese Frau? Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ihr irgendwo schon einmal begegnet war, denn sie kam ihm auf irritierende Weise vertraut vor. Woher mochte er sie kennen? Er versuchte, ihre Augenfarbe auszumachen, doch aus dieser Entfernung war es ihm unmöglich.

Als die Musik einsetzte, wandte Asher sich ab und überließ Lady Emma dem Wolfsrudel der anwesenden Gentlemen, das sich allmählich anschickte, sie einzukreisen. Die Countess of Haversham soll verdammt sein, dass sie ihre Nichte so vernachlässigt, dachte er noch, bevor er sich von einem Lakaien ein Glas Wein reichen ließ.

Trauben von Menschen drängten sich lachend und redend durch den Saal, sodass die Musiker des Streichquartetts kaum gegen den Lärm ankamen.

Die Stirn in Falten gelegt, nahm Emerald Platz und schloss die Augen, um den schönen Klängen aufmerksam zu lauschen. Die Gäste auf dieser Gesellschaft schienen Musik nicht sehr zu schätzen und nicht zu verstehen, dass, wenn Stille herrschte, die leisen Töne viel besser zur Geltung kämen. Wenn sie nicht zu hören war, verarmte die Melodie und wurde so oberflächlich wie all die Leute hier.

Das Stück klang fremd in Emeralds Ohren, war sie doch karibische Instrumente und Lieder gewohnt. Gleichwohl stimmte der beschwingte Rhythmus sie heiter. Sie glaubte fast, ihre Mundharmonika an den Lippen zu spüren und die Töne sanft über dem wogenden Meer ausklingen zu hören. Bei der Erinnerung an Jamaika verspürte sie einen leisen ziehenden Schmerz in der Herzgegend.

Nein, ich darf nicht an zu Hause denken, mahnte sie sich insgeheim und straffte sich, um lustlos die vielen Ballbesucher um sich her zu beobachten.

Auf Gesellschaften und Soireen wie dieser würde sie in der nächsten Zeit des Öfteren weilen.

England.

Gedankenverloren befühlte Emerald den Seidenstoff ihres Kleides, während sie in wenigen Zügen das dritte Champagnerglas leerte. Das prickelnde Getränk minderte ihre Angst und schärfte unerwartet ihre Sinne. Alles hier kam ihr fremd vor, die Klänge, die Gerüche, selbst die Gefühle, die die Menschen zu haben schienen. Wie sehr sehnte sie sich nach der Sonne, nach dem Wind oder dem warmen Regen und den süßen schweren Blütendüften Jamaikas. Und wie gern würde sie sich endlich wieder von dem hochgeschnürten Korsett befreien und den warmen Sand der Bucht von Montego auf ihrer Haut spüren. Am liebsten wäre sie jetzt, auf der Stelle, in die Fluten des azurblauen Ozeans getaucht und hinausgeschwommen, bis sie die Welt an Land weit hinter sich gelassen hätte.

Seufzend mahnte sie sich, ihre Gedanken zu sammeln. „Keine Erinnerungen mehr“, wisperte sie und nahm dankbar zur Kenntnis, dass in diesem Augenblick ihre Tante sich ihr gegenüber auf den einzigen leeren Stuhl setzte. Lady Haversham wirkte ungewöhnlich bleich.

„Geht es dir gut, Miriam?“

„Er ist hier, Emmie …“ Miriam vermochte den Satz kaum zu Ende zu führen.

„Wer?“, fragte Emerald überflüssigerweise, denn sie kannte die Antwort, bevor die Tante gesprochen hatte.

„Asher Wellingham.“

Emerald spürte, wie Angst sich ihrer bemächtigte – und Wut. Am Ende war er also doch aufgetaucht, und die vielen abendlichen Veranstaltungen, die sie so wenig schätzte, würde sie bald nicht mehr besuchen müssen.

Das wochenlange Warten hatte an ihr zu zehren begonnen, und gegen die Avancen der Gentlemen konnte sie sich inzwischen nur noch schwer verwahren. Hatte Wellingham sie gesehen und wiedererkannt? Sie stellte ihr Glas auf dem Tisch neben sich ab und verbannte eine lose Locke hinter ihr Ohr. Sie hoffte inständig, dass er sich nicht an sie erinnerte, wenn sie einander gegenüberstanden, denn andernfalls war ihre Reise vergebens gewesen, und im schlimmsten Fall drohte ihr die Verfolgung durch das Gesetz.

„Wo ist er?“, fragte sie und ärgerte sich über ihre plötzliche Unruhe.

„Dort drüben in der Ecke bei der Tür. Er hat dich vorhin eine ganze Weile beobachtet.“

Emerald widerstand dem Drang, sich nach ihm umzudrehen. „Denkst du, er ahnt etwas?“

„Nein. Hätte er dich erkannt, wären die Konstabler längst hier, um dich zu arretieren. Wellingham würde nicht mit der Wimper zucken, wenn es darum ginge, dich als Tochter und Komplizin eines Freibeuters an den Galgen bringen zu lassen.“

„Könnte er das tatsächlich bewirken?“

„Oh, du wärest erstaunt, über wie viel Macht und Einfluss Wellingham verfügt, Emmie – und dabei würde er sich moralisch absolut im Recht fühlen.“

„Dann müssen wir uns mit unserem Vorhaben beeilen. Dreh dich langsam um“, forderte Emerald die Tante auf, die prompt viel zu auffallend den Kopf zur Seite wandte. „Stützt er sich auf einen Stock?“

Emerald hielt den Atem an. Konnte es so einfach sein?

„Nein. Er hält lediglich ein Glas in der Hand. Ich glaube, er trinkt Weißwein.“

Emerald ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. „Dann wird wenigstens meine Abendrobe nicht ruiniert sein.“ Sie besaß genau drei Kleider, die sie gebraucht in einem Laden in der Monmouth Street gekauft hatte. Ein viertes würde sie sich nicht leisten können.

„Oh, meine Liebe, du wirst doch nicht etwa vorhaben, unter irgendeinem Vorwand mit ihm zusammenzustoßen? Er merkt bestimmt, dass du ihm etwas vorspielst, dessen bin ich mir sicher.“

„Keine Sorge, Tante Miriam. Ich beherrsche diesen Trick. In Kingston und Port Antonio ließ Beau mich oft genug irgendwelche Frauen anrempeln, wenn er einen Grund brauchte, sie anzusprechen. Hier wird es einfacher werden. Ein leichter Stoß genügt, und ich habe Gelegenheit, eine Konversation mit ihm zu beginnen und eine Weile in seiner Gesellschaft verkehren zu können.“

„Du hast es mit dem Duke of Carisbrook zu tun. Unterschätze ihn nicht wie dein Vater damals.“

Emerald stockte für einen Augenblick der Atem. Beau war in der Tat unvorsichtig geworden, doch sie würde nicht den gleichen Fehler wie er begehen. Sie neigte sich vor und löste die silberne Schnalle an ihrem linken Schuh, denn die Details mussten stimmen. Der Vater hatte ihr das ein ums andere Mal eingebläut. Dann erhob sie sich.

Asher Wellingham unterhielt sich noch immer mit dem Gastgeber, als sie unmittelbar vor ihm ins Straucheln geriet und geschickt in seinen Armen landete. Zum Glück hatte sie rechtzeitig einen schrillen Ton von sich gegeben, denn der Duke reagierte schnell, und es wäre ihm beinahe gelungen, sie zu stützen, als sie vermeintlich die Balance verlor. Hätte der Saum des Kleides sich nicht an einem ihrer Absätze verhakt, wäre ihr kleines Schauspiel zügig und ohne weiteres Aufhebens über die Bühne gegangen. So jedoch touchierte sie einen kleinen Gentleman, der neben ihr stand, und der schmächtige ältere Herr geriet ins Wanken. Der auf Hochglanz polierte Marmor unter ihren Sohlen bot ihr zu ihrem Verdruss keinen Halt, und sie fiel unsanft zu Boden, während sich der Weißwein über ihr Kleid ergoss und der kleine Gentleman ebenfalls stürzte. Aber wenigstens war die Situation hervorragend geeignet, sich ohnmächtig zu geben, und Emerald schloss zufrieden die Augen.

Sie vernahm ein allgemeines Aufkeuchen um sich, als sie die starken Arme des Duke of Carisbrook oberhalb ihrer Taille und in ihren Kniekehlen spürte und er sie mühelos hochhob. Der weiche feine Wollstoff seines Fracks schmiegte sich an ihre Wange, und sie hörte sein Herz kräftig und regelmäßig schlagen. Dann berührten seine Finger flüchtig ihre Seite, und sie vergaß beinahe zu atmen. Den Kopf gegen seine Schulter gelehnt, gewahrte sie, vorsichtig unter ihren langen Wimpern hervorlugend, dass ihre durch das Korsett hochgewölbten Brüste in dieser Haltung überdeutlich betont wurden, und als sie für eine Sekunde zu Asher Wellingham aufzublinzeln wagte, war sie überrascht über das, was sie in seinen Augen las.

Während er sie aus dem Ballsaal trug, dachte sie darüber nach, wie sich die Farbe seiner Augen beschreiben ließ. Sie waren hellbraun und durchsetzt mit goldfarbenen Flecken. Gerade eben jedoch hatten sie sich leicht verdunkelt, sodass für Emerald kein Zweifel daran bestehen konnte, dass seine Gedanken unschicklicher Natur gewesen waren. Diese Erkenntnis verwirrte sie und erzeugte in ihr das Gefühl, dass alles viel schwieriger würde als erwartet.

„Sie sind in Ohnmacht gefallen“, sagte er hörbar gereizt, als er sie auf einem Kanapee in einem Nebenzimmer ablegte. Die Musik drang jetzt nur noch sehr leise an ihre Ohren. Emerald sah zu ihm auf und kam zu dem Schluss, dass er mit seinem dunklen, für einen englischen Gentleman ungewöhnlich langen Haar und den cognacfarbenen Augen eine außerordentlich attraktive Erscheinung abgab. Der Duke of Carisbrook war ein Mann mit legendärem Selbstvertrauen und genügend Rachedurst im Herzen, um ihren Vater über die drei Ozeane zu verfolgen – und ihn zu töten!

Kaum hatte sich diese Erinnerung in ihrem Kopf geformt, kehrte der unbändige Zorn zurück, den sie so oft empfand, und mit ihm der tiefe Schmerz über den erlittenen Verlust. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Stimme halbwegs verlegen und nicht etwa ungehalten klang.

Sie setzte eine schüchterne Miene auf und legte die Hand auf den Mund. „Es tut mir schrecklich leid“, beteuerte sie. „Ich vermute, die Hitze im Ballsaal und die vielen Menschen haben mir zugesetzt. Vielleicht auch der Lärm …“ Unsicher hielt sie inne und fragte sich, ob ihr Gehabe zu theatralisch wirkte. Sie klappte ihren Fächer auf, um ihr Gesicht dahinter zu verbergen. Zu ihrer Erleichterung trat der Duke einen Schritt zurück.

„Haben Sie mich vor einem misslichen Sturz bewahrt, Euer Gnaden?“

„Es verhielt sich vielmehr so, dass Sie gerade in meine Armen fallen wollten, als Sie aus Gründen, die sich mir nicht erschließen, den gebrechlichen Earl of Derrick umstießen und mit ihm auf dem Boden landeten. Doch zuvor habe ich in dem Versuch, Sie zu halten, mein Weinglas über Ihrem Kleid entleert.“

Emerald gab sich alle Mühe, entsetzt auszusehen, während sie darüber nachdachte, wie schrecklich anstrengend es war, unendliche Dankbarkeit vorzuspiegeln oder unaufhörlich zu bekunden, wie leid es einem tat. Diese Scharade gestaltete sich zunehmend schwierig, zumal sie sich mit den Regeln gesellschaftlichen Gebarens weder vertraut fühlte noch sie nachvollziehen konnte. Sie mahnte sich, vorsichtig zu sein, denn sie musste auf jeden Fall ihre wahre Identität verbergen. Kamen zu viele Fragen auf, würde sie Antworten geben müssen und womöglich all jene in Gefahr bringen, die sie liebte.

„Wo ist meine Tante?“

„Wenn ich mich nicht irre, ist sie auf der Suche nach einem Schal, um die Weinflecken zu kaschieren.“

Emerald machte Anstalten, sich aufzusetzen. „Vielleicht bin ich in der Lage …“

„Ich denke, es wäre klüger, wenn Sie noch eine Weile liegen blieben“, unterbrach der Duke sie mit seiner klangvollen Stimme und ergriff ihr Handgelenk, um den Puls zu fühlen, der just in dem Moment, da er sie berührte, in die Höhe schnellte. Besorgt fragte Emerald sich, ob ihr Pulsschlag am Ende Rückschlüsse zuließ, die sie in Verlegenheit bringen konnten.

Als er lächelte, wusste sie Bescheid. Er war kein Mann, der sich von geistlosem weiblichem Verhalten aus der Reserve locken und um den kleinen Finger wickeln ließ. Emerald entzog ihm ihre Hand und setzte eine Unschuldsmiene auf, wie sie sie bei vielen englischen Mädchen beobachtet hatte. „Ich bin selten so ungeschickt. Ich muss gestolpert sein.“ Sie raffte leicht ihren Rock, bis die offene Schnalle zum Vorschein kam. „Ah, daran dürfte es liegen.“ Zufrieden stellte sie fest, dass er die neue Erkenntnis zu verinnerlichen schien.

Zum Glück trat in diesem Augenblick Miriam in den Raum, gefolgt von ihrem Gastgeber Lord Henshaw.

Die Tante verzog besorgt das Gesicht. „Geht es dir besser, meine Liebe? Du hättest dir eine Kopfverletzung zuziehen können bei dem Sturz. Und dein Kleid ist völlig ruiniert von dem Weißwein. Komm, Liebes, setz dich auf, damit ich dir den Schal umlegen kann.“

Emerald, die es leid war, im Mittelpunkt zu stehen, schwang die Beine über die Sofakante und stand vorsichtig auf. „Ich werde in Zukunft achtsamer sein und danke Ihnen für Ihre Hilfe.“ Sie musste den Blick heben, um Asher Wellingham in die Augen zu sehen, und dies war in Anbetracht ihres eigenen hohen Wuchses recht selten der Fall. Als ihre Blicke sich trafen, wünschte sie unwillkürlich, ihr Haar wäre länger und ihr Kleid modischer.

Nein, nein, nein. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Hüte dich vor derlei sinnlosen Anwandlungen, schalt sie sich. Asher Wellingham war ihr Feind, und sie würde England verlassen, sobald sie fand, wonach sie suchte. Dass sie errötete, lag an der Hitze im Zimmer, und ihr Herzklopfen lastete sie dem Schock an, den ihr der ungeplante Sturz verursacht hatte. Wenn ich diesem Ort doch nur entfliehen und etwas kühle Luft schnappen könnte, dachte sie verzweifelt und sehnte sich an das Ufer der Themse, wo der Wind stärker und frischer wehte als in der stickigen Stadt.

Mit aufgesetzt heller, mädchenhafter Stimme, die Miriam inzwischen vertraut war, fühlte Emerald sich verpflichtet zu erklären: „Meine Mutter pflegte zu sagen, dass der Charakter einer Frau nicht durch ihre Erfolge, sondern durch ihre Misserfolge geschliffen wird.“

Carisbrook war offensichtlich nicht geneigt, ihre Bemerkung mit einem Lächeln zu quittieren. „Ihre Mutter scheint eine kluge Frau zu sein, Lady Emma“, erwiderte er gleichmütig, und Emerald wusste, dass er nur mit Mühe Geduld wahrte.

„Oh, das war sie in der Tat, Euer Gnaden.“

„War?“

„Sie starb, als ich noch ein Kind war. Mein Vater hat mich großgezogen.“

„Ich verstehe.“ Seine Miene ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er der Konversation mehr als überdrüssig war. Lediglich seine guten Manieren hinderten ihn daran, das Gespräch brüsk zu beenden. „Ich hörte, Sie kommen vom Lande. Woher stammen Sie genau?“

„Aus Knutsford in Cheshire.“ Sie war einst als Kind dort gewesen. Im Sommer, und der Duft englischer Wiesenblumen hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. In dem Medaillon, das sie heute um den Hals trug, steckte noch eine einzelne Ritterspornblüte, die ihre Mutter damals gepresst hatte.

„Und Ihr Akzent? Ich kann ihn schwer einordnen.“

Die Frage erschreckte sie derart, dass sie zusammenzuckte. Unglücklicherweise stieß sie dabei mit der Hand gegen eine Vase, die auf einem Säulenpodest gleich neben ihr stand. Das Gefäß kippte zur Seite und zerbrach klirrend auf den Marmorfliesen. Unzählige Porzellanscherben verteilten sich auf dem Boden, und Emerald bückte sich hastig, um sie aufzusammeln. Doch ihre Unüberlegtheit brachte ihr umgehend eine Rüge ein.

„Emma, das ziemt sich nicht für dich“, tadelte Miriam scharf.

Verlegen richtete Emerald sich auf. Natürlich war es die Aufgabe der Dienstboten, sich um die Scherben zu kümmern. Wieder einmal hatte sie die gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht beachtet. „Ist die Vase sehr wertvoll?“, erkundigte sie sich, obwohl ihr viel mehr die Frage auf der Seele brannte, ob sie sie würde bezahlen müssen.

Henshaw trat zu dem Säulenpodest und inspizierte es. „Der Sockel, auf dem sie stand, war nicht stabil genug. Ich hätte ihn längst auswechseln lassen sollen. Überdies habe ich dekorative Accessoires noch nie besonders geschätzt.“

Das herzhafte Gelächter, in das Wellingham daraufhin ausbrach, veranlasste Emerald, sich beunruhigt umzusehen. Ihr fiel auf, dass der gesamte Raum über und über mit Liebhaberstücken ausgestattet war. Ihr Gastgeber hatte ihr gegenüber also offenkundig nur charmant sein wollen.

„Es tut mir furchtbar leid“, brachte sie verzweifelt hervor, als ihr klar wurde, dass sie niemals in der Lage sein würde, die Vase zu ersetzen. Sie wünschte sich fort von diesem Ort, zurück nach Jamaika, wo überall Platz war, die Arme auszubreiten und glücklich um die eigene Achse zu wirbeln. Dort wollte sie leben mit Ruby und ihrer Tante – weit weg von dem Mann, der sie aus der Bahn zu werfen drohte.

Doch vorher musste sie den Spazierstock in ihren Besitz bringen, denn ohne ihn waren ihr die Hände gebunden.

Beflügelt von diesem Gedanken, kniff sie die Augen zusammen und rang sich erfolgreich eine Träne ab. Englische Gentlemen liebten schwache hilflose Damen, wie sie gleich bei ihrer Ankunft in London hatte feststellen können, und sie war solchen Frauen seither überall begegnet, in Ballsälen, in Salons und im Park.

Umso mehr überraschte es sie, dass der Duke of Carisbrook, statt fürsorglich an ihre Seite zu eilen, ein paar Schritte zurücktrat. Sie musste etwas falsch gemacht haben, denn seine Miene verschloss sich abrupt. Emerald biss sich auf die Lippe. Er war anders als die englischen Männer, die sie bislang kennengelernt hatte. Er glich ihnen weder im Aussehen noch in seinem Temperament oder seinen Eigenarten.

Verdammt.

In einem Monat würden ihre Mittel aufgebraucht sein und die Dienstboten ihre Entlohnung einfordern. Konnte sie nicht zahlen, war ihr die Verachtung ganz Londons sicher. Ihr selbst erschien diese trübe Aussicht nicht so entmutigend; die Tante, bereits in die Jahre gekommen, hatte indes etwas mehr Komfort in ihrem Leben verdient. Ihr Titel, wenngleich ehrwürdig, brachte leider kein Geld ein.

Emerald fröstelte und zog sich den Schal enger um die Schultern. „Es ist kühl.“ Sie brauchte ein wenig Zeit, um sich darüber klar zu werden, weshalb das rätselhafte Gebaren des Duke of Carisbrook sie so seltsam berührte. Sie musste fort von hier, um ihre gesamte Planung zu überdenken.

„Ich werde einem Lakaien ausrichten, dass er anspannen lassen soll.“ Asher schickte sich an, den Raum zu verlassen, doch Miriam hielt ihn auf.

„Das wird nicht nötig sein, Euer Gnaden. Wir sind durchaus in der Lage, uns eine Droschke rufen zu lassen …“

Emerald, der ein guter Einfall gekommen war, unterbrach die Tante. „Wir wären beglückt, Ihr großzügiges Angebot anzunehmen, Euer Gnaden. Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht lange unterwegs sein und Ihnen keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten werden.“ Sie warf einen Blick auf die Kaminuhr. „Es ist zwanzig nach eins, Sir. Sie werden Ihre Kutsche zurückhaben, bevor die Uhr zwei schlägt.“

Er bedachte sie mit einem unverhohlen verständnislosen Blick. Sie konnte nur annehmen, dass er ihre Erscheinung ebenso unmöglich fand wie ihr Benehmen.

„Dann verabschiede ich mich jetzt von Ihnen.“

Der Duke machte eine knappe Verbeugung und wandte sich zum Gehen. Emerald bemerkte zum ersten Mal, dass er sein rechtes Bein leicht nachzog.

Sofort fiel ihr der Stock wieder ein, der Stock mit der darin verborgenen Schatzkarte, die ihr, so hatte es Beau geschworen, zu einem beträchtlichen Vermögen verhelfen, sie von ihren Schulden befreien und ihr wieder ein halbwegs angenehmes Leben ermöglichen würde.

Leise Zweifel, ob sie die Karte jemals in den Händen halten würde, verdrängte sie rasch. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Geschichte zu glauben, die Azziz vor zwölf Wochen in den Tavernen von Kingston Town gehört hatte – dass der Duke of Carisbrook mit einem auffallend schönen Spazierstock aus Ebenholz, dessen Schnitzereien und Verzierungen ihresgleichen suchten, in London gesehen worden war.

Den Beschreibungen nach war Emerald sich ganz sicher: Es war der mit Smaragden und Rubinen besetzte Spazierstock ihres Vaters gewesen, in dessen Aushöhlung unterhalb des abnehmbaren Knaufs sich die Karte befand.

Oh, ihr Vorhaben war gefährlich und sein Ausgang nicht sicher, doch sie durfte die Hoffnung auf ein glückliches Ende nicht verlieren. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn sie die Karte nicht fand.

Ob die Nacht noch lang genug war, um dem Duke aufzulauern? Emerald seufzte und entschied, dass sich hier und jetzt ihre erste Chance auftat, einen Hinweis auf den Verbleib des Stocks zu erhalten.

Gekleidet wie ein Junge, war es ihr vielleicht möglich, Wellingham unerkannt zu folgen. Und wenn Azziz sie begleitete … Vor Aufregung stieg ihr das Blut in die Wangen. Sie hakte sich bei der Tante ein, um mit ihr das Zimmer zu verlassen. Sie musste herausfinden, wo Carisbrook den Stock aufbewahrte, dann brauchten sie nur noch zuzugreifen und bei der nächsten Flut aus England zu verschwinden. Und dies wäre ein leichtes Unterfangen, wenn sie erst einmal genug Geld besaß, um ihre Spuren zu verwischen.

2. KAPITEL
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Emerald wartete zwei Stunden. Dann bog die Kutsche unter lautem Hufschlag aus der Auffahrt der Henshawschen Stadtresidenz auf die Straße ein. Die samtenen Vorhänge waren zugezogen, wie sie erkannte, während sie Azziz das Signal gab, die Pferde ihrer Mietdroschke anzuspornen. Sie überlegte angestrengt, wo sie der Chaise des Dukes den Weg abschneiden konnte, doch als diese auf die Docks zusteuerte, wies sie Azziz an, langsamer zu fahren.

„Was macht der Duke um diese Zeit hier unten am Hafen?“, fragte sie Toro, der neben ihr saß.

Der dunkelhäutige Diener wiegte bedächtig den Kopf hin und her, wobei sein Ohrring im Mondlicht aufglänzte. „Noch vor Sonnenaufgang wird die Flut ihren Höchststand erreicht haben. Womöglich will er in See stechen.“

Emeralds Ratlosigkeit wich größter Verblüffung, als dem Vierspänner, der inzwischen zum Stehen gekommen war, eine elegant gekleidete Frau entstieg. Nein, keine Frau, sondern ein Mädchen, verbesserte sie sich. Aber das macht die Sache auch nicht besser. Dann stieg ein Mann aus der Kutsche und ergriff die Unbekannte fest, beinahe unsanft am Oberarm. Selbst im fahlen Mondlicht konnte Emerald erkennen, dass der Gentleman ungehalten aussah. Er führte das Mädchen in Richtung einer schäbigen Taverne.

War die junge Dame ihm zunächst widerwillig gefolgt, weigerte sie sich auf halbem Wege, weiterzugehen. Da es eine windstille Nacht war und kaum mehr Verkehr auf den Straßen herrschte, war Emerald, die indessen selbst ausgestiegen war und sich hinter dem Gefährt verbarg, in der Lage, den Wortwechsel, der nun anhub, gut zu verstehen.

„Ich denke nicht, dass wir in einem Gasthaus wie diesem Unterkunft nehmen sollten, Stephen“, protestierte das Mädchen. „Es kann nicht dein Ernst sein, dass du mich hierher gebracht hast.“

„Es ist nur für diese eine Nacht, Lucy. Morgen früh werde ich ein Schiff finden, das uns an Bord nimmt.“

„Nein, du hast mir versprochen, dass wir vorher heiraten. Wenn mein Bruder erfährt, dass ich an einem solchen Ort war …“

„Ich habe dich nicht gezwungen, mit mir zu kommen, Lucinda“, fiel der Mann der jungen Dame ins Wort. „Du bist, so habe ich angenommen, aus freien Stücken in die Kutsche gestiegen – aus Abenteuerlust, um deinem langweiligen und berechenbaren Dasein ein wenig Würze zu verleihen. Und nun lass uns gehen, wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Seine Aussprache war zunehmend schleppender geworden und erregte einmal mehr den Unmut seiner Begleiterin.

„Bist du etwa betrunken?“, wollte sie in energischem Ton wissen und veranlasste mit ihrer Äußerung den Kutscher, eilends vom Bock zu springen und an ihre Seite zu eilen.

„Mein Herr wird sehr erzürnt sein, Mylady. Seine Anweisung lautete, dass ich Sie unverzüglich und auf direktem Weg nach Hause bringe.“

„Ich bin gleich bei Ihnen, Burton. Bitte, könnten Sie uns einen Moment allein lassen?“

Burton zögerte unschlüssig und brachte damit den Begleiter der jungen Dame in Rage. Ohne Vorwarnung ließ der Mann seine Faust vorschnellen und versetzte dem Kutscher einen Kinnhaken. Der Bedienstete ging zu Boden und blieb reglos liegen.

„Ein Domestike hat nicht das Recht, die Beweggründe einer Dame zu hinterfragen. Und nun komm, meine Liebe. Wir haben lange genug auf eine Gelegenheit wie diese gewartet.“

Emerald verzog das Gesicht. Sie wusste nur allzu gut, was von derlei Süßholzgeraspel zu halten war und was als Nächstes passieren würde. Das unerfahrene Mädchen würde sich der Aufdringlichkeiten seines Begleiters nicht erwehren können und dafür büßen müssen.

Tief durchatmend trat sie hinter der Chaise hervor und bedeutete Azziz und Toro, zurückzubleiben.

„Lassen Sie die junge Dame gehen.“ Ihre Stimme klang dunkel und rau, was ihrer natürlichen Tonlage deutlich näher kam als das helle Zwitschern, das sie sich von den jungen Damen des ton abgelauscht hatte. Um ihre Forderung zu unterstreichen, zog sie ihr Messer, was jedoch den Mann ihr gegenüber nicht sonderlich zu beeindrucken schien.

„Wer zum Teufel sind Sie?“

Sie überhörte die Frage und wandte sich dem Mädchen zu. „Überlegen Sie sich gut, ob Sie wirklich mit diesem Gentleman durchbrennen wollen, Miss. Denn ich vermute, er ist nicht so respektabel, wie Sie es sich erhoffen. Ich an Ihrer Stelle würde unverzüglich nach Hause zurückkehren.“

Der Mann, den die junge Dame Stephen genannt hatte, machte Anstalten, sich aufgebracht auf sie zu stürzen, womit Emerald zum Glück gerechnet hatte. Ohne zu zaudern stach sie mit dem Messer in den Knoten seines Krawattentuchs und zwang ihn auf diese Weise, auf der Stelle innezuhalten. „Ich würde Ihnen raten, Sir, über den Grund Ihrer nächtlichen Exkursion zu schweigen. Lasten Sie das Vorkommnis Ihrer Dummheit an oder dem Brandy, wenn Sie wollen. Aber wenn auch nur eine Andeutung dessen, was sich hier zugetragen hat, im ton kursiert, sollten Sie um Ihre Gesundheit besorgt sein.“

„Drohen Sie mir?“

„Allerdings.“

Wütend holte der Mann aus, um ihr eine Ohrfeige zu versetzen, doch Emerald gelang es, den Schlag halbwegs abzuwehren. Sie stieß Stephen mit so viel Wucht von sich, dass er stürzte und mit dem Kopf auf das Pflaster schlug. Keine sehr elegante Art, zu Boden zu gehen, dachte sie amüsiert und fasste sich an die brennende Wange. Dann gewahrte sie, dass das Mädchen sie erschrocken anstarrte.

„Ich mochte seine Fragen nicht.“ Emerald hatte das Gefühl, sich für ihr Eingreifen rechtfertigen zu müssen.

„Haben Sie ihn getötet?“

„Nein, er dürfte lediglich in seinem Stolz verletzt sein – in genau dem Maß, hoffe ich, wie er Ihren verletzt hat.“

„Er ist ganz anders als ich dachte. Ich wage mir kaum vorzustellen, was geschehen wäre, wenn Sie mich nicht gerettet hätten, Mr. …?“

„Kingston“, platzte es aus Emerald heraus, doch kaum hatte sie den verräterischen Namen ausgesprochen, brach ihr vor Schreck der kalte Schweiß aus.

Die junge Dame ergriff ihre Hand. „Mr. Kingston“, hauchte sie atemlos und fing plötzlich an zu weinen. Ihr anfänglich leises Schluchzen steigerte sich binnen weniger Augenblicke zu einem so heftigen Weinkrampf, dass der Wirt der Taverne vor die Tür trat, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. Emerald befand sich in der Zwickmühle. Die Zeit lief ihr davon, denn die Sonne würde in Kürze aufgehen, andererseits konnte sie dieses hilflose Geschöpf nicht einfach im Stich lassen.

„Wie alt sind Sie?“, fragte sie das Mädchen, nachdem sie Azziz ein Zeichen gegeben hatte, die Mietdroschke zu wenden.

„Siebzehn. Aber ich werde in drei Monaten achtzehn. Wenn Sie mich nicht gerettet hätten, wäre ich jetzt …“ Sie brach ab und begann wieder zu schluchzen.

Gütiger Himmel, dachte Emerald. Ich bin nur vier Jahre älter als sie, gleichwohl scheine ich um ein Mehrfaches welterfahrener zu sein. Mit siebzehn hatte sie die Meere von der Karibik bis nach Ostindien besegelt, jedes Mal von der düsteren Aussicht begleitet, dass sie oder irgendein anderer an Bord den Tod fand. Bereits damals hatte es für sie keine heile Welt mehr gegeben, und das Herz wurde ihr schwer, wenn sie heute daran dachte. Im Gegensatz zu ihr wuchsen die jungen Damen in England, die aus gutem Hause stammten, behütet wie zarte Pflänzchen in einem Gewächshaus auf. Entsprechend verletzlicher waren sie jedoch auch, wenn ihnen tatsächlich einmal ein Leid geschah – wie diesem Mädchen.

„Wenn Sie mich nicht gerettet hätten …“, wiederholte das Mädchen und fuhr fort: „Mein Bruder warnte mich und befahl mir, mich von Westleigh fernzuhalten. Er erlaubte mir nicht einmal, mit ihm zu sprechen, aber vermutlich war es genau diese Strenge, die mich dazu verleitete, trotzig und unvernünftig zu reagieren.“ Ihre Verzweiflung wich gesunder Wut auf den Mann, der ausgestreckt zu ihren Füßen lag. „Nichts an ihm ist vornehm, höchstens sein Gehrock.“ Sie kicherte. „Dabei fand ich immer, dass er ausgesprochen modisch gekleidet ist. Übrigens bin ich Lady Lucinda Wellingham, die Schwester von Asher Wellingham, dem Duke of Carisbrook.“

Emerald hielt den Atem an. Carisbrooks Schwester? Du lieber Himmel, was sollte sie mit dem Mädchen tun? Für einen kurzen Moment zog sie in Erwägung, Lucinda als Geisel zu nehmen, um an die Karte heranzukommen, verwarf diesen Gedanken jedoch rasch. Zum einen bezweifelte sie, dass sie die Gesellschaft der kleinen Heulsuse längere Zeit ertragen konnte, zum anderen erinnerte die junge Dame sie an einen Hund, den sie einmal gehabt hatte – das Tier war der Inbegriff von Dankbarkeit und Unterwürfigkeit gewesen.

Nein, Lucinda Wellingham musste postwendend nach Hause zu ihrem Bruder gebracht werden, und wenn das Glück Emerald hold war, weilte der Duke noch immer auf Lord Henshaws Soiree … was es ihr ermöglichen würde, unbemerkt in sein Stadthaus zu gelangen, um nach dem Spazierstock zu suchen. Andererseits wollte sie ihr Schicksal nicht herausfordern und ihm geradewegs in die Arme laufen, jedenfalls nicht als Junge verkleidet in einem vom Morgenlicht hell erleuchteten Haus.

„Kennen Sie den Duke, Mr. Kingston? Er wird sehr viel Wert darauf legen, Sie für Ihre Mühe zu entschädigen“, unterbrach Miss Wellingham ihre Gedanken. „Sie werden ihn mögen“, fuhr sie fort, „denn er ist ebenso geschickt im Umgang mit Stichwaffen wie Sie und …“

Emerald hob die Hand und war froh, als das Geschnatter der jungen Dame verstummte. Sie musste nachdenken und so schnell wie möglich eine Lösung für ihr Problem finden. Wie waren die Gepflogenheiten hier in London? Würde es gehen, wenn sie Miss Wellingham einfach in eine Droschke setzte und dem Kutscher die Anweisung gab, sie auf direktem Weg nach Hause zu bringen? Die Antwort konnte sie sich denken. Es führte kein Weg daran vorbei, die Scharade mitzuspielen und Lady Lucinda zu eskortieren. Wenn Toro die Chaise der Carisbrooks kutschierte, konnte er das Mädchen und den verletzten Burton zu Hause abliefern, während sie selber und Azziz in der Droschke warteten.

Inzwischen hatten sich eine Menge schaulustiger Wirtshausgäste vor dem Eingang der Taverne eingefunden. Emerald half dem von Westleigh niedergeschlagenen Kutscher auf die Beine und atmete erleichtert auf, als Lady Lucinda, noch immer sehr aufgeregt, endlich in der Chaise saß.

Die Kerze auf dem Kaminsims war fast heruntergebrannt, wie Asher zufrieden feststellte – wieder war eine Nacht geschafft, ohne dass ihn die Geister der Vergangenheit eingeholt hatten. Er nahm sein Krawattentuch ab und warf es auf den auf dem Sessel liegenden Gehrock.

Er schüttelte den Kopf und blickte in den Spiegel seines Eichenschranks. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Unwillig wandte er sich ab und griff nach dem Brandyglas auf dem Tisch. Während er es in einem Zug leerte, befiel ihn das schlechte Gewissen, hatte er sich doch erst gestern geschworen, nie wieder allein zu trinken.

Einer von zahlreichen Schwüren, die ich nicht zu halten in der Lage bin, dachte er und lachte bitter. Sein Blick fiel auf eine fast leere Weinflasche, und plötzlich musste er an Emma Seaton denken, wie sie scheinbar ohnmächtig in seinen Armen gelegen hatte.

Sie hatte angenehm geduftet. Weder nach Parfüm noch nach Puder, sondern nach Seife. Sie wirkte stark, schien zu wissen, was sie wollte, und war mit einem Paar außergewöhnlich schöner türkisfarbener Augen gesegnet.

Asher rieb sich nun nachdenklich das Kinn. Woher nur mochte er sie kennen? Sie besaß unverwechselbare Züge – und nicht allein wegen der Narbe über ihrer rechten Augenbraue, die ihn einigermaßen befremdet hatte. Dürfte er sich ein Urteil über die Verletzung erlauben, deren Folge sie war, so käme er zu dem Schluss, dass es sich um eine Wunde gehandelt haben musste, die von einer Messerklinge verursacht worden war. Wie aber konnte dies möglich sein? Näher läge doch, dass sie bei einem Ausritt einen Ast gestreift und sich dabei eine tiefe Schramme zugezogen hatte. Welchem Anlass auch immer sie die Narbe verdankte – es gefiel ihm, dass sie keine Anstrengung unternahm, sie mit Schminke zu kaschieren.

Der Türklopfer riss ihn aus seinen Überlegungen, und er sah erschrocken zur Uhr. Fünf Uhr morgens! Keiner seiner Bekannten würde ihn um diese Zeit besuchen. Asher griff nach dem Kerzenleuchter und eilte in die Halle hinunter, aus der leises Schluchzen an seine Ohren drang.

„Gütiger Himmel, Lucy!“ Er stellte den Leuchter auf einem Seitentisch ab und nahm seine Schwester in die Arme. „Was ist geschehen? Und weshalb zum Teufel liegst du nicht im Bett?“

„Ich … Stephen … wir sind zum Hafen gefahren. Er behauptete, er wolle mich heiraten, doch dann …“

„Stephen Eaton?“

„Er hatte angekündigt, er wolle mich nach der Soiree aufsuchen und sich mir erklären. Und nur weil ich ihm glaubte, dass wir umgehend getraut würden, habe ich ihn begleitet. Doch der Ort, zu dem er mich brachte, war eine schäbige Taverne bei den Docks. Und dann hat er Burton fast umgebracht …“

„Er hat was?“ Asher mahnte sich insgeheim, Ruhe zu bewahren, denn auf wütende Fragen würde er keine Antworten erhalten. „Wie ist es dir gelungen, nach Hause zu kommen?“

„Ein Mann kam mir zu Hilfe. Er verteidigte sich mit einem Messer, als Eaton sich auf ihn stürzen wollte. Und nachdem es Eaton halbwegs gelang, dem freundlichen Gentleman eine Ohrfeige zu versetzen, zögerte Mr. Kingston – so heißt mein Retter – nicht und stieß ihn mit Wucht zu Boden, wo er ohnmächtig liegen blieb. Anschließend setzte Mr. Kingston mich und Burton in die Chaise, und sein Kutscher brachte uns nach Hause. Übrigens kennt Mr. Kingston dich nicht, woraus ich schließe, dass er nicht oft in London weilt. Außerdem spricht er mit einem mir fremden Akzent.“

„Wo ist er jetzt?“

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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