Nächte in Northbridge (18-teilige Serie)

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BRICH MIR NICHT MEIN HERZ!

Sexy, Single - und Vater von süßen Zwillingen: Cutler Grant ist ein Mann, der viele Frauenherzen höher schlagen lässt. Als er Kira bittet, einige Tage zu ihnen zu ziehen, sagt sie sofort zu. Denn Cutlers heißer Flirt weckt in ihr die sehnsüchtigsten Hoffnungen ...

ENTSCHEIDUNG AM TRAUALTAR

Ob die Hochzeitstorte so süß ist wie die Konditorin, die sie gebacken hat? Ad Walker beschließt, es herauszufinden. Obwohl er weiß, dass Kit ihn nach ihrem romantischen Rendezvous gleich wieder verlassen wird. Es sei denn, er fände einen Weg, sie für immer an sich zu binden …

GESTÄNDNIS NACH EINER HEIßEN NACHT

Wie hat Ben Walker sich verändert! Aus dem wilden Jungen, der in Northbridge ständig für Ärger sorgte, ist ein sensibler, unglaublich anziehender Mann geworden. Als Clair ihn auf ihrem Klassentreffen wiedersieht, ist sie sofort bereit für eine Liebesnacht mit Ben ...

EIN MILLIARDÄR ZUM VERLIEBEN

Playboys wie Joshua Cantrell findet Cassie Walker normalerweise gar nicht anziehend! Doch der Milliardär, den sie bisher nur aus der Klatschpresse kannte, ist ganz anders: sympathisch und so unwiderstehlich, dass Cassie seinem Charme erliegt ...

GESCHIEHT EIN WUNDER IN DIESER NACHT?

Ausgerechnet Chloe Carmichael ist seine neue Patientin! Alte Wunden brechen bei Dr. Reid Walker auf. Noch immer schmerzt es, dass sie ihn vor Jahren verließ. Trotzdem kann er nicht verhindern, dass sein Herz erneut lichterloh für sie brennt ...

SPRICHT DEIN BLICK DIE WAHRHEIT?

Ist eine Frau wie die andere? Immer wieder fragt Luke Walker sich, ob er seiner hübschen jungen Schwägerin Karis wirklich trauen kann. Sein Herz sagt Ja zu ihr, aber sein Verstand warnt ihn, sich noch einmal auf eine der Pratt-Schwestern einzulassen ...

CINDERELLA KEHRT ZURÜCK

Er war der Schwarm aller Mädchen - und sie das Mauerblümchen: mit Zahnspange, Brille und roten Locken. Viele Jahre später traut Cam Pratt kaum seinen Augen, als Eden Perry nach Northbridge zurückkehrt: hinreißend charmant und so attraktiv, dass er schon beim ersten Blick weiche Knie bekommt ...

STADT, LAND ... LIEBE

Eigentlich hatte Jared seiner Heimat Northbridge für immer den Rücken gekehrt. Zu eng, zu bedrückend fand er das Leben dort. Doch das Schicksal führt ihn zurück - und erneut mit Mara zusammen. Früher für ihn ein uninteressantes Kleinstadt-Mädchen, sieht er sie plötzlich mit neuen Augen ...

KOMMT DAS GLÜCK ZURÜCK?

Ein Notfall in der Praxis! Tierarzt Boone Pratt eilt zu seinem Patienten - und steht plötzlich wieder vor der Liebe seines Lebens. Elf Jahre ist es her, dass Faith die Stadt verließ, um woanders ihr Glück zu suchen. Ohne überhaupt wahrzunehmen, wie sehr er sich nach ihr verzehrte!

WONACH DEIN HERZ SICH SEHNT

Die Welt steht still, als sich ihre Hände berühren: Wortlos verspricht Wyatt Graysons kräftiger Händedruck Wärme, Geborgenheit und Leidenschaft für immer und ewig. Alles, was die junge Sozialarbeiterin Neily Pratt noch nie erlebt hat, wonach sie sich so sehnt. Und was unerfüllt bleiben muss! Denn Neily soll schließlich nur überprüfen, ob Wyatt sich gut um seine erkrankte Großmutter kümmert ...

SÜßER TROST IN DEINEN ARMEN

Ein grausames Schicksal hat Marti den geliebten Mann genommen. Vergessen kann sie nur durch eine einzige Nacht mit dem attraktiven Noah, der ihre Tränen fortküsst. Aber die zärtlichen Stunden schenken ihr auch etwas anderes - das sie Noah dringend gestehen muss…

DIESER MANN VERSPRICHT EIN ABENTEUER

Die hübsche Masseurin Kate Perry weiß genau, was sie will: Heiraten, sesshaft werden, eine Familie gründen. Deshalb sucht sie einen Mann, der zuverlässig und grundsolide ist. Jemanden, der zu ihr passt. Und sicher niemand wie der gefährlich attraktive Draufgänger Ry Grayson!

NUR NANNY - ODER NEUE LIEBE?

"Ich möchte, dass wir eine Lebensgemeinschaft werden!" Bei Logan McKendricks Worten wird Meg nervös. Ans Heiraten hat sie bestimmt nicht gedacht, als sie sich als Nanny für Logans süße kleine Tochter Tia beworben hat. Auch wenn der Singledad wirklich unwiderstehlich gut aussieht ...

LIEBESCHAOS UND FAMILIENGLÜCK

Sein Leben gerät völlig aus den Fugen: Eben noch ein bekannter Möbeldesigner, der sich nur um sich selber gekümmert hat, muss Chase plötzlich Verantwortung für das Baby seiner verstorbenen Schwester übernehmen! Und als wäre das nicht genug Gefühls-Wirrwarr, verliebt sich der eiserne Junggeselle auch noch in seine Schulfreundin Hadley, die nach zehn Jahren wieder in der Stadt auftaucht ...

EIN BISSCHEN GLÜCK UND SEHR VIEL LIEBE

Weihnachten steht vor der Tür. Was auf Shannons Wunschzettel nicht steht, ist ein Mann! Aber das Fest in der Kleinstadt, wo sie ihre Familie besucht, beschert ihr überraschend Traummann Dag McKendrick. Wo sie doch längst ein neues Leben in Hollywood geplant hat …

LASS DIE LIEBE NICHT WARTEN

Zwei Menschen sind eine Familie! Davon ist Jenna überzeugt, seit sie ihre Nichte adoptiert hat. Wenn es ihr jetzt noch gelingt, ihre Farm zu retten, dann wäre alles gut. Aber dafür braucht sie den attraktiven Ian Kincaid. Und der findet, dass zu einer Familie drei gehören …

EIN, ZWEI DINGE ÜBER DIE LIEBE

Mit blauen Flecken auf der Seele kehrt Issa nach Hause zurück. Nie wieder ein Mann! Doch dann klopft der attraktive Hausbesitzer Hutch Kincaid an ihre Tür. Zu spät versteckt Issa die Broschüre für Schwangere: Sein warmer Blicke sagt ihr, dass er für sie da ist - wenn sie will …

BEIM BLICK IN DEINE BLAUEN AUGEN

Diese blauen Augen, dieses verführerische Lächeln … Seth Camden ist einfach viel zu sexy, um mit ihm Geschäfte zu machen, findet Lacey. Aber sie hat keine Wahl. Wenn sie endlich von ihrem Vater als Unternehmerin ernst genommen werden will, muss sie sich jetzt auf Seth einlassen …


  • Erscheinungstag 06.06.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774417
  • Seitenanzahl 2340
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Victoria Pade

Nächte in Northbridge (18-teilige Serie)

IMPRESSUM

Brich mir nicht mein Herz! erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2004 by Victoria Pade
Originaltitel: „Babies In The Bargain“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1523 - 2006 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Louisa Christian

Umschlagsmotive: egal / ThinkstockPhotos

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733773236

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Es war noch nicht ganz dunkel, als Kira Wentworth nach Northbridge, Montana, einfuhr. Trotzdem waren die meisten Geschäfte an der Hauptstraße schon geschlossen. Sogar die Tankstelle machte gerade zu. Selbst für einen Mittwochabend schien hier wenig los zu sein.

„Entschuldigen Sie, bitte“, rief Kira aus dem Fenster ihres Mietwagens, während der Tankwart gerade den Schlüssel abzog und in die Tasche steckte. „Können Sie mir sagen, wo die Jellison Street ist? Ich suche die Nummer 104.“

Der sommersprossige Teenager brauchte nicht lange zu überlegen. „Das ist das Haus der Grants“, erklärte er. „Officer Grant hat sich den Knöchel gebrochen. Sie werden ihn bestimmt zu Hause antreffen.“ Er erklärte ihr kurz, wie sie fahren musste.

„Danke!“, sagte Kira. Sie ließ die Seitenscheibe wieder hoch und drehte die Klimaanlage eine Stufe höher. Beim Gedanken, dass sie nur drei Blocks von ihrem Ziel entfernt war, wurde ihr noch heißer, als es bei dieser Julihitze ohnehin schon der Fall war.

Sie warf einen prüfenden Blick in den Innenspiegel und hoffte, dass ihr Make-up auf der Fahrt nicht zu sehr gelitten hatte. Nein, die Wimperntusche um ihre blauen Augen war nicht verlaufen, und ihr hellrosa Lippenstift war nicht verblasst. Doch trotz des Rouges, das sie bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen in Billings aufgelegt hatte, hatte sie eine fahle Gesichtsfarbe. Kein Wunder!

„Vielleicht ist es gar nicht derselbe Mann“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Meine Reise könnte sich ebenso gut als Fehlschlag erweisen.“

Das machte sie aber nicht wirklich entspannter. Kira hatte immer noch das Gefühl, tausend Schmetterlinge flatterten in ihrem Magen. Und als wäre ihre blasse Haut nicht genug, gab es einen weiteren untrüglichen Beweis für ihre Nervosität. Irgendwann während der Fahrt von Billings hierher hatte sie ihr schulterlanges blondes Haar hinter die Ohren geschoben – eine Angewohnheit, die ihr Vater stets verabscheut hatte.

Rasch holte sie einen Kamm aus ihrer Handtasche – als könnte Tom Wentworth jeden Moment auftauchen und sie tadeln – und brachte ihre Frisur wieder in Ordnung.

Sie steckte den Kamm zurück, trug frisches Rouge auf ihre hohen Wagenknochen, zog den Kragen ihrer weißen Bluse zurecht und schnippte einen einzelnen Fussel von ihrer marineblauen langen Hose.

Nicht perfekt, überlegte sie mit einem weiteren Blick in den Spiegel, aber wenigstens vorzeigbar. Mehr konnte sie unter diesen Umständen nicht verlangen.

Ein Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte ihr, dass es fünf Minuten nach neun war. Viell eicht sollte sie sich lieber beeilen. Sie wusste nicht viel über das Leben in einer Kleinstadt. Wenn sogar die Tankstelle schon so früh zumachte, war nicht auszuschließen, dass die Bewohner bald ins Bett gingen. Und sie wollte keinen weiteren Tag warten, um das herauszufinden, weshalb sie gekommen war.

Kira legte den Gang wieder ein und fuhr los. Kurz darauf bog sie in eine ruhige Straße, die zu beiden Seiten von hohen Ulmen, Eichen und Ahornbäumen gesäumt war. Die mittelgroßen Holzhäuser im Stil der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts sahen aus, als stammten sie alle vom selben Architekten.

Die zweistöckigen Gebäude mit ihren überdachten Vorderveranden unterschieden sich nur in ihrem helleren oder dunklerem erdfarbenen Anstrich, in den Fensterläden und den Blumenkästen, die bei einigen angebracht worden waren. Und in ihren Gärten. Einige waren aufwändig gestaltet, andere bestanden nur aus einem sorgfältig gepflegten Rasen.

Das Haus, das Kira suchte, war das vierte nach der Kreuzung. Es hatte einen gelbbraunen Anstrich und weiße Fensterläden. Eine Holzschaukel hing an Ketten auf der linken Seite der Veranda.

In der Einfahrt stand ein schwarzweißer Geländewagen mit dem Abzeichen der Polizei von Northbridge.

Kira hielt am Straßenrand an und machte den Motor aus. Sie nahm einen Aktendeckel vom Beifahrersitz und öffnete ihn. In einer Klarsichthülle befand sich ein Artikel aus der Sonntagsausgabe der Denver Post, den sie ausgeschnitten hatte.

Er handelte von zwei Männern aus Montana, einem Polizeibeamten und einem Geschäftsmann aus Northbridge, die in ein brennendes Haus gelaufen waren und eine Familie vor dem Tod gerettet hatten. Dabei war Addison Walker schwer von einem Balken getroffen geworden, und Cutler Grant hatte sich einen Fußknöchel gebrochen. Trotzdem war es ihm gelungen, den bewusstlosen Geschäftsmann ins Freie zu ziehen.

Der Name Addison Walker sagte Kira nichts.

Aber Cutler Grant – das war etwas anderes. Kira kannte einen Cutty Grant. Aus dem Zeitungsartikel war nicht viel über die beiden Männer zu erfahren. Nur dass Cutler Grant Witwer war und achtzehn Monate alte Zwillingstöchter besaß.

Das war eine Überraschung. Der Cutty Grant, den Kira kannte, hatte ihre ältere Schwester Marla geheiratet, und die beiden hatten einen gemeinsamen Sohn, der jetzt zwölf

Jahre alt sein musste.

Vielleicht war dieser Cutler Grant aus der Zeitung doch nicht derselbe Mann?

Trotzdem hoffte sie inständig, dass er es war. Dass die Frau, die ihn als Witwer mit achtzehn Monate alten Zwillingen allein gelassen hatte, seine zweite Ehefrau gewesen war. Dass er ihr sagen konnte, wo sie Marla und ihren zwölfjährigen Sohn jetzt finden konnte.

Kira steckte den Zeitungsausschnitt sorgfältig zurück und legte den Aktendeckel auf den Beifahrersitz. Entschlossen nahm sie ihre Lederhandtasche und stieg aus dem Wagen.

Der Duft von Geißblatt lag in der Luft, während sie zum Eingang ging. Licht schien durch die Fenster im Erdgeschoss, und die Haustür stand offen – wahrscheinlich, um die kühlere Abendluft hereinzulassen. Offensichtlich waren die Bewohner noch wach.

Kira stieg die fünf Zementstufen zur Veranda hinauf. Ein Mann saß in einem alten Sessel und telefonierte. Sobald er sie bemerkte, gab er ihr ein Zeichen hereinzukommen.

Verwechselt er mich mit jemandem? überlegte Kira unsicher und rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte sofort gemerkt, dass dies der Cutty Grant war, den sie suchte. Natürlich war er reifer geworden. Allerdings konnte er sie unmöglich erkennen. Er hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, ganze zehn Minuten lang, bevor man sie in ihr Zimmer geschickt hatte. Außerdem war sie damals noch ein halbes Kind gewesen.

Er gab ihr erneut ein Zeichnen, und Kira trat ein. Sie wollte nicht unhöflich sein und lauschen. Deshalb schlug sie die Augen nieder und blickte zu Boden.

Cutty Grant hatte einen nackten Fuß von sich gestreckt. Ein weißer Gipsverband umschloss seine Ferse und verschwand unter dem Bein seiner alten Blue Jeans, die seine kräftigen Oberschenkel umspannten.

Unwillkürlich ließ Kira den Blick höher gleiten und betrachtete sein schlichtes weißes T-Shirt, das ihm wie eine zweite Haut passte. Es war unübersehbar, dass Cutty Grant fit genug war, um einen erwachsenen Mann aus einem brennenden Gebäude zu tragen. Seine Brust und seine Schultern waren äußerst muskulös, und seine Bizepse waren so groß, dass sich die kurzen Ärmel des T-Shirts bis an die Grenze spannten.

„Nein, das geht nicht.“

Einen Moment dachte Kira, er würde mit ihr reden, und blickte in sein Gesicht. Doch er telefonierte immer noch. „Sie können sich nicht gleichzeitig um uns und um Ihre Mutter kümmern“, erklärte er.

Kira betrachtete ihn näher. Der siebzehnjährige Teenager, an den sie sich erinnerte, hatte schon so gut ausgesehen, dass sie eifersüchtig auf ihre ältere Schwester gewesen war. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Mann jetzt.

Der erwachsene Cutty Grant hatte immer noch rabenschwarzes Haar. Nur war es jetzt kurz, anstatt lang und zottelig.

Nicht nur der Haarschnitt hatte sich verändert. Cuttys jungenhafter Charme war einem erstaunlich männlichen Gesicht gewichen. Seine hohe eckige Stirn war imposant, und sein markantes Kinn und seine etwas längere Nase kamen nun besser zur Geltung. Jeder Winkel seines Gesichts schien stärker ausgeprägt zu sein.

Seine Oberlippe war immer noch schmaler als seine volle Unterlippe. Als er über eine Bemerkung seiner Telefonpartnerin am anderen Ende lächelte, bildeten sich zwei Grübchen zu beiden Seiten seines Mundes, der ein bisschen geschmeidiger geworden war. Außerdem unbeschreiblich sexy.

Seine tief liegenden Augen hatten sich dagegen nicht verändern. Sie waren immer noch von einem Grün, das Kira sonst nie bei Augen gesehen hatte. Tannengrün wie ein Weihnachtsbaum. Ein so umwerfend gut aussehender Mann wie der erwachsene Cutty Grant war ihr noch nie begegnet.

„Ja, hier herrscht ein furchtbares Durcheinander“, fuhr er fort. „Aber das hätte Lucinda dir wirklich nicht zu erzählen brauchen.“

Kira riss sich von Cuttys Anblick los und betrachtete das Wohnzimmer. Es war wirklich ziemlich unordentlich. Überall lag Spielzeug herum, auf dem Boden, auf den Beistelltischen, auf dem braunen Tweedsofa und sogar auf dem Schreibtisch in der Ecke. Kinderkleider waren dazwischen verstreut, und von dem Schirm einer Stehlampe baumelten winzige pinkfarbene Shorts. Frische Windeln quoll en aus einem Sack auf dem Fernsehapparat.

„Es ist mir Ernst, Betty. Die Mädchen und ich werden bestimmt zurechtkommen. Ihre Mutter braucht Sie jetzt. Sie kommen erst wieder zu uns, wenn es ihr …“

Es entstand eine kurze Pause, während die Frau am anderen Ende etwas einwandte, das ihn offensichtlich überzeugte. „Also gut“, seufzte er. „Eine Stunde morgen früh, aber mehr nicht. Anschließend will ich Sie erst wiedersehen, wenn Ihre Mutter hundertprozentig auf den Beinen ist. Wenn es nicht anders geht, kann ich notfalls Ad zu Hilfe rufen.“ Er hielt erneut inne und lachte leise, tief in der Kehle. „Ich weiß. Er ist ebenso wenig ein Hausmann wie ich. Aber mit seiner Beule am Kopf kann er mehr tun als ich mit dem Gips am Fuß. Machen Sie sich also keine Sorgen. Ich muss Schluss machen. Ich habe Besuch bekommen. Wir sehen uns morgen – aber nur für eine Stunde“, fügte er nachdrücklich hinzu. Dann legte auf und drehte sich zu Kira.

„ Entschuldigung. Das war die Frau, die mir normalerweise mit dem Haushalt und den Kindern hilft. Ihre Mutter hatte einen Bandscheibenvorfall, und es ist ihr furchtbar peinlich, dass sie mich ausgerechnet jetzt allein mit den Kindern lassen muss. Sie weiß, dass ich meinen Fuß nicht belasten darf.“ Er deutete auf seinen Gips.

Kira sah zu, wie er mühsam aufstand und zu einem Stock griff, der neben ihm an der Wand lehnte.

Selbst wenn er sich auf seinen Stock stützte, war er mindestens einsachtzig groß und körperlich noch eindrucksvoller als im Sitzen. Dieser große kräftige Mann hat garantiert nichts Jungenhaftes mehr an sich, dachte Kira benommen.

Cutty Grant bemerkte ihre Verwirrung nicht. „So, da sind Sie also. Ich hätte schwören können, dass wir Donnerstagabend zwischen acht und neun gesagt hätten, damit die Kinder schon schlafen.“

Kira stutzte plötzlich. „Für wen halten Sie mich?“

„Für die Journalistik-Studentin vom College, die einen Artikel über Ad und mich schreiben will. Sind Sie das etwa nicht?“

Das erklärte, weshalb er sie ohne Weiteres hereingewunken hatte.

Kira schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht vom College. Ich bin Kira Wentworth, Marlas Schwester … Ich bin deine Schwägerin.“

Zwei tiefe Falten bildeten sich zwischen seinen Braunen. „Oh“, sagte er tonlos und schwieg so lange, dass Kira beschloss, die Stille zu beenden und ihm den Grund für ihr plötzliches Erscheinen zu nennen.

„In der Denver Post stand ein kurzer Artikel darüber, wie du zusammen mit einem anderen Mann eine Familie aus einem brennenden Haus gerettet hast. Es war das erste Mal, dass ich einen Hinweis darüber erhielt, wo Marla heute sein könnte, seit ihr beide vor dreizehn Jahren von zu Hause verschwunden seid. Ich bin hier, weil ich sie endlich wiedersehen möchte.“

Cutty Grant schloss seine grünen Augen, und seine Miene wurde hart. Dann öffnete er die Lider wieder und seufzte tief. Er deutete auf einen Stuhl und sagte: „Setzen wir uns.“

Kira ahnte, dass nichts Gutes kommen würde, und umklammerte ihre Handtasche so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie nahm eine Stoffpuppe von einem Schaukelstuhl, umschlang sie mit beiden Armen und setzte sich. Cutty Grant ließ sich auf dem einzigen freien Platz des Sofas nieder und legte seinen Gipsfuß auf ein Kissen auf dem Couchtisch davor.

Lange sprach er kein Wort und sah Kira auch nicht an. Stattdessen richtete er den Blick auf den Stock, den er quer über seine Beine gelegt hatte.

Plötzlich fiel Kira auf, dass hier zwar eine Menge Sachen von Kleinkindern und von Cutty selber herumlagen. Nichts wies jedoch darauf hin, dass ihre Schwester oder ihr Neffe ebenfalls hier lebten. Trotzdem hoffte sie wider besseres Wissen, dass Cutty gleich sagen würde, Marla und er wären geschieden. Marla würde mit ihrem Sohn woanders wohnen und er wäre Witwer mit zwei Töchtern, weil seine zweite Frau …

„Es tut mir aufrichtig leid“, sagte er in diesem Moment, und Kira wurde es ganz elend.

„Marla und ich hatten einen kleinen Jungen“, fuhr er fort. „Deine Eltern wussten davon. Deshalb müsstest du es ebenfalls erfahren haben.“

„Ja, das habe ich“, bestätigte Kira zögernd.

„Dann hast du wahrscheinlich auch erfahren, dass er autistisch war.“

Das war neu für sie. „Nein, das wusste ich nicht. Ich hatte nur zufällig von der Geburt des Babys erfahren, weil ich mitbekam, wie meine Mutter es meinem Vater sagte. Die beiden hatten Marla so gründlich verstoßen, dass ich nicht einmal ihren Namen erwähnen durfte. Anschließend habe ich sie nie wieder über meine Schwester oder das Kind reden hören.“

„Anthony. Wir hatten unseren Sohn Anthony genannt.“ Der Schmerz in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Ich hoffe nur, dass es nicht so schlimm ist, wie es scheint“, sagte Kira, als die Stille nicht enden wollte.

Cutty Grant schüttelte langsam den Kopf, um ihr zu zeigen, dass sie vergeblich hoffte. „Es geschah vor siebzehn Monaten. An einem Februartag, es war bereits schönes Frühlingswetter. Deshalb nahm Marla Anthony mit in den Vorgarten, damit er ein bisschen frische Luft bekam. Aus irgendeinem Grund lief er zwischen zwei Wagen, die am Straßenrand geparkt waren. Ein Laster kam heran, schneller als erlaubt. Der Fahrer sah Anthony nicht. Auch nicht Marla, die ihm nacheilte …“ Cutty brachte die Worte kaum heraus. „Der Laster erfasste alle beide.“

„Marla ist tot?“, flüsterte Kira.

„Ja. Es tut mir leid.“

„Und Anthony?“

„Er wurde auf der Stelle getötet.“

Durch ihre Tränen hindurch sah Kira, dass die Augen des Mannes ihr gegenüber eben falls feucht geworden waren. Trotzdem konnte sie den anklagenden Ton in ihrer Stimme nicht verhindern. „Und du hast es uns nicht wissen lassen?“

Einen Moment blitzten seine grünen Augen verärgert. Dann antwortete er tonlos: „Marla lebte nach dem Unfall noch ein paar Stunden. In der kurzen Zeit, die sie bei Bewusstsein war, bat sie mich, ihren Vater nicht anzurufen. Sie wollte ihn nicht an ihrer Seite haben. Ich habe ihren Wunsch respektiert.“ Es war klar, dass es ihm nicht schwer gefallen war, Marla diesen Wunsch zu er füllen. Auch er wollte Tom Wentworth hier nicht sehen.

„Aber ich hätte es wissen wollen“, sagte Kira und verlor den Kampf gegen ihre Tränen. Sie rollten ihre Wangen hinab.

Cutty Grant stand auf. Er humpelte aus dem Zimmer, kehrte mit einer Schachtel Papiertücher zurück und hielt sie ihr hin.

Kira bedankte sich geistesabwesend. Sie trocknete ihre Augen und kämpfte gegen die Gefühle, die sie durchströmten.

„Falls es ein Trost für dich ist …“, sagte Cutty. Er stellte die Schachtel auf den Tisch und setzte sich wieder. „Marla hat es immer bedauert, dass ihr euch nicht mehr sehen konntet, nachdem wir durchgebrannt waren.“

Natürlich war es kein Trost. Es stillte nicht den jahrelangen Schmerz darüber, dass Marla ihr furchtbar gefehlt hatte. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wo ihre große Schwester sein könnte. Sie hatte gewünscht, sie könnte Marla anrufen oder ihr wenigstens schreiben. Sie hatte sich danach gesehnt, sie zu besuchen, damit sie wieder Schwestern wären. Auch als sie erwachsen war und ihr eigenes Leben führte, hatte sich nichts an dieser Sehnsucht daran geändert.

„Ich habe versucht, sie zu finden“, sagte Kira unter Tränen und verstand nicht recht, weshalb es ihr plötzlich wichtig war, dass Cutty es erfuhr. „Meine Eltern sagten, sie hätten keine Ahnung, wo sie sei.“

„Das war gelogen.“

Kira hatte es befürchtet. Aber das brauchte Cutty nicht zu wissen. „Ich ging zu drei Privatdetektiven, aber ich konnte mir deren Honorar nicht leisten. Auch im Internet habe ich es versucht. Doch es kam nichts dabei heraus.“ Sie machte eine kurze Pause. „Natürlich weiß ich, dass Marla und ich nicht blutsverwandt waren. Sie stammte aus der ersten Ehe meines Stiefvaters. Aber trotzdem war sie meine Schwester. Seit meinem dritten Lebensjahr hatten wir uns ein Zimmer geteilt. Uns verband etwas ganz Besonderes, und ich habe sie immer als Vorbild …“ Sie sprach nicht weiter.

Doch Cutty nahm den Faden auf. „Weiß dein Vater, dass du hier bist?“

Endlich versiegten Kiras Tränen. „Mom und er kamen letztes Jahr bei einem Unfall ums Leben. Sie waren auf der Heimfahrt von einem Ausflug in die Berge, als sich ein Felsen löste. Er stürzte direkt auf ihren Wagen. Beide waren auf der Stelle tot.“

„Das tut mir sehr leid“, sagte Cutty. „Deine Mutter war eine nette Frau.“

Das traf zu. Leider war sie zu nett gewesen, um sich gegen den starken Willen ihres Ehemanns durchzusetzen. Jenen Mann, der ihre dreijährige Tochter adoptiert hatte.

Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Kira war in der Hoffnung nach Northbridge gekommen, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen. Eine Familie zu finden. Plötzlich wurde ihr klar, dass ihre einzige Chance in den Zwillingen bestand.

„Im Zeitungsartikel stand, dass du achtzehn Monate alte Zwillinge hast“, sagte sie.

„Ja, sie schlafen oben“, bestätigte Cutty, und seine Stimme klang ein wenig lebhafter.

„Sind die beiden … Marlas Kinder?“

„Ja. Sie waren keine drei Wochen alt, als der Unfall geschah.“

„Meine Nichten“, sagte Kira leise. Blutsverwandt oder nicht, sie fühlte sich mit ihnen verbunden.

„So ist es“, gab Cutty zu.

„Ich würde sie gerne kennenlernen. Darf ich sie sehen?“, fragte Kira aufgeregt.

Die Falte zwischen den Augenbrauen kehrte zurück. Offensichtlich gefiel Cutty diese Bitte überhaupt nicht. „Wie ich bereits sagte – sie schlafen schon.“

„Ich weiß. Aber …“

Plötzlich nahm sie die Unordnung im Raum wieder wahr, und ihr kam eine Idee. „Wie wäre es, wenn ich die Frau ersetze, mit der du vorhin telefoniert hast?“, fragte sie.

„Betty? Weshalb solltest du Bettys Platz einnehmen?“, antwortete Cutty verwirrt.

„Du hast erzählt, dass sie sich normalerweise um die Zwillinge und den Haushalt kümmert. Da du deinen Fuß nicht belasten darfst, steckst du offensichtlich in der Klemme. Ich würde gern einspringen und dir helfen. Auf diese Weise könnte ich die Kleinen kennenlernen und eine Beziehung zu ihnen aufbauen.“

Ja, je länger Kira darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr der Vorschlag.

Nach seiner Miene zu urteilen, schien Cutty ihre Begeisterung nicht zu teilen. „Hast du keinen Job oder einen Ehemann oder Freund, zu dem du zurückkehren musst?“

„Nein. Ich habe im Mai meinen Doktor in Mikrobiologie gemacht und arbeite ab nächstem Semester an der Universität von Colorado als Dozentin. Das Semester beginnt erst in der letzten Augustwoche. Bis dahin habe ich keine anderen Pläne. Also habe ich Zeit.“

„Kein Ehemann oder Freund, der auf dich wartet?“, fragte er. Kira konnte nicht erkennen, ob er nach einer Ausrede suchte oder die eigene Neugier befriedigen wollte.

„Nein, weder noch. Ich habe nur eine enge Freundin – Kit. Sie wird sich bestimmt gern um meine Post und meine Pflanzen kümmern. Ich kann also problemlos bleiben.“

„Du willst wirklich deine Sommerferien damit verbringen, hinter uns herzuräumen und Windeln zu wechseln?“, fragte Cutty misstrauisch.

„Ja, das möchte ich“, antwortete Kira und ärgerte sich, wie drängend ihre Stimme klang. „Allerdings habe ich nicht viel Erfahrung mit Kindern“, gestand sie. Es war nur fair, wenn Cutty wusste, worauf er sich einließ. „Aber was das Saubermachen betrifft …“

„Da bist du sicher von Tom Wentworth erzogen worden“, ergänzte er. „Ich weiß nicht recht. Ein bisschen Lässigkeit ist mir lieber.“

„Ich kann auch lässig sein.“ Allerdings war ihr nicht ganz klar, was lässige Haushaltsführung und Kinderpflege bedeutete.

Cutty schien immer noch nicht überzeugt. Er sah aus, als würde er ihren Vorschlag jeden Moment ablehnen.

Weshalb? Es war unübersehbar, dass er Hilfe brauchte. Es sei denn, er hegte immer noch einen Groll gegenüber ihrer

Familie wegen der Vorfälle vor dreizehn Jahren, als er zu ihren Eltern gekommen war und ihnen gestanden hatte, dass ihre siebzehnjährige Tochter von ihm schwanger war.

„Hör zu, ich habe nichts mit dem zu tun, was zwischen dir und meinem Vater passiert ist“, begann sie. „Ich erinnere mich, wie ausfallend er geworden ist. Er schickte mich damals in mein Zimmer. Aber ich versteckte mich auf der Treppe und hörte zu. Er war ein schwieriger Mensch …“

„Das ist aber eine gewaltige Untertreibung. Er war ein Tyrann.“

Kira bestritt es nicht. „Niemand kann die Vergangenheit ändern, und jetzt ist er tot, und Marla ist es ebenfalls. Aber es gibt die Zwillinge – und mich. Ich kann all die Jahre, die ich mit Marla und Anthony hätte verbringen können, nicht zurückholen. Aber ich könnte eine Zukunft mit den Zwillingen haben, wenn du mich lässt.“

Sie verabscheute den flehenden Ton, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte.

Cutty schien der Ton ebenfalls nicht zu gefallen, denn er ballte die Fäuste, und seine Stimme wurde plötzlich hart. „Ich bin nicht der schlechte Kerl, für den dein Vater mich hielt. Der dich daran hindern würde, deine Nichten kennen zu lernen. Mir ist klar, dass du damals noch ein halbes Kind warst und nichts damit zu tun hattest.“

„Dann darf ich bleiben?“

Er antwortete nicht sofort. Sie merkte, dass er ungern nachgab, obwohl er dringend Hilfe brauchte. „Also gut, wir können es ja versuchen“, sagte er endlich.

Kira war überglücklich und lächelte breit. „Soll ich gleich anfangen?“, fragte sie mit einem Blick auf die Unordnung ringsum.

„Das hat Zeit bis morgen früh.“

In diesem Fall war es wahrscheinlich besser, wenn sie das Haus verließ, bevor er es sich wieder anders überlegte.

„Gut, dann mache ich mich jetzt wieder auf den Weg, um noch ein Hotelzimmer für die Nacht zu finden. Ich werde gleich morgen früh wieder hier sein.“

Erneut entstand eine Pause, und er schien über etwas nachzudenken.

„Wenn du keinen Wert auf besonderen Komfort legst, kann du gern hinten schlafen, wo Maria und ich früher gewohnt haben. Mein Onkel hatte die Garage zu einem Apartment für uns ausgebaut. Normalerweise vermiete ich es an Collegestudenten. Aber weil jetzt Ferien sind, steht es leer.“

„Das wäre wunderbar“, antwortete Kira. „Wahrscheinlich ist es sogar besser, wenn ich in der Nähe bin.“

Cutty wirkte nicht gerade überzeugt, enthielt sich aber einer Antwort.

Kira holte ihren Koffer aus dem Wagen, und er führte sie durch die Küche, die allein schon eine Katastrophe war, in einen kleinen Garten mit der ehemaligen Garage an der Rückseite.

Sie überquerten den Rasen, und Cutty öffnete die Tür und drückte auf den Schalter. Drei Lampen gingen gleichzeitig an und beleuchteten das Studio-Apartment.

Die Schlafecke bestand aus einem Doppelbett und einem Schrank. Ein kleines Sofa mit passendem Sessel, ein Couchtisch und ein Fernseher dienten als Wohnbereich. Einige Küchenschränke, ein Spülbecken, ein zweiflammiger Herd mit winzigem Backofen, ein Kühlschrank und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen bildeten die Küche.

„Die Tür neben dem Kleiderschrank führt ins Bad“, erklärte Cutty. „Darin ist eine Dusche. Der Boiler ist ziemlich klein. Wenn du eine Menge Geschirr gespült hast, musst du eine halbe Stunde warten, bis du duschen kannst.“

„Ich komme schon zurecht, danke.“

Sie machte es ihm doch so leicht. Warum schaute Cutty dann schon wieder so zweifelnd drein? Als wäre ihm diese Regelung im Grunde nicht recht. Doch er sagte nichts.

Stattdessen fuhr er fort: „Die Mädchen wachen normalerweise gegen sieben Uhr auf.“

„In Ordnung. Ich werde kurz vorher drüben sein.“

Cutty nickte. „Handtücher sind im Badezimmer, Laken im Schrank. Falls du sonst vor morgen früh noch etwas brauchst …“

„Das glaube ich kaum.“

Er nickte erneut. „Dann gute Nacht.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum.

Kira blickte ihm nach. Normalerweise gehörte die Kehrseite nicht zu den Körperteilen, auf die sie bei einem Mann achtete. Bei Cutty genügte ein einziger Blick, um festzustellen, dass es ein tolles Hinterteil war.

Das tolle Hinterteil eines tollen Körpers mit einem tollen Gesicht und tollem Haar.

Nicht, dass es eine Rolle spielt, ermahnte Kira sich rasch. Sie war nur wegen der Zwillinge hier. Alles, was Cutty Grant betraf, war reine Zugabe.

Eine Zugabe, die sie nicht aus den Augen ließ, bevor er in seinem Haus verschwunden war.

2. KAPITEL

Cutty brauchte an diesem Mittwoch lange, bevor er endlich einschlief. Als er am nächsten Morgen vor Anbruch der Dämmerung erwachte, kehrten seine Gedanken sofort zu dem Grund zurück, der ihn vom Schlaf abgehalten hatte. Und der hieß Kira Wentworth.

Ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn tief erschüttert. Er hatte nicht erwartet, jemals wieder jemand aus der Familie Wentworth zu sehen. Nicht nach so vielen Jahren, in denen er für Tom Wentworth eine absolut unerwünschte Person gewesen war.

Tom war der einzige Wentworth, an den er in Zusammenhang mit Marlas Familie dachte. Ihre Adoptivmutter und Adoptivschwester waren nur Schatten neben diesem Mann gewesen. Kein Wunder, dass er sich die letzten dreizehn Jahre gedanklich kaum mit ihnen beschäftigt hatte.

Cutty öffnete die Augen und blickte auf seinen Wecker. Es war kurz nach fünf. Er bezweifelte, dass er wieder einschlafen konnte, wollte aber auch noch nicht aufstehen. Deshalb legte er die Hände unter den Kopf und starrte an die Decke.

Marlas Schwester.

Er hatte sie nur ein einziges Mal gesehen und nur ganz kurz, bevor ihr Vater sie aus dem Zimmer geschickt hatte. Deshalb hatte er sie unmöglich wiedererkennen können. Wenn doch, hätte er sie wohl nicht so bereitwillig in sein

Haus gelassen. Weder sie noch jemand anders, der mit Tom Wentworth verwandt war.

Tom Wentworth hatte nicht gewollt, dass Marla und er miteinander gingen. Deshalb hatten sie sich nur heimlich treffen können. Freunde hatten ihnen dabei geholfen. Jedes Mal hatten sie aufpassen müssen, ob nicht jemand in der Nähe war, der sie bei ihrem Vater verraten konnte.

Doch nach sechs Monaten hatte Marla festgestellt, dass sie schwanger war. Nie wieder war ihm ein Mensch begegnet, der solche Angst hatte wie sie, als sie es ihrem Vater gestehen musste.

Zwei Siebzehnjährige, die einem Zweizentnermann gegenüber standen – das Bild war ihm immer noch frisch im Gedächtnis.

Tom Wentworth hatte Cutty nicht einmal ins Haus lassen wollen. Doch Marla hatte darauf bestanden, dass sie alle zusammen redeten. Dann hatte sie ihm den Grund für das Gespräch genannt.

Und im nächsten Moment war die Hölle los gewesen. Cutty konnte heute noch nicht glauben, wie Tom Wentworth in die Luft gegangen war. Er hatte geschrien, Marla wäre eine Hure, eine nichtsnutzige Schlampe und Schlimmeres. Er, Cutty, hatte nichts tun können, um den Wortschwall zu unterbinden. Er hatte die verletzende Hasstirade schweigend über sich ergehen lassen. Erst als Tom Wentworth eine Abtreibung von Marla verlangte, hatte er eingegriffen und erklärt, dass Marla das Kind behalten wollte.

Tom Wentworth hätte ihn beinahe zusammengeschlagen. Doch Cutty hatte sich gewehrt und dem Mann seinerseits ein paar gezielte Schläge verpasst. Nach dieser „Aussprache“ hatte er Marla unmöglich mit ihrem rasenden Vater allein lassen können. Er hatte sie mitgenommen, ohne zu wissen, was er mit ihr anfangen sollte. Und mit einem Baby.

Sie wäre für ihn gestorben, hatte ihr Vater erklärt, als Marla den Mann am nächsten Tag anrief in der Hoffnung, er hätte sich beruhigt. Es wäre ihm egal, was aus seiner Tochter würde.

Ihre Adoptivmutter hatte ein paar Kleider zusammengepackt und ihr heimlich gebracht, weil Wentworth ihr nicht einmal diese Sachen zugestehen wollte.

Das war das Ende gewesen.

Das Ende einer Familie, die er nie wieder in seinem Leben hatte sehen wollen.

Und jetzt war Kira Wentworth auf seiner Schwelle aufgetaucht.

Er hatte sie tatsächlich für die Journalistikstudentin gehalten. Die Frau hatte seinen Freund Ad schon interviewt, und Ad hatte ihm erzählt, dass sie etwas älter wäre als die üblichen Studentinnen, schlank, hübsch und blond.

Diese Beschreibung passte zu Kira Wentworth. Allerdings hatte er gleich gedacht, dass hübsch nicht der passende Ausdruck war. Kira Wentworth war schön. Und ihr Haar war nicht nur blond. Es glänzte wie Honig, durch den das Sonnenlicht fiel. Ihre Haut war glatt wie Alabaster. Sie hatte den weichsten Mund, den er jemals gesehen hatte, und eine kleine kerzengerade Nase. Und ihre Augen … Sie waren blau wie der Sommerhimmel an einem wolkenlosen Tag. Gar nicht zu reden von diesem Körper, der ihm nicht …

Okay, gab Cutty zu. Es ließ sich nicht leugnen, dass sich gleich bei ihrem ersten Anblick etwas in ihm gerührt hatte, das sich sehr lange nicht gerührt hatte. Welch eine Laune des Schicksals, dass die erste Frau, zu der er sich nach Marlas und Anthonys Tod wieder hingezogen fühlte, ausgerechnet eine Wentworth war!

Der Verstand sagte ihm, dass er keinen Grund hatte, Kira zu grollen. Trotzdem war es seine erste Reaktion gewesen, als sie ihm sagte, wer sie war. Am liebsten hätte er sie aus dem Haus geworfen. Doch er hatte versucht, seine Gefühle zu verdrängen.

Offensichtlich war es ihm ziemlich gut gelungen. Denn als er ihr kurz darauf von Marias und Anthonys Tod erzählte und merkte, welch einen Schlag diese Nachricht für sie bedeutete, war sein Herz vor Mitleid beinahe übergeflossen.

Am liebsten hätte er Kira in die Arme gezogen und sie getröstet. Und nicht nur das. Er wollte erfahren, wie es sich anfühlte, wenn sie ihren Kopf an seine Brust drückte, ihren Körper an seinen …

Sie ist eine Wentworth, hatte er sich energisch zur Ordnung gerufen, um das Bedürfnis zu vertreiben.

Das Bedürfnis war zwar nicht verschwunden, aber er hatte ihm wenigstens nicht nachgegeben. Er hatte immer noch dagegen gekämpft, als Kira ihm den Vorschlag machte, sich während Bettys Abwesenheit um die Zwillinge zu kümmern. Und um ihn.

Das hatte er nicht erwartet, und seine Gefühle hatten sich erneut ins Negative gekehrt. Er wollte keine Wentworth in seinem Haus. Bilder von dem, was gewesen war, schossen ihm durch den Kopf. Und was wieder sein könnte.

Cutty bekam ein schlechtes Gewissen und schloss die Augen. Er wollte Kiras Hilfe nicht. Doch er wäre sich furchtbar schäbig vor gekommen, wenn er ihr die Chance verwehrt hätte, die Zwillinge kennen zu lernen. Ein Teil ihres Lebens zu werden. Schließlich waren es ihre Nichten. Marla hätte das bestimmt auch gewollt.

Deshalb hatte er nachgegeben.

Cutty öffnete die Augen und seufzte tief. Gerade, als er geglaubt hatte, sein Leben wieder im Griff zu haben, geriet er erneut in einen Strudel widerstrebender Gefühle. Wohl zum zehnten Mal fragte er sich, ob er Kiras Hilfe als Kindermädchen und Haushälterin nur angenommen hatte, weil es Marlas Wunsch gewesen wäre – oder weil er sich wider besseren Wissens zu ihr hingezogen fühlte.

Hoffentlich war Ersteres der Fall.

Nach einer ruhelosen Nacht erwachte Kira, bevor ihr Wecker läutete. Sobald sie sich erinnerte, wo sie war und was sie heute vorhatte, wurde sie zu nervös, um länger im Bett zu liegen. Deshalb stand sie auf, eilte ins Bad und duschte rasch.

Die Sonne ging gerade auf, als sie vor ihrem Schrank stand und die Kleider betrachtete, die sie mitgebracht hatte. Sie hatte keine Vorstellung davon, was bei achtzehn Monate alten Kindern auf sie zukommen würde. Was bedeutete, dass sie nicht wusste, was sie anziehen sollte.

Natürlich würden ihre Nichten nicht einmal registrieren, was sie trug. Aber Kira wünschte sich so sehr, dass die Kleinen sie mochten, dass ihr jede Kleinigkeit bei der ersten Begegnung wichtig war.

Vielleicht etwas Buntes, überlegte sie und holte ein rotes T-Shirt hervor.

Oder war es zu leuchtend und würde ihnen Angst machen?

Möglicherweise.

Kira legte das Shirt in den Schrank zurück und fuhr mit ihrer Suche fort.

Die schwarze hochgeschlossene Bluse kam auf keinen Fall in Frage. Schwarz war viel zu streng und könnte signalisieren, dass sie unnahbar war. Das war das Letzte, was sie bei ihren Nichten erreichen wollte.

Am liebsten hätte sie das geblümte Sonnenkleid mit dem weiten Rock angezogen. Aber sie war nicht sicher, ob es praktisch war. Andererseits war es wichtig, dass sie an ihrem ersten Arbeitstag einen guten Eindruck machte.

Auf Cutty.

Sobald Kira erkannte, was tief in ihrem Innern vorging, schob sie das Sonnenkleid energisch beiseite. Sie war nicht in Northbridge, um Cutty zu beeindrucken. Sie wollte eine Beziehung zu den Kindern aufbauen – nur zu den Kindern – und sich durch nichts davon ablenken lassen. Nicht einmal von zwei dunkelgrünen Augen mit längeren und dichteren Wimpern, als gut für einen Mann waren.

Nein, sie würde nicht einmal an Cutty denken. Genau das hatte sie sich letzte Nacht vorgenommen, als sie nicht einschlafen konnte, weil sein Bild ständig vor ihrem inneren Auge stand. Er gab nur einen einzigen Grund, weshalb sie nach Montana gekommen war: das, was von ihrer Familie geblieben war, in ihr Leben zurückzuholen. Und das waren die Zwillinge. Cutty gehörte nur zufällig dazu. Zumindest für sie. Er war der Mensch, über den sie zu ihren Nichten gelangen konnte.

Also, was soll ich anziehen? überlegte Kira erneut.

Vielleicht die Leinenhose mit der kurzärmeligen gelben Seidenbluse?

Bequem, aber nicht zu lässig. Ein bisschen Farbe, aber nicht zu viel. Außerdem machte die Hose einen tollen Hintern.

Nicht dass ich die Hose aus diesem Grund wählen würde, redete sie sich ein.

Kira legte die Sachen auf das Bett und setzte sich an den kleinen Toilettentisch, um ihr Haar zu kämmen und ihr Make-up aufzulegen. Normalerweise hätte sie das Haar an einem ersten Arbeitstag offen getragen. In diesem Fall war es wohl besser, es zusammenzuhalten. Deshalb bürstete sie es zu einem Pferdeschwanz zurück und band einen hellgelben Schal herum.

Anschließend trug sie ein wenig Rouge, Mascara und Lippenstift auf und war kurz darauf bereit, sich dem Tag und ihrer neuen Aufgabe zu stellen.

Bereit und voller Erwartung.

„Die Zwillinge kennen zu lernen“, sagte sie laut, als hätte sie jemand anderer Absichten beschuldigt.

Ich freue mich nicht gerade darauf, Cutty wiederzusehen, redete sie sich ein. Wie sollte sie auch, wo er sie gewiss nicht aus den Augen lassen und ständig mit Marla vergleichen würde.

Tante Kira. Ich bin nichts als Tante Kira, ermahnte sie sich, während sie das winzige Bad aufräumte.

Allerdings würde es ihr erheblich leichter fallen, nur die liebe Tante zu sein, wenn Cutty nicht ständig um sie herum wäre. Wenn sie ihn nicht ständig ansehen könnte. Diese Augen … Dieser große kräftige Körper …

Nein, sie würde sich nicht davon beeinflussen lassen. Auf keinen Fall.

Sie würde ihr Bestes tun, um die Zwillinge zu versorgen und deren Liebe zu gewinnen. Ihr Vater würde nur eine Nebenrolle in dieser Beziehung spielen.

Und wenn es ihr noch so schwer fiel.

Kira verließ das Apartment um 6 Uhr 45.

Ob Cutty schon wach war oder ob er im Bett blieb, bis die Zwillinge ihn weckten? Falls es so war, würde sie draußen in einem Gartenstuhl warten, um sofort zur Stelle zu sein, wenn man sie brauchte.

Aber die Hintertür stand offen. Durch das Fliegengitter roch Kira den Duft von gebratenem Speck. Cutty saß am Küchentisch und hatte den Fuß auf einen zweiten Stuhl gelegt. Zwei Kleinkinder saßen in Hochstühlen auf der anderen Seite des Tisches, und eine untersetzte ältere Frau stellte gerade zwei Schalen vor die Mädchen.

Kira wurde es ganz elend bei dem Gedanken, dass sie sich verspätet hatte. Um keine Zeit zu verschwenden und es noch schlimmer zu machen, klopfte sie an die Tür.

Cutty drehte sich in ihre Richtung. Ein äußerst seltsames Gefühl durchrieselte sie bei seinem Blick. Ihr war, als träfe sie ein winziger elektrischer Schlag.

„Komm rein“, ermutigte Cutty sie.

Kira öffnete die Gittertür und trat näher. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich dachte, du hättest gesagt, sieben Uhr wäre früh genug.“

„Stimmt, das habe so gesagt“, bestätigte Cutty. „Aber Betty … Darf ich vorstellen: Dies ist Betty Cunningham, unsere gute Fee“, unterbrach er sich selbst. „Betty, das ist Kira Wentworth, Marias Schwester. Betty ist auf dem Weg zu ihrer Mutter im Krankenhaus kurz hier vorbeigekommen. Deshalb habe ich die Mädchen schnell geweckt, und wir sind schon unten.“

Betty trat auf Kira zu, legte die Arme um sie und zog sie an sich. „Ich freue mich sehr, Marlas Schwester kennen zu lernen.“

Kira riss sich zusammen, um bei dem unerwarteten körperlichen Kontakt nicht zu erstarren. „Danke“, antwortete sie. „Ich freue mich auch, Sie kennen zu lernen.“

Betty gab sie frei und zeigte stolz auf die Zwillinge. „Und das sind unsere kleinen Lieblinge. Cutty sagte, Sie hätten sie gestern Abend nicht mehr gesehen.“

Erst in diesem Moment warf Kira den ersten richtigen Blick auf die Zwillinge. Sie war sonst nicht nahe am Wasser gebaut. Doch jetzt füllten ihre Augen sich mit Tränen.

Die kleinen Mädchen kümmerten sich kein bisschen um sie. Es war unübersehbar, dass sie Cuttys Kinder waren. Aber sie hatten auch viel von Marla geerbt. Beide hatten Cuttys rabenschwarzes Haar, aber Marlas dichte Locken. Sie hatten große grüne Augen, die ein bisschen heller waren als Cuttys, Pausbacken und einen Rosenmund wie ihre Mutter. Außerdem die süßesten Stupsnasen, die Kira je gesehen hatte.

„Das ist Mandy“, sagte Cutty und deutete auf das rechte Mädchen. „Und das ist Melanie – Mel genannt. Wir können die beiden nur auseinander halten, weil Mel ein winziges Muttermal über dem linken Auge hat. Hoffentlich bekommt Mandy nicht auch eines. Sonst müssen wir erneut raten, wer von beiden wer ist.“

Kira kämpfte gegen ihre Tränen, damit Cutty und Betty nicht merkten, wie gerührt sie war. Außerdem wollte sie die

Mädchen nicht ängstigen.

„Hi, Mandy. Hi, Mel.“

Die Kleinen spielten eher mit dem Haferbrei, als dass sie ihn aßen. Mel zerdrückte eine Hand voll zwischen den Fingern, und Mandy verteilte ihn löffelweise auf ihrem Tablett. Endlich sahen die beiden auf.

Kira hätte nicht sagen können, was sie erwartete. Aber sicher nicht dies: Mel streckte ängstlich die Arme nach Betty aus, wie um sich vor Kira zu retten. Und Mandy verzog erschrocken ihr niedliches Gesicht und heulte laut auf.

Kira hätte am liebsten selber losgeheult.

„Oh nein. Ich tue euch doch nichts. Ich bin eure Tante“, sagte sie, als würde das etwas ändern.

Betty eilte zu den Hochstühlen. Sie legte tröstend einen Arm um jedes Mädchen und zog deren Köpfe an ihr Gesicht.

„Oh je, die Ärmsten“, sagte sie. „Normalerweise sind sie sehr aufgeschlossen gegenüber Fremden.“

„Es ist all es in Ordnung, Mädchen“, versicherte Cutty seinen Töchtern. „Kira ist eine nette Frau.“

Die Kleinen starrten Kira an, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern.

„Lassen Sie ihnen ein wenig Zeit“, sagte Betty. „Sie werden bald mit Ihnen warm werden.“

„Sicher“, stimmte Cutty ihr zu. „Wie wäre es, wenn Sie Kira ein bisschen herumführten und ihr alles zeigten, damit die Mädchen frühstücken können?“

Es war kein gutes Zeichen, dass sie aus der Sichtweite ihrer Nichten verschwinden sollte, damit die Kleinen sich wieder beruhigten und ihr Frühstück aßen. Doch Kira blieb nichts übrig, als sich Cuttys Wunsch zu fügen. Niedergeschlagen folgte sie Betty aus der Küche.

„Sie werden sich bestimmt an Sie gewöhnen“, sagte die ältere Frau zuversichtlich.

„Ich hoffe, Sie behalten Recht.“

Damit schien das Thema beendet zu sein, denn Betty fuhr fort: „Fangen wir mit dem Kinderzimmer an“, erklärte sie und führte Kira den Flur hinab und die Treppe hinauf.

Im oberen Stockwerk des Hauses herrschte ebenso große Unordnung wie unten. Betty hob auf dem Weg zum Kinderzimmer einiges auf. Das änderte aber nichts an dem allgemeinen Durcheinander.

Das Kinderzimmer war weiß gestrichen und hatte pinkfarbene Vorhänge. An der hinteren Wand spielten Dschungeltiere auf einer Tapete fröhlich im Regenwald.

Es gab zwei Kinderbettchen, zwei Kommoden, zwei Spielzeugkisten, aber nur einen Wickeltisch.

„Dies ist Mels Bett“, begann Betty. „Und das ist Mandys. Manchmal, wenn eines der Kinder sehr unruhig ist, schlafen sie allerdings am besten in einem Bett.“

Sie ging zu Mandys Bett und begann, die Laken abzuziehen. „Marla wechselte die Wäsche jeden Tag. Ich habe versucht, es beizubehalten, weil ich weiß, dass sie es so gewollt hätte.“

Also sollte sie, Kira, es ebenfalls tun.

Kira ging zu dem anderen Kinderbett und zog die Laken herunter. „Sie müssen Marla gut gekannt haben.“

„Northbridge ist eine kleine Stadt“, erklärte Betty. „Jeder kennt hier jeden. Nach der Geburt der Zwillinge half ich Marla drei Mal pro Woche. Dadurch lernte ich sie noch besser kennen. Nicht dass Marla Hilfe gebraucht hätte. Ganz gewiss nicht. Aber Cutty bestand darauf. Meistens füllte ich nur die Babyflaschen und spielte mit Anthony, während sie die eigentliche Arbeit erledigte. Sie war eine fabelhafte Mutter und Hausfrau. Ich wüsste nichts, was sie nicht perfekt gekonnt hätte.“

Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester, dachte Kira und verlor zum dritten Mal das frische Laken aus der Hand, bevor es endlich über alle vier Ecken der Matratze gespannt war. Zum Glück bemerkte die Haushälterin es nicht.

„Sie hätten Maria mit Anthony sehen sollen“, fuhr Betty fort. „Er war ein hübscher Junge, aber ziemlich schwierig. Doch Ihre Schwester verlor nie die Fassung. Sie war eine wahre Heilige.“

Kira wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie in aller Welt sollte sie dem gerecht werden, was Marla offensichtlich mühelos geschafft hatte?

Betty eilte mit der Wäsche auf den Armen aus dem Zimmer, und Kira folgte ihr. „Das Übrige können Sie später erledigen. Wir tun die Sachen am besten gleich in die Waschmaschine. Marla wusch mindestens eine Maschinenladung täglich. Ich nehme an, Sie werden es ebenfalls tun.“

Kira sah zu, wie die untersetzte Frau die Laken in die Maschine in dem kleinen Wirtschaftsraum stopfte, der vom Flur abging, und hoffte inständig, dass der Trockner genauso funktionierte wie in ihrem Apartmenthaus, damit sie nicht fragen musste.

„Cutty sagte heute Morgen, dass Sie sich nicht um sein Zimmer zu kümmern brauchen. Das würde er selber übernehmen“, erklärte Betty, während sie an der geschlossenen Tür vorüber zum Bad gingen, wo jede Menge Handtücher, Waschlappen, Babysachen, Wannenspielzeug und Seifen auf dem Boden lagen. Ein dunkler Ring umgab die Wanne, und das Becken und der Spiegel waren fleckig.

„Jeden Tag ein Bad“, wies Betty sie an. „Abends vor dem Schlafengehen. So hat Marla es getan. Sie hätte die Wanne niemals schmutzig gelassen. Oder den Boden nicht gesaugt. Alles war immer makellos. Ich versichere Ihnen, sie war eine erstaunliche Frau.“

„Ja, das war sie“, sagte Kira und versuchte, das Badezimmer ein wenig aufzuräumen.

„Oh nein, Liebes. Nicht so. Marla stellte den Seifenspender immer auf die rechte Seite des Waschbeckens. Dort gehört er hin.“

Kira setzte die Pumpflasche um, und Betty rückte sie genau an die richtige Stelle. „So wollte Maria es. Aber ich habe jetzt nicht viel Zeit. Sie können den Rest später erledigen. Gehen wir wieder nach unten, damit ich Ihnen dort einiges zeigen kann.“

Auf der anderen Seite des Badezimmers war ein weiterer geschlossener Raum. „Das war Anthonys Zimmer“, flüsterte Betty, als wäre es ein Geheimnis. „Es steht leer. Auch als Anthony noch lebte, lag nur eine Matratze auf dem Boden. Cutty hat sie zu Beginn des Sommers weggeworfen, auch seine eigene Schlafzimmereinrichtung, und sich neue Möbel gekauft. Natürlich gab es keinen Grund, Anthonys altes Zimmer ebenfalls einzurichten. Außerdem muss dort erst einiges erledigt werden.“

Kira blickte auf die verschlossene Tür und überlegte, welche Arbeiten dort nötig sein könnten und weshalb. Aber sie wagte nicht, danach zu fragen. Schweigend folgte sie der plappernden Betty die Treppe hinab.

„Es ist gut, dass Cutty hier einiges verändert hat. Wir halten es für ein Anzeichen dafür, dass er bereit ist, sein eigenes Leben wieder aufzunehmen. Und darüber freuen wir uns sehr. Um Mels und Mandys willen. Ein Mensch kann nicht ewig trauern. Oh nein, sehen Sie sich diese Unordnung an!“, wechselte sie plötzlich das Thema. „Zwei Tage war ich nicht da und kann einfach nicht glauben, in welchem Zustand das Haus ist. Sie sind genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Die arme Marla würde sich im Grab umdrehen, wenn sie von diesem Durcheinander erführe. Bei ihr war immer alles tiptop.“

Betty zeigte auf eine Kiste in der Ecke, in der das Spielzeug des Erdgeschosses untergebracht war. Anschließend berichtete sie, wie oft Marla die Fenster geputzt, die Matratzen gewendet, die Möbel gewienert und das Silber poliert hatte. Marla hatte nicht nur warme Mahlzeiten bereitet, sondern auch alle Kuchen, Kekse und das Brot selbst gebacken.

Die Aufzählung wollte nicht enden. Kira fürchtete, sie würde eine Panikattacke bekommen, wenn sie noch ein einziges weiteres Wort hörte.

Vielleicht sah man es ihrem Gesicht an, denn Betty hielt plötzlich inne. „Natürlich brauchen Sie nicht alles genauso wie Marla zu machen. Das würde niemand schaffen. Ich wäre Ihnen nur dankbar, wenn Sie die Mahlzeiten zubereiten und das Haus in Ordnung halten würden, bis ich wieder da bin.“

„Ich werde mein Bestes tun“, versprach Kira, auch wenn Marla die Messlatte sehr hoch gelegt hatte.

„Sie werden bestimmt zurechtkommen“, sagte Betty. „Und jetzt erkläre ich Ihnen noch rasch die Küche und den Tagesplan für die Kinder. Anschließend lasse ich Sie allein.“

Kira folgte der Frau zurück in die Küche, wo Cutty immer noch versuchte, seine Töchter zum Frühstücken zu bewegen. Die Zwillinge beobachteten sie argwöhnisch.

„Nach dem Frühstück wasche ich die Kleinen und ziehe sie an“, fuhr Betty fort. „An manchen Vormittagen sehen sie sich die Sesamstraße an, während ich das Haus putze. Oder sie spielen …“

„Das sind die guten Vormittage“, warf Cutty kläglich ein und überließ es Kira, sich auszumalen, was an den schlechten Tagen geschah.

„Gegen zwölf bekommen sie ihr Mittagessen. Ich lasse ihnen eine halbe Stunde, um das Essen zu verdauen. Dann lege ich sie zu ihrem Mittagsschlaf ins Bett. Das ist die beste Zeit, um den Rest zu erledigen. Gegen drei wachen sie wieder auf. Abendessen gibt es um sechs. Anschließend bade ich sie und wasche ihnen das Haar. Sie schauen sich noch gern ein Bilderbuch an, bevor es Zeit zum Schlafen ist. Zum Vorlesen sind sie noch zu klein. Aber es gefällt ihnen, wenn man auf die Bilder zeigt und ihnen erklärt, was sie darstellen. Zwischen acht und halb neun bringe ich sie zu Bett. Dann ist der Tag zu Ende.“

Kira war schon vom Zuhören allein erschöpft. Aber das durften Betty und Cutty auf keinen Fall merken. Sie würde ihren Aufenthalt hier als Herausforderung betrachten und war sicher, dass sie der Aufgabe wie allen anderen in ihrem Leben gewachsen wäre. Schließlich hielt sie ihr eigenes Apartment ebenfalls blitzsauber. So viel Mehrarbeit konnte es nicht sein, sich zusätzlich um zwei kleine Mädchen zu kümmern.

„In Ordnung“, antwortete sie schlicht.

Betty blickte auf die Uhr. „Ich sollte jetzt lieber gehen und meine Mutier vom Krankenhaus abholen, bevor sie versucht, per Anhalter nach Hause zu fahren. Falls Sie mich brauchen …“

„Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen. Wir kommen schon zurecht“, versicherte Cutty ihr.

„Was heißt hier wir?“, erwiderte Betty. „Denken Sie daran, dass Sie Ihren Fuß nicht bei asten dürfen. Überlassen Sie alles Kira. Schließlich ist sie Marlas Schwester und wird es schon schaffen.“ Sie küsste die Kinder auf den Kopf.

Kira widersprach nicht. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um so gut wie ihre verstorbene Schwester zu sein. Wie immer.

„Grüßen Sie Ihre Mutter von uns, und sagen Sie ihr, dass wir ihr gute Besserung wünschen.“

„Ja, danke“, sagte Betty und eilte davon.

Dann war Kira mit Cutty, der seltsam belustigt dreinblickte, und den beiden kleinen Mädchen, die sie misstrauisch beäugten, allein.

„Bist du sicher, dass du das schaffst?“, fragte Cutty endlich.

„Absolut“, antwortete Kira.

Wenn Marla dem hier gewachsen gewesen war, war sie es auch.

„Du hast deinen Fuß heute zu viel belastet, nicht wahr?“

Es war neun Uhr abends. Cutty hatte die Zwillinge gerade zu Bett gebracht und die Wäsche in den Trockner getan. Er zuckte heftig zusammen, als er sich auf die Couch setzte und den Fuß auf ein Kissen auf dem Tisch legte.

„Es ist alles in Ordnung“, antwortete er. Es war ihm sichtbar unangenehm, dass Kira seinen Schmerz bemerkt hatte.

Dabei war es Kira, die allen Grund hatte, verlegen zu sein. Sie war heute mehr ein Hindernis gewesen als eine Hilfe. Das war ihr klar. Das Chaos ringsum war wegen ihr eher noch größer geworden.

„Setz dich, damit wir uns ein bisschen unterhalten können“, schlug Cutty vor.

„Oh je, das klingt nicht gut. Du willst mich rauswerfen, nicht wahr?“

Er lachte leise tief in der Kehle. Es war ein Lachen, das sie stärker anrührte, als sie zugeben mochte. „Nein. Du siehst einfach aus, als solltest du dich dringend setzen.“

Kira entdeckte ihr Spiegelbild im Fenster und erschrak über ihren Anblick. Ihre Bluse hing teilweise aus dem Bund und war über und über von Mandys Hühner-Nudel-Suppe bekleckert. Die eine Hälfte ihres Haars hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst, die andere Hälfte bauschte sich seitlich an ihrem Kopf. Sie war in einem schlimmeren Zustand als das ganze Haus.

„Oh je“, sagte sie. Sie löste den gelben Schal, damit das Haar herunterfallen konnte, und kämmte die Strähnen mit den Fingern.

„Komm schon. Setz dich einen Moment“, drängte Cutty sie.

Kira setzte sich wie ein Schulmädchen auf die Kante des Sessels zu seiner Linken.

Cutty beobachtete sie aufmerksam mit seinen grünen Augen. Obwohl sie fast den ganzen Tag gemeinsam verbracht hatten, war sie so beschäftigt gewesen, dass sie kaum einen Blick auf ihn geworfen hatte.

Cutty sah kein bisschen mitgenommen aus. Seine graue

Jogginghose, die seine kräftigen Oberschenkel umspannte, und sein enges weißes T-Shirt waren immer noch sauber. Der Fünf-Uhr-Bart, der die untere Hälfte seines markanten Gesichts beschattete, verlieh ihm eine gewisse Lässigkeit, die äußerst sexy war.

Aber das war das Letzte, was sie jetzt feststellen sollte.

Um sich abzulenken, blickte Kira auf den Apfelmusfleck auf ihrem Schuh. „Es tut mir sehr leid, wie das heute gelaufen ist“, begann sie hilflos. „Normalerweise bin ich eine äußerst effiziente Frau, die hervorragend organisieren kann. Ob du es glaubst oder nicht: Mein Apartment ist immer blitzsauber.“

„Das bezweifle ich nicht“, versicherte Cutty. „Aber sobald zwei kleine vorwitzige eineinhalbjährige Kinder hinzukommen, gerät die beste Planung durcheinander.“

Weshalb in aller Welt fand er ihr Scheitern so lustig?

„Ich war sicher, wenn Marla solch ein Genie war, wie Betty behauptete, würde ich es ebenfalls schaffen.“

„Marla war nicht von Anfang an so tüchtig. Sie begann mit einem Kind, und das war schon schwierig genug. Wir hatten beide unsere Schwierigkeiten. Aber mit der Zeit …“

„Es wird bestimmt besser“, versprach Kira, bevor er seinen Satz beenden konnte. „Ich werde einfach um vier Uhr morgens herüberkommen, bevor du oder die Mädchen aufwachen, und …“

„He!“ Cutty hob abwehrend die Hand. „Ich wollte nicht mit dir reden, damit du dich noch mehr anstrengst!“

„Du willst mir also kündigen.“

„Ich habe dich nie eingestellt. Wie sollte ich dir da kündigen? Nein, ich möchte dich vielmehr bitten, dich zu entspannen.“

„Entspannen?“, wiederholte Kira ungläubig.

„Ja. Ich glaube, du strengst dich zu sehr an und bist zu verkrampft. Deshalb bist du so … ungeschickt.“

„Ich weiß, ich habe heute ständig etwas fallen gelassen oder verschüttet und war mehr damit beschäftigt, meine eigene Unordnung zu beseitigen, als mich um das Haus zu kümmern. Normalerweise bin ich nicht so tollpatschig.“

„Und was die Mädchen betrifft …“

„Sie können mich immer noch nicht leiden.“

„Du bist eine Fremde für sie, und sie vermissen Betty, die wie eine Großmutter für sie ist. Sie werden sich bestimmt an dich gewöhnen. Aber du kannst es nicht erzwingen. Sie können ziemlich widerspenstig werden, wenn du es mit Gewalt versuchst.“

Kiras verschmutzte Kleider und Schuhe waren der Beweis dafür.

Cutty hatte recht. Es war gewiss nicht der richtige Weg gewesen, wie sie die Zwillinge heute behandelt hatte. Die Kleinen waren vor ihren überschwänglichen Zuwendungen geflohen – meistens unter heftigen Wutausbrüchen. Am Ende hatte Cutly eingreifen und dann alles selbst erledigen müssen.

„Es tut mir leid“, sagte Kira erneut und warf einem weiteren Blick auf die Unordnung ringsum: „Vielleicht kann ich jetzt noch etwas tun.“

„Ich glaube, du solltest lieber ein schönes Schaumbad nehmen“, antwortete Cutty. „Wir werden morgen noch einmal von vorn anfangen. Und möglichst ohne ständig daran zu denken, wie Marla alles gemacht hatte.“

Kira hatte ungewöhnlich oft gefragt, wie ihre Schwester dies und jenes erledigt hatte. „Betty sagte …“

„Ich kann mir vorstellen, was Betty gesagt hat. Aber Betty ist nicht da und Marla ebenfalls nicht. Wir müssen über die Runden kommen, ganz gleich, was Betty gesagt hat oder wie Marla es getan hätte.“

„In Ordnung.“ Das war eine nette Art, ihr klarzumachen, dass sie wenigstens etwas zu Stande bringen sollte.

Cutty lächelte freundlich, und Kira fasste neuen Mut. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du uns helfen willst“, sagte er. „Und ich freue mich, dass du die Mädchen besser kennenlernen möchtest. Aber ich glaube, es wird leichter, wenn du einfach alles auf dich zukommen lässt. Entspann dich. Tu nicht so viel und hab auch ein bisschen Spaß. Es gibt kein Richtig oder Falsch.“

Kira nickte stumm. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass es immer nur einen richtigen Weg gab, und den hätte sie zu wählen. Sie war nicht sicher, ob sie das jetzt vergessen konnte.

Cutty nahm seinen Fuß vom Kissen und stand auf. „Ich gebe dir einen Schlüssel für die Hintertür, damit du kommen und gehen kannst, wie du möchtest. Doch jetzt solltest du wirklich ein ausgiebiges Bad nehmen. Und morgen ist ein neuer Tag.“

Schlimmer kann er ja kaum noch werden, dachte Kira.

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie, als sie die Küche betraten.

„Noch so ein Tag wie heute, und ich ziehe dir den Schaden vom Lohn ab“, scherzte Cutty. Er nahm einen Schlüssel vom Haken und lächelte so verschmitzt, dass sich Grübchen zu beiden Seiten seines Mundes bildeten. Kira wurde es ganz warm ums Herz.

„Am Ende werde ich noch draufzahlen müssen“, nahm sie seinen Scherz auf.

„Du bist eben ein kleiner Elefant im Porzellanladen“, stellte er fest, als wäre es ein Kompliment.

„Normalerweise nicht“, versicherte Kira ihm. „Ehrlich. Niemand, der mich kennt, würde mir so ein Desaster wie heute zutrauen.“

Er reichte ihr stumm den Schlüssel. Ihre Hände berührten sich nur kurz. Dennoch nahm Kira den Kontakt seltsam deutlich war. Winzige elektrische Schläge durchzuckten ihren Oberarm.

So ein Unsinn, tadelte sie sich. Allerdings war Cuttys Stimme eine Oktave tiefer gesunken, als er wieder sprach.

Ob er es ebenfalls gespürt hatte?

„Komm ja nicht auf die Idee, schon um vier Uhr hier anzutanzen. Sieben ist früh genug. Wahrscheinlich wird es auch dann noch eine halbe Stunde dauern, bis die Mädchen aufwachen. Vielleicht ändert sich ja alles zu deinen Gunsten, wenn sie dich morgen früh als Erste sehen und nicht Betty.“

„So wie die Gänse sich dem anschließen, dem sie nach dem Schlüpfen als Erstes begegnen?“

„Ja, so ähnlich.“ Er lächelte breit.

Sie blickten sich tief in die Augen. Kira verstand nicht, was zwischen ihnen vorging. Irgendwas lag in der Luft. Etwas, das mehr war als die Kameradschaft. Mehr als alte Familienbande. Mehr als nur unverbindliche Bekanntschaft.

Dann war der Moment vorbei. Cutty öffnete die Hintertür, und sie ging hinaus.

„Bis morgen“, sagte er.

„Gute Nacht“, antwortete sie.

Während sie zu ihrem Apartment ging, spürte Kira noch die Reste dessen, was einen winzigen Moment lang zwischen ihnen gewesen war.

Was war da eben los? überlegte sie.

Sie wusste es wirklich nicht. Sicher war nur, dass es in ihrem Innern seltsam kribbelte.

3. KAPITEL

„Das war vielleicht eine seltsame Situation. Einen kurzen Moment war ich tatsächlich versucht gewesen, die Frau zu küssen.“

Cutty saß am nächsten Morgen um Viertel nach sieben in Ad Walkers Küche. Nach einem kurzen schnellen Frühstück hatte er Kira mit den Zwillingen allein gelassen und war zu seinem besten Freund gefahren. Zum Glück hatte sein Polizeijeep Automatikgetriebe. Da sein linker Fuß verletzt war, bereitete ihm das Fahren keine Schwierigkeiten.

Ad hatte Kaffee gekocht, und Cutty hatte ihm über dem starken schwarzen Getränk von Kira Wentworth und ihrem Angebot erzählt, ihm mit den Zwillingen zu helfen. Und er hatte ihm berichtet von dem merkwürdigen Augenblick gestern Abend, als sie sich gute Nacht wünschten und die Luft um sie herum plötzlich vibriert hatte.

„Nur versucht, sie zu küssen?“, fragte Ad. „Du hast es nicht getan?“ Er saß auf der anderen Seite des Küchentisches und hatte die Füße ebenfalls auf einen Stuhl gelegt.

„Nein, das habe ich nicht“, antwortete Cutty bestimmt.

„Ich finde, du hättest es tun sollen.“

„Na, hör mal“, sagte Cutty, als hätte der Freund einen schlechten Scherz gemacht.

„Weshalb nicht? Eine schöne Frau taucht wie aus dem Nichts bei dir auf – übrigens die erste Frau, von der du das nach langer Zeit sagst. Und es fällt die schwer, sie nicht ständig anzustarren – vor allem, wenn sie sich vorbeugt“, fasste Ad zusammen, was Cutty ihm erzählt hatte. „Du bist wie elektrisiert, obwohl du es nicht begreifst. Wer weiß, ob sie nicht dasselbe empfunden hat?“

„Na, hör mal“, wiederholte Cutty stöhnend.

Ad ließ sich nicht beirren. „Du hast selber gesagt, dass es an der Zeit wäre, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. Ich wüsste nichts, was dagegen spräche.“

„Sie ist Marlas Schwester“, erinnerte Cutty den Freund.

„Ja, rechtlich betrachtet. In Wirklichkeit ist sie Marlas Adoptivschwester. Die beiden sind nicht blutsverwandt. Sie haben nicht einmal ihre gesamte Kindheit unter einem Dach verbracht. Außerdem spielt es keine Rolle.“

„Trotzdem“, beharrte Cutty und trank einen Schluck Kaffee.

„Es gibt absolut keinen Grund, weshalb du nicht etwas mit dieser Frau anfangen solltest.“

„Du musst zugeben, es wäre ein bisschen …“

„Es wäre überhaupt nichts. Ich wüsste nicht, was daran ungehörig sein sollte. Zwei einzelne Frauen, die nicht einmal richtig miteinander verwandt sind. Was ist schon dabei?“

Cutty warf ihm einen belustigten Blick zu.

„Eine wichtige Frage gibt es allerdings: Gleicht diese Kira ihrer Schwester?“, fuhr Ad fort.

Es gab nicht viele Menschen, die Marla wirklich gekannt hatten. Ad gehörte dazu. Er war der Einzige, mit dem Cutty aufrichtig über seine verstorbene Frau und seine Ehe gesprochen hatte.

„Das ist keine wichtige Frage, sondern die Frage überhaupt“, antwortete Cutty.

„Dann ist sie wie Marla?“

Cutty zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie wurde von Marlas Vater erzogen – das ist nicht gerade eine Empfehlung. Sie ist eine promovierte Mikrobiologin, weiß also, was sie will, und verfolgt ihr Ziel. Nein, faul ist sie wahrlich nicht. Weil sie gestern längst nicht alles im Haushalt erledigt hatte, ist sie heute früh schon um sechs in der Küche gewesen. Dabei hatte ich ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie erst um sieben herüberzukommen brauchte, wenn die Mädchen normalerweise aufwachen.“

Ad zog eine Braue in die Höhe. „Perfektionistin. Kein gutes Zeichen“, gab er zu.

„Na ja, Perfektionistin, ich weiß nicht. Du hättest sie sehen sollen, wie sie gestern meinen Haushalt verwüstet hat.“ Cutty musste unwillkürlich lachen. „Bisher hatte sie nur zwei linke Hände. Sie zerbrach Geschirr, verschüttete das Müsli und brachte alles durcheinander. Zwar behauptet sie, dass sie normalerweise eine gute Hausfrau sei und dass nur die Zwillinge sie derart durcheinander bringen. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob mein Haus noch steht, wenn ich zurückkehre.“

„Und es gefällt dir, dass sie Fehler gemacht hat“, zog Ad den Freund auf.

„Das würde ich nicht sagen. Ich brauche wirklich Hilfe, solange Betty ausfällt. Und die bekomme ich garantiert nicht von Kira. Ich war gestern so viel auf den Beinen, dass ich abends eine Schmerztablette nehmen musste, um einschlafen zu können. Die erste seit drei Tagen.“

„Okay. Ihre mangelnden Talente als Hausfrau könnten zwar ein Hinweis darauf sein, dass Kira anders ist als Marla. Aber das hilft dir im Moment nicht weiter. Wie kommt sie mit den Kindern zurecht?“

„Katastrophal. Ich sollte mich selber verhaften, weil ich solch ein pflichtvergessener Vater bin und die Zwillinge heute Morgen mit ihr allein gelassen habe.“

„Sie werden es überstehen. Mein Babysitten haben sie schließlich auch überlebt.“

„Und Kira ist fast so schlecht wie du“, fügte Cutty hinzu und lachte kurz. „Eines ist sicher: Sie können sie nicht leiden. Ich hoffe, das wird sich etwas bessern, wenn sie heute Morgen aufwachen und feststellen, dass weder Betty noch ich da sind, sodass Kira sie anziehen und ihnen das Frühstück bereiten muss. Gestern jedenfalls waren sie ganz entschieden nicht begeistert von ihr.“

„Das klingt hingegen wirklich nicht gerade, als wäre diese Kira wie Marla“, warf Ad ein.

Cutty seufzte tief, sagte aber nichts.

„Aber sie hat etwas von ihrer Schwester, nicht wahr? Was ist es?“

„Sie möchte unbedingt alles so machen wie Marla. Im Moment weiß sie zwar noch nicht, wie sie es anstellen soll. Doch ich merke, dass sie die Messlatte hoch gelegt hat.“ Ad konnte nichts dazu sagen. Deshalb trank er einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse zurück und blickte darauf.

„Weißt du, ich halte diese Perfektion nicht noch einmal aus“, sagte Cutty leise, als fiele es ihm schwer, schlecht über seine verstorbene Frau zu sprechen. „Auf dieses Risiko kann ich mich unmöglich einlassen.“

„Deshalb hast du Kira nicht geküsst.“

Cutty nickte.

„Aber du hättest es gern getan. Was beweist, dass du wieder unter den Lebenden bist.“

„Oder dass ich ein Masochist bin“, erwiderte Cutty kläglich.

„Das auch“, stimmte Ad ihm lachend zu und fuhr fort: „Vielleicht sollte ich mal rüberkommen und mir die Frau ansehen. Dir meine Expertenmeinung mitteilen.“

„Du bist doch bloß neugierig.“

„Das auch“, wiederholte Ad und lachte erneut.

„Also gut. Aber benimmt dich anständig.“

„ Selbstverständlich.“

„Meinst du, es ginge heute Abend? Als ich gestern merkte, wie chaotisch alles lief, musste ich die Journalistikstudentin anrufen und das Interview auf heute verschieben. Leider kann sie nur um sieben, was bedeutet, dass die Zwillinge noch auf sind. Vielleicht kannst du Kira helfen, die Mädchen so lange ruhig zu halten.“

„Kein Problem.“

Kira hatte das Gefühl, auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung zu sein, als sie an diesem Morgen um 7 Uhr 45 die Treppe hinaufstieg. Sie war ganz allein. Cutty war weggefahren, und Betty würde ebenfalls nicht zu ihrer Rettung eilen. Und eines der Zwillinge rief „Da… Da…“ aus dem Kinderzimmer.

Es war eine sehr niedliche Aufforderung an Cutty, heraufzukommen. Hoffentlich bedeutete es, dass wenigstens eines der Mädchen heute besserer Laune war. Was allerdings nicht anzuhalten brauchte, sobald sie den Kopf in den Raum steckte.

„Immer fröhlich und optimistisch bleiben“, ermahnte Kira sich, als sie die Tür erreichte. „Und nichts erzwingen“, erinnerte sie sich an Cuttys Rat. Sie schloss einen Moment die Augen, um sich zu entspannen. Doch es half nicht viel.

„Dad!“, erklang es eindringlicher von innen.

Um die Zwillinge nicht zu lange warten zu lassen, öffnete sie entschlossen die Tür und trat ein.

„Guten Morgen“, sagte sie fröhlich. Wahrscheinlich zu fröhlich.

Mel und Mandy standen in ihren Bettchen auf und klammerten sich an das Gitter. Cutty hatte erzählt, dass sie wegen der Sommerhitze nachts nur Windeln trugen. Mel hatte selbst die abgestreift. Beide Mädchen schienen über Kiras Anblick nicht erfreut zu sein.

„Dad?“, fragte Mel und runzelte ihre winzige Stirn.

„Euer Daddy ist nicht da. Er ist schon zur Arbeit gefahren“, erklärte Kira und hoffte, dass die Arbeit des Vaters etwas Alltägliches für die Kleinen war.

Es sah ganz danach aus. Mel verzog zwar kräftig die Unterlippe, weinte aber nicht.

„Raus will“, verlangte Mandy plötzlich.

„Erst müssen wir Mel wieder eine Windel anziehen, bevor ein Unglück passiert“, antwortete Kira.

„Raus will!“, beharrte Mandy.

Um die Kleine nicht zu verärgern, ging Kira zu ihr. „Also gut. Ich nehme dich aus deinem Bett, damit du spielen kannst, während ich Mel eine frische Windel anziehe. Anschließend kommst du an der Reihe.“

Sie stellte Mandy auf den Boden und nahm Mel aus ihrem Bettchen. Kaum hatte sie das Mädchen auf den Wickeltisch gelegt, eilte Mandy in Richtung Tür.

„Nein, Mandy, bleib hier!“

Doch die Kleine ließ sich nicht von ihrer Flucht abhalten. Kira konnte die nackte Mel unmöglich allein auf dem Wickeltisch lassen.

„Also gut, erledigen wir es rasch“, murmelte sie und griff nach einer frischen Windel. Sie war erst halb damit fertig, als sie einen lauten klirrenden Schlag hörte, gefolgt von einem: „Oh-oh …“

„Mandy? Alles in Ordnung?“, rief Kira, und ihre Nervosität verwandelte sich in Panik.

Natürlich antwortete die Kleine nicht.

Kira packte die halb bekleidete Mel und eilte aus dem Zimmer. Sie entdeckte das zweite Mädchen im Bad. Mandy spitzte fröhlich Wasser aus der Toilette. Sie fand gar nichts dabei, dass sie die Schachtel mit den Kosmetiktüchern vom Wasserkasten in die Badewanne gestoßen und dabei eine Flasche Shampoo mitgerissen hatte, deren Inhalt soeben im Abfluss verschwand.

„Oh nein, Mandy. Das ist eklig“, stöhnte Kira. Sie stellte Mel auf die Füße, schloss rasch die Windel und zog Mandy von der Toilette fort, um ihr die Hände zu waschen.

„Kina böse“, verkündete Mandy.

„Stimmt. Ich bin die Böse. Nicht der kleine Schlingel, der weggelaufen ist und in der Toilette gespielt hat.“

„Kina Schlingel“, antwortete Mandy. „Be-ie?“

„Betty ist auch nicht da“, erklärte Kira und trocknete Mandys Arme und Hände. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie eindeutig nicht zu den Leuten gehörte, von denen die Zwillinge versorgt werden wollten. Das wird sich hoffentlich bald ändern, versuchte sie sich Mut zu machen.

„Okay. Und jetzt wechseln wir deine Windel“, fuhr sie fort, als handelte es sich um ein großes Abenteuer.

Leider konnte dieses Abenteuer nicht sofort beginnen, denn Kira merkte plötzlich, dass Mel nicht mehr da war.

„Oh nein.“ Die Kleinen waren ja wie die Wiesel. Kaum waren sie auf dem Boden, schon eilten sie davon.

Weshalb war das gestern nicht auch bei Cutty passiert? Plötzlich fiel ihr ein, dass Cutty das zweite Mädchen immer in den Laufstall, in den Hochstuhl oder das Bettchen gesetzt hatte, bevor er sich mit dem ersten beschäftigte. Oder dass er wenigstens die Tür zum Kinderzimmer geschlossen hatte.

„Immer erst Nummer zwei in Sicherheit bringen. Das ist die erste Lektion des heutigen Tages“, sagte sie laut.

„Da? Da?“ Ohne sich um die zappelnde Mandy zu kümmern, die auf den Boden gestellt werden wollte, folgte Kira der leisen Stimme zu Cuttys Zimmer.

„Er ist nicht hier, Liebling“, sagte sie von der Türschwelle zu dem kleinen Mädchen. Sie wollte Cuttys Zimmer mit den Mahagonimöbeln und dem Französischen Bett nicht betreten, das er schon gemacht hatte. Schließlich war dies sein Schlafzimmer, wo er schlief, sich umzog und das frische Aftershave auftupfte, das an den Ozean erinnerte und das immer noch in der Luft hing. Es war ein zu intimer Raum, um ihn einfach zu betreten.

Natürlich kam Mel nicht heraus, sondern floh in Cuttys

Badezimmer, sobald sie Kira kommen sah. Okay, so viel zur Diskretion gegenüber Cutty. Kira schnappte sich das Mädchen, ging zurück zum Bad, wo sie Mandy von der Wickelkommode nahm, und lief mit den beiden zappelnden Mädchen auf dem Arm ins Kinderzimmer zurück. Diesmal schloss sie die Tür hinter sich. Leider wehrten die Zwillinge sich wie gestern vehement gegen jeden Versuch, sie zu versorgen.

„So viel zum Thema, dass sie sich schon an mich gewöhnen werden, wenn niemand anders da ist“, flüsterte Kira. Dabei hatte der Tag gerade erst begonnen.

„Oh nein, Mandy. Wie bist du denn da raufgekommen?“, flüsterte Kira verzweifelt.

Nach einem Tag voller Pannen mit den Zwillingen war die Tatsache, dass die Kleine von einem Küchenstuhl auf den Tisch geklettert war und einen Milchkarton umgestoßen hatte, nur eine weitere Stufe auf der Leiter der Enttäuschungen dieses Abends.

Kira griff gleichzeitig nach dem Kind und dem Karton. Doch ein Großteil der Milch war schon herausgelaufen. Die Flüssigkeit rann über die Tischkante und tropfte auf den Boden.

Diesmal durfte sie Mandy allerdings nicht böse sein, denn es war ihre eigene Schuld. Sie hatte Mel in den Hochstuhl setzen woll en, was normalerweise keine Minute dauerte. Doch anstatt es rasch zu erledigen, bevor Mandy etwas anstellen konnte, war ihr Blick durch den Torbogen ins Wohnzimmer gefallen.

Cutty saß dort mit der Journalistikstudentin von der Collegezeitung, die gekommen war, um ihn zu interviewen. Kira fiel es schwer, die beiden nicht neugierig zu beobachten. Dabei sollte sie den Zwillingen eigentlich Milch und Kekse geben, um sie zu beschäftigen.

Jetzt blieb ihr nichts übrig, als sich auf die Mädchen und die neueste Schweinerei zu konzentrieren. Die Küche sah inzwischen wieder aus wie heute Morgen, bevor sie hier vor Anbruch der Morgendämmerung für Ordnung gesorgt hatte. Wenigstens etwas war also nicht ins Chaos gestürzt.

Kira versuchte, den Milchfluss mit einem Geschirrtuch aufzuhalten, und setzte Mandy in den zweiten Hochstuhl. Wieder fiel ihr Blick auf Cutty, der auf der Couch saß, und die sehr attraktive Studentin, die ihn halb interviewte und halb mit ihm flirtete.

Natürlich sollte es ihr nichts ausmachen. Was spielte es für eine Rolle, dass die Frau so groß und schlank war, dass sie als Model hätte arbeiten können? Dass sie volles, welliges platinblondes Haar hatte, das bis zur Mitte ihres Rückens reichte, und Brüste, die mindestens zwei Nummern größer waren als ihre? Sie, Kira, war nur wegen der Zwillinge hier. Was Cutty tat, war allein seine Sache. Sie hoffte nur, er würde dieses künstliche Kichern und diese übertriebene Aufmerksamkeit durchschauen.

Bildete die Frau sich wirklich ein, sie könnte Cutty mit ihren geheimnisvollen Blicken unter den Wimpern etwas vormachen? Mit diesem trägen Lächeln, das ihre blendend weißen Zähne freigab?

„Ich wette, das hat sie wochenlang vor dem Spiegel geübt, bevor es klappte“, murmelte Kira.

Cutty lachte leise über etwas, das die Studentin gesagt hatte. Dieses Lachen, das Kira so liebte.

Er hatte sich sorgfältig für das Interview zurechtgemacht. Das gefiel ihr ebenfalls nicht. Nach dem Abendessen war er nach oben gegangen und hatte ein sauberes hellblaues Sporthemd zu seinen Jeans angezogen. Außerdem hatte er sich rasiert. Als er zurückgekehrt war, hatte er nach Aftershave gerochen.

Kira wünschte, sie hätte sich ebenfalls umziehen und die zerknitterte Leinenhose und das gleichfalls zerknitterte Freizeithemd wechseln können, das sie seit halb sechs heute

Morgen trug. Zwar war es ihr heute wenigstens gelungen, sich nicht mit Essen bekleckern zu lassen. Aber das war auch schon das Beste, was sie über ihre Erscheinung sagen konnte. Zwar war ihr Pferdeschwanz heute dank eines zweiten Haargummis noch einigermaßen in Form, aber kleine klebrige Hände hatten so oft an ihm gezogen, dass Kira sich fragte, wie sie heute Abend ihr Haar kämmen sollte.

Ein bisschen frisches Rouge hätte ihr ebenfalls nicht geschadet. Oder ein wenig Lippenstift für den Abend. Aber nein, sie lief blass und zerknittert herum, während die andere Frau aussah, als käme sie frisch von einer Beauty Farm.

Und sie setzte ihre weiblichen Reize voll ein. Sie warf ihr auffälliges platinblondes Haar schwungvoll herum, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, als lauschte sie fasziniert jedem Wort, das Cutty sprach. Ließ ihn den Ansatz ihrer voller Brüste in dem tiefen Ausschnitt ihres ärmellosen Tops sehen.

„Die gefällt uns nicht“, flüsterte Kira den Mädchen zu, während sie einen Keks durchbrach und jedem eine Hälfte gab.

„Mi-ch“, verlangte Mandy und erinnerte sie an die verschüttete Milch. Die Flüssigkeit hatte inzwischen das Geschirrtuch durchtränkt und lief an dem Tischbein entlang zu Boden. In der Tischmitte, wo der Tisch sich ausziehen ließ, hatte sich eine Lache gebildet und tropfte durch den Spalt.

Kira seufzte leise. „Sie spielt da drüben Miss Wonderful, und ich bringe hier wieder alles durcheinander.“

„Wer ist hier Miss Wonderful?“

Kira zuckte erschrocken zusammen. Sie fuhr herum und entdeckte einen Mann auf der anderen Seite der Gittertür. Er war groß und sah fantastisch aus.

„Sie haben mich fast zu Tode erschreckt“, sagte sie.

Der Mann schien sich hier wie zu Hause zu fühlen. Er öffnete die Tür und trat ohne Aufforderung ein. „Das tut mir leid.“

Doch sein breites Lächeln bewies, dass es ihm nicht allzu leid tun konnte. Er streckte ihr die Hand hin und sagte: „Ad Walker. Ich hatte Cutty versprochen, heute Abend vorbeizukommen, um die Zwillinge in Schach zu halten.“

Kira ergriff seine Hand. „Kira Wentworth.“

„Marlas Schwester, ich weiß.“

Und sie wusste, wer Ad Walker war. Er war der Mann, der mit Cutty in das brennende Haus gestürmt war. Den Cutty später bewusstlos aus dem Inferno gezogen hatte.

„Nett, Sie kennen zu lernen. Ich hatte in Denver über Sie und Cutty in der Zeitung gelesen. Schön, dass Sie keinen bleibenden Schaden von dem Brand zurückbehalten haben.“

„Zum Glück nicht.“ Ad deutete mit dem Kinn in Richtung Wohnzimmer. „Ich habe meinen Teil des Interviews schon hinter mir. Sherry soll sich besser mal ganz auf Cutty konzentrieren. Ich wollte die beiden nicht stören. Deshalb bin ich zur Hintertür gekommen.“

„Aha.“

Etwas in seinem Blick sagte Kira, dass er sie mit Marla verglich. Plötzlich fühlte sie sich wieder wie die kleine unbeholfene Schwester mit Zahnspange. Um ihre Minderwertigkeitskomplexe zu verdrängen, wandte sie sich ab und füllte zwei Becher mit Milch.

Das lenkte Ad von ihr ab, und sein Blick fiel auf das Durcheinander ringsum. „Meine Güte. Cutty erzählte, Sie hätten die Küche heute früh schon sauber gemacht.“

„Das habe ich auch. Alles war blitzblank, ob Sie es glauben oder nicht.“ Doch anschließend waren die Zwillinge gekommen, und das Geschirr vom Frühstück, vom Mittagessen und vom Abendessen war stapelweise im Spülbecken und auf der Anrichte gelandet, weil die Kleinen sie nicht aus ihren Fängen ließen. Und jetzt war auch noch die Milch verschüttet. Es sah aus, als hätte sie den ganzen Tag nichts getan.

„Wieso hat Cutty Ihnen erzählt, dass ich heute früh schon hier war?“, fragte sie und stellte den Milchkarton in den Kühlschrank zurück.

„Er erwähnte es nur nebenbei.“

Kira hatte gehofft, etwas genauer zu erfahren, was Cutty über sie gesagt hatte. Ob er erwähnt hatte, dass sie Marla in der Haushaltsführung nicht das Wasser reichen könnte. Weshalb er sie überhaupt erwähnt hatte.

Doch Ad Walker schien nicht die Absicht zu haben, noch mehr zu verraten. Stattdessen wandte er sich an Mel und Mandy und begrüßte die Zwillinge überschwänglich. „Wie geht es meinen kleinen Mädchen?“

Beide legten ihren Kopf zurück, sodass er sie auf die Wange küssen konnte. Es sah richtig niedlich aus. „Haben Sie die beiden trainiert, oder war es umgekehrt?“, fragte Kira lachend.

„Wer weiß? Sie sind einfach süß“, antwortete er und tat, als wollte er in den durchweichten Keks beißen, den Mel ihm reichte.

„Wie lange ist Sherry schon hier?“, fragte er zwischendurch.

„Ungefähr eine Viertelstunde.“

„Und Sie halten die Frau schon für Miss Wonderful?“

Kira erkannte, dass Ad sie neckte. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Ist sie das aus männlicher Sicht etwa nicht?“

Ad warf einen weiteren Blick ins Wohnzimmer. „Ich bin nicht sicher, ob wundervoll die richtige Bezeichnung ist.“

„Was dann? Scharf? Sexy? Oder einfach vollbusig?“ Weshalb hatte sie das gesagt?

„He, Sie sind ja ein bisschen eifersüchtig.“ Er lachte leise.

„Ich? Ach was, nie im Leben.“

„Hm“, sagte er, als wüsste er es besser. „Aber keine Sorge, Sherry ist nicht sein Typ.“

„Und wenn’s so wäre, das ist mir ganz egal.“

„Hm.“ Ad schien erneut nicht überzeugt zu sein.

„Ich bin wirklich nicht eifersüchtig. Ich kann nur nicht mit ansehen, wie Cutty sich von einer Frau um den Finger wickeln lässt, die offensichtlich mehr von ihm will als ein Interview für ihre Collegezeitung.“

„Hm“, wiederholte er zum dritten Mal.

Kira beschloss, das Thema vorsichtshalber zu wechseln. „Würden Sie mir bitte helfen, den Tisch zu verschieben, damit ich den Boden besser aufwischen kann?“

Ad griff sofort zu und half ihr anschließend auch, den Tisch an seinen ursprünglichen Platz zurückzuschieben. „Marla wollte, dass er genau unter der Deckenlampe stand“, erklärte er und rückte den Tisch zwei Mal zurecht, bevor er zufrieden war.

Kira sagte nichts dazu. Immer Marla, Marla, Marla … „Mehr ’ekse“, verlangte Mandy in diesem Moment.

Kira teilte einen zweiten Keks und reichte jedem Zwilling die Hälfte.

„Wie lange dauert so ein Interview?“, fragte sie.

Ad zuckte mit den Schultern. „Bei mir haben eineinhalb Stunden gereicht. Ich nehme an, es hängt davon ab, wie eingehend Sherry sich mit Cutty beschäftigen will. Er ist immerhin ein interessanter Kerl.“

Kira öffnete die Spülmaschine und räumte das Geschirr ein. „Ehrlich gesagt, ich weiß überhaupt nichts über ihn. Marla hatte ihn nie mitgebracht oder mir auch nur von ihm erzählt. Ich erfuhr erst von seiner Existenz, als die beiden unseren Eltern beichteten, dass Marla schwanger war. Anschließend brannten sie durch, und Cutty war für meinen Vater der Abschaum der Menschheit. Die beiden durften in unserem Haus nicht einmal mehr erwähnt werden.“

„Cutty ist all es andere als der Abschaum der Menschheit“, verteidigte Ad den Freund.

„Ich weiß. Aber für meinen Vater …“

„Fehler passieren. Sie machen uns menschlich“, unterbrach er sie. „Ich lernte Cutty kurz nach seiner Heirat mit Marla kennen. Er ist ein guter Kerl, der hart gearbeitet hat – unter Umständen, an denen andere vielleicht zerbrochen wären –, um das Beste aus sich und seiner Situation zu machen.“

„Das bezweifle ich nicht“, versicherte Kira und meinte es ernst.

Doch Ad schien weiter das Bedürfnis zu haben, sie zu überzeugen. „Wenn Sie mich fragen, werden Sie hier keinen besseren Mann finden. Die Leute glauben, dass Marla der größte Verdienst zukommt. In Wirklichkeit …“ Er sprach nicht weiter. „Ich will nicht aus dem Nähkästchen plaudern. Sagen wir einfach, dass Marla und Cutty eine schwere Zeit hatten. Aber Cutty hatte es vorher auch schon nicht leicht.“

„Nein?“, fragte Kira überrascht. Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass sie überhaupt nichts über Cutty wusste. Sie hatte keine Ahnung, woher er stammte, wie seine Familie zu der Schwangerschaft der Teenager gestanden hatte oder ob seine Eltern noch lebten.

Allerdings sah es nicht danach aus, als ob Ad ihr mehr erzählen würde. Mel rief in diesem Moment: „Runner!“ und streckte ihre Arme nach dem großen Mann aus.

„Mir scheint, ich werde gebraucht“, sagte er. „Wie wäre es, wenn ich ein paar Minuten mit den beiden im Garten spiele und wir sie anschließend zu Bett bringen?“

„Auch spielen!“, rief Mandy, um allen klarzumachen, dass sie nicht zurückbleiben würde.

„Ja, natürlich!“, versicherte Kira ihr und half, die Zwillinge aus dem Hochstuhl zu heben. Sie blickte ihnen nach und stellte befriedigt fest, dass sie auch von Ad keine weitere Hilfe annahmen. Sie waren wirkl ich kleine unabhängige Geschöpfe.

Sobald Kira in der Küche allein war, dachte sie wieder an Cutty. Vor allem fragte sie sich, weshalb sein Leben so hart gewesen sein mochte, bevor er Maria begegnete.

Sie musste es unbedingt herausfinden.

Ad half Kira, die Zwillinge zu Bett zu bringen. Und als die kleinen Mädchen endlich eingeschlafen waren, erklärte er, dass er wieder in sein Restaurant müsste, und verschwand, wie er gekommen war – durch die Küchentür.

Kira hätte sich für den restlichen Abend ebenfalls in ihr Apartment zurückziehen können. Aber das war so ziemlich das Letzte, was sie wollte. Es hätte bedeutet, dass es bei den wenigen Worten geblieben wäre, die sie tagsüber mit Cutty gewechselt hatte.

Und vor allem: Dass sie ihn mit Miss Wonderful allein gelassen hätte.

Deshalb folgte sie Ad nicht nach draußen, sondern legte die trockene Wäsche zusammen, putzte die Küche und wartete darauf, dass die Journalistin endlich ging.

Ihr Wunsch erfüllte sich erst gegen zehn Uhr abends. Aber dafür war die Küche inzwischen blitzsauber.

„Toll“, sagte Cutty anerkennend, als er hereingehumpelt kam. „Du hast dich ja mächtig angestrengt.“

Sie hatte es vor allem getan, um den Tag nicht enden zu lassen, ohne noch einmal mit Cutty gesprochen zu haben. Aber das konnte sie ihm ja schlecht sagen. Also fragte sie: „Du musst ja völlig ausgetrocknet sein vom vielen Reden. Soll ich dir ein Glas Eistee bringen?“

„Nur wenn du mir Gesellschaft leistest.“

Kira freute sich mehr über die Einladung, als sie zugeben mochte. „Gern“, antwortete sie. Sie holte einen Krug aus dem Kühlschrank, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie.

„Sind die Mädchen ohne größere Probleme zu Bett gegangen?“, fragte Cutty.

„Mit Hilfe deines Freundes.“

„Ad … Ja, ich sah ihn in die Küche kommen.“

„Er wollte dich bei dem Interview nicht stören.“

„Ich wünschte, er hätte es getan. Ich fürchtete schon, die Frau würde mich verschlingen. Wenn man mit siebzehn heiratet, hat man nicht viel Erfahrung in solchen Dingen. Das war ja ein richtiger Barrakuda!“

Kira war unendlich erleichtert, dass Cutty kein bisschen angetan war von der Studentin, und ihre Laune besserte sich erheblich. Wahrscheinlich war sie doch eifersüchtig gewesen.

Sie stellte die beiden Teegläser auf den Tisch, zog einen zweiten Stuhl für Cuttys Fuß hervor und setzte sich ihm gegenüber.

„Mel und Mandy waren heute etwas zugänglicher, nicht wahr?“, fragte er.

„Na ja, ich bin immer noch nicht wirklich ihre Lieblingsperson. Aber sie scheinen mich zumindest zu dulden.“

„Danke für all es, was du während ihres Mittagsschlafs erledigt hast. Dieser Barrakuda wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass sie hier vorher nicht einmal einen Sitzplatz gefunden hätte.“

„Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas erledigen konnte“, antwortete Kira.

Cutty sagte nichts, sondern trank einen Schluck Tee.

Kira überlegte, wie sie ihn auf das Thema bringen könnte, das sie am meisten interessierte. Während sie nach einem Aufhänger suchte, betrachtete sie den Mann verstohlen.

Im Grunde konnte sie es der Journalistin nicht übel nehmen, dass sie auf Cutty geflogen war. Er war solch eine reizvolle Mischung aus rauer Männlichkeit und einfühlsamer Empfindsamkeit, dass man sich einfach zu ihm hingezogen fühlen musste.

Abgesehen davon, dass er umwerfend gut aussah mit seinem markanten Gesicht und seinen langen Wimpern über den dunkelgrünen Augen …

„Ad und du habt euch ziemlich lange unterhalten“, riss er sie aus ihrer Träumerei.

Irrte sie sich, oder klang seine Stimme ein bisschen eifersüchtig? Schon die Möglichkeit verlieh ihr neuen Mut.

„Wir haben vor allem über dich geredet“, griff sie den Faden auf.

„Na, das muss ja schön langweilig gewesen sein.“

„Im Gegenteil. Ad meinte, er könnte nicht sagen, wie lange das Interview dauern würde. Du wärest ein sehr interessanter Mensch.“

„Mir scheint, er hat dich aufgezogen.“

„Das glaube ich kaum. Dabei ist mir klar geworden, dass ich fast nichts über dich weiß.“

Cutty zuckte achtlos mit den Schultern. „Wie solltest du auch.“

„Ich würde es aber gern“, sagte Kira entschlossen.

Er verzog die Lippen zu einem reizenden Lächeln, das ihr sehr gefiel. „Wirklich?“

„Ja, wirklich. Ad sagte, du hättest es vor deiner Ehe mit Marla schon nicht leicht gehabt. Stimmt das?“

„Ich hatte sicher keine Bilderbuchkindheit, wenn er das meinte“, gab Cutty ohne das geringste Selbstmitleid zu. „Was für eine Kindheit hattest du dann?“

„Als Kurzfassung: Meine Mutter verschwand, als ich noch ein Baby war. Ich habe sie nie gekannt. Und mein Vater war ein stadtbekannter Trinker. In meiner Erinnerung war er häufiger betrunken als nüchtern.“

„Hatte er wenigstens einen Job?“

„Hin und wieder. Manchmal war er trocken – was bedeutete, dass er nur abends und am Wochenende trank. Dann nahm er jeden Job an, den er bekommen konnte. Aber es dauerte immer nur ein paar Wochen, höchstens einen Monat, bis das Freitagsgelage nicht mehr am Sonntag endete. Er verlor seinen Job wieder, verschwand von der Bildfläche und …“

„Verschwand?“

„Er kam nicht nach Hause, und ich hatte keine Ahnung, wo er war“, erklärte Cutty.

„Aber du hattest jemand, der dich versorgte. Oder?“

Er lachte freudlos. „Bis zu meinem sechsten Lebensjahr wohnten wir in der Dachkammer eines Hauses in Denver bei einer Frau namens Mabel Brown. Sie war schon ziemlich alt. Aber sie kümmerte sich um mich und sorgte dafür, dass ich immer etwas zu essen hatte. Es war nicht offiziell. Sie sprang einfach ein, wenn mein Vater nicht nach Hause kam.“

„Nur bis du sechs Jahre alt warst?“

„Dann starb sie. Das Haus hatte ihr nicht gehört, und sie hatte die Dachkammer nur untervermietet, um ihre Rente aufzubessern – wenn mein Vater zahlte. Der Hausbesitzer war nicht glücklich darüber und warf uns hinaus.

Ein alter Kumpel meines Vaters aus der Armee überließ uns zwei Zimmer über seiner Tankstelle. Jack machte praktisch dort weiter, wo Mabel aufgehört hatte. Nur ersetzte er die selbst gebackenen Kekse durch Wiener Würstchen“, schloss Cutty und lachte trocken.

Plötzlich kam Kira ihre Jugend bei ihrem tyrannischen Vater gar nicht mehr so schlimm vor. „Weshalb hat niemand das Jugendamt verständigt, damit du in ein schöneres Heim kommen konntest?“

„Jack hätte meinen Vater niemals verraten. Er wohnte direkt hinter der Tankstelle und sagte, ich sollte einfach herüberkommen, wenn mein Alter nicht auftauchte. Das habe ich getan.“

„Und was war mit der Schule? Ist keinem Lehrer jemals aufgefallen, wie dein Zuhause aussah?“

„Ich habe es nie erzählt, um meinen Vater nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Außerdem kannte ich kein anderes Leben und war daran gewöhnt. Wenn ein Elternteil aus irgendeinem Grund zur Schule kommen sollte und mein Dad gerade nicht trocken war, sprang Jack ein und behauptete, er wäre mein Onkel.“

„Hattest du denn außer deinem Vater keine Verwandten?“

„Doch, Onkel Paul, von dem ich dieses Haus hier geerbt habe. Er war eigentlich mein Großonkel und lebte hier in Northbridge. Leider war seine Gesundheit schon ziemlich angeschlagen, deshalb besuchte er uns nie. Er schickte eine Karte zu den Geburtstagen und zu Weihnachten oder Geld, wenn mein Vater ihn darum bat. Er ließ mich immer wissen, dass ich jederzeit zu ihm ziehen könnte. Aber er zeigte meinen Vater nicht an.“ Cutty machte eine kurze Pause. „Ob du es glaubst oder nicht: Mein Dad war der netteste Mensch der Welt. Er war freundlich, warmherzig und gutmütig. Alle – ich eingeschlossen – mochten ihn. Er hatte eben nur ein massives Alkoholproblem.“

„Du hast nie überlegt, zu deinem Onkel zu ziehen?“

„Ich musste bleiben und mich um meinen Vater kümmern“, antwortete Cutty, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

„Nein, er hätte sich um dich kümmern müssen“, verbesserte Kira ihn. „Was war mit Essen und Kleidung. Hat er wenigstens dafür gesorgt?“

„Wenn er daran dachte, kam er mit einer riesigen Einkaufstasche voller Lebensmittel nach Hause. Aber die reichten nie lange. Deshalb aß ich oft bei Jack. Außerdem ließ Jack mich in seiner Tankstelle arbeiten. Ich fegte den Boden, stapelte die Öldosen oder füllte die Kaugummi und Schokoriegel auf. Was man als kleines Kind so tun kann. Er bezahlte mich dafür. Und ich sparte das Geld, um mir hin und wieder etwas zu essen zu kaufen.“

„Und was war mit Kleidung?“

„Einmal im Jahr nahm Jack mich mit in den Army-Laden und kaufte mir zwei Hemden, zwei Jeans, einen Packen Socken, Unterhosen, Arbeitsstiefel und einen Mantel, wenn ich einen neuen brauchte. Sozusagen als Sonderzahlung für meine Arbeit“, fügte er mit einem weiteren Lachen hinzu.

Kiras Herz wurde schwer, als sie diese Geschichte hörte. Doch Cutty erzählte, als wäre sein Leben nicht ungewöhnlich gewesen.

„Als ich älter wurde, brachte Jack mir bei, wie man Autos repariert“, fuhr er fort. „Ich wurde ein ziemlich guter Mechaniker und verdiente schon als Teenager so viel, dass ich selber für mich sorgen konnte.“

„Was ist mit deinem Vater passiert?“, fragte Kira. Sie nahm an, dass er nicht mehr lebte, weil Cutty in der Vergangenheit von ihm sprach.

Und sie hatte recht. „Er starb am Tag vor meinem siebzehnten Geburtstag. In einer Gasse im Zentrum von Denver. Natürlich war er wieder betrunken. Entweder ist er ohnmächtig geworden, oder er hat sich schlafen gelegt und ist nachts erfroren.“

Kira wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war so lange her. Deshalb fragte sie: „Kanntest du Marla damals schon?“

„Ja, wir gingen in dieselbe Schule. Richtig zusammen kamen wir aber erst einen Monat später. Wir arbeiteten in derselben Projektgruppe in Physik.“

„Wohntest du immer noch über der Tankstelle?“

„Wohnte und arbeitete dort“, bestätigt er.

„Mit siebzehn hattest du also schon eine eigene Wohnung, in die du deine Freundin mitnehmen konntest.“

„Die beste Voraussetzung für eine Katastrophe“, antwortete er trocken.

Langsam rundete sich das Bild des jungen Cutty für Kira ab. Und es erklärte vieles.

„Du warst von klein auf gewohnt, nicht nur für dich, sondern auch für deinen Vater zu sorgen“, fasste sie zusammen. „Selbst als du zu deinem Onkel ziehen konntest, nahmst du die Gelegenheit nicht wahr, weil dein Vater dich brauchte. Dieses Verantwortungsgefühl muss eine große Rolle gespielt haben, als Marla schwanger wurde.“

Wieder zuckte Cutty achtlos die Schultern. „An Marias Schwangerschaft war ich Schuld.“

„Und weil sie nicht abtreiben wollte, branntet ihr einfach durch. Habt ihr über der Tankstelle gewohnt?“

„Nur ein paar Tage. Es war nicht der richtige Platz für Marla. Deshalb nahm ich Onkel Pauls Angebot endlich an, und wir zogen nach Northbridge“, schloss er.

Sein Tonfall hatte etwas Endgültiges und verriet Kira, dass er nicht darüber reden wollte, was dann geschehen war. Obwohl ihre Neugier nur teilweise befriedigt war, drängte sie ihn nicht.

„Meine Güte“, sagte sie stattdessen.

„Ich hatte dich gewarnt: Es war keine Bilderbuchkindheit.“

„Das ist eine gewaltige Untertreibung.“ Kein Wunder, dass Ad den Freund derart verteidigt hatte. Es war erstaunlich, dass Cutty trotz dieser Vergangenheit zu so einem Mann herangereift war.

Und was für ein Mann er war! Er war ruhig, stark und selbstsicher. Und ungeheuer attraktiv. Jetzt noch attraktiver für sie, falls das überhaupt möglich war, nachdem sie wusste, was er durchgemacht hatte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich schon eine ganze Weile tief in die Augen sahen. „Ich sollte jetzt lieber gehen“, sagte sie leise.

Cutty antwortete nicht, sondern beobachtete sie weiterhin stumm.

Kira stand auf, spülte die beiden Gläser unter dem fließenden Wasser und setzte sie in die Maschine.

Als sie sich wieder umdrehte, war Cutty aufgestanden. Er stützte sich auf seinen Stock, hielt die Schultern gestrafft und sah sie immer noch an.

„Morgen würde ich die Mittagspause gern nutzen, um mir ein paar praktischere Sachen zu kaufen“, sagte Kira, um die vibrierende Spannung zu brechen, die zwischen ihnen entstanden war. „Jeans, T-Shirts … Als ich den Koffer packte, habe ich sicher nicht an die Betreuung von Zwillingen gedacht.“

Cutty brauchte eine ganze Weile, bevor er antwortete. Ihr war, als würde er sie mit Blicken streicheln. „Es gibt ein paar Läden an der Hauptstraße, und in der Nähe des College ist ein Kaufhaus. Ich werde dir den Weg beschreiben“, bot er ihr an.

„Okay. Danke.“

Kira wusste, dass sie gehen musste. Doch es fiel ihr furchtbar schwer. „Wir sehen uns dann also morgen früh“, sagte sie, wie um sich selbst aufzufordern.

„Morgen kannst du ruhig ein bisschen länger schlafen, nachdem die Küche und das Wohnzimmer ja jetzt so sauber sind“, erklärte Cutty und folgte ihr zur Tür.

„Außer dass im ganzen Haus dringend gesaugt und Staub gewischt werden muss. Außerdem habe ich heute keine Wäsche gewaschen, kein …“

Plötzlich standen sie sich dicht gegenüber, und Cutty legte einen Zeigefinger auf ihren Mund. Er sah sie mit seinen grünen Augen so eindringlich an, dass sie nicht einmal sprechen konnte, als er den Finger längst weggenommen hatte.

„Ich bin dir dankbar für das, was du heute getan hast“, sagte er mit einer Stimme, die tiefer, leiser und weicher klang, als es der schlichten Feststellung entsprach.

Kira löste sich aus der halben Betäubung, in die er sie versetzt hatte, und versuchte zu scherzen. „Und ich bin froh, dass ich überhaupt etwas erledigt habe.“

Cutty lachte nicht, und Kira blieb ebenfalls ernst. Sie waren beide in einer Stimmung, die sie nicht recht deuten konnte. Sie wusste nur, dass sie diesen Zustand schleunigst beenden musste, bevor er sie restlos überwältigte.

Plötzlich senkte Cutty den Kopf und küsste sie auf den Mund.

Es war ein rascher Kuss, und er war vorüber, bevor sie die

Augen schließen oder den Kuss erwidern konnte.

„Für deine großartige Arbeit“, verkündete er scherzhaft, als wäre er selbst überrascht.

Kira schob die Gittertür auf und ging rasch hinaus, damit er nicht merkte, wie sehr sein Kuss sie angerührt hatte. „Wir sehen uns morgen“, antwortete sie und verschwand in der Dunkelheit.

4. KAPITEL

Cuttys Kuss war das Letzte, woran Kira dachte, als sie am Freitagabend zu Bett ging, und er war das Erste, was ihr am Sonnabendmorgen einfiel, als sie erwachte. Sie konnte an nichts anderes mehr denken, und wenn sie sich noch so viel Mühe gab. Und sie gab sich große Mühe.

Weshalb hat Cutty mich geküsst, fragte sie sich wohl zum zehnten Mal, während sie aufstand und duschte.

Er hatte behauptet, es wäre nur eine Belohnung für ihre gute Arbeit gewesen. Ein Dank dafür, dass sie vorübergehend das Kindermädchen und die Haushälterin spielte. Ein unverbindlicher Kuss, der ebenso gut auf der Wange hätte landen können.

Aber Cutty hatte sie nicht auf die Wange geküsst, sondern auf die Lippen.

Außerdem konnte Kira nicht glauben, dass es ein rein freundschaftlicher Kuss gewesen war. Nicht nach dem Blick, mit dem Cutty sie unmittelbar vorher angesehen hatte. Oder dem Gefühl, das sie dabei durchströmt hatte.

Ob er mich nur testen wollte? überlegte sie. Hatte er sie geküsst, um festzustellen, wie sie reagierte? Ob sie ihm eine Ohrfeige geben würde oder wenigstens entsetzt wäre? Oder den Kuss erwiderte?

Sie hatte ihn weder geohrfeigt noch war sie entsetzt gewesen. Aber sie hatte ihn auch nicht zurückgeküsst. Dazu war sie viel zu verblüfft gewesen.

„Und das sollte ich nicht bedauern“, sagte Kira laut, während sie das Shampoo auf ihr Haar gab. Sie durfte Cuttys Anziehungskraft nicht erliegen. Ihr Aufenthalt in seinem Haus war nur vorübergehend, das sollte sie besser keine Sekunde vergessen.

Entschlossen beendete sie die Dusche und zog sich an.

Der Sonnabend begann ebenso chaotisch wie die vorigen Tage. Und das war gut, denn Kira war viel zu beschäftigt, um an den Kuss zu denken oder verlegen zu sein, wenn sie einen Moment mit Cutty allein war.

Als sie die Zwillinge zu ihrem Mittagsschlaf hingelegt hatte, herrschte solch ein Durcheinander im Haus, dass sie die Zeit eigentlich hätte nutzen sollen, wieder Ordnung zu schaffen, anstatt Einkäufe zu machen. Doch Cutty bestand darauf, dass sie ging.

„Also gut“, erklärte Kira. „Ich bin bestimmt zurück, bevor die Mädchen wieder aufwachen. Und ich werde heute Abend so lange bleiben, wie es nötig ist.“ Allerdings würde es nur für eine oberflächliche Reinigung reichen, obwohl sie das Haus lieber vom Keller bis zum Dachboden geputzt hätte, wie Marla es zweifellos längst getan hätte.

„Nimm dir genügend Zeit“, antwortete Cutty und reichte ihr einen Zettel mit der Wegbeschreibung.

Die erste Boutique führte vor allem duftige fließende Kleider, Röcke und Blusen, die sich ebenso wenig für den Umgang mit den Zwillingen eigneten wie die Sachen aus Seide und Leinen, die sie mitgebracht hatte.

Im zweiten Laden fand Kira dagegen eine breitere Auswahl dessen, wonach sie suchte. Sie hatte gerade erst zu stöbern begonnen, als eine Verkäuferin ungefähr in Bettys Alter näher kam.

„Irre ich mich, oder sind Sie Marla Grants Schwester?“, fragte sie.

Kira sah auf und bemerkte eine große schlanke Frau mit stahlgrauem kurzen Haar und großen Onyx-Ohrringen, die locker an den Ohren baumelten. „Ja, ich bin Marlas Schwester.“

„Dachte ich es mir doch. Wissen Sie, ich kenne Betty Cunningham. Sie erzählte, dass Sie gekommen wären, um Cutty mit den Zwillingen zu helfen. Das finde ich furchtbar nett.“

Dies war wirklich eine sehr kleine Stadt.

„Ehrlich gesagt, deswegen war ich ursprünglich nicht gekommen“, verbesserte Kira die Frau.

„Aber Sie sind geblieben, als Sie sahen, dass Sie gebraucht wurden. Und das allein zählt.“

„So großartig ist das nun auch nicht.“

„Wir finden alle, dass Sie ein wahres Gottesgeschenk sind“, versicherte die Frau.

Kira hatte keine Ahnung, wer diese „Wir“ waren. Es war ihr unangenehm, dass man sie als Gottesgeschenk betrachtete, während sie in Wirklichkeit furchtbar schlecht zurechtkam. Sie durfte gar nicht an das Gerede denken, das folgen würde, wenn Betty wieder in Cuttys Haus zurückkehrte und überall erzählte, wie unfähig sie gewesen war, wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung und Sauberkeit zu wahren.

„ Suchen Sie etwas zum Ausgehen?“, fragte die Frau, als Kira sich wieder den Jeans zuwandte.

„Nein. Ich brauche ein paar praktische Sachen, die ich bei der Hausarbeit tragen kann.“

„Ihre Größe ist auf der anderen Seite des Ladens. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Sachen. Ich heiße übrigens Carol.“

„Nett, Carol. Ich bin Kira.“ Kira folgte der Frau.

„Wir mochten Ihre Schwester sehr, müssen Sie wissen“, erzählte Carol, während Kira zwei Paar Jeans in ihrer Größe wählte und zu dem Regal mit den Tops hinüberging. „Für uns war sie fast eine Heilige, so rein und unverdorben. Die netteste junge Frau der Welt und obendrein bildhübsch.

Und immer tiptop frisiert.“

Kira überlegte, ob sich ihr Haar vielleicht aus dem Gummi gelöst hatte, mit dem sie es heute im Nacken zusammenhielt.

„Ich mochte meine Schwester auch sehr“, antwortete sie.

„Wir waren alle zutiefst schockiert“, fuhr Carol fort. „Dieser Unfall war einfach schrecklich.“

„Ja.“ Mehr konnte Kira nicht sagen. Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen, vor allem mit jemandem, den sie kaum kannte.

„Zum Glück geht es Cutty langsam wieder besser. Es hilft ihm, dass er die Zwillinge hat. Die beiden sind einfach goldig.“

„Ja, das sind sie wirklich“, stimmte Kira ihr zu und ging an dem Regal mit den T-Shirts entlang. Doch ihre Gedanken waren weniger bei ihrer Schwester als bei der Journalistin von gestern Abend. Ein schwarzes ärmelloses Top ähnlich dem, das Sherry getragen hatte, zog sie magisch an.

Nein, das ist keine gute Wahl, schalt sie sich stumm. Wie kam sie bloß auf diese Idee? So etwas trug sie doch sonst nicht.

Das Top wanderte in das Regal zurück, und Kira nahm eines mit V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln heraus.

„Ich glaube, ich hätte auch ohne Bettys Beschreibung gewusst, wer Sie sind“, sagte Carol. „Sie sind genauso hübsch wie Ihre Schwester. Ihre Eltern müssen blendend aussehen – zwei so hübsche Töchter bekommt man nicht aus Zufall.“

Kira wollte die Frau nicht in Verlegenheit bringen. Deshalb erwähnte sie nicht, dass Marla und sie nicht blutsverwandt gewesen waren, sondern bedankte sich nur für das Kompliment. Dann beschloss sie, dass die beiden Jeans und die vier T-Shirts, die sie ausgewählt hatte, genug wären.

Doch während sie der Frau zur Kasse folgte, fiel ihr plötzlich das ärmellose Top wieder ein. Sie sollte es wirkl ich nicht kaufen. Es würde sehr eng sitzen und war recht tief ausgeschnitten.

Aber es würde toll aussehen …

„Ich zähle Ihnen rasch alles zusammen“, sagte Carol.

Jetzt oder nie.

„Warten Sie noch einen Moment“, hörte Kira sich sagen. Bevor ihr richtig klar wurde, was sie tat, eilte sie zu dem Regal zurück und zog das schwarze Top heraus.

Im Haus war alles still, als sie zurückkehrte. Cutty war weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Deshalb nahm Kira an, dass er oben wäre. Sie legte ihre Einkäufe auf den Kühlschrank, wo sie außer Reichweite von Mel und Mandy waren, und stieg leise die Treppe hinauf.

Die Tür zum Kinderzimmer war noch geschlossen. Aber eine andere Tür stand offen – zum ersten Mal, seit sie im Haus war. Die zu Anthonys früherem Zimmer. Kira wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Falls Cutty sie gehört hatte, wäre es zieml ich seltsam, wenn sie wortlos wieder nach unten verschwände. Andererseits wollte er vielleicht nicht gestört werden. Sie beschloss, nur einen kurzen Blick in das Zimmer zu werfen.

Cutty stand darin und hielt einen ziemlich verschlissenen Stoffhund in der Hand und sah ihn so kläglich an, dass Kira das Herz überfloss. „Alles in Ordnung?“, flüsterte sie.

Langsam hob er den Blick von dem armseligen Spielzeug und lächelte traurig. „Oh, Hi. Ich wusste nicht, dass du zurück bist.“

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören. Ich …“

„Du hast mich nicht gestört. Ich hörte, dass eines der Mädchen langsam wach wurde, und ging schon mal nach oben, weil ich Humpelbein derzeit ein bisschen länger dafür brauche. Doch als ich hier ankam, war alles wieder ruhig. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist.“ Er lachte leise. „Ich wollte nicht wieder nach unten gehen und anschließend noch einmal die Treppe hinaufsteigen müssen. Deshalb sehe ich mich hier um und warte darauf, dass die Zwillinge mich mit neuer Energie triezen können.“

Kira lächelte zurück.

„Wenn du lieber allein sein möchtest …“

Cutty schüttelte den Kopf. „Nein. Komm ruhig herein.“

Kira trat ein und sah sich verblüfft um. Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Die Wände waren voller Löcher. Die Paneele waren teilweise herausgerissen, und überall gab es Kratzer und Flecken.

„Betty hat mir erzählt, dass dies Anthonys Zimmer war“, sagte sie zögernd. Sie war nicht sicher, ob Cutty darüber reden wollte.

Es schien ihm nichts auszumachen. „Ja, das stimmt. Kein schöner Anblick, nicht wahr?“ Als sie nichts sagte, fuhr er traurig fort: „Anthony ging etwas grob mit seiner Umgebung um. Wir setzten ihm einen Football-Helm auf für den Fall, dass er mit dem Kopf auf etwas trommelte, und zogen ihm Stiefel mit Stahlkappen an, falls er um sich stoßen würde. Seine Matratze lag auf dem Boden, damit er sich nicht verletzen konnte. Nur die Wände und den Anstrich konnten wir nicht schützen.“

„War er denn oft so … grob?“, fragte Kira vorsichtig.

„Solche Anfälle waren nicht selten“, antwortete Cutty.

Beide schwiegen eine Weile.

„Ich würde gern so viel mehr über ihn wissen“, gestand Kira. „Wie war er?“

„Er war … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Er war eben Anthony. Ein kleiner Junge, der in seiner eigenen Welt ge langen war. Einer Welt, die nicht gestört werden durfte.“

Er machte eine lange Pause, und sie drängte ihn nicht.

„Anthony sprach nie. Kein einziges Wort. Aber er liebte die Musik. Er liebte sie so sehr, dass ich ihm manchmal, wenn er einen seiner … Wutanfälle bekam, etwas vorsang.

Dann beruhigte er sich sofort. Die Kehrseite seiner Liebe zur Musik war allerdings, dass er immer und immer dasselbe summte. Eine einzige Melodie. Tagelang ohne Ende.“

„Oh je.“

„Ja, es war schlimm.“

„War der Hund sein Lieblingsspielzeug?“, fragte Kira und deutete auf das zerzauste Stofftier.

„Schwer zu sagen. Anthony entwickelte keine engere Beziehung zu irgendwelchen Dingen. Das ist typisch für autistische Menschen. Auch ständige Wiederholungen. Manche Dinge, wie das Summen, tat er unablässig – ohne jeden Grund. Dazu gehörte auch, dass er in der Ecke saß und den Rücken des Hundes auf dem Boden hin und her rieb. Ja, wenn du das Spielen nennen willst, könnte man sagen, dieser Hund war sein Lieblingsspielzeug.“

„Bezieht sich das auch auf Marla und dich, dass er keine Beziehung aufbauen konnte?“

„Leider ja. Er mochte nicht, dass man ihn anfasste. Körperlicher Kontakt gehörte zu jenen Dingen, die ihn im wahrsten Sinn des Wortes rasend machten. Deshalb beschränkten wir uns auf das absolut Notwendige: Baden, Haare waschen und so weiter. Die Musik half auch dabei“, fügte er hinzu.

Sein Ton verriet Kira, dass Cutty sich liebevoll um Anthony gekümmert hatte. Und wenn es noch so schwierig gewesen war.

„Er fehlt dir sehr, nicht wahr?“

„Natürlich“, antwortete Cutty sofort. „Er war trotz allem mein Sohn.“ Seine Stimme brach ein wenig. Er wandte sich ab und setzte den Hund auf das Fensterbrett, wahrscheinlich damit alles so blieb, wie Anthony es gewollt hätte. Oder Marla.

Lange stand er da und blickte auf das Stofftier. Kira hoffte inständig, dass er auch einige schöne Erinnerungen hatte, die seine Trauer lindern konnten.

Als er sich zurückdrehte, war seine Miene ein bisschen heiterer. „Mir scheint, die Mädchen sind aufgewacht.“

Das leise Geplapper im Kinderzimmer, das Mel und Mandy manchmal von sich gaben, war noch gar nicht in Kiras Bewusstsein gedrungen. Jetzt hörte sie es ebenfalls.

„Ich hole die Kleinen. Geh ruhig wieder nach unten und leg deinen Fuß hoch“, schlug sie vor.

„Ich bin ein richtiger Sklave meines Knöchels“, stöhnte er. „Wie wäre es, wenn wir die Fesseln heute Abend ein bisschen sprengen?“

Kira wusste nicht, worauf er hinaus wollte, und sah ihn fragend an.

„Hätte ich keinen verletzten Fuß, würde ich heute Abend Softball spielen. Wie wäre es, wenn wir die Mädchen einpacken und uns das Spiel ansehen? Auf dem Gelände sind garantiert jede Menge Leute, die uns mit den Zwillingen helfen werden. Es wird uns allen gut tun.“

„Ich weiß nicht recht“, sagte Kira rasch.

Nicht, dass sie nicht mitgehen wollte. Sie wollte es sogar sehr gern. Das allein war schon Grund genug, es nicht zu tun. Sie durfte ihrem Wunsch nicht nachgeben, mehr Zeit mit Cutty zu verbringen. Außerdem würde ihr dann ein weiterer Abend für die Hausarbeit fehlen.

„Ich wollte heute sauber machen, erinnerst du dich?“

„Arbeit statt Spiele“, sagte er enttäuscht.

Kira nahm an, dass er sich eher selbst leid tat. „Aber du kannst ruhig fahren“, versicherte sie ihm. „Ich passe auf die Mädchen auf und putze erst, wenn sie im Bett sind.“

„Du willst auf ein Softballspiel an einem schönen Sommerabend – einem Samstagabend – verzichten, um sauber zu machen?“, fragte er, als wäre so etwas undenkbar.

„Das Haus hat es wirklich nötig. Ich sterbe vor Angst, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, was für eine schlechte Arbeit ich hier leiste.“

„Jeder braucht mal eine Pause“, beharrte Cutty und setzte seinen ganzen Charme ein.

Kira war alles andere als ein Sportfan. Doch ein Sommerabend mit Cutty im Freien hatte etwas äußerst Reizvolles.

„Ich sollte wirklich nicht mitkommen“, wiederholte sie. Betty und Carol durften auf keinen Fall merken, wie wenig sie an Marla heranreichte.

„Die Hausarbeit läuft nicht weg. Sie ist bestimmt noch da, wenn wir zurückkehren“, erinnerte er sie.

„Das ist ja das Schlimme.“

Kira war sicher, dass Marla niemals zu einem Softballspiel gegangen wäre und das Haus in diesem Zustand zurückgelassen hätte. Sie selber würde so etwas in Denver auch nicht tun. Aber ach – die Versuchung war groß.

„Würdest du auch hinfahren, wenn ich nicht mitkomme?“, fragte sie.

Er lächelte, als hätte er ein Druckmittel entdeckt. „Nein, ich werde hier bleiben und langsam durchdrehen. Und das wäre einzig deine Schuld.“

Kira merkte, dass er scherzte. Cutty konnte ebenso gut ohne sie fahren. Schließlich war er gestern auch bei Ad gewesen. Ihn zu einem Softballspiel zu begleiten, gehörte kaum zu ihren Pflichten. Es war ja beinahe ein Date. Und das war das Letzte, was sie mit Cutty haben sollte.

„Nun sag schon Ja“, drängte er sie. „Das Haus kann wirklich warten.“

Er war so sexy und sah so fantastisch aus. Es fiel ihr unwahrscheinlich schwer, ihm etwas abzuschlagen.

„Also gut“, sagte sie endlich. „Aber wenn sich herumspricht, dass ich meine Arbeit vernachlässige, ist es deine Schuld.“

Er lachte leise. „Meine Lippen sind versiegelt.“

Und wunderbar weich, glatt und warm

Aber daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken. Es war schlimm genug, dass sie gerade eingewilligt hatte, ihre Aufgaben zu Gunsten einer Einladung zurückzustellen. Es hätte noch gefehlt, dass sie wieder anfing, von dem Kuss zu träumen.

„Okay, bist du bereit?“, fragte Cutty einige Stunden später lächelnd, als sie auf den Parkplatz des Mehrzweckgeländes bogen, wo das Softballspiel stattfinden sollte.

Die verblichenen Bänke waren schon dicht mit Zuschauern besetzt. Freunde, Familie und Freunde der Familie … In Northbridge war nicht oft etwas los. Deshalb erregten selbst kleine Ereignisse große Aufmerksamkeit.

„Wozu soll ich bereit sein?“, fragte Kira verwirrt. „Benehmen sich die Zwillinge in der Öffentlichkeit nicht ordentlich?“

„Nein, darüber mach dir keine Sorgen. Wir werden sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie werden herumgereicht und furchtbar verwöhnt werden.“

„Was meinst du dann?“

„All das, was du heute schon beim Einkaufen erlebt hast.“ Kira hatte ihm von Carol und deren Schwärmerei für Marla erzählt. „Jeder wird dich kennenlernen wollen. Und das meine ich wörtlich. Northbridge ist anders als Denver. Hier gibt es keine Fremden – trotz des College in der Stadt.“

„So schlimm war das heute Mittag gar nicht“, antwortete Kira, auch wenn sie sich während des Gesprächs mit Carol ihrer Schwester wieder einmal vollkommen unterlegen gefühlt hatte. Das schien wohl ihr Schicksal zu sein.

„Du meinst, du wirst damit fertig?“

„Das nehme ich an.“

„Okay, dann los.“

Cutty hatte nicht übertrieben, als er prophezeite, dass jeder sie kennenlernen wollte. Nachdem sie die Zwillinge in den Doppelbuggy gesetzt und den kurzen Weg vom Parkplatz zum Spielfeld zurückgelegt hatten, wurde Kira sofort umringt. Sie sah nicht viel von dem Spiel, sondern unterhielt sich buchstäblich mit jedem Zuschauer.

Aber das machte ihr nichts aus. Alle waren furchtbar nett, und keiner vergaß zu erwähnen, wie wunderbar und unglaublich tüchtig Marla gewesen wäre. Wenigstens war es ein Trost zu wissen, dass ihre Schwester sehr beliebt gewesen war.

Doch die Leute schwärmten nicht nur von Marla. Oder von den Zwillingen, die von allen verwöhnt wurden. Cutty bekam auch eine Menge Lob.

Während der Abend fortschritt, wurde ihr immer klarer, dass der Mann eine von Northbridges Lichtgestalten war. Beinahe eine Berühmtheit.

Nachdem das Spiel vorüber war, lehnte Cutty die Einladung zu einer Nachfeier in Ads Bar und Restaurant ab und fuhr mit Kira und den beiden müden Mädchen nach Hause.

Es war beinahe zehn, als Kira Mel und Mandy endlich ins Bett gebracht hatte. Sie ging wieder nach unten und erwartete, dass Cutty auf dem Sofa saß und seinen Fuß hochgelegt hatte. Doch er war nicht im Wohnzimmer. Stattdessen fand sie dort Spielzeug, über den ganzen Boden verstreut, und eine Menge Staub. Eine große Menge Staub. Oh je!

War Cutty schon zu Bett gegangen, während sie im Kinderzimmer zu tun gehabt hatte? Ohne ihr eine gute Nacht zu wünschen? Das wäre ziemlich seltsam.

Allein schon die Möglichkeit zerstörte ihre heimliche Hoffnung, dass der Abend vielleicht noch nicht ganz vorüber sein könnte.

Es liegt an dem Kuss, dachte Kira und versuchte ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken. Vielleicht ging Cutty ihr aus dem Weg. Möglicherweise fürchtete er, dass Kira erwartete, dass er sie wieder küsste, was er vermeiden wollte. Was natürlich Unsinn war, denn sie erwartete keinen weiteren Kuss. Deshalb brauchte er sich also wahrlich nicht vor ihr zu verstecken.

In solche und ähnlich finstere Gedanken vertieft betrat Kira die Küche.

Cutty stand am Spülbecken und schluckte gerade zwei Schmerztabletten. Zum Glück ahnte er nicht, in welche Richtung ihre Gedanken gegangen waren.

Ihre schlechte Laune verflog, und ihre Hoffnungen kehrten auf der Stelle zurück. „Tut dir der Knöchel weh?“, fragte sie besorgt.

„Ein bisschen“, gab er widerstrebend zu.

„Vielleicht solltest du ihn schonen. Ich werde hier noch etwas aufräumen, bevor ich schlafen gehe. Wenn du lieber nach oben möchtest …“

„Wie wäre es, wenn ich mich einfach hinsetze und dir Gesellschaft leiste?“

„Meinetwegen“, stimmte Kira zu und wünschte, es hätte nicht so erfreut geklungen.

Sie sah zu, wie Cutty zwei Küchenstühle hervorzog – einen für sich zum Sitzen und einen für seinen Fuß. Warum in aller Welt wurde sie nicht müde, diesen Mann zu beobachten?

Das Geschirr, ermahnte sie sich stumm. Ich muss mich um das Geschirr kümmern.

Sie ging zum Spülbecken und wusch das restliche Geschirr ab.

„Du bist ziemlich beliebt in Northbridge“, stellte sie fest.

Cutty lachte leise. „Nun, nachdem ich hier lebe und arbeite, hoffe ich sehr, dass mich wenigstens einige Leute mögen.“

„Es scheint ein bisschen mehr zu sein, als nur gemocht zu werden“, sagte Kira und erinnerte sich, wie herzlich er bei dem Softballspiel begrüßt worden war. „Als wäre Marla die Lieblingstochter der Stadt gewesen, und du wärst ihr Lieblingssohn.“

„Marla war gewiss die Lieblingstochter“, bestätigte er ein bisschen atemlos.

„Und du bist eindeutig der Lieblingssohn“, beharrte sie.

„Das ist vermutlich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt“, gab er zu. „Die ganze Stadt nahm uns sozusagen unter ihre Fittiche.“

„Als ihr hierher zogt?“

„Kurz darauf. Vergiss nicht, dies ist eine Kleinstadt. Jeder kümmert sich um jeden. Das kann manchmal ziemlich lästig ein. Andererseits springen die Leute sofort ein, wenn man Hilfe braucht.“

„Die Leute rümpften nicht die Nase über zwei Siebzehnjährige, die ein Baby bekamen?“

„Nein. Das verdankten wir Onkel Paul. Er erklärte, so etwas passiere nur den Lebenden. Tote brauchten sich darüber keine Gedanken zu machen.“ Cutty lachte leise. „Ich bin nicht sicher, ob das weise Worte waren. Aber nachdem dein Vater so tat, als würden wir eigenhändig die Welt zerstören, waren sie eine willkommene Erleichterung.“

„Und die Bewohner von Northbridge schlossen sich ihm an?“

„Alle mochten Onkel Paul. Wie mein Dad gehörte er zu jenen Menschen, die man einfach lieben musste. Er hatte ein lautes polterndes Lachen und einen dicken runden Bauch. Und er verschenkte beinahe so viele Donuts und Kaffees, wie er verkaufte. Niemand nahm ihm übel, dass er uns unterstützte. Außerdem erzählte er jedem, der es hören wollte, wie schwer ich es bisher im Leben gehabt hätte und dass Marla von ihrem Vater verstoßen worden wäre. Das brachte uns eine Menge Sympathie ein. Wir wurden in vielerlei Hinsicht zu einer Art städtischem Projekt. Das hat uns sehr geholfen.“

„Auch in finanzieller Hinsicht?“

„Nein, das nicht unbedingt. Ich arbeitete von Anfang an in Pauls Bäckerei, um unseren Unterhalt zu verdienen. Die Leute schenkten uns ihre ausrangierten Möbel, als wir die Garage in ein Apartment verwandelten. Außerdem erhielten wir für das Baby Kindergeld von der Stadt. Wichtiger aber war, dass uns alle hier bedingungslos in ihre Reihen aufnahmen. Immer wieder boten sie uns ihre Hilfe an, sprangen als Babysitter ein, damit wir die High School beenden und ich später aufs College gehen konnte, und so weiter. Es war eine überwältigende Nachbarschaftshilfe, von der ich lange nichts zurückgeben konnte.“

„Aber jetzt tust du es“, erriet Kira.

„Bei jeder sich bietenden Gelegenheit.“

„Jeden Tag in deinem Job.“

Sie hatte das Geschirr gespült und wollte nun noch den gröbsten Schmutz vom Boden aufwischen. Leider war sie für diese Arbeit nicht passend angezogen. Es war nicht einfach, den Rock aus dem Weg zu halten. Sie hockte sich hin, hielt den bauschenden Stoff mit einer Hand fest und wischte mit der anderen den Boden.

„Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, du bist Polizist geworden, um der Stadt zurückzugeben, was sie dir Gutes getan hat, als du es brauchtest.“

„Das klingt ja wie ein Klischee“, stöhnte er.

„Aber es stimmt, nicht wahr?“, fragte Kira und verlor beinahe das Gleichgewicht. Himmel, warum hatte sie für die Küchenarbeit nicht ihre Jeans angezogen!

„Ja, es trifft zu“, beantwortete er ihre Frage. „Ich wollte etwas tun, das jedem half, der uns geholfen hatte. Schützen und dienen – der Wahlspruch der Polizei –, das schien genau das Richtige zu sein. Was nicht heißt, dass ich meinen Job nicht liebe. Im Gegenteil. Ich möchte keinen anderen haben. Ehrlich gesagt, ich glaube, der Hauptgrund für meine Wahl war dein Vater.“

„Mein Vater?“, fragte Kira verwirrt und kämpfte erneut mit ihrem Rock, während sie in einer Art Entengang vorrückte.

„Ich hasste den Gedanken, dass er mich für den Abschaum der Menschheit hielt. Dass er glaubte, ich würde nichts taugen und es nie zu etwas bringen. Polizist zu sein war gewissermaßen das genaue Gegenteil. Möglicherweise hat das ebenfalls eine Rolle bei meiner Wahl gespielt.“

„Nun, hier hält dich garantiert jeder für einen tollen Kerl“, erklärte sie und freute sich darüber. Cutty hatte es wirklich verdient.

Kira rückte zu einem Schmutzfleck neben seinem Stuhl vor und wäre beinahe erneut zur Seite gekippt.

Diesmal bemerkte Cutty es, denn er sagte: „Lass das Ganze doch bis Morgen. Du machst dir nur deinen schönen Rock schmutzig.“

„Ich bin beinahe fertig“, versicherte Kira. Sie wischte den letzten Fleck fort und wollte aufstehen. Doch der Rock entglitt ihren Fingern, und sie trat auf den Saum. Im nächsten Moment taumelte sie direkt in Cuttys kräftige Arme, die sich reflexartig um sie schlossen.

„Oh!“, rief sie erschrocken.

Nach einem kurzen Schock lachte Cutty tief in der Kehle. „Hallo“, sagte er, als hätte sie genau hier landen wollen.

Kira versuchte, die Funken zu unterdrücken, die tief in ihrem Körper zu sprühen begannen, und machte sich los.

„Entschuldigung“, murmelte sie verlegen.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja. Bei dir auch?“

„Wenn man davon absieht, dass es mir ohnehin schwer genug fällt, die Finger von dir zu lassen, und du mir gerade direkt in den Schoss gefallen bist … Ja.“

Die Funken sprühten wieder stärker. „Du hattest recht. Ich hätte mit dem Boden bis morgen warten sollen. Aber nein, ich musste es unbedingt gleich erledigen.“

„Es ist ja nichts passiert“, versicherte er ihr.

„Aber es hätte etwas passieren können. Stell dir vor, ich wäre auf deinen Fuß gestürzt.“

„Du bist es ja nicht. Außerdem“, fügte er mit einem schelmischen Lächeln hinzu: „Wie oft wirft sich schon eine schöne Frau in meine Arme? Betrachten wir es einfach so: Gestern Abend bin ich auf dich gefallen, heute Abend bist du auf mich gefallen. Jetzt sind wir quitt.“

„Dann war der Kuss gestern ein … Versehen?“, fragte sie und konnte die Enttäuschung nicht verbergen.

Cutty nahm seinen Fuß vom Stuhl und stand auf. Er hob den Lappen auf, den sie fallen gelassen hatte, und beugte sich dicht an ihr Ohr.

„Nein, er war kein Versehen.“ Er humpelte zum Spülbecken und warf den Lappen hinein. Dann lehnte er sich an die Anrichte und stützte den verletzten Fuß auf den gesunden. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich vorher nicht lange überlegt hatte.“

„Bereust du, dass du mich geküsst hast?“ Die Frage war heraus, bevor Kira es verhindern konnte.

Cutty lachte leise. „Wohl kaum. Ehrlich gesagt, ich denke Tag und Nacht daran, es zu wiederholen.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

„Das wäre wahrscheinlich keine gute Idee“, antwortete sie viel zu zögernd, um ihren Worten Gewicht zu verleihen.

„Nein, wahrscheinlich nicht“, stimmte er ebenso zögernd zu. „Aber gute Idee oder nicht: Jedes Mal, wenn ich daran denke – wenn ich an dich denke –, spielt alles andere keine Rolle mehr. Ganz gleich, was ich mir sage: Es hilft nichts. Ich möchte dich erneut küssen.“

Die Funken in ihrem Innern hatten sich in lodernde Flammen verwandelt, und Kira wurde es glühend heiß. „Ja, mir geht es nicht anders“, gestand sie mit ruhiger Stimme.

Cutty lächelte sinnlich. „Du würdest mir also nicht den nächstbesten Gegenstand über den Schädel schlagen, wenn ich dich jetzt küsste?“

„Nein, aber trotzdem sollten wir es nicht tun.“ Es klang beinahe wie eine Einladung.

„Ich weiß.“ Er beugte sich vor, zog Kira heran und legte die Hände locker auf ihren Rücken. Seine Unterarme lagen seitlich auf ihrer Taille. „Vielleicht ist es deshalb so schwer, es nicht zu tun.“

Er sah sie mit seinen dunkelgrünen Augen eindringlich an. Obwohl Kira sich geschworen hatte, Cutty zurückzuweisen, falls er noch einmal versuchte, sie zu küssen, machte sie sich nicht los. Sie tat absolut nichts, um ihn davon abzuhalten.

Als er sich vorbeugte, legte sie die Handflächen auf seine feste Brust und kam ihm entgegen, bis ihre Lippen sich berührten.

Und diesmal zusammen blieben.

Lange genug für Kira, um die Hitze seines Mundes zu spüren. Lange genug, um Cutty so zurückzuküssen, wie sie es schon gestern Abend gern getan hätte.

Es war immer noch ein zarter Kuss. Ein Anfang. Mit nur leicht geöffneten Lippen. Kira schloss die Augen. Cuttys warmer Atem strich über ihre Wange, und der Duft seines Aftershave stieg ihr in die Nase.

Doch der Kuss reichte, um ihre Knie weich werden zu lassen. Und jeden Gedanken daran zu vertreiben, weshalb sie das hier besser nicht tun sollten. Wohin dies führen sollte.

Wohin es führen sollte? Nirgendwohin, natürlich. Es durfte nicht einmal passieren.

Aber es war so schön …

Dann war der Kuss vorüber, und Kira hätte nicht sagen können, ob Cutty ihn beendet hatte oder sie. Da zumindest eine winzige Chance bestand, dass sie diejenige war, die sich zurückgezogen hatte, versuchte sie es mit einem Scherz. „Mir scheint, du hast zu große Schmerzen, um klar denken zu können.“

Wieder lächelte er träge. „Es geht mir ausgezeichnet.“

Aber er versuchte nicht, sie noch einmal zu küssen. Als sie sich losmachte, ließ er sie gehen.

„Du sollst deinen Fuß nicht belasten“, erinnerte sie ihn.

„Ich werde es überleben“, antwortete er und beobachtete sie aufmerksam.

„Es ist schon spät“, sagte sie und hatte Angst vor dem, was geschehen würde, wenn sie jetzt nicht ging. „Ich glaube nicht, dass die Mädchen sonntags länger schlafen.“

„Nein, das tun sie nicht. Leider.“

„Dann sollten wir uns lieber auch hinlegen und auf die nächste Schlacht vorbereiten.“

Cutty nickte stumm und ließ sie nicht aus den Augen.

„Habt ihr morgen etwas Besonderes vor? Geht ihr zur Kirche?“

„Mit den Kindern? Das gäbe eine Katastrophe. Nein, normalerweise grillen wir sonntags immer. Mit meinem Fuß könnte das zwar ein bisschen anstrengend werden. Aber ich glaube, ich kann lange genug stehen – falls du Lust zu einem Barbecue hast.“

Das war eine hübsche Vorstellung. Ein Sonntag zu Hause im Kreis der Familie. Cutty beim Grillen. Vielleicht draußen essen. Viel schöner als der Gedanke an ihre sonstigen langen langweiligen Sonntage, die meistens mit einem Fertiggericht vor dem Fernseher endeten.

„Grillen klingt gut“, sagte sie. Bevor der Wunsch, Cutty erneut zu küssen, sie überwältigte, fuhr sie fort: „Dann bis morgen früh.“

Er nickte gedankenverloren. „Gute Nacht“, flüsterte er mit so heiserer Stimme, dass sie umso lieber geblieben wäre. Ein Grund mehr, schleunigst zu verschwinden.

„Gute Nacht“, antwortete sie hastig und eilte aus der Hintertür.

5. KAPITEL

„Hi, Kit. Ich bin’s“, sagte Kira am nächsten Morgen um Viertel vor sieben, als ihre beste Freundin den Hörer abnahm.

„Ich weiß. Ich habe deine Handynummer auf dem Display erkannt. Sonst wäre ich um diese Uhrzeit bestimmt nicht an den Apparat gegangen“, antwortete Kit MacIntyre.

„Weil du bis über beide Ellbogen im Zuckerguss für die Hochzeitstorte der Blumbergs steckst. Ich wusste, dass du so früh anfangen würdest. Deshalb rufe ich schon an.“

„Du hast beinahe richtig geraten. Im Moment bin ich allerdings noch beim Teig. Die Torte soll erst um drei Uhr geliefert werden. Das reicht, um pünktlich um vier am Flughafen zu sein und dich abzuholen.“

Kira hatte Kit vor zwei Jahren kennengelernt, als sie in das Apartment gegenüber gezogen war. Die ersten drei Monate hatten sie sich nur freundlich als Nachbarn gegrüßt und sich bisweilen auf dem Gang ein bisschen voneinander erzählt. Kit hatte gewusst, dass Kira an ihrer Doktorarbeit in Mikrobiologie schrieb, und Kira hatte erfahren, dass Kit die Inhaberin von Kit’s Cakes war, eine bekannte Konditorei in Denver, die auf Torten für spezielle Anlässe spezialisiert war, hauptsächlich für Hochzeiten.

Doch während eines Schneesturms, bei dem der Strom das ganze Wochenende ausgefallen war, hatten sie Decken, Kerzen, Essen und Geschichten aus ihrem Leben geteilt und waren Freundinnen geworden.

Kit wusste inzwischen alles über Kira, auch weshalb sie nach Montana gefahren war. Deshalb erzählte Kira der Freundin, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich bestätigt hatten: Der Cutler Grant aus dem Zeitungsartikel war tatsächlich jener Cutty, der mit ihrer Schwester durchgebrannt war. Sie erzählte Kit die ganze traurige Geschichte von Marla, Anthony und deren tragischem Tod.

„Das tut mir furchtbar leid“, sagte Kit. „Du hattest so gehofft, Marla und deinen kleinen Neffen zu finden und wieder eine Familie zu haben. Geht es dir gut?“

„Ja. Manchmal bin ich ein bisschen traurig. Andererseits habe ich dreizehn Jahre über den Verlust von Marla getrauert. Und was die Familie betrifft – da gibt es ja noch die Zwillinge.“

Kit erinnerte sich, dass die beiden Mädchen in dem Zeitungsartikel erwähnt worden waren. „Dann sind die beiden wirklich deine Nichten?“

„Ja, das sind sie.“

„Erzähl mir von ihnen“, forderte Kit die Freundin auf. „Sind sie niedlich?“

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Aber du ahnst nicht, was sie alles anstellen. Sobald ich einen Küchenstuhl nur wenige Zentimeter entfernt vom Tisch stehen lasse, steigen sie auf den Tisch und machen Unfug. Und sie verschütten das Frühstücks-Müsli, kippen die Milch und den Saft um und vermischen alles miteinander. Ein einziges Chaos, den ganzen Tag lang.“

Kit lachte fröhlich. „Ähneln sie sich stark, oder kann du sie auseinander halten?“

„Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie haben beide schwarzes lockiges Haar, große grüne Augen und so süße Pausbacken, dass man sie ständig küssen möchte. Zum Glück hat eines der Mädchen ein winziges Muttermal über dem Auge, an dem ich sie unterscheiden kann. Außerdem haben sie einen unterschiedlichen Charakter. Mel – das ist eine Abkürzung für Melanie – ist ganz und gar ein Mädchen, während Mandy ein richtiger Wild lang ist. Sie ist abenteuerlustiger und mutiger. Mel ist eher schüchtern. Sie blickt gern in den Spiegel und schneidet Gesichter. Urkomisch.“

„Können sie schon laufen? Oder sprechen?“

„Ein paar Wörter. Nein ist zurzeit ihr Lieblingswort. Sie sagen es zu allem und jedem. Und laufen können sie auch. Und wie! Ich sage dir, es ist ein Full-Time-Job, ständig hinter ihnen herzurennen. Wenn man sie tragen will, wehren sie sich mit Händen und Füßen. Sie würden auch lieber selber essen, als gefüttert zu werden. Aber wenn man ihnen den Löffel überlässt, landet garantiert nichts im Mund, dafür überall sonst. Ich sage dir, es kostet wirkl ich Kraft. Ganz gleich, was die eine tut, die andere macht es sofort nach.“

„Das klingt sehr lustig“, sagte Kit. „Mach unbedingt ein paar Fotos und bring sie mit.“

Zu ihrem Erstaunen spürte Kira plötzlich einen schmerzlichen Stich in der Brust bei dem Gedanken, wieder nach Hause zu fahren und die Zwillinge zurückzulassen – und Cutty.

Aber daran wollte sie jetzt auf keinen Fall denken. Deshalb war sie froh, dass Kit ein anderes Thema anschnitt. „Lass mich raten. Du hast so viel Spaß mit deinen Nichten, dass du noch einige Tage bei ihnen bleiben möchtest.“

„Na ja, mit dem Spaß ist das so eine Sache. Aber die Frau, die sonst hier als Kindermädchen und Haushälterin arbeitet, muss sich einige Zeit um ihre Mutter kümmern. Deshalb habe ich Cutty angeboten, ihm zu helfen und die Mädchen bei dieser Gelegenheit besser kennen zu lernen.“

„Heißt das, du spielst jetzt das Kindermädchen und die Haushälterin?“

„Genau. Inoffiziell natürlich. Ich habe ja nichts zu tun, bis das College beginnt. Weshalb also nicht?“

„Ich wette, du hast die Fliesen im Bad schon mit der Zahnbürste geschrubbt.“

„Ehrlich gesagt, ich habe das Bad noch kein einziges Mal gründlich gesäubert. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlecht ich mit dem Haushalt und den Kindern gleichzeitig zurechtkomme.“

„Diese Vorstellung fällt mir tatsächlich schwer, vor allem was das Saubermachen betrifft. Deine Wohnung ist ja beinahe steril.“

„Glaub mir, ich bekomme nichts auf die Reihe. Ich beginne jeden Tag mit den besten Vorsätzen. Aber dabei bleibt es auch. Ich hole die Mädchen aus ihren Bettchen und mache ihnen ihr Frühstück. Anschließend stapele ich das schmutzige Geschirr im Spülbecken, bringe die Zwillinge wieder nach oben und ziehe sie an. Und bevor ich mich versehe, ist der Tag herum, und ich habe nichts anderes getan, als die Kinder von einem Ort zum anderen zu schleppen – oder von einer Katastrophe in die nächste – und eine Spur aus schmutzigem Geschirr, schmutziger Wäsche und Windeln zu hinterlassen. Das reinste Chaos.“

Kit lachte vergnügt. „Ich habe verstanden.“

„Zuerst dachte ich, es läge daran, dass die Zwillinge mich nicht mögen. Sie kommen zwar immer noch nicht zu mir, wenn sie getröstet werden möchten. Aber sie lassen sich wenigstens von mir versorgen. Trotzdem hat sich nichts geändert. Außer auf die Babys aufzupassen bekomme ich nichts zu Stande.“

„Das ist doch schon was.“

„Aber es ist nicht genug.“

„Wer sagt das? Der Vater der Zwillinge?“

„Cutty? Oh nein, der beklagt sich nicht. Er ist großartig. Was ebenfalls ein Problem ist. Gestern Abend überredete er mich, ihn und die Mädchen zu einem Softballspiel zu begleitet, obwohl ich dringend sauber machen musste.“

„Cutty ist großartig?“, wiederholte Kit neugierig.

„Er ist sehr nett“, verbesserte Kira.

„Sieht er gut aus?“, forschte Kit nach.

„Ja, er sieht sehr gut aus.“

„Und du warst gestern Abend mit ihm beim Baseball?“

„Softball. Die Männer aus dieser Gegend haben eine Art Lokalliga gegründet“, fuhr Kira fort, um die Freundin von ihrem Verdacht, zwischen ihr und Cutty bahne sich etwas an, abzulenken. „Du hättest sie sehen sollen. Einige waren nur Durchschnitt, die meisten aber wirklich bemerkenswert. Lauter tolle Kerle auf einem Haufen. Ich wurde einem nach dem anderen vorgestellt, und mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Wenn du einen Mann suchst, würde ich dir raten, alles stehen und liegen zu lassen und hierher zu kommen. Es muss an dem Wasser in Montana liegen.“

„Und was ist mit dir?“

So attraktiv viele Männer gestern gewesen waren, keiner war ihr so reizvoll erschienen wie Cutty. Aber das ging Kit nichts an. „Ich bin nicht auf der Suche nach einem Mann.“

Doch die Freundin hatte sie durchschaut. „Weil du ihn schon gefunden hast. In diesem Cutty, dessen Name du so ehrfürchtig aussprichst.“

„Ehrfürchtig?“, wiederholte Kira und lachte. „Liebe Kit, ich glaube, du hörst nicht richtig zu! Was ich hier vorgefunden habe, sind ein Haufen Arbeit und eine Herausforderung, der ich nicht gewachsen bin.“ Sie meinte dabei nicht nur die Kinder und die Hausarbeit.

„Und du bist entschlossen zu bleiben, bis du ihn … äh sie, also die Herausforderung meisterst?“ Kit war offensichtlich der Meinung, dass Cutty die eigentliche Herausforderung war.

Kira beschloss, die Frage wörtlich zu nehmen. „Ich weiß nicht, ob ich jemals so gut sein werde wie Marla – oder auch nur annähernd. Aber ich habe versprochen, hier auszuhelfen, bis Cuttys Haushälterin zurückkehrt. Das ist alles.“

„Oh je“, sagte Kit, als hätte sie plötzlich das eigentliche Problem erkannt.

„Was ist los?“

„Dein Vater ist nicht zufällig da und trichtert dir ein, dass du es schaffen musst?“

Kira lachte freudlos. „Nein. Aber du solltest hören, wie die Leute hier über Marla reden. Jeder, mit dem ich spreche, erzählt mir, wie wunderbar und einmalig sie gewesen ist. Sie war eine perfekte Hausfrau, stets tiptop gepflegt und hatte eine Engelsgeduld mit Anthony. Nach all em, was man so hört, war sie …“

„Und du bringst dich halb um, um deiner Schwester ebenbürtig zu sein, nicht wahr?“, erriet Kit.

„So schlimm ist es nun auch nicht“, wandte Kira ein.

„Es klingt aber so. Hast du einmal überlegt, dass die Leute gewaltig übertreiben könnten?“

„Das ist kaum anzunehmen. Die Marla, die ich kannte, war klug und schön und konnte einfach alles. Glaubst du wirklich, sie hätte den Dreck unter den Teppich gekehrt und das schmutzige Geschirr in der Speisekammer versteckt, um die Leute zu täuschen?“

„Ich glaube, dass deine Schwester auch nur ein Mensch war. Sie war menschlich genug, um sich heimlich mit einem Jungen zu treffen, mit dem ihr Vater nicht einverstanden war, und um mit siebzehn schwanger zu werden. Selbst wenn sie ihr Haus immer pieksauber hielt und eine gute Mutter war, hat es bestimmt Tage gegeben, an denen sie ihr Haar nicht wusch oder die schmutzige Wäsche einfach irgendwo außer Sichtweite brachte. Ich glaube nicht, dass sie eine Wunderfrau war. Und mir gefällt der Gedanke nicht, dass du dir Vorwürfe machst, weil du ebenfalls keine bist.“

„Ich brauche mich hier nur umzusehen, um mein Scheitern zu erkennen“, antwortete Kira.

„Siehst du? Du sprichst von Scheitern. Dabei verwendest du deine Ferien dafür, um einem Mann zu helfen, den du eigentlich nicht kennst. Und wenn du zehn Mal nicht alles schaffst: Es ist immer noch sehr großzügig von dir. Wenn du mich fragst, kann dieser Cutty Grant froh sein, dass er dich hat, und er sollte dir verdammt noch mal dankbar sein.“

„Er ist ja nicht undankbar“, antwortete Kira. „Er sagt ständig, dass ich den Haushalt doch bis morgen liegen lassen und mir keine Sorgen machen soll, wenn etwas nicht erledigt ist.“

„Dann solltest du das vielleicht ernst nehmen und vergessen, was für ein Wunderwesen Marla gewesen ist – oder auch nicht.“

Das war leichter gesagt als getan.

„Und hab ein bisschen Spaß mit deinen Nichten und dem toll aussehenden Mister Cutty, Mädchen!“ Kit klang wie ein verträumter Teenager, als sie den Namen aussprach.

„Was du immer gleich denkst, du schlimmes Mädchen“, antwortete Kira lachend.

„Probier es aus. Vielleicht gefällt es dir ja“, riet Kit der Freundin in einem so lüsternen Ton, dass Kira erneut lachen musste.

„Ein ganz schlimmes Mädchen. Gießt du meine Blumen, bis ich zurück bin?“

„Natürlich. Aber nur, wenn du mir versprichst, den Montana-Mann ein bisschen an dich ranzulassen. Sei nicht so unnahbar. Du hast dir ein bisschen Abwechslung wahrlich verdient. Genieß die Zeit dort.“

„Ich werde es versuchen. Und jetzt geh mal zu deiner Hochzeitstorte zurück, damit sie rechtzeitig fertig wird.“

„Okay. Halt mich auf dem Laufenden“, sagte Kit und legte auf.

„Sim?“

„Sim?“, fragte Kira zurück. Was meinte Mandy damit? Sie hatte die Kleinen nach dem Mittagsschlaf in die Küche heruntergeholt und ihnen Kekse gegeben, um sie zu beschäftigen, während sie ein Hähnchen zum Grillen marinierte. Cutty telefonierte gerade.

Mel, die ihre Schwester gehört und offensichtlich verstanden hatte, fiel sofort begeistert ein. „Sim! Sim!“

„Pst“, sagte Kira, um die Lautstärke zu dämpfen, und stellte das Hähnchen in den Kühlschrank.

„Sim!“, verlangte Mandy jetzt energischer, nachdem sie die Unterstützung ihrer Schwester erhalten hatte.

„Ich weiß nicht, was Sim ist“, erklärte Kira und versuchte vergeblich, sich den Zwillingen verständlich zu machen.

„Sim!“, schrie Mel.

Endlich reagierte Cutty. „Einen Moment bitte“, sagte er in den Hörer und fuhr, an Kira gewandt, fort: „Sim heiß Schwimmen. Die beiden möchten in das Planschbecken im Garten.“

„Ach so“, sagte Kira. „Soll ich sie lassen?“

„Das liegt bei dir. Du müsstest das Becken ausspülen, es mit dem Schlauch füllen und das Wasser mit einem Eimer heißen Wassers anwärmen. Und nalürlich die ganze Zeit dabei bleiben.“

Was bedeutete, dass sie erneut keine Hausarbeit erledigen konnte.

Cutty bemerkte ihre Unentschlossenheit, denn er sagte: „Die Zwillinge müssen nicht ins Planschbecken, wenn du nicht möchtest.“ Er kehrte zu seinem Telefongespräch zurück und überließ Kira die Entscheidung.

„Sim! Sim!“ Mandy hatte sich inzwischen ihrer Schwester lautstark angeschlossen. Kira war klar, dass sie einen Wutanfall in stereo erl eben würde, wenn sie nicht zustimmte. Deshalb gab sie nach.

„Also gut, wir gehen zum Planschbecken. Aber nicht so lange. Ich habe noch eine Menge andere Dinge zu tun“, erklärte sie, um die Mädchen zu beruhigen.

„Zieh ihnen auch die Windeln aus, bevor du sie ins Becken setzt“, verkündete Cutty, der sein Gespräch erneut unterbrochen hatte.

Das Becken mit dem Schlauch zu füllen, schien keine große Angelegenheit zu sein. Doch mit Mel und Mandy im Schlepp wurde selbst das zum Problem. Anstatt zu warten, bis das Becken sauber und mit frischem Wasser befüllt war, kletterten die Mädchen kurzerhand hinein. Sofort war ihre Kleidung über und über mit der Gartenerde beschmutzt, die sich auf dem Boden angesammelt hatte.

„Nein, wir müssen das Becken erst ausspülen und mit Wasser füll en“, erklärte Kira. Sie legte den Schlauch auf den Boden, um die Kinder herauszunehmen.

„Sim!“, protestierte Mel.

„Ja, Sim. Aber dafür brauchen wir Wasser.“ Kira setzte Mel ins Gras und drehte sich zu Mandy.

Während sie den zweiten Zwilling aus dem Becken hob, ergriff Mel blitzschnell den Schlauch, zielte auf das Becken und durchnässte dabei sowohl Kira als auch Mandy von Kopf bis Fuß. Mandy schrie wütend auf.

„Oh nein, so geht das nicht“, murmelte Kira und versuchte gleichzeitig, Mandy zu trösten und Mel den Schlauch zu entwinden. Sobald sie den Schlauch hatte, stellte sie den Fuß darauf und setzte Mandy neben ihre Schwester auf den Rasen.

„Wollt ihr euch nicht schon ausziehen, während ich das Wasser ins Becken fließen lasse?“, schlug sie vor, um die Kleinen abzulenken. Sie zerrten sich die Kleidung ja oft genug vom Leib, wenn sie es nicht sollten.

Natürlich ertönte ein gemeinsames „Nein.“

„Okay, dann bleibt einfach sitzen, bis ich fertig bin.“

Ein weiteres „Nein“ war die Antwort. Doch Kira kümmerte sich nicht darum. Sie hob den Schlauch wieder auf und setzte ihre Arbeit fort. Endlich hatte sie das Becken ausgespült und füllte es mit Wasser.

„Sim!“, verlangte Mel.

Kira wusste inzwischen, dass sie von den Zwillingen keine Geduld erwarten konnte. Deshalb klemmte sie den Schlauch zwischen die Knie und zog die beiden mit ihren freien Händen aus. Zum Glück trugen sie nur Shorts und ein T-Shirt über ihren Windeln. Kaum war das Becken gefüllt, waren sie im Wasser.

„Kalt!“, klagte Mandy und kletterte sofort wieder hinaus.

„Ich weiß. Ich muss erst heißes Wasser von drinnen holen, um es anzuwärmen.“

Aber wie? Sie durfte Mel nicht all ein im Wasser lassen. Deshalb hob sie die laut protestierende Kleine aus dem Becken.

„Hol mal deinen Ball“, schlug Kira vor, um Mel abzulenken. „Du kannst ihn mit ins Wasser nehmen.“

Doch Mandy hatte den Ball schon entdeckt und warf ihn aus sicherer Entfernung ins Becken.

Kira ließ das Mädchen nicht aus den Augen und eilte mit Mel auf den Armen ins Haus. Zum Glück hatte Cutty schon einen Eimer mit heißem Wasser gefüllt.

„Danke“, sagte Kira und tat, als bemerkte sie seinen belustigten Blick über ihre vergeblichen Bemühungen am Planschbecken nicht.

Sie trug das schreiende Kind und den Eimer in den Garten. Aber sie brauchte beide Hände, um das warme Wasser ins Becken zu schütten. Was bedeutete, dass sie Mel absetzen musste. Im nächsten Moment war das Mädchen im Wasser.

Kira fürchtete, dass die Kleine sich verbrennen könnte, und hob sie wieder heraus.

Kaum hatten Mels Füße den Boden berührt, war sie wieder drin.

Kira hob sie heraus.

Mel kletterte hinein.

Schließlich brachte Kira das Mädchen an das hintere Ende des Gartens und rannte zurück, so schnell sie konnte, um das Wasser einzuschütten, bevor Mel ebenfalls wieder da war.

Sie hörte Cutty im Haus lachen und merkte, dass er die Szene beobachtete. Egal. Es gelang ihr, das heiße Wasser ins Becken zu schütten, bevor Mel erneut hineinkletterte.

Dann wandte sie sich an Mandy, die mit ihren nackten Füßen in der Pfütze stampfte, die sich beim Säubern des Pools gebildet hatte.

„Das Wasser ist jetzt warm, Mandy. Möchtest du auch baden?“

„Nein.“

Natürlich nicht. Kein Schmeicheln brachte Mandy dazu, auch nur in die Nähe des Wassers zu kommen, in dem ihre Schwester glücklich plantschte.

Kira hatte inzwischen gelernt, wann es sinnlos war, sich auf einen Kampf mit den Zwillingen einzulassen. Deshalb zog sie einen Liegestuhl an den Beckenrand, von wo sie Mel und Mandy gleichzeitig im Auge behalten konnte, und setzte sich hinein.

„Darf ich meine Füße ins Wasser stecken?“, fragte sie Mel.

„Sim?“, antwortete die Kleine einladend.

„Nein. Dafür bin ich zu groß. Aber ich werde meine Füße hineinstecken“, erklärte sie, zog ihre Sandaletten aus und rollte ihre Jeansbeine in die Höhe.

„’ehen“, sagte Mel und zeigte darauf.

„Ja“, bestätigte Kira. „Meine Zehen.“

Mandy kam heran und beugte sich über den Rand, um Kiras Füße ebenfalls zu betrachten.

Kira wackelte mit den Zehen, und die beiden lachten hell auf. Mandy zog einen Kinder-Liegestuhl an Kiras Seite, setzte sich hinein und wollte ihre Füße auch über den Rand baumeln lassen. Aber sie saß zu weit weg. Kira schob sie näher heran, damit sie ihre kleinen pummeligen Füße ins Wasser stecken konnte.

Mandy begann sofort mit ihren Zehen zu wackeln. Das schien mehr Spaß zu machen als ein Bad. Mel kletterte aus dem Becken, schob den zweiten Kinderstuhl an Kiras andere Seite und ließ ihre Füße ebenfalls ins Wasser baumeln.

Glücklich saßen die drei an diesem heißen Sommertag da, wackelten mit den Zehen, zogen Spuren durch das Wasser und spritzen es zum Spaß in die Höhe.

Irgendwann wurde Kira klar, dass sie eine neue Seite in der Beziehung zu ihren Nichten aufgeschlagen hatte. Die beiden akzeptierten sie nicht nur, sie schienen sie sogar zu mögen.

Nichts würde ihr größere Freude bereiten.

„Wenn du hierher kommst, kann ich dir helfen“, rief Cutty, als Kira mit einem Korb saubere Wäsche die Treppe herunterkam.

„Das Angebot lehne ich nicht ab“, antwortete sie und achtete sorgfältig darauf, dass nichts von dem Wäscheberg rutschte, der über den Korbrand ragte.

Cutty saß wie üblich auf der Couch und hatte seinen Fuß auf ein Kissen auf dem Tisch gelegt. Kira stellte den Korb davor und setzte sich auf die andere Seite. Es war schön, den Tag mit einer einfachen gemeinsamen Arbeit zu beenden. Ein Tag, der ihr umso mehr gefiel, als sie eindeutig Fortschritte bei den Zwillingen gemacht hatte.

„Habe ich es nicht gesagt?“, fragte Cutty, während sie die Wäsche zusammenlegten.

„Was?“

„Dass die Mädchen schon warm mit dir werden würden, wenn du ihnen ein bisschen Zeit lässt.“

„Ja, das hast du gesagt.“

„Und jetzt wollen sie nichts mehr von ihrem alten Dad wissen“, klagte er scherzhaft.

„Du hättest ihnen ihre Gute-Nacht-Geschichte ja trotzdem vorlesen können“, stellte Kira fest. Die Zwillinge hatten heute beschlossen, dass „Kina“ an der Reihe wäre.

„Nein, sie haben ihre Wahl getroffen. Und die war nicht auf mich gefallen.“

„Mel wollte mir sogar einen Gute-Nacht-Kuss geben“, erzählte Kira stolz. „Um nicht zurückzustehen, schloss Mandy sich sofort an.“

„Du stehst jetzt ganz oben auf ihrer Liste.“

Kira ließ sich nicht anmerken, wie gut ihr seine Worte taten. Cutty trug seine übliche Sonntagskleidung – Jeans und ein schlichtes marineblaues T-Shirt mit rundem Ausschnitt. Jedes Mal, wenn er nach etwas griff, spannte sich der Bizeps unter dem kurzen Ärmel, und Kira staunte, wie sexy der Mann wirkte.

„Du bist sehr geduldig mit den Mädchen“, fuhr er fort.

„Wieso überrascht dich das?“

„Nun, sie können richtige kleine Nervensägen sein.“

„Trotzdem sind sie absolut goldig. Und außerdem sollte man mit Kindern immer geduldig und nachsichtig sein. Nicht streng und engstirnig und ohne Verständnis.“ Und, und, und – sie hätte diese Liste sicher noch um ein paar hundert Adjektive fortsetzen können.

Die Wäsche, hauptsächlich Sachen der Mädchen, war nun komplett zusammengelegt. Da sie jetzt nicht ins Kinderzimmer gehen konnte, stellte Kira den Korb an den Fuß der Treppe, kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an das andere Ende der Couch.

„Marla hat nicht viel von ihren Eltern erzählt. Dennoch habe ich eine gewisse Ahnung davon, wie dein Vater gewesen sein muss. Wurde es wenigstens besser, als Marla aus dem Haus war?“

„Besser?“, wiederholte Kira und lachte freudlos. „Sicher nicht. Im Gegenteil, ich wurde sozusagen für ihre Missetaten bestraft.“

„Du wurdest bestraft, weil deine Schwester ein Kind bekam und durchbrannte?“

„Natürlich nicht direkt. Mein Vater war auch bei Maria sehr streng gewesen. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, wie er sich mir gegenüber verhielt.“

„Sperrte er dich ein? Hat er dir etwa einen Keuschheitsgürtel angelegt?“

Kira lachte erneut. „Das nicht gerade. Aber ich durfte absolut kein eigenes Leben führen. Er verlangte, dass meine Mutter mich morgens zur Schule brachte und mittags wieder abholte. Ich konnte nirgendwo hingehen, ohne dass einer der beiden mitkam. Nie durfte ich mit einem Jungen ausgehen oder überhaupt an etwas teilnehmen, wo auch Jungen anwesend waren.“

„Ohne jede Ausnahme?“

„Ja. Wenn ein Junge mich anrief und etwas über ein gemeinsames Schulprojekt wissen wollte, war das Projekt für mich erledigt.“

„Also nur Freundinnen?“

„Ja. Allerdings hatte ich nicht viele. Je älter ich wurde, desto öfter wollten die Mädchen etwas unternehmen, wo keine Eltern anwesend sein sollten. Auch mit Jungen. Da ich das nicht durfte …“

„Blieben dir am Ende nicht einmal die Freundinnen?“

„So ungefähr. Natürlich sahen wir uns in der Schule, aber …“

„Oh je“, unterbrach Cutty sie. „Ich ahnte, dass Marlas und mein Verhalten böse Auswirkungen für dich haben würde. Aber ich wusste nicht, dass es so schlimm war. Ich nehme an, du warst weder auf dem Abschlussball deines Jahrgangs oder danach auf Ehemaligentreffen?“

„Nein, bei keinem einzigen. Ich durfte nirgendwohin, wo ein Junge mich in die Finger bekommen konnte“, bestätigte Kira.

Cutty schwieg eine ganze Weile und sah sie mit seinen grünen Augen eindringlich an. Dann legte er die Hand auf ihren Nacken, drückte ihn leicht und rieb ihn mit dem Daumen. „Es tut mir unendlich leid, dass dein Leben durch mich noch schwieriger geworden ist, als es ohnehin schon war.“

„Lass nur. Wer sagt denn, dass ich überhaupt zu einem Abschlussball oder einem Ehemaligentreffen eingeladen worden wäre?“

„Glaub mir, du wärst es bestimmt“, versicherte er ihr und streichelte ihren Hals so sinnlich, dass es Kira ganz warm wurde.

„Ich finde, ich bin dir solch einen Ball schuldig“, fügte er heiser hinzu.

„Mindestens einen“, flüsterte sie scherzhaft.

Plötzlich stand ihr der uralte Teenagertraum wieder vor Augen, dass sie mit einem so gut aussehenden Mann zu einem Abschlussball ging, dass alle neidisch wurden. Dass er den ganzen Abend nur mit ihr tanzte und ihr tief in die Augen blickte – genau wie Cutty in diesem Moment. Dass er sie anschließend nach Hause brachte und sie zum Abschied küsste.

Als ahnte Cutty, was in ihr vorging, zog er ihren Kopf langsam heran. So nahe, dass er seinen Mund auf ihre Lippen drückte und ihr jenen Gute-Nacht-Kuss gab, nach dem die junge Kira sich gesehnt hatte. Sie seufzte leise.

Cutty ließ die Hand hinter ihrem Kopf liegen und legte den anderen Arm um ihren Köper. Er hielt sie gut fest, öffnete die Lippen und vertiefte den Kuss.

Kira reagierte sofort. Sie öffnete ebenfalls die Lippen und genoss das Gefühl seines muskulösen Arms auf ihrem Rücken und seiner Hand, die sie behutsam massierte.

Sie öffnete die Lippen weiter. Cutty schob die Zunge dazwischen, strich an den Zähnen entlang und berührte sinnlich ihre Spitze.

Kira wehrte sich nicht, sondern erwiderte jeden einzelnen Schritt. Es war ein ständigen Geben und Nehmen.

Cutty zog sie noch enger an sich, bis sie halb auf seinem

Schoß saß und an seiner kräftigen Brust lag. Sie schlang die Arme um seinen Körper und legte die Hände auf seine breiten muskulösen Schultern. Es gefiel ihr, wie ihre Brüste sich an ihn drängten und die Spitzen sofort fest wurden.

Dass ein Kuss so leidenschaftlich und erregend sein konnte! Lustvoll gab sie sich dieser Sinnlichkeit hin, öffnete den Mund noch weiter und verschlang ihre Zunge zu einem leidenschaftlichen Liebestanz mit seiner. Ihr ganzes Inneres begann zu brennen und erfüllte sie mit einer Lust und einem Verlangen, von dessen Existenz sie bisher nicht einmal gewusst hatte.

Sie hatte ein wenig Angst davor, wohin es führen könnte, wenn sie sich restlos fortreißen ließ.

Vielleicht spürte Cutty es. Oder ihm war derselbe Gedanke gekommen. Jedenfalls beendete er den Kuss gleichzeitig mit Kira.

„Vielleicht sollten wir dies als Trost für einen versäumten Abschlussball betrachten“, schlug er vor, als brauchte er jedes Mal einen Vorwand, um Kira zu küssen.

„Soll ich dir von der Mathe-Freizeit erzählen, an der ich ebenfalls nicht teilnehmen durfte?“, scherzte sie, als könnte er sie auch dafür entschädigen, wenn er schon gerade dabei war.

Cutty lachte leise, küsste sie aber nicht. Allerdings ließ er sie auch nicht gehen, und Kira rührte sich nicht.

Nachdem er ihr eine ganze Weile tief in die Augen gesehen hatte, sagte er endlich: „Morgen Abend gibt Northbridge eine Art Empfang für Ad und mich.“

„Weil ihr diese Familie aus dem Feuer gerettet habt?“

„Ja. Begleitest du mich?“

„Natürlich. Jemand muss schließlich die Zwillinge in Schach halten, während du geehrt wirst.“

„Nein, so meinte ich es nicht. Ein Stück die Straße hinab wohnt ein junges Mädchen, das manchmal den Babysitter spielt. Wir könnten sie anrufen, damit wir beide allein auf den Empfang gehen können.“

„Weil ich so viele Tänze in der High School versäumt habe?“ Cutty fragte doch nicht etwa aus Schuldgefühl oder Mitleid. Verständlich wäre es, nach allem, was sie ihm erzählt hatte.

„Nein, weil ich dich gern dabeihaben möchte.“

Es klang so aufrichtig, dass unmöglich ein anderer Grund dahinter stecken konnte. Deshalb verflogen Kiras Zweifel auf der Stelle.

„Ich komme gerne mit“, hörte sie sich sagen, obwohl ihr tausend Gründe einfielen, es nicht zu tun.

„Dann ist es also abgemacht.“ Er küsste sie erneut, und Kira wurde im selben Moment klar, dass ihre Beziehung ein neues Stadium erreicht hatte. Ein persönlicheres Stadium.

Das sie niemals hatte erreichen wollen.

Entschlossen richtete sie sich auf. „Dann solltest du jetzt lieber schlafen gehen, damit du für das große Ereignis morgen Abend fit bist“, erklärte sie und wünschte, es hätte nicht so geklungen, als sollte er noch für viel mehr fit sein.

Cutty lächelte träge und ließ sie wissen, dass er es gemerkt hatte. „Hm“, machte er viel sagend, ließ sie aber los. „Ich werde Tiffy gleich morgen früh anrufen und sie fragen, ob sie Zeit hat.“

„Okay“, sagte Kira und stand auf. „Dann bis morgen.“

Sie bestand darauf, dass Cutty sitzen blieb, und eilte durch die Küchentür hinaus in den Garten. So gern sie noch mehr Zeit mit ihm verbracht hätte, sie fürchtete, er würde sie erneut küssen, wenn er sie zu Tür begleitete. Und dieser Gedanke war viel zu verlockend.

Während sie zu ihrem Apartment ging, überlegte sie, ob diese eiserne Selbstbeherrschung, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, nicht manchmal eher schädlich als nützlich war.

6. KAPITEL

„Beruhige dich, Kira. Das ist doch nicht so wichtig!“

„Und ob das wichtig ist. Betty hat mir erzählt, wie Marla den Haushalt führte. Sie hat mir genau erklärt, wie ich alles erledigen muss. Und jetzt kommt sie her und stellt fest, dass ich immer noch nicht die Kurve kriege.“

„Kina nennt“, stellte Mel fest.

„Nennt“, bestätigte Mandy.

Die Zwillinge waren nach ihrem Mittagsschlaf aufgewacht. Sie saßen in ihren Hochstühlen bei Milch und Keksen und beobachteten Kira, die frenetisch hin und her rannte und die Küche aufräumte.

Betty hatte Cutty angerufen und erzählt, dass sie etwas Zeit hätte und gern mit den Mädchen in den Park gehen würde. Cutty hatte ihr vorgeschlagen, sofort zu kommen, damit Kira ein bisschen Atem schöpfen konnte.

Sobald er aufgelegt hatte, war die Hölle ausgebrochen.

Mel und Mandy schienen es sehr lustig zu finden.

Cutty war weniger begeistert.

„Ein paar Teller im Spülbecken, ein paar Krumen auf der Anrichte, Spielzeug auf dem Wohnzimmerboden – was macht das schon. Auf jeden Fall sieht es hier ordentlicher aus, als bevor du kamst.“

„Aber nicht so ordentlich, wie Marla all es hatte. Betty darf dieses Durcheinander niemals sehen“, beharrte sie.

Cutty schüttelte den Kopf. „Das ist kein Durcheinander.

Das Haus ist einfach bewohnt. Aber wenn es dir lieber ist, setz die Mädchen meinetwegen in ihren Buggy. Ich werde draußen auf Betty warten. Dann braucht sie nicht hereinzukommen.“

„Das könnte ziemlich unhöflich wirken“, gab Kira zu bedenken. „Und wenn sie die Zwillinge zurückbringt? Sie möchte die Kleinen bestimmt ins Haus begleiten.“

„Bis dahin kannst du alles aufgeräumt haben, wenn du unbedingt willst. Betty wird sicher nicht mit der Lupe herumgehen.“

„Aber es wird nicht so sein, wie Marla es gewollt hätte“, wiederholte Kira mehr zu sich selbst und dachte über Cuttys Vorschlag nach. „Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig“, erklärte sie und eilte hinaus, um den Buggy zu holen.

Cutty blickte ihr gedankenvoll nach. Je länger Kira bei ihm in Northbridge war, desto deutlicher merkte er, dass sich zwei unterschiedliche Seiten in ihr stritten. Einerseits fürchtete sie, dass sie ihre Arbeit nicht gut genug erledigte, und war nie mit sich zufrieden. Diese Seite schien in einem ständigen Wettstreit mit Marla zu liegen.

Die andere Seite von ihr war dagegen eher geneigt, die Zügel einmal schleifen zu lassen. Dieser Kira ging es mehr darum, die Zuneigung der Zwillinge zu erlangen, als das Haus blitzsauber zu halten. Sie kümmerte sich erst um Mel und Mandy – und um ihn –, bevor sie sich an das schmutzige Geschirr oder den staubigen Boden machte.

Diese Kira gefiel ihm erheblich besser. Es war ihre sanfte Seite, die lustige, anziehende. Die ein bisschen verschrobene.

Es war die Seite, die ihn alle Vorsicht außer Acht lassen konnte.

Und das durfte nicht sein. Es fiel ihm sowieso immer schwerer, auch an die andere Seite von ihr zu denken. Diejenige, die sich Marla als Vorbild genommen hatte. Und das durfte er auf keinen Fall vergessen.

Gewiss, Kira konnte außerordentlich liebevoll und fürsorglich sein. Doch selbst wenn ein Teil von ihr sich Tom Wentworth’ Erziehung entzogen hatte, so blieb doch ein Teil übrig, dem dies nicht gelungen war. Cutty wusste aus bitterer Erfahrung, wohin das führen konnte.

Nur schien er bei Kira auf einem Auge blind zu sein. Vor allem, wenn Tom Wentworth’ Einfluss sich tief unter der Oberfläche verbarg. Und diese Oberfläche war außerordentlich reizvoll.

Nicht nur, weil Kira wunderschön war. Immer wenn er in ihre großen blauen Augen blickte, war ihm, als sehe er den klaren Himmel an einem trägen Sommernachmittag. Es gefiel ihm, wie ihr blondes Haar in der Sonne glänzte. Wie es auf ihre Schultern fiel, wenn sie es offen trug. Sie hatte einen fantastischen Körper, bei dessen Anblick ihm jedes Mal die Finger zuckten.

Je besser er Kira kennenlernte, desto mehr Dinge entdeckte er an ihr, die ihm neben ihrem tollen Aussehen gefielen.

Wie lange war es her, dass er morgens aufgewacht war und sich auf den Tag gefreut hatte? Sehr, sehr lange Zeit.

Seit Kira hier war, begann jeder Morgen so. Er konnte es nicht erwarten, sie zu sehen. Ihre Stimme zu hören, ihren frischen Blumenduft zu riechen. Zu erfahren, was sie zum Lachen brachte, was ihr gefiel und was sie wütend machen konnte. Er wollte mit ihr zusammen sein, gemeinsam mit ihr essen, sie necken und jeden Augenblick des Tages und jedes Ereignis mit ihr teilen.

Und es war schön, einfach mit ihr dazusitzen und zu reden. Ja, er konnte sich gut mit Kira unterhalten. Sich ihr anvertrauen oder ihr zuhören. Und die Gute-Nacht-Küsse waren auch keine lästige Pflicht.

Ja, er hatte tatsächlich eine Schwäche für Kira.

„Be-ie!“, rief Mandy in diesem Moment und riss Cutty aus seinen Gedanken. Seine langjährige Haushälterin hielt mit ihrem Wagen am Straßenrand an. Sie stieg aus, eilte winkend herbei und küsste die beiden Mädchen auf die Wange.

„Oh, meine kleinen Süßen“, flüsterte sie herzlich. „Ihr habt mir so gefehlt.“

„Be-ie!“, kreischte Mel, und Mandy hüpfte glücklich in ihrem Sitz.

„Was tun Sie denn hier draußen?“, wandte Betty sich an Cutty. „Sie sollen Ihren Fuß doch hochlegen“, fuhr sie vorwurfsvoll fort.

„Ich weiß. Aber ich brauchte etwas frische Luft. Deshalb dachte ich, ich könnte ebenso gut hier auf Sie warten.“

„Ist Marlas Schwester noch da?“

Marias Schwester

So dachte er nie an Kira. Aber vielleicht war das eine Möglichkeit, seine Schwäche für die Frau zu überwinden. Indem er in ihr nur Marlas Schwester sah.

„Kira ist im Haus und räumt hinter uns auf“, antwortete Cutty. „Sie wird Sie bestimmt begrüßen, wenn Sie zurückkehren.“

„Park!“, forderte Mandy genau im richtigen Moment.

„Ich fürchte, vorher bleibt keine Zeit“, sagte Betty. „Ich kann die Kleinen unmöglich noch länger warten lassen.“

„Es sieht ganz so aus“, stimmte Cutty ihr zu.

„Oh, ich würde euch am liebsten fressen“, fuhr sie fort und küsste die Zwillinge auf den Kopf. „Wir sind ungefähr in einer Stunde zurück. Gehen Sie wieder ins Haus und legen Ihren Fuß hoch“, rief sie über die Schulter und bog mit dem Buggy auf den Gehsteig.

Cuttys Knöchel begann tatsächlich zu pochen. Deshalb gehorchte er bereitwillig.

Marlas Schwester, dachte er, während er die Verandastufen hinaufstieg. Da entdeckte er Kira durch das Fenster. Sie war im Wohnzimmer und warf einen Arm voll Spielzeug in die Kiste in der Ecke. Anschließend rückte sie die Nippsachen auf dem Tisch daneben zurecht und beugte sich hinab, um ein T-Shirt aufzuheben, auf das Mandy vorhin Saft geschüttet hatte. Alles in Windeseile.

Cutty schüttelte seufzend den Kopf und überlegte, ob Kira nicht merkte, dass sie entschieden übertrieb. Plötzlich stutzte sie, sah von dem T-Shirt zum Eingang und wieder zurück und blickte auf die Uhr auf dem Sims.

Dann eilte sie zur Couch, hob ein Kissen auf und versteckte das T-Shirt zu seiner Verblüffung darunter.

Cutty musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.

Und im nächsten Moment kehrte seine Schwäche für sie zurück. Nein, dies war eindeutig Kira, nur Kira – ganz gleich, wessen Schwester sie war.

Die Feier zu Ehren von Cutty und Ad fand in der Aula der Schule statt. Der Saal war zum Bersten voll. Cutty, Ad, der Bürgermeister von Northbridge und der gesamte Stadtrat nahmen hinter einem Pult auf dem Podium Platz, und mehrere Redner lobten die beiden Männer für ihre Tapferkeit, mit der sie eine ganze Familie vor dem Feuertod gerettet hatten. Sogar der Hund, den Cutty und Ad aus den Flammen gerettet hatten, bevor ein Balken hinabstürzte und sie selbst verletzte, war anwesend.

Es war eine schöne ungezwungene Feier. Kira, die in der ersten Reihe saß, freute sich für Cutty. Sie war froh, dass das, was er gemeinsam mit Ad geleistet hatte – und was er sonst für die Stadt tat –, anerkannt und gewürdigt wurde. Er hatte hier wirkl ich eine Heimat und im weitesten Sinn eine Familie gefunden.

Am Ende der Feier erhielt Ad als Erster seine Verdienstmedaille. Seine Dankesrede war kurz und humorvoll. Doch dann wurde er ernster und herzlicher und fügte einen besonderen Dank an Cutty hinzu, der ihm das Leben gerettet hatte.

Kira war sicher, dass kein Auge im Saal trocken blieb, während er Cutty öffentlich seine Freundschaft und Zuneigung versicherte und ihm nun seinerseits eine Verdienstmedaille überreichte.

Cutty war offensichtlich ebenfalls gerührt. Er humpelte mit seinem Stock zum Podium, und die beiden Männer umarmten sich kurz. Dann griff Cutty zum Mikrofon.

Er blickte einen Moment auf die Medaille, wie um die Inschrift zu lesen. Doch Kira vermutete, dass er seine Gefühle wieder unter Kontrolle bekommen wollte. Dies bestätigte sich, als er sich kurz darauf räuspern musste, bevor er sprechen konnte.

„Das war wirklich sehr nett“, begann er unvorbereitet, aber ohne sichtbares Lampenfieber. Er bedankte sich nun seinerseits für alles, was so viele Leute in Northbridge all die Jahre für ihn getan hatten, und erwähnte, wie viel die kleine Stadt und ihre Bewohner ihm bedeuteten.

Kira hörte aufmerksam zu und nutzte die Gelegenheit, um den eindrucksvollen Mann mit den außerordentlich breiten Schultern in dem hellgrünen Hemd ungehindert zu betrachten. Cutty trug heute Abend eine grüne Krawatte, die die Farbe seiner erstaunlichen Augen betonte. Die dunkle Hose saß perfekt und umspannte seine schmalen Hüften. Er hatte Kira vorhin ein Kompliment für ihre Seidenbluse und die edle Hose gemacht, die sie trug, und erwähnt, wie hübsch das Haar auf ihre Schultern fiel. Aber er selbst war auch nicht zu übersehen.

Er sprach nicht lange. Doch zu ihrer Überraschung galten seine letzten Worte ihr.

Cutty suchte ihren Blick in der Menge und erklärte: „Außerdem möchte ich Kira Wentworth danken, die letzte Woche unerwartet auf meiner Tür schwelle auftauchte und mir anbot, die Zwillinge und mich während ihrer Ferien zu versorgen. Sie ist wie ein Sonnenstrahl in unser Haus gekommen und soll wissen, wie sehr ich es schätze, was sie für uns tut.“

Seine Worte waren kein bisschen unpassend. Doch in dem Lächeln, das er ihr sandte, lag ein Hauch von Intimität, der ihr die Röte in die Wangen trieb.

Zum Glück beendete Cutty in diesem Moment seine Ansprache. Bei dem Applaus, den Hochrufen und den stehenden Ovationen, die nun folgten, bemerkte hoffentlich niemand, dass sie dunkelrot geworden war.

Anschließend fand ein Abendessen in der Turnhalle statt. Zwar unterhielten sich zahlreiche Leute auch mit ihr. Doch Cutty und Ad standen im Mittelpunkt und kamen bei dem ständigen Händeschütteln kaum zum Essen.

Es war beinahe zehn Uhr, als der Abend zu Ende ging. Während Ad mit Cutty und Kira zum Parkplatz ging, sagte er: „Für morgen Abend ist alles geregelt. Meine Schwester kann es gar nicht erwarten, die Zwillinge unter ihre Fittiche zu nehmen.“

Cutty verzog das Gesicht. „Ich hatte Kira erst auf dem Heimweg von der Party erzählen wollen, Junge. Es sollte eine Überraschung sein. Du hast es mir verdorben, mein Freund“, sagte er halb im Scherz, halb im Ernst.

Ad ließ sich nicht beirren. „Der Knabe hat nämlich morgen Geburtstag“, fuhr er ungerührt fort. „Die Zwillinge bleiben bis zum nächsten Morgen bei meiner Schwester. Ich schließe abends das Restaurant und schmeiße die größte Party, die Cutty jemals erlebt hat.“

„Du hast morgen Geburtstag?“, fragte Kira verblüfft.

„Es lässt sich nicht leugnen.“ Cutty verzog erneut das Gesicht.

„So ist es. Geburtstage sind bei uns eine große Sache. Wir feiern sie ausgiebig. Sie kommen doch auch?“, wandte Ad sich an Kira.

Bevor sie antworten konnte, sagte Cutty: „Ich hoffe sehr, dass Kira mitkommt. Aber ich hatte sie fragen wollen, wenn wir allein sind.“

„Aha“, sagte Ad und lächelte wissend. Sie hatten Cuttys Wagen erreicht. „Also, dann bis morgen Abend um acht. Und keine Ausrede, Kira. Bringen Sie Ihre Tanzschuhe mit – auch wenn Cutty zurzeit nicht tanzen kann. Es wird Musik, Essen und viel zu trinken geben.“

Sie verabschiedeten sich, und Cutty und Kira stiegen ein.

„Tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast“, sagte er und ließ den Motor an.

„Das macht nichts. Ich wünschte nur, ich hätte früher gewusst, dass du morgen Geburtstag hast.“

„Ich kann den ganzen Trubel nicht leiden. Aber nachdem Ad meinen Plan verdorben hat, dir die Party auf meine Weise schmackhaft zu machen, frage ich dich offen heraus: Begleitest du mich?“

„Wie hattest du mir die Party denn schmackhaft machen wollen?“, erwiderte Kira, anstatt seine Frage zu beantworten.

„Ich hatte eine kleine Fahrt mit dir vor und wollte dir die Brücke zeigen, der Northbridge seinen Namen verdankt.“

Kira strahlte über das ganze Gesicht bei dem Gedanken, dass Cutty einen Plan geschmiedet hatte, um den Abend zu verlängern.

„Ich würde die Brücke gern sehen“, versicherte sie.

„Und was ist mit der Party?“

„Darüber denke ich erst nach, nachdem ich mir die Brücke angesehen habe“, antwortete sie, als gäbe es auch nur den geringsten Zweifel, dass sie die Einladung zu seiner Geburtstagsfeier nicht annehmen könnte.

„Einverstanden“, sagte Cutty und bog auf die Straße.

„Es gibt also wirklich eine Nordbrücke?“, fragte Kira.

„Ja, eine alte Eichenholzbrücke nördlich der Stadt. Ehrlich gesagt, die Brücke ist eindrucksvoller als der Fluss, den sie überquert. Der ist höchstens noch ein Rinnsal.“

Sie hatten die Stadtgrenze erreicht. Cutty fuhr noch etwa zehn Kilometer weiter. Dann bog er in eine schmalere, nicht so gut befestigte Straße und folgte ihr durch ein Gelände, das immer dichter bewaldet wurde. Endlich öffnete sich eine Lichtung.

Die Brücke war nur wenige Meter entfernt. Cutty schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus, damit sie das Bauwerk im Mondschein erkennen konnten.

Es war eine Holzbrücke mit einem Geländer aus gekreuzten Latten zu beiden Seiten und Pfosten, die ein Schindeldach trugen.

, Jetzt fehlt nur noch ein Pferdefuhrwerk, das darüber rattert“, stellte Kira fest. Die Brücke schien direkt aus einem Geschichtsbuch zu stammen.

„Genau dafür war sie bestimmt, als sie vor neunundneunzig Jahren gebaut wurde. Nächstes Jahr können wir ihren hundertsten Geburtstag feiern.“

„Eine ähnliche überdachte Brücke habe ich einmal auf einer Reise nach Vermont gesehen. Vor wahren Urzeiten“, erzählte Kira.

Cutty drehte sich zu ihr und schob einen Arm über ihre Rückenlehne. „Weshalb warst du in Vermont?“

„Um die Eltern des Mannes kennen zu lernen, mit dem ich damals eng befreundet war. Ein totaler Reinfall. Es stellte sich her aus, dass er ein entsetzliches Muttersöhnchen war.“

„Nach allem, was ich über dein Zuhause erfahren habe, wundert es mich, dass du überhaupt eine so ernsthafte Beziehung aufbauen konntest, bei der man die Eltern des anderen kennenlernt. War dein Vater etwa einverstanden?“, fragte Cutty.

„ Nicht wirklich, er sprach sechs Monate kein Wort mehr mit mir. Aber da ich damals nicht mehr zu Hause wohnte, war mir das auch egal.“

„Du bist von zu Hause ausgezogen?“

„Ja, vor zwei Jahren. Ich blieb, bis ich mein Diplom hatte. Solange ich unter dem Dach meines Vaters lebte, konnte ich tatsächlich nicht viel ausgehen. Weil es auf dem College nicht ganz so reglementiert wie auf der Schule zugeht, hatte er aber ein bisschen weniger Kontrollmöglichkeiten. Das gab mir die Freiheit, hin und wieder mit einem Mann auszugehen. Na ja, aber mehr als Mensa oder eine Tasse Kaffee zwischen zwei Vorlesungen war selten drin. Mein Vater hielt den Daumen drauf, so gut es ging.“

„Und als du zwanzig wurdest? Da ließ dein Vater dich immer noch nicht ausgehen?“

„Es gab kein magisches Alter, ab dem er mich automatisch als erwachsene Frau betrachtete, die ein Recht auf ein eigenes Leben hatte. Dieser Augenblick ist nie gekommen. Ich sollte hervorragende Leistungen nach Hause bringen, damit er gut dastand. Nur darauf kam es ihm an.“

„Aber nach dem Diplom hast du dir eine eigene Wohnung gesucht.“

„Ja.“

„Und dein Vater war einverstanden?“

„Nein, aber das war mir egal. Er war so beleidigt, dass ich noch nicht einmal zu Weihnachen nach Hause kommen durfte. Er sprach Wochen kein Wort mit mir.“

„Das passt zu dem Mann, den ich kaum kannte und nicht mochte“, sagte Cutty kläglich.

„Schließlich musste mein Vater einsehen, dass sein Schweigen mich nicht zurückbringen würde. Außerdem merkte er, dass ich auch ohne seine Kontrolle hart als wissenschaftliche Assistentin arbeitete und meinen Doktortitel machte. Ich hatte also auch mit eigener Wohnung den Kurs beibehalten, den er von mir erwartete.“

„Das heißt, obwohl du ausgezogen warst, nahmst du das Leben nicht etwas leichter?“

Kira lachte freudlos. „Nein, bestimmt nicht. Ich wohnte in dem Apartment, in dem ich heute noch lebe, arbeitete tagsüber im Labor und schrieb nachts und am Wochenende an meiner Dissertation.“

„Und als dieser Mr. Vermont die Bildfläche betrat?“

Hatte das ein bisschen eifersüchtig geklungen? Kira lächelte über diese Möglichkeit.

„Er war der Assistent meines Professors und mein Ansprechpartner für die Diplom-Arbeit. Solange ich daran schrieb, verhielt er sich neutral. Erst als ich fertig war, lud er mich ein.“

„War er dein erster … Freund?“

„Er war nicht der erste Mann, den ich geküsst habe, wenn du das meinst. Was alles andere betrifft … ja.“ Er war auch der Letzte gewesen. Aber das brauchte Cutty nicht zu wissen. „Trotzdem kannst du ihn vergessen. Ich wollte keinen Mann, der mich ständig mit seiner Mutter vergleichen würde. Meine eigene Mutter hatte ihr Leben lang vergeblich versucht, alles wie die erste Frau meines Vaters zu tun. Darauf konnte ich verzichten.“

„Deshalb hast du Schluss gemacht?“

„Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich wollte ich sein, nicht die Wiederkehr von einer Frau, die ihm all es bedeutete.“ Plötzlich erkannte Kira, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen ihrer jetzigen Situation und der damaligen gab.

„Es war bestimmt richtig. Ich bin froh darüber“, sagte Cutty mit jenem reizenden Lächeln, das schon manche Spannung gelöst hatte.

„Weshalb bist du froh, dass ich mich von Mark getrennt habe?“, fragte sie verblüfft.

„Weil du sonst vermutlich nicht nach Northbridge gekommen wärst und ich morgen allein zu meiner Geburtstagsparty gehen müsste.“

Wieder blitzten seine Augen schelmisch. Kira konnte es im Mondschein sehen. „Ich habe noch nicht zugesagt, dich zu der Party zu begleiten.“

„Du würdest tatsächlich einen Mann an seinem Geburtstag im Stich lassen?“, fragte Cutty, als wäre das ein unvorstellbarer Gedanke.

„Vielleicht habe ich einen boshaften Charakterzug, den du noch nicht bemerkt hast.“

Er lächelte breit. „Dann zeig ihn mir mal“, sagte er in einem Ton, als meinte er etwas viel Verlockenderes. Plötzlich schob er seinen Sitz zurück, so weit es ging, und zog Kira zu sich herüber.

Ehe sie sich versah, saß sie halb auf seinem Schoß, wehrte sich aber nicht. Stattdessen machte sie das Spiel mit. „Ich zeige ihn doch nicht auf Befehl.“

„Vielleicht kann ich dich dazu überreden“, schlug er vor und strich mit der Nasenspitze über ihre Wange.

„Ich bin nicht zu überreden“, antwortete Kira atemlos. Es war wunderschön, in Cuttys Armen zu liegen und sich von ihm necken zu lassen.

Sie schloss die Augen und genoss das Prickeln, das von ihrem Kinn zu ihrem Ohrläppchen und seitlich zu ihrem Hals lief. Dort löste ein Kuss das federleichte Streicheln seiner Nase ab. Es war ein kurzer zarter Kuss, aufgeheizt von seinem Atem, der sie innerlich erwärmte.

Anschließend küsste Cutty ihr Kinn und ihre Unterlippe, bevor er ihren Mund ganz in Besitz nahm. Aber nur spielerisch. Ihre Lippen berührten sich und lösten sich wieder. Und noch einmal. Erst beim dritten Mal küsste er sie richtig.

Cutty legte die Hand an ihr Gesicht und umschloss ihre Wange. Er öffnete die Lippen, drängte Kira, seinem Beispiel zu folgen, und begann, mit ihrer Zunge zu spielen.

Kira strich mit den Fingern über den starken Muskel an seinem Hals zu dem dichten Haaransatz unten an seinem Nacken. Sie saß etwas verrutscht auf seinem Schoß, und ihre Brüste drängten sich an die Innenseite seines Arms. Sie spürte, wie die Knospen fest wurden.

Sie überlegte, ob Cutty es ebenfalls fühlte. Ihre Neugier wurde rasch befriedigt, denn in diesem Moment zuckte er leicht zurück. Es war nur eine winzige Bewegung. Doch sie reichte, damit sie sich nach mehr sehnte. Plötzlich wollte sie nicht nur seinen muskulösen Arm an ihren Brüsten spüren.

Cutty küsste sie unablässig weiter. Er ließ die Hand von ihrem Gesicht zu ihrem Mund und zu ihrer Schulter gleiten und umschloss schließlich eine ihrer Brüste.

Kira hielt lustvoll den Atem an und drängte die feste Spitze tiefer in seine Hand.

Er schloss die Finger herum, und Kira musste wahrlich an sich hallen, diesem sexy Mann nicht sofort sämtliche Klamotten vom Leib zu reißen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so begehrt gefühlt. Es schien, als ob ihre Sinnlichkeit erst in diesem Moment zum Leben erweckt worden wäre.

Um ihm noch näher zu sein, löste sie seine Krawatte und zog sie fort. Anschließend öffnete sie die Knöpfe seines Hemdes und schob die Hände hinein. Seine Muskeln strafften sich unter seiner heißen glatten Haut.

Plötzlich merkte Kira, dass sich etwas hartnäckig an ihre Hüfte presste. Cutty stöhnte leise tief in der Kehle. Er löste die Lippen von ihrem Mund, küsste erneut ihren Hals und knabberte an ihrem Ohrläppchen.

Kira legte den Kopf zurück und gab den Weg zu ihrer Halsgrube frei. Cutty schob die Finger unter ihre Seidenbluse und ihren Spitzen-BH und umschloss die volle Rundung.

Es war einfach wunderbar. Alles, was bisher tief in ihr geschlummert hatte, wurde durch die Berührung seiner Hand geweckt. Alle Nervenfasern ihres Körpers prickelten plötzlich vor Begehren.

Leidenschaftlich presste Kira die Lippen auf Cuttys Mund und bewegte ihre Hüfte sinnlich hin und her. Solch eine Wollust, die alle Hemmungen, alle Vernunft und alle Vorsicht beiseite fegte, hatte sie noch nie erlebt.

Es passte überhaupt nicht zu ihr, und ein Teil von ihr erstarrte schon bei dem Gedanken daran.

Erstarrte und zog sich an einen sicheren Ort zurück.

Wo sie nicht in Versuchung geriet, etwas zu tun, das sie später bereuen könnte.

„Vielleicht sollten wir es etwas langsamer angehen“, hörte sie sich sagen.

Cutty hielt sofort inne und sah sie eindringlich an. „Okay“, erklärte er verwirrt.

„Es geht mir alles ein bisschen zu schnell und …“, stotterte sie und war überhaupt nicht sicher, ob sie dies wirklich beenden wollte. Ihr Körper schrie nach mehr, während ihr Verstand in eine völlig andere Richtung ging.

„Das ist schon in Ordnung“, versicherte Cutty mit so heiserer sinnlicher Stimme, dass sie am liebsten gleich wieder angefangen hätte. „Was sollte auch dabei herauskommen? Dass wir uns wie zwei Teenager auf der Rückbank vergnügen?“

Oh ja, lass uns das tun, hätte Kira am liebsten geschrien. Stattdessen machte sie sich los und rutschte schweigend auf den Beifahrersitz zurück.

Sie sah zu, wie er mit seinen großen Händen, die eben noch auf ihrer Haut und ihren Brüsten gelegen hatten, die Hemdknöpfe wieder schloss, und ihr Mund wurde trocken.

„Du steigst mir richtig zu Kopf“, sagte sie leise und schloss die Augen, um Cutty nicht länger ansehen zu müssen.

Er lachte spöttisch. „Wie zu viel Alkohol, ja?“

„Wie ganz entschieden zu viel. Mir ist plötzlich, als wäre ich jemand anders. Jemand, den ich überhaupt nicht kenne. Ich vergesse alles, lasse mich einfach fortreißen und …“

„Ich weiß. Mir geht es genauso.“

Es lag so viel Verständnis, so viel Mitgefühl in seiner Stimme, dass Kira sich ein wenig entspannte und die Augen wieder öffnete.

Cuttys Hemd war geschlossen und steckte in seinem Hosenbund. Er hatte eine Hand auf das Lenkrad gelegt und sich zu ihr gedreht.

„Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht“, gab er zu. „Ich fand es sehr schön.“

„Vielleicht zu schön.“

Er lachte leise. „Das gibt es nicht.“

Kira war nicht sicher, ob sie ihm zustimmen sollte. Sie hatte sich eben falls sehr gut ge fühlt. Besser als je zuvor. Doch gleichzeitig hatte der Gedanke, sich Cutty völlig hinzugeben, sie furchtbar erschreckt.

Cutty schien ihre Zweifel nicht zu bemerken, denn er ließ den Motor an. Beide sprachen auf der Rückfahrt kein Wort. Doch es war keine gespannte Stille, sondern ein nachdenkliches Schweigen. Was zwischen ihnen geschehen war, hing noch in der Luft.

Erst als Cutty in die Einfahrt bog und den Motor abstellte, sah er Kira mit seinen grünen Augen wieder an.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob du mich morgen zu meiner Geburtstagsparty begleitest.“

Kira überlegte, ob es nicht klüger wäre, mit den Zwillingen zu Hause zu bleiben. Aber dann würde er seinen Geburtstag ohne sie feiern. „Ja, ich komme mit“, sagte sie endlich.

Sie gingen ins Haus und erfuhren, dass Mel und Mandy problemlos zu Bett gegangen waren und seitdem keinen Laut von sich gegeben hatten. Während Cutty die Babysitterin zur Tür brachte, schlüpfte Kira aus der Hintertür und eilte zu ihrem Apartment. Sie hatte zu viel Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn Cutty und sie sich gute Nacht wünschten.

Während sie sich auszog und ins Bett kletterte, musste sie ständig daran denken, was heute Abend geschehen war.

Oder was nicht geschehen war.

Und sie wünschte, sie hätte dieses eine Mal den Mut aufgebracht, das zu tun, was sie tief im Herzen wirklich wollte.

7. KAPITEL

„Huhu!“

Kira blickte beim Klang der Stimme an der Vordertür erschrocken auf. Sie kniete unten an der Treppe auf dem Flur, der vom Eingang einzusehen war. Deshalb hatte die Besucherin nicht geläutet, sondern sich durch Rufen bemerkbar gemacht.

„Betty!“, rief sie. Sie stand auf und ließ die Haushälterin herein. „Ich wusste nicht, dass Sie kommen würden“, fuhr sie fort und versuchte, erfreuter zu klingen, als sie über das Erscheinen der älteren Frau war.

Nicht dass sie Betty nicht gemocht hätte. Nur war das Haus immer noch nicht tiptop und schon gar nicht in diesem Augenblick nach der letzten Katastrophe.

„Ich konnte doch Cutt ys Geburtstag nicht vor übergehen lassen, ohne ihm Marlas Spezialkuchen zu backen“, erklärte Betty. Sie hielt eine Kuchenform in die Höhe und blickte sich suchend um.

Als sie Cutty nirgends entdeckte, fuhr sie vertraulicher fort. „Es ist sein zweiter Geburtstag ohne Marla, und er wird ihm sicher nicht so schwer fallen wie der erste. Trotzdem wollte ich ihm ein bisschen was von ihr bringen.“

Es war merkwürdig. Jedes Mal, wenn Kira den Eindruck hatte, dass Marlas Schatten etwas kleiner geworden war, tauchte irgendwas – oder irgendjemand – auf, der ihn wieder ausbreitete.

„Cutty ist im Garten und behält die Zwillinge im Auge, während ich das Glas hier auf sammele“, erklärte sie und deutete auf die Scherben hinter sich.

„Oh nein“, rief Betty entsetzt. „Das war doch nicht etwa Marlas Lieblingsvase?“

„Falls ihre Lieblingsvase dort auf dem kleinen Tisch gestanden hat, war sie es leider.“

„Sie hatte die Vase so geliebt. Und wie der Boden aussieht. Marla hatte sich solche Mühe gegeben, ihn auf Vordermann zu bringen. Was in aller Welt ist passiert?“

„Mandy schleuderte ein Spielzeug direkt auf die Vase. Ich habe noch versucht, es abzufangen, aber vergeblich“, gestand Kira und hatte Betty gegenüber fast ein schlechteres Gewissen als gegenüber Cutty. Der hatte nur geantwortet, so etwas käme vor, und vorgeschlagen, mit den Kindern in den Garten zu gehen, damit sie die Scherben in Ruhe zusammenkehren konnte.

„Ich hatte Marla gewarnt, dass die Vase dort nicht sicher wäre. Doch sie war so geschickt und vorsichtig, dass sie mich vom Gegenteil überzeugte. Selbst wenn Anthony seine Wutanfälle bekam, hatte sie all es unter Kontrolle, und nichts ging zu Bruch. Sie wäre todunglücklich.“

„Vielleicht kann ich die Vase ersetzen.“

„Das glaube ich kaum. Marla hatte sie in einem Antiquitätengeschäft gefunden. Wie auch viele andere hübsche Sachen. Sie hatte ein sicheres Händchen dafür, die einzige Perle zwischen lauter Ramsch herauszupicken. Deshalb bin ich hier auch immer sehr vorsichtig.“

Obwohl Betty nur vor sich hin plapperte, ohne die Absicht zu haben, Kira zu zeigen, wie ungeschickt sie im Vergleich zu Marla war, erreichte sie genau das. Hoffentlich merkte sie nicht, dass auch eine Glasbanane in der Obstschale auf der Küchenanrichte fehlte, die sie gestern selbst zerbrochen hatte. Betty sollte nicht glauben, dass sie wie ein Elefant im Porzellanladen durch das Haus stampfte und

Marias unersetzliche Sachen zerstörte.

„Wollen Sie nicht zu Cutty und den Mädchen in den Garten gehen?“, schlug Kira vor. „Ich mache hier rasch sauber und bringe anschließend ein paar Teller mit, damit wir Ihren Kuchen probieren können.“

„Es ist Marlas Kuchen. Den Ruhm für das Rezept kann ich nicht in Anspruch nehmen. Er wird Ihnen bestimmt schmecken. Alle mögen ihn. Er gewann vor drei Jahren den ersten Preis bei der Landesausstellung und erhielt sogar eine lobende Erwähnung beim nationalen Wettbewerb. Ihre Schwester hätte als Chef-Konditorin arbeiten können.“ Mit einem traurigen Blick auf die Glasscherben ging Betty in Richtung Hintertür.

Marlas Vase, Marlas Haus, Marlas Kuchen … Betty hätte sie nicht daran zu erinnern brauchen.

Allerdings gab es auch Augenblicke, in denen Kira vergaß, wie wenig sie Marla das Wasser reichen konnte. Zum Beispiel, wenn sie mit den Zwillingen spielte.

Oder in Cuttys Armen lag. Was ihr dann allerdings andere Schwierigkeiten einbrachte …

Vielleicht nahm sie manches ja inzwischen wirklich etwas leichter, wie Cutty ihr gestern erneut geraten hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Vorstellung.

Ads Bar und Restaurant sah aus wie ein aller englischer Pub. Die Beleuchtung war gedämpft, und die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt. Eine Messingstange lief unten an der langen Nussbaumtheke entlang. Gegenüber befand sich ein Spiegel mit abgeschrägten Kanten.

Das Restaurant, das normalerweise hundertfünfzig Gäste fasste, war heute restlos überfüllt. Cutty stand im Mittelpunkt des Interesses. Er saß an einem Ecktisch und hatte seinen Fuß auf einen zweiten Stuhl gelegt.

Eine Vier-Mann-Band spielte auf dem Podium in der Ecke gegenüber. Es wurde getanzt, und es gab ein gewaltiges kaltes Büffet. Eine gigantische Geburtstagstorte wartete darauf, angeschnitten zu werden. Obwohl Cutty nur Ginger Ale trank, weil er immer noch Antibiotika einnehmen musste, damit die Wunde an seinem Bein sich nicht entzündete, amüsierte er sich bestens.

Auch Kira gefiel die Party sehr. Doch nach zwei Stunden, in denen immer neue Leute unbedingt Mart as Schwester kennenlernen wollten und Lobreden über Marla hielten, brauchte sie unbedingt eine kleine Pause.

Sie sagte Cutty, dass sie sich ein Glas Wasser holen wollte. Doch anstatt zu dem jetzt schon gestressten Barkeeper zu gehen, durchquerte sie die Pendeltür neben der Theke und betrat die viel ruhigere, hell erleuchtete Küche des Restaurants.

Sie zog ihren rechten Fuß aus dem spitzen, halb offenen schwarzen Schuh, der gut zu dem Kleid passte, das sie heute Mittag rasch in der Boutique am Ort gekauft hatte, während die Zwillinge schliefen. Das Kleid aus leichtem Seidenjersey war sehr bequem. Vorn hatte es einen züchtigen Ausschnitt, der sich auf dem Rücken zu einem tiefen V öffnete. Die Schuhe waren leider weniger bequem.

Kira bog ihren Fuß durch, bewegte die Zehen und zog den Schuh wieder an. Anschließend schaffte sie auch den zweiten Fuß ein bisschen Erleichterung. Dann ging sie zum Spülbecken und füllte ihr Weinglas mit Wasser.

Sie hatte es nicht eilig, in den lärmenden Saal zurückzukehren. Deshalb lehnte sie sich an den Beckenrand, trank einen Schluck und genoss die Ruhe noch ein wenig.

Kurz darauf öffnete sich Pendeltür erneut, und Ad kam mit einer leeren Salatschüssel herein. Er erschrak, als er Kira entdeckte, und blieb wie angewurzelt stehen. Dann lächelte er plötzlich.

„ Verstecken Sie sich hier?“

„Nein“, wehrte Kira rasch ab. „Nun, vielleicht doch“, gab sie zu.

„Ziemlich viel Rummel draußen, nicht wahr?“, fragte er, als verstünde er ihr Bedürfnis nach ein bisschen Ruhe.

„Ich war noch nie auf solch einer riesigen Geburtstagsparty.“

„Kleine Stadt, große Party. Man muss beinahe jeden einladen.“

„Und alle sind gekommen“, staunte Kira.

„Die meisten“, bestätigte Ad. Er stellte die Schüssel auf den Arbeitstisch, öffnete einen der vielen Kühlschränke und nahm einen Behälter mit Kartoffelsalat heraus.

„Ich hatte diesen großen Andrang erwartet“, fuhr er fort und füllte die Schüssel wieder. „Es ist das erste Mal, dass wir Cuttys Geburtstag feiern können. Oder ihm überhaupt ein Fest ausrichten dürfen. Das lässt man sich nicht entgehen.“

„Weshalb ist dies heute das erste Mal?“, fragte Kira verblüfft.

„Marla wäre niemals zu so einer Veranstaltung mitgekommen. Und Cutty ging nicht ohne sie aus. Also gab es keine Partys.“

„Weshalb ist Marla nie mitgekommen?“

„Weil Partys und dergleichen nichts für Anthony waren. Und sie hätte den Jungen nicht bei einem Babysitter zurückgelassen.“

„Niemals?“

„Niemals. Marla bestand darauf, dass nur sie sich richtig um den Jungen kümmern konnte. Natürlich ließ sie ihn auch ab und an mal bei Cutty. Aber sonst durfte niemand an ihn heran.“

„Donnerwetter. Sie muss wirklich rührend besorgt um ihren Sohn gewesen sein.“

Ad sagte nichts, sondern beschäftigte sich eingehend mit seinem Kartoffelsalat.

Kira wurde misstrauisch. „War sie rührend um ihn besorgt? Betty behauptet es.“

„Natürlich war sie das.“ Es klang nicht gerade überzeugend.

Plötzlich fiel Kira eine Szene von jenem Abend ein, als Ad ihr mit den Zwillingen geholfen hatte, während Cutty sein Interview gab. Er hatte etwas zu sagen begonnen, dann innegehalten und erklärt, dass er nicht aus dem Nähkästchen plaudern wollte. Das und sein Verhalten gerade eben machten sie neugierig.

„Ad, wissen Sie etwas, was sonst niemand weiß?“, fragte Kira.

Sie erwartete, dass er es verneinen würde. Stattdessen antwortete er: „Hören Sie, dies ist eine Party. Keine ernsten Gespräche, einverstanden?“

So, so, es gab also etwas Ernstes zu bereden.

„Wir legen gerade eine kleine Pause von der Party ein. Erinnern Sie sich? Was wissen Sie über meine Schwester, was die anderen nicht wissen?“

Ad sah sie stirnrunzelnd an. „Nein, so ist das nicht.“

„Wie ist es dann?“

„Ich habe einfach erheblich mehr Zeit hinter den Kulissen verbracht als die übrigen Leute. Das ist alles.“

„Und dort sah es anders aus als davor?“

„Darüber möchte ich nicht sprechen.“

Je verschlossener er sich verhielt, desto drängender wurde Kiras Wunsch, mehr zu erfahren. „Heben Sie Marla denn nicht so hoch auf ein Podest, wie Betty und all die anderen es tun?“

„Sie war schon irgendwie besonders“, sagte Ad.

„Das kann sowohl ein Kompliment als auch eine Kritik sein. Was trifft hier zu?“

„Ich möchte Marla nicht kritisieren. Sie war in vielerlei Hinsicht eine gequälte Seele.“

„Wegen Anthony?“

„Nicht allein seinetwegen. Anthony war nur ein Anzeichen von vielen.“

Er lieferte keine weitere Erklärung. Um ihn zu ermutigen, sagte Kira: „Ich habe meine Schwester sehr geliebt. Aber ich habe sie nicht als erwachsene Frau gekannt. Nach allem, was ich hier in Northbridge über sie höre, war sie fast zu gut, um ein Mensch zu sein. Ich würde gern wissen, wie sie in Wirklichkeit war.“

Ad hatte seine Schüssel gefüllt und stellte den Behälter in den Kühlschrank zurück. „Sagen wir einfach, dass Marla eine Getriebene war“, schlug er vor.

„Eine getriebene gequälte Seele“, wiederholte Kira. „Das klingt erheblich anders als alles, was ich bisher über sie erfahren habe.“

Ad sagte nichts dazu.

Vielleicht wird er etwas mitteilsamer, wenn ich mich ihm ebenfalls ein bisschen öffne, überlegte Kira. „Es war nicht leicht für mich, Marlas jüngere Schwester zu sein“, begann sie. „Sie war mir immer einen Schritt voraus und legte die Messlatte sehr hoch. Selbst hier scheint sie eine Art Ikone zu sein. Ich würde gerne die Wahrheit wissen. Ich würde gerne wissen, ob meine Schwester letzten Endes eben auch nur ein Mensch war.“

Ad ließ sie nicht aus den Augen, und Kira merkte, dass sie zu ihm durchgedrungen war. Doch er zögerte immer noch.

„Marla war sehr klug und sehr geschickt. Ihr gelang fast alles“, sagte er ausweichend.

„Aber?“, forschte sie weiter.

Anstatt fortzufahren, erklärte Ad: „Cutty würde nicht mit Ihnen darüber sprechen. Er würde sagen, das ist alles Schnee von gestern. Marla ist von uns gegangen, deshalb spielt es keine Rolle mehr. Er würde es niemals erzählen. Schon gar nicht ihrer Schwester.“

„Wenn Sie es mir nicht erzählen, werde ich die Wahrheit also nie erfahren.“

„Das brauchen Sie auch nicht“, wandte Ad ein.

Sie wollte es aber. Um ihrer selbst willen. Weil sie verzweifelt versuchte, den Maßstäben ihrer Schwester gerecht zu werden. Es würde ihr helfen, wenn sie die Kehrseite dieser Maßstäbe erfahren würde. Und sie wollte alles über Cutty wissen. Über seine Vergangenheit und über das, was ihn heute bewegte.

„Bitte“, flehte sie, und endlich gab er seufzend nach.

„Marla war eine sehr starke Persönlichkeit. Das machte das Zusammenleben mit ihr nicht gerade leicht. Nicht dass Cutty sich beklagt hätte. Ich will damit nur sagen, dass ich niemals mit Marla hätte verheiratet sein können.“

„Weshalb nicht?“

„Alle in Northbridge hielten sie für eine Art Heilige oder eine Superfrau, denn genau das versuchte sie zu sein. Es war wie ein innerer Zwang. Nie gab sie sich mit dem zufrieden, was sie erreicht hatte. Sie musste immer die Beste sein und …“ Ad hielt inne, als könnte er sich sonst fortreißen lassen. „Sagen wir einfach, es war kein entspanntes ausgeglichenes Leben. Weder für sie noch für ihre Mitmenschen.“

„Ob Sie es glauben oder nicht: Ich verstehe Sie, was Sie meinen. Mir ist, als würden Sie Marlas Vater beschreiben – meinen Adoptivvater.“

„Dann wissen Sie ja, wie es ist, mit solch einem Menschen zusammenzuleben.“

„Nur allzu gut. Mein Vater war der unerbittlichste Mensch, den ich kenne.“

„Unerbittlich … Das ist ein guter Ausdruck für so ein Verhalten. Marla war wirklich unerbittlich. Selbst bei der geringsten Kleinigkeit, die nicht recht klappte. Oder wenn etwas nur einen Zentimeter von dem Platz abwich, den sie ihm zugeteilt hatte. Sie gab keine Ruhe, bis alles exakt so war, wie sie es wollte.“

Deshalb hatten Betty und sogar Ad, als er ihr neulich half, es immer wieder erwähnt.

„Sie hatte genaue Zeitpläne für alles“, fuhr Ad fort. „Zeitpläne und feste Abläufe, die unbedingt eingehalten werden mussten. Sonst ging sie in die Luft. Und was ihre Hingabe gegenüber Anthony betrifft …“ Er hielt plötzlich inne, als hätte er schon zu viel gesagt.

„Bitte, ich muss es unbedingt wissen“, drängte Kira ihn.

Ad zögerte immer noch. „Ich möchte nicht schlecht über Marla reden. Es war furchtbar traurig, mit ansehen zu müssen, wie jemand sich und seine Mitmenschen derartigen Zwängen aussetzte. Und was Anthony betrifft …“ Er schüttelte den Kopf. „Bei Marla musste alles absolut makellos sein. Auch die Menschen.“

„Und ein autistisches Kind ist noch viel weiter davon entfernt als ein gesundes“, fügte Kira hinzu.

Ad nickte. „Anthony war ungefähr zwei Jahre alt, als die Ärzte erkannten, dass er autistisch war. Vorher dachten alle, dass er eben keine Lust zu den Dingen hätte, mit denen Kleinkinder sich normalerweise beschäftigen. Er reagierte einfach nicht darauf. Marla war völlig aufgelöst, als sie die Diagnose erfuhr. Bei ihr musste alles perfekt sein, und Anthony war es nicht. Nachdem sie hinter Cuttys Rücken ihren Vater angerufen hatte …“

„Was? Ich wusste nicht, dass sie ihn angerufen hatte“, unterbrach Kira ihn. „Ich nehme an, mein Vater war nicht sehr einfühlsam?“

„Er erklärte, sie hätte bekommen, was sie verdiente. Anthonys Krankheit wäre ihre Strafe. Er wollte nichts damit zu tun haben und würde ihr nicht helfen. Ich nehme an, das Gespräch endete mit dem bekannten Du hast dir die Sache eingebrockt. Jetzt sieh zu, wie du damit fertig wirst.“

Kira schloss die Augen, und ihr Herz floss über vor Mitleid bei dem Gedanken an die Verzweiflung ihrer Schwester. „Ja, so war er“, flüsterte sie.

„Anschließend versuchte Marla, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um aus Anthony ein normales Kind zu machen. Sie unterrichtete ihn. Kontrollierte ihn. Versuchte seinen Autismus zu vertreiben, als wäre es eine Art von Besessenheit.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Tut mir leid. Das ist nicht gerade ein passendes Gesprächsthema für eine Party.“

„Das ist schon in Ordnung. Ich wollte es doch wissen.“ Kira dachte einen Moment nach. „Das alles kann nicht gut für Cuttys und Marlas Ehe gewesen sein.“

„Nein, das war es nicht. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass diese Ehe eine Muss-Heirat gewesen ist. Die Beziehung zu Cutty war das Einzige, was Marla als gegeben hinnahm. Es war das Einzige, an dem sie nicht arbeitete. Obwohl Cutty sich größte Mühe gab, eine richtige Ehe daraus zu machen, spielte sich nicht viel zwischen ihnen ab.“

„Und woher kommen dann die Zwillinge?“, fragte Kira verwirrt.

„Daran bin ich schuld.“

Kira riss erstaunt die Augen auf.

„Nein, nein, so war das doch nicht gemeint.“ Ad verzog das Gesicht. „Ich wusste, welche Mühe Cutty sich gab, es Marla recht zu machen. Aber er brauchte dringend mal eine Pause, einen Tapetenwechsel, ein bisschen Erholung. Die beiden hatten weder eine Hochzeitsreise unternommen noch einen einzigen Tag Urlaub gemacht. Deshalb tat ich mich mit Freunden zusammen.“ Er deutete mit dem Kinn in Richtung Saal, wo die Party geräuschvoll weiterging. „Wir schenkten ihm zum Geburtstag eine Reise auf die Bahamas.“

„Und Anthony? Wer versorgte den unterdessen?“

„Marla wollte den Jungen nicht allein lassen. Doch unter dem allgemeinen Druck und um nicht undankbar zu sein, gab sie nach. Anthony kannte meine Schwester und akzeptierte sie. Damit er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte, zogen wir solange zu ihm.“

„Und das klappte?“

„Ja. Es ging ihm gut. Nur Marla kam nicht damit zurecht. Cutty und sie sollten eine Woche fort bleiben. Nach zwei

Tagen waren sie zurück.“

„Und die Zwillinge? Sie haben immer noch nicht erklärt, wieso Sie für die Zwillinge verantwortlich sind.“

„Sie müssen in der ersten Urlaubsnacht entstanden sein – eine Nacht, die alles noch schlimmer machte. Cutty hat es nie direkt ausgesprochen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass ihm in dieser Nacht klar wurde, dass ihre Ehe gescheitert war. Als sie zurück waren, zog Marla ins Gästezimmer, und Cutty schlief auf der Couch. Erst vor etwa sechs Monaten entfernte er die alten Schlafzimmermöbel, kaufte sich neue Sachen und benutzt das Zimmer seitdem wieder.“

„Die beiden haben nie an Scheidung gedacht?“

„Marla hätte das Scheitern ihrer Ehe niemals zugegeben, und Cutty hätte Anthony und sie nicht im Stich gelassen“, sagte Ad. „Deshalb hielten sie den Schein einer glücklichen Ehe aufrecht. Marlas Schwangerschaft und die Geburt der Zwillinge kamen ihnen dabei zu Hilfe. Aber unter der Oberfläche war absolut nichts“, schloss er beinahe feierlich und schwieg eine ganze Weile.

Kira ahnte, was in ihm vorging. Er fürchtete, dem Freund wäre es nicht recht, dass er ihr alles erzählt hatte.

„Cutty braucht nichts von unserem Gespräch zu erfahren“, sagte sie leise.

Bevor Ad dies bestätigen oder verneinen konnte, öffnete sich eine Pendeltür, und Cutty steckte den Kopf herein.

„He, was tut ihr beide hier? Die Party ist da drüben!“, sagte er fröhlich.

„Du hast uns erwischt“, scherzte Ad. „Ich wollte Kira gerade entführen.“

„Ich wusste, dass sie mit diesem Kleid allen Männern den Kopf verdrehen würde“, antwortete Cutty und drohte spielerisch mit seinem Stock. „Ich bin auf dem Weg zur Toilette. Wenn ich zurückkehre, seid lieber wieder im Saal. Sonst könnt ihr etwas erleben. Alle beide“, fügte er lachend hinzu und verschwand.

Kira machte sich vom Rand des Spülbeckens los, und Ad hob seine Schüssel mit dem Kartoffelsalat auf.

„Danke, dass Sie mir das alles erzählt haben“, sagte Kira.

Vor der Tür zum Saal blieb Ad stehen und sah sie an. „Eigentlich könnte ich Ihnen noch etwas erzählen, wo ich schon dabei bin: Ich habe Cutty noch nie so fröhlich erlebt wie seit letzter Woche. Mir scheint, das hat etwas mit Ihnen zu tun.“

Obwohl es ein ganz gewöhnlicher Dienst ag war, dauerte die Party bis nach zwei Uhr.

„Ich weiß, es ist spät. Trotzdem – ich bin kein bisschen müde“, sagte Cutty, als sie wieder zu Hause waren.

Kira ging es genauso. Oder sie wollte nach dem turbulenten Abend einfach gern noch ein paar Minuten mit Cutty allein sein. „Wahrscheinlich sind wir beide von der Feier ein bisschen aufgedreht“, sagte sie. „Aber es ist wirklich spät.“

„Ja, das stimmt. Darf ich dich wenigstens bis zu deiner Tür begleiten?“

„Schmerzt dein Knöchel nicht zu sehr?“

Cutty lächelte. Sie erkannte es im Mondschein, der durch die Glasscheibe der Haustür fiel. Sie hatten noch kein Licht gemacht. „Ich spüre absolut nichts“, versicherte er.

„War das Ginger Ale also ein Zaubertrank?“

„Offensichtlich.“

Sie durchquerten die Eingangshalle, gingen zur Küche, machten auch dort kein Licht und betraten den stillen Garten.

„Hat dir der Abend gefallen?“, fragte Cutty, während sie langsam zu Kiras Apartment gingen. „Waren es nicht zu viele Leute, die du nicht kanntest?“

„Nein, ich habe mich großartig unterhalten“, antwortete Kira und meinte es ernst. „Mir ist noch kein einziger Mensch in Northbridge begegnet, der mir unsympathisch gewesen wäre.“

Sie hatten die umgebaute Garage erreicht, doch Kira hatte es nicht eil ig. Sie schloss die Tür auf, öffnete sie aber nicht und machte auch keine Anstalten, Cutty gute Nacht zu wünschen.

Cutty tat es ebenfalls nicht. Stattdessen sagte er: „Worüber hast du dich denn mit Ad unterhalten, als ich euch in der Küche entdeckte? Es schien ein ernstes Gespräch zu sein.“

Dies war eine Frage, die Kira gefürchtet hatte. „Wir haben über dich geredet“, antwortete sie behutsam. „Ihr beide steht euch wirklich nahe, nicht wahr?“

„ Nicht einmal ein Bruder könnte mir näher stehen als Ad.“

„Mir scheint, das beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte Kira und hoffte, dass das Thema damit erledigt wäre.

Offensichtlich war es der Fall, denn Cutty interessierte sich plötzlich mehr für sie. Er ließ den Blick seiner grünen Augen ihren Körper hinab – und wieder hinaufgleiten und flüsterte: „Du siehst heute einfach fantastisch aus.“

„Ich brauchte mich deinetwegen auch nicht gerade zu schämen“, erwiderte sie und betrachtete den blendend aussehenden Mann in seiner dunkelgrauen Hose und dem schwarzen Hemd, den niemand, der ihn nicht kannte, für einen Kleinstadtpolizisten gehalten hätte.

„Gleich zwei Männer haben mir heute keine Ruhe gelassen“, erzählte er. „Beide wollten wissen, ob sie dich einmal anrufen und mit dir ausgehen können, solange du in Northbridge bist.“

„Und was hast du geantwortet?“

„Dass sie bleiben sollen, wo der Pfeffer wächst“, verkündete Cutty in einem Ton, dass Kira nicht sicher war, ob er scherzte.

„Hätten sie mir gefallen?“

Sein reizendes Lächeln verstärkte sich nun. „Nicht so sehr wie ich.“

Kira lachte vergnügt. „Wer behauptet denn, dass du mir gefällst?“

Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Ein Vögelchen hat es mir gesagt.“ Er zog mit den Zähnen an ihrem Ohrläppchen.

„Du sprichst mit den Vögeln?“

Er richtete sich auf und sah ihr in die Augen. „Sie wissen eine ganze Menge.“

„Tatsächlich?“ Kira gefiel dieses Spiel sehr.

„Sie fliegen herum, beobachten uns und hören uns zu. Sie sehen und wissen alles.“

„Aber sie fressen auch Würmer. Wie kann man ihrem Urteil da trauen?“

„Heißt das, du magst mich nicht?“, fragte er mit einem schelmischen Blick in den Augen, der ihr bewies, dass er die Möglichkeit nicht einmal in Erwägung zog.

„Wer weiß?“, sagte Kira unbekümmert. „Kann sein. Kann auch nicht sein.“

„Vielleicht könnte ich dich im zweiten Fall dazu bringen.“

„Wie denn?“

„Wie wäre es hiermit?“ Er beugte sich vor und küsste sie. Es war ein zarter Kuss, voller Verheißung. Ein Kuss, der viel zu schnell vorüber war.

„Nicht schlecht“, stellte Kira fest. „Aber vielleicht wäre einer der beiden anderen Männer besser gewesen.“

Cutty lachte leise tief in der Kehle. „Dann muss ich mir wohl mehr Mühe geben.“

Er stellte seinen Stock an die Wand, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und schob die Finger in ihr Haar. Diesmal war sein Kuss viel ernsthafter, viel fordernder. Doch er endete ebenfalls viel zu schnell.

„Nun?“, fragte er heiser.

„Schon besser“, verkündete sie.

Er lachte noch aufreizender. „Dann bin ich ja auf dem richtigen Weg“, erklärte er und verschloss erneut ihren Mund.

Ganz gleich, was sie noch sagte, Cutty würde dieses Spiel gewinnen. Kiras Knie wurden weicher und weicher, und es fiel ihr immer schwerer, nicht an seinen starken Körper zu sinken. Oder wenigstens nicht zu schnell nachzugeben.

Als er ihre Lippen diesmal wieder freigab, sagte er: „Soll ich die zwei Typen morgen anrufen und ihnen grünes Licht geben?“

„Wen?“, fragte Kira, ohne die Augen zu öffnen.

„Die Kerle, die mit dir ausgehen wollen“, antwortete er lächelnd und nahm ihren Mund wieder in Besitz. Er schlang die Arme um ihren Körper, legte seine Hände auf die nackte Haut im Rückenausschnitt ihres Kleides und zog sie an sich.

Oh, diese Hände! Sie allein genügten schon, um Kira in den gestrigen Abend zurückzuversetzen und erneut alle Gefühle zu wecken, die Cutty ans Licht gebracht hatte.

Nur fehlte diesmal die Angst, sich diesen Gefühlen restlos hinzugeben. Heute gingen Kira andere Gedanken durch den Kopf.

Zum Beispiel die Tatsache, dass Betty schon ab morgen ihren Platz wieder einnehmen wollte. Ihre Tante würde nach Northbridge kommen und die weitere Pflege ihrer Mutter übernehmen. Sie, Kira, hatte keine Ahnung, was dann aus ihr werden sollte. Ob sie bleiben sollte oder gehen.

Oder dass sie gestern heftig bedauert hatte, den Weg nicht zu Ende gegangen zu sein und mit Cutty geschlafen zu haben. Sie wünschte, sie wäre mutig genug gewesen, um zu tun, was sie wirklich wollte.

Was sie jetzt ebenfalls wollte.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, griff Kira hinter sich, drehte den Knopf und stieß die Tür auf.

Cutty machte sich los, um nachzusehen, was sie getan hatte. „Oh, oh“, sagte er und glaubte offensichtlich, dass sie ihn allein lassen wollte.

Doch sie nahm seinen Stock und überquerte die Schwelle.

„Du weißt, dass ich immer dorthin gehe, wo mein Stock ist“, sagte Cutty, und seine Mundwinkel zuckten.

„Wirklich?“, fragte sie und warf den Stock auf das Bett.

Cutty zog die Brauen in die Höhe, blieb aber an der Tür stehen. „Und was ist mit dem, was du gestern gesagt hast? Dass dir alles zu schnell geht und …“

Als Antwort stieß Kira ihre Schuhe fort.

Cutty verstand. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte er sich an das Holz und beobachtete sie aufmerksam im Mondschein, der als einzige Beleuchtung durch das Fenster fiel.

„Sag mir, dass du weißt, was du tust“, forderte er sie leise auf.

„Ich tue genau, was ich möchte“, antwortete sie, ohne zu zögern. Je länger sie Cutty ansah – angefangen von seinem rabenschwarzen Haar über sein erstaunlich markantes Gesicht bis zu seinem kräftigen Körper, der wie von Künstlerhand gemeißelt zu sein schien –, desto stärker sehnte sich alles in ihr nach ihm.

„ Keine Zweifel?“, fragte er.

„Keine Zweifel.“

Er stand immer noch an der Tür und genoss ihren Anblick. Dann lachte er leise, streifte seinen einzigen Schuh und seine Socke ab und ging zu dem Bett, wo sie auf ihn wartete.

„Dies hier passiert wirklich“, sagte er, als würde es ihm erst jetzt klar.

Kira nickte stumm und genoss es, wie er sie betrachtete. Ohne den Blick von ihr zu wenden, legte Cutty die Hand auf ihren Oberarm, strich hinab zu ihrem Handgelenk, hob es an die Lippen und küsste die empfindsame Innenseite. Sein warmer Atem strich über ihre Haut.

Kira schloss den kurzen Abstand zwischen ihnen, damit er mehr als nur ihr Handgelenk küssen konnte.

Cutty reagierte sofort. Er legte die Arme erneut um sie, schob die Hände diesmal aber seitlich in den V-Ausschnitt ihres Kleides. Langsam strich er hinauf zu ihren Schultern und die Vorderseite wieder hinab. Gleichzeitig öffnete er mit den Lippen ihren Mund und schob die Zunge mit einem leisen Laut hinein.

Das Kleid fiel hinab zu ihren Füßen, und Kira stand nur mit ihrem Slip bekleidet da. Sie verlor keine Zeit. Sie zerrte Cuttys Hemd aus dem Hosenbund und unterbrach das Spiel ihrer Lippen und ihrer Zungen nur, um den Stoff über seinen Kopf zu ziehen.

Cutty zog sie an sich, sodass ihre Brüste sich an seinen nackten Oberkörper pressten, und seine Küsse wurden leidenschaftlicher und fordernder.

Er nahm etwas aus der Tasche, streifte seine lange Hose ab und ließ sie gemeinsam mit Kiras Spitzenslip zu dem Kleid auf den Boden gleiten.

Wieder blickte er sie fragend an, als wollte er sich vergewissern, dass dies echt war. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, griff er um sie herum und legte das, was er aus der Hosentasche genommen hatte, auf den Nachttisch. Dann fasste er ihre Hände und setzte sich auf die Matratze.

Er ließ sie noch eine Weile stehen und betrachtete sie hingerissen. Ein strahlendes Lächeln glitt über sein hübsches Gesicht und fegte Kiras letzte Befangenheit beiseite.

Endlich zog Cutty sie ebenfalls auf das Bett. Er legte sie auf den Rücken, streckte sich neben ihr aus und schob eine Hand unter ihren Kopf. Leidenschaftlich presste er die Lippen auf ihren Mund und begann einen fröhlichen Liebestanz mit ihrer Zunge.

Kira schob die Hände in sein festes und doch weiches Haar, und er streichelte liebevoll ihr Gesicht. Dann strich er mit den Fingern hinab zu ihrer Halsgrube, ihrem Schlüsselbein und ihrer Schulter und hielt dort inne.

Kira wollte, dass er weitermachte. Ihre Brüste sehnten sich nach seiner Berührung. Sie fasste seine Hand und schob sie vorwärts. Er lachte leise an ihren Lippen.

Um sie zu necken, strich er in einem quälenden Schneckentempo federleicht mit den Fingerspitzen über ihre Haut.

Kira stöhnte verzweifelt. Doch Cutty ließ sich immer noch Zeit und glitt mit den Fingerspitzen über die volle Rundung zu der rosigen Knospe, die sofort fest wurde. Er nahm die Spitze vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte sie hin und zurück.

Kira keuchte leise, als er ihre Brust endlich mit seiner starken warmen Hand umschloss.

Ihre Küsse wurden immer leidenschaftlicher und drängender. Schneller und ungehemmter. Immer wieder strich Kira mit den Händen über Cuttys breiten muskulösen Rücken. Er war neben ihr und über ihr, überschüttete sie mit seinen Küssen, neckte und knetete und quälte sie, bis sie es vor Verlangen kaum noch aushielt.

Endlich gab er ihren Mund frei, folgte mit den Lippen der Spur seiner Finger zu ihren Brüsten und neckte die rosa Knospe mit der Zungenspitze.

Kira bog ekstatisch den Rücken durch und ließ keinen Zweifel daran, dass sie mehr wollte.

Cutty zog die rosa Knospe in seinen heißen feuchten Mund, umkreiste sie mit der Zunge, stieß mit der Spitze dagegen und brachte jede Faser ihres Körpers zum Klingen.

Kira stand ihm in nichts nach. Forschend strich sie mit den Händen seinen Rücken hinab zu seinem festen Hintern, weiter zur Rückseite seiner festen Oberschenkel und wieder hinauf zu seinen Hüften, wo sie ihn erwartungsvoll neckte.

Diesmal keuchte Cutty, und sie lachte dazu. Dann erfüllte sie seinen stummen Wunsch, schloss die Finger um den stahlharten langen Beweis seiner Männlichkeit und staunte über seine Hitze und seine Kraft.

Cutty hielt es nicht mehr aus. Er wandte sich kurz ab und griff nach dem, was er auf den Nachttisch gelegt hatte.

„Du bist hierauf vorbereitet?“, flüsterte Kira.

„Eine Folge meiner hoffnungsvollen Träume“, antwortete er, schützte sich rasch und ließ sich zwischen ihren Schenkeln nieder. Kira öffnete sich ihm ganz und wünschte nichts mehr, als ihn endlich in sich aufzunehmen.

Cutty nahm sie zügig in Besitz und füllte sie ganz aus. Es war, als wäre er extra für sie geschaffen. Er küsste sie erneut, zog sich ein wenig zurück und drang noch tiefer in sie ein. Immer wieder, bis sie sich zu schnell und zu ekstatisch bewegten, als dass er sie noch küssen konnte.

Kira schloss die Augen und überließ sich ganz ihren Gefühlen. Sie gab sich Cutty restlos hin. Dieser Mann rief Empfindungen in ihr hervor, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.

Immer schneller bewegten sich ihre Körper, gemeinsam und in einem perfekten Rhythmus, bis Kira das Gefühl hatte, sie würde von der Erde abheben und direkt in den Himmel fliegen. Höher und höher ging der Flug. Dann durchstieß sie die Wolken, gelangte in ein atemberaubend blendendes Licht und erreichte den Gipfel der Ekstase.

Dann verlosch das Licht allmählich, und Cutty und sie kamen langsam wieder zu sich. Ihre Muskeln entspannten sich, und sie atmeten schwer. Eine wunderbare Ruhe erfasste sie beide.

„Wow!“, sagte Cutty ehrfurchtsvoll.

„Na, war es so gut wie in deinen hoffnungsvollen Träumen?“, fragte Kira schelmisch.

„Tausend Mal besser. Bist du okay?“

„Tausend Mal besser als okay.“

Cutty beugte sich lächelnd zu ihr. Er barg sein Gesicht in ihrem zerzausten Haar, küsste Kira auf den Kopf, zog sie an sich und rollte gemeinsam mit ihr auf die Seite.

So blieben sie liegen, restlos gesättigt und entspannt. Sein Kinn oben auf ihrem Kopf, sein Arm um ihre Taille und sein Bein über ihrer Hüfte.

Kira merkte, dass Cutty einschlief. Aber das machte nichts. Es war viel zu schön, so mit ihm zusammen zu sein und an nichts zu denken.

Sie schloss ebenfalls die Augen und genoss den Augenblick danach und die warmen Gefühle, die er mit sich brachte.

Wenn ein Gedanke sich ein schleichen wollte, was der nächste Tag bringen würde, schob sie ihn einfach beiseite.

8. KAPITEL

Cutty erwachte am nächsten Morgen und erinnerte sich nicht, jemals so zufrieden gewesen zu sein.

Ohne die Augen zu öffnen, streckte er die Hand auf die andere Seite des Bettes. Aber Kira war nicht da. Durch die geschlossenen Lider erkannte er, dass es schon hell war. Wahrscheinlich sollte er ebenfalls aufstehen. Ads Schwester würde die Zwillinge sicher bald nach Hause bringen.

Aber es war so schön, im Bett zu liegen und sich den Erinnerungen an die letzte Nacht hinzugeben. Der beste Geburtstag, den er je erlebt hatte.

So ist es also, wenn man wirklich glücklich ist.

Wie kam er denn auf den Gedanken? War er vorher nie wirklich glücklich gewesen?

Cutty drehte sich auf den Rücken. Er hatte sich nie als einen unglücklichen Menschen betrachtet, sondern immer das Beste aus allem gemacht. Es gab viele Dinge, die er liebte. Natürlich die Zwillinge. Seinen Job. Freunde, mit denen er gern Zeit verbrachte, Baseball, Basketball, gutes Essen.

Aber nichts davon bescherte ihm dieses Glücksgefühl, das er jetzt empfand. Und er brauchte nicht lange nach dem Grund zu forschen: Es lag an Kira.

Sie hatte ein Licht und eine Freude in sein Leben gebracht, die er vorher nie gekannt hatte. Bei ihr konnte er sich in einer Weise entspannen, wie es bei Marla nicht möglich gewesen war. Er konnte er selber sein, ohne fürchten zu müssen, dass er sie enttäuschte. Es fühlte sich einfach gut an, wenn er mit dieser Frau zusammen war.

Er war glücklich.

Wo ist sie überhaupt? überlegte Cutty und setzte sich auf. Aus dem winzigen Badezimmer kam kein Geräusch. Er blickte auf den Wecker und stellte entsetzt fest, dass es nach zehn war. Wahrscheinlich war Kira schon seit Stunden auf, um das Haus zu reinigen, bevor Betty heute Nachmittag auftauchte.

Cutty schwenkte die Beine über den Rand. Ein heftiger Schmerz schoss von seinem Knöchel das Bein hinauf, und er hielt einen Moment inne. Dann griff er zu seinem Stock, der jetzt an dem Nachtschrank lehnte. Kira musste ihn aufgehoben und dort hingestellt haben. Sie hatte auch seine Hose und sein Hemd ordentlich zusammengefaltet und auf einen nahen Stuhl gelegt. Sein einzelner Schuh mit der Socke stand genau darunter.

Erinnerungen an Marla drängten sich ihm bei diesem Anblick auf. Ähnlichkeiten zwischen Marla und Kira.

Verdammt.

Verärgert zog er seine Kleider mit dem Stock heran und streifte sie über. Das Bild der wie ein Wirbelwind durch das Haus sausenden Kira, die alles blitzblank säuberte, gefiel ihm gar nicht. Irgendwie war seine euphorische Stimmung nun restlos vorbei.

Mit dem Schuh in der Hand verließ er das Apartment.

Im Haus war alles still, als er die Küche durch die Hintertür betrat. Er hörte weder den Staubsauger noch das Wasser laufen.

Wahrscheinlich ist Kira oben und schrubbt die Wände, überlegte Cutty und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf.

Auch hier rührte sich nichts, aber die Tür zum Kinderzimmer stand offen. Endlich entdeckte er Kira.

Sie machte nicht sauber und sie faltete auch keine Kleider zusammen, wie er erwartet hatte, sondern saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, Mel zu ihrer Rechten und Mandy zu ihrer Linken. Die drei setzten ein Holzpuzzle aus extragroßen Teilen zusammen und waren so in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie ihn nicht bemerkten.

Hatte Kira vergessen, dass Betty kommen würde? Dachte sie nicht daran, dass die Haushälterin das verstreute Spielzeug im Wohnzimmer sofort bemerken würde? Auch die schmutzige Wäsche im Korb? Und den Handabdruck eines Kindes auf dem Fernsehschirm?

Das konnte er sich nicht vorstellen.

Trotzdem spielte sie mit den Zwillingen, anstatt wie ein Wiesel herumzurennen und dafür zu sorgen, dass alles makellos ordentlich wurde. Er hatte längst erkannt, dass sich zwei Seelen in ihrer Brust stritten. Weshalb hatte er automatisch angenommen, dass die strengere, die Marla ähnlich war, am Ende die Oberhand gewinnen würde?

Er war ein Idiot!

Cutty blieb noch eine Weile stehen und beobachtete die Szene. Dann ging er in sein Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

„Da war ich wohl ziemlich voreilig“, murmelte er. „Ich bin ein richtiges Ekel. Eben habe ich noch davon geschwärmt, wie wohl ich mich in Kiras Gegenwart fühle, und im nächsten Moment bin ich bereit, sie zu verdammen. Ich sollte mich lieber entscheiden.“

Aber zunächst musste er duschen und sich umziehen, damit er den anderen wieder unter die Augen treten konnte.

Kira hatte die Zwillinge gerade zum Mittagessen in ihre Hochstühle gesetzt, als Betty erschien.

„Meine Tante ist schon ziemlich früh gekommen. Deshalb bin ich gleich losgefahren“, verkündete die Haushälterin.

Diesmal war Kira froh über Bettys Auftauchen. Cutty hatte sich erst vor ungefähr einer Stunde zu ihr und den Zwillingen gesellt. Und er war irgendwie angespannt gewesen, nicht so locker wie sonst.

Sie konnte es ihm nicht übel nehmen. Die vergangene Nacht hatte alles verändert, und auch sie wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie darüber reden, was geschehen war, oder sollte sie so tun, als wäre nichts passiert?

Cutty war jedenfalls ungewöhnlich still. Sie hatte ihn mehrmals dabei ertappt, wie er sie heimlich beobachtete, während sie das Wohnzimmer aufräumte und die Mädchen gleichzeitig beschäftigte.

Betty war noch keine zehn Minuten im Haus, als sie erneut mit ihren üblichen Bemerkungen darüber begann, wie Marla dieses oder jenes getan oder gelassen hätte. Gerade als sie Kira erklärte, auf welche Weise Marla den Zwillingen immer ihr Essen zurechtgeschnitten hatte, fragte Cutty dazwischen: „Meinen Sie, dass Sie eine Weile allein zurechtkommen, Betty?“

„Deswegen bin ich ja hier“, antwortete Betty. Der Gedanke, ihren angestammten Platz wieder einzunehmen, gefiel ihr offensichtlich sehr.

Kira sah Cutty überrascht an. Sie war verwirrt und auch ein bisschen neugierig. Er nahm ihre Hand – eine Vertraulichkeit, die sie noch mehr verblüffte – und führte sie durch die Hintertür nach draußen.

Zu ihrem Apartment.

Er kann doch jetzt unmöglich mit mir schlafen wollen, dachte Kira. Mitten am Tag und mit Betty nur wenige Meter entfernt. Kurz darauf fand sie sich tatsächlich hinter der verschlossenen Tür wieder.

Vor ihrem ungemachten Bett.

Schon der Anblick weckte lebhafte Erinnerungen an die vergangene Nacht und den dringenden Wunsch, das Ganze zu wiederholen. Doch selbst wenn Cutty genau dies im Sinn hatte, sie brächte es niemals fertig. Nicht, dass sie keine Lust auf ihn gehabt hätte! Aber im Haus wartete jede Menge Arbeit auf sie. Ganz zu schweigen von den Zwillingen, die sie eigentlich nicht so richtig gern mit Betty allein lassen wollte. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Bett und sah ihn fragend an.

Cutty merkte, was in ihr vorging. „Glaubst du ernsthaft, ich hätte dich hierher gebracht, um im hell en Tageslicht mit dir zu schlafen, während Betty drüben den Babysitter spielt?“, fragte er und lächelte schief.

„Das will ich nicht hoffen“, gab Kira zu.

„Keine Sorge. Ich habe nicht die Absicht, so reizvoll der Gedanke auch wäre.“

Ich hätte auch Lust, hätte Kira beinahe gesagt. „Was hast du dann vor?“, fragte sie.

„Ich möchte mit dir reden, ohne dass jemand zuhört. Bei all dem Trubel um meinen Geburtstag und wegen letzter Nacht hatten wir noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen, wie es weitergehen soll, nachdem Betty ja nun wieder da ist.“

„Nein, das haben wir nicht“, stimmte Kira ihm zu. Das Thema lag ihr schwer auf der Seele.

„Wir müssen das aber besprechen. Dringend.“

„Also gut“, antwortete sie und wartete, was er ihr zu sagen hatte.

Cutty stellte sich vor sie und legte die Hand auf ihren Arm. Ein sinnlicher Schauer durchrieselte sie, und es fiel ihr schwer, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

„Als ich heute Morgen aufwachte, fühlte ich mich unglaublich wohl. Und mir wurde klar, dass du der Grund dafür bist.“

Kira lächelte unwillkürlich. „Das freut mich sehr.“

„Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass du möglicherweise nicht mehr lange bleiben wirst, nachdem Betty zurück ist. Der Gedanke, dass du uns verlassen könntest …“ Cutty schüttelte kläglich den Kopf. „Nun, er gefällt mir nicht.“

Der Mann verstand es, ihr ebenfalls ein ganz entschieden gutes Gefühl einzuflößen. In mehr als einer Hinsicht. Aber das sagte Kira nicht. Stattdessen versuchte sie es mit einem Scherz.

„Und was willst du jetzt tun? Mich als deine Privat-Mikrobiologin einstellen?“

„Ich möchte, dass du ein Teil unseres Lebens bleibst. Das steht fest“, antwortete Cutty ernst. „Ich weiß, dass du ursprünglich nur geblieben bist, um uns zu helfen und die Zwillinge besser kennen zu lernen. Eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Aber inzwischen ist auch eine Beziehung zu mir entstanden. Eine ziemlich gute sogar, würde ich sagen. Und ich möchte, dass noch mehr daraus wird.“

Kira war nicht sicher, worauf Cutty hinaus wollte. Langsam begann ihr Magen nervös zu flattern, und sie zwang sich energisch zur Ruhe.

„Zuerst dachte ich, du wärst genauso wie Marla. Ich hatte schon den Eindruck, das Haus – und mit ihm die Zwillinge und ich – würden ganz im Sinn von Tom Wentworth umgemodelt werden. Nicht im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass ich plötzlich eine Frau an meiner Seite hätte, mit der ich abends zusammensitzen, mir ein Softballspiel ansehen oder meine Geburtstagsparty feiern könnte. Oder die mit den Mädchen spielen würde. Das kannte ich von Marla nicht.“

Kiras Hochgefühl schwand ein wenig. In Cuttys Worten schien eine leichte Kritik zu liegen – wie ihr Vater sie ausgesprochen hätte, wenn auch deutlicher –, dass sie die Zügel schleifen ließ, obwohl eine Menge Arbeit zu erledigen war.

„ Inzwischen habe ich erkannt, dass du anders bist als Marla“, fuhr er fort. „In vielerlei Hinsicht bist du gewiss nicht Tom Wentworth’ Tochter. Außerdem habe ich begriffen, dass dieser Abschnitt meines Lebens, meine Ehe mit Marla, vorüber ist. Dass ich an die Zukunft denken und einen neuen Anfang machen muss – alles, was die Leute so reden und was ich jetzt selber einsehe. Und ich möchte wissen, ob wir das hinkriegen.“

Kira war nicht sicher, was er unter diesem „Hinkriegen“ verstand. Cutty hatte gesagt, sie wäre anders als Marla. Für sie bedeutete es, dass sie ihrer Schwester nicht das Wasser reichen konnte. Und überhaupt hörte sich das wenig romantisch an, was Cutty da so sagte – ‚hinkriegen‘ klang nicht wirklich gefühlvoll.

Plötzlich fand sie es sehr aufschlussreich, dass nicht Cutty, sondern Ad ihr erzählt hatte, dass die Ehe der beiden nicht glücklich gewesen war. Vielleicht irrte sich der Freund, immerhin war er ein Außenstehender. Vielleicht hatte Cutty es gefallen, wie Marla den Haushalt führte. Oder er erwartete es zumindest so. Und woher wollte Ad auch so genau wissen, dass die beiden nicht mehr miteinander geschlafen hatten?

„Ich bin sicher, dass wir das hinkriegen. Ich könnte von Zeit zu Zeit nach Northbridge kommen und die Mädchen besuchen. Oder sie kommen für eine Weile zu mir nach Denver, damit du ein bisschen Spielraum für dich hast und dein eigenes Leben wieder aufnehmen kannst“, antwortete sie. Der Gedanke, dass der Vergleich mit ihrer Schwester ausgerechnet bei Cutty zu ihren Ungunsten ausgefallen war, ging ihr nicht aus dem Kopf.

Cutty runzelte die Stirn und sah sie verwirrt an. „Ich habe nicht von Ferien von oder mit den Zwillingen gesprochen“, sagte er verärgert, als wäre das völlig klar gewesen. „Ich rede von dir und mir. Davon, dass du bleibst.“

„Dass ich bleibe? Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte“, antwortete Kira und versuchte, den Schmerz zu verdrängen. Ob es ihr jemals gelingen würde, sich aus dem Schatten ihrer Schwester zu lösen? „Ich habe meine Wohnung und meine Lehrtätigkeit an der Universität …“

„Kündige deine Wohnung, und such dir eine Stelle am College in Northbridge. Das wäre zwar kein so angesehener Job wie an einer Universität und würde wahrscheinlich auch nicht so gut bezahlt. Aber ich habe gute Beziehungen zur Schulleitung und bin sicher, dass ich dich im Lehrkörper unterbringen kann.“

Also nicht wegen ihrer eigenen Verdienste, sondern weil Cutty seinen Einfluss geltend machte. Und wahrscheinlich, weil der Dekan und der Vorstand eine so hohe Meinung von Marla hatten, dass sie deren Schwester bereitwillig einstellen würden.

„Nein, ich will keine Stelle nur über Beziehung. Weil jemand dir oder meiner Schwester einen Gefallen schuldig ist. Meine jetzige habe ich bekommen, weil man meine Arbeit schätzt. Wegen meiner Leistung.“

„Dann wirst du mit diesen Referenzen hier ebenfalls eine Lehrtätigkeit finden“, erwiderte Cutty, als verstünde sich das von selbst. „Ich wollte nur sagen …“

„Ich kann nicht in Northbridge bleiben“, unterbrach Kira ihn.

„Ich wüsste nicht, was dich daran hindern sollte.“ Cutty nahm seine Hand von ihrem Arm.

„Es geht einfach nicht, das ist alt es“, erklärte Kira entschlossen und spürte ein heftiges Verlustgefühl, weil Cutty sie nicht mehr berührte.

Er runzelte verwirrt die Stirn. „Ist mir irgendwas entgangen? Ich dachte – vor allem nach letzter Nacht …“

„Die letzte Nacht war … schön.“ Das war eine gewaltige Untertreibung. „Aber sie darf nicht meine ganze Zukunft bestimmen. Deshalb kann ich nicht alles aufgeben, wofür ich gearbeitet und was ich erreicht habe.“

„Ich bitte dich doch nur, einige kleine Veränderungen vorzunehmen, um das zu erhalten, weswegen du ursprünglich gekommen bist: eine Familie.“

„Die Zwillinge sind und bleiben meine Familie.“ Die beiden würden sie nie mit Marla vergleichen, sondern sie immer nehmen, wie sie war.

„Die Zwillinge“, ahmte Cutty ihren Tonfall nach, als wäre ihm plötzlich alles klar.

Kira ließ sich nicht beirren. Vor ihrem inneren Auge stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie ständig von Menschen wie Betty oder Carol umgeben wäre, die immer nur Marias Schwester in ihr sahen. Himmel, sogar Cutty dachte, dass sie Marla nicht das Wasser reichen konnte. Wie sollte sie da bleiben wollen?

Obwohl ihr Herz immer stärker schmerzte, erklärte sie: „Da Betty wieder da ist und du mich nicht mehr brauchst, sollte ich am besten gleich packen und abreisen.“

Cutty sah sie mit seinen dunkelgrünen Augen eindringlich an. „Ich kann es nicht glauben.“

„Es ist ganz einfach. Ich habe hart gearbeitet, um meinen Doktortitel und die Dozentenstelle zu bekommen. Nach meinem Examen hatte ich etwas freie Zeit, um hierher zu kommen. Und jetzt gehe ich wieder zurück.“

„Der Doktortitel und die Stelle sind dir wichtiger?“

„Für dich wären sie es vielleicht nicht. Aber für mich sind sie es.“

„Wichtiger als alles andere auf der Welt? Wem musst du was beweisen, Kira? Dir? Deiner Schwester? Oder Tom Wentworth? Du bist nicht seine leibliche Tochter, schon vergessen?“ Cutty schüttelte erneut den Kopf. „Entweder hast du mir von Anfang an etwas vorgemacht, oder du machst dir jetzt selbst etwas vor.“

Kira wusste nicht, was sie antworten sollte. Cuttys Bemerkung über Tom Wentworth hatte sie wie ein Schlag getroffen. Trotzig hob sie ihr Kinn, damit er nicht merkte, wie nahe sie einem Tränenausbruch war. Wie sehr sie wünschte, alles wäre anders. Wie sehr er sie verletzt hatte.

Schließlich erklärte sie: „Ich werde packen, mich von den Zwillingen verabschieden und dann verschwinden.“

„Nein“, schrie Cutty beinahe. „Als wir hier hereinkamen, war noch alles in Ordnung, und jetzt willst du schnellstens verschwinden. Weshalb?“

Kira konnte unmöglich in sein hübsches Gesicht sehen oder auf seinen Körper, mit dem sie noch vor wenigen Stunden so intim gewesen war, und trotzdem bei ihrem Entschluss bleiben. Deshalb wandte sie sich ab und sagte: „Es ist das Beste. Betty ist zurück und kommt gut zurecht. Die Zwillinge lieben sie. Ich kann also unbesorgt nach Hause fahren.“

„Das ist kein Grund. Was habe ich getan? Oder gesagt? Gerade sind wir noch großartig miteinander ausgekommen – besser als großartig –, und im nächsten Moment willst du nicht nur nicht bleiben, sondern praktisch auf der Stelle abreisen?“

„Ich glaube einfach, dass es so am besten ist“, wiederholte Kira mit belegter Stimme.

„Und ich soll zurückbleiben und mir den Kopf darüber zerbrechen, was die letzten zehn Minuten falsch gelaufen ist?“

„Es ist nichts falsch gelaufen“, versicherte Kira ihm. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass der Fehler bei ihr lag. Sie hätte sich niemals in eine Lage bringen dürfen, in der man sie erneut mit ihrer Schwester verglich. „Wir sehen die Dinge einfach unterschiedlich.“

„Offensichtlich“, antwortete Cutty spöttisch.

Lange sprachen beide kein Wort, und Kira kämpfte mit den Tränen.

Endlich sagte Cutty: „Dein Entschluss steht also fest? Du willst wirklich gehen?“

Kira nickte stumm.

Weitere Sekunden vergingen in gespannter Stille. „Das werde ich nie verstehen“, erklärte Cutty endlich und verließ den Raum.

9. KAPITEL

Es war zwei Uhr am nächsten Morgen, als Kira erschöpft die Tür zu ihrem Apartment in Denver aufschloss. Sie schaltete die Tischlampe auf der rechten Seite ein und trug ihren randvollen Koffer ins Zimmer. Erst in diesem Moment entdeckte sie ihre Freundin auf der Couch.

Kit hatte offensichtlich geschlafen. Sie setzte sich auf und blinzelte in die plötzliche Helligkeit. „Hi“, sagte sie nur, als wäre ihre Anwesenheit nichts Besonderes.

„Hi“, antwortete Kira in einem fragenden Ton und schloss die Tür hinter sich. „Wieso schläfst du auf meiner Couch?“

„Du hast so elend am Telefon geklungen, dass ich unbedingt hier sein wollte, wenn du heimkommst“, erklärte Kit.

Kira hatte ihre Freundin am frühen Abend vom Flughafen in Billings angerufen. Sie hatte keine Einzelheiten erwähnt, sondern nur erzählt, dass ihre Beziehung zu Cutty eine schlechte Wendung genommen hätte. Dabei hatte sie ihre Bestürzung offensichtlich nicht verbergen können.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte sie. In Wirklichkeit war sie froh, dass Kit da war. Trotz der späten Stunde war sie sicher, dass sie nicht schlafen konnte, und sie war jetzt ungern allein.

„Ich habe uns etwas Süßes mitgebracht“, sagte Kit. „Schokoladenkuchen. Der vertreibt die schlimmste Trübsal.“

Kira lächelte freudlos. „Danke. Aber ich glaube kaum, dass ich jetzt etwas herunterbekomme.“ Sie schaltete eine zweite Lampe ein, stieß ihre Schuhe fort und ließ sich in den karierten Sessel fallen, der neben der Couch stand.

„Du siehst verheerend aus“, stellte Kit fest. „Du hast auf dem ganzen Heimflug geweint, nicht wahr?“

„Ja. Es war mir furchtbar peinlich, aber ich konnte nichts dagegen tun. Die Frau neben mir dachte bestimmt, ich würde zu einer Beerdigung fliegen.“

„Erzähl, was passiert ist.“

Kira begann damit, wie gut sich die Beziehung zwischen Cutty und ihr seit dem Telefonat mit der Freundin am Sonnabend entwickelt hatte. Sie berichtete, was Ad ihr über Marla und die Ehe von Cutty und ihrer Schwester erzählt hatte. Und sie gestand, dass Cutty und sie nach der Geburtstagsparty miteinander geschlafen hatten. Dann schilderte sie, was am Morgen nach der Party geschehen war.

Kit hörte schweigend zu, damit die Freundin sich altes von der Seele reden konnte. Zwischendurch stand sie auf, ging ins Bad und kehrte mit einer Schachtel Papiertücher zurück, sodass Kira sich die Nase putzen und ihre Tränen fortwischen konnte, die unablässig flossen.

„Und jetzt bin ich wieder hier“, schloss Kira. „Ich bin einfach gegangen. Ich habe gepackt, bin ins Haus zurückgekehrt, um mich von den Zwillingen zu verabschieden, und …“

„Das dürfte dir nicht leicht gefallen sein“, warf Kit ein.

Die Tränen, die Kira mühsam unter Kontrolle bekommen hatte, begannen wieder zu fließen. „Es war furchtbar. Ich hätte die beiden am liebsten gepackt und wäre mit ihnen davongelaufen. Zum Glück war Cutty oben. Deshalb habe ich ihn nicht noch einmal gesehen. Ich glaube, das hätte ich nicht überlebt.“

„Wie wäre es mit einer Tasse Tee?“, fragte Kit.

Kira nickte zustimmend und putzte sich erneut die Nase.

Kit ging um die Arbeitsinsel herum, die das winzige Apartment in eine Schlafecke und eine Küche teilte. Als sie zurückkehrte, waren Kiras Tränen versiegt.

Sie reichte der Freundin eine der beiden Tassen, setzte sich wieder auf die Couch und trank ein paar Schluck. „Erzähl mir genau, was Cutty über Marla gesagt hat“, forderte sie Kira auf.

„Er hat gesagt, er hätte erwartet, dass ich genauso wäre wie Marla“, antwortete Kira mit einem leichten Ärger in der Stimme. „Er hätte angenommen, ich würde alles so auf Vordermann bringen, dass mein Vater stolz auf mich gewesen wäre, und nicht einfach herumsitzen oder ihn zu einem Softballspiel oder einer Geburtstagsparty begleiten. Oder mit den Zwillingen zu spielen, anstatt die Arbeit zu erledigen, die getan werden muss.“

Kit runzelte die Stirn. „Hast du bei unserem Telefongespräch am Sonnabend nicht erzählt, er würde dich ständig darin bestärken, die Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben und dir keine Sorgen zu machen, wenn etwas nicht erledigt war?“

„Ja, das stimmt. Vielleicht war das eine Art Test. Oder er hatte es nicht wirklich ernst gemeint.“

„Du glaubst, es war eine Falle?“, fragte Kit.

„Nein, eigentlich nicht. Ich begreife nur nicht, weshalb er es immer wieder gesagt hat und es mir anschließend, als ich mich danach richtete, vorgeworfen hat.“

„Bist du sicher, dass er es dir vorgeworfen hat?“, fragte Kit freundlich.

„Wie soll er es denn sonst gemeint haben?“

„Du weißt, ich bin auf deiner Seite, Kira. Ich stehe hundertprozentig hinter dir. Ich frage mich nur, ob du nicht einiges von dem, was Cutty gesagt hat, anders verstanden hast, als er es meinte.“

Anstatt dieser Überlegung nachzugehen, griff Kira das entscheidende Wort auf, das ihr nicht aus dem Kopf ging. „Anders – das hat er auch noch gesagt. Er sagte, ihm wäre schließlich klar geworden, dass ich anders bin als Maria. Dass ich im Gegensatz zu Marla nicht Tom Wentworth’ echte Tochter sei.“

„Meinst du nicht, dass das ein gutes Zeichen ist, Kira?“, fragte Kit zögernd. „Für mich hört sich das alles gar nicht so schlimm an. Du weißt, dass Cutty deinen Vater für einen Tyrannen hielt. Und nach allem, was dieser Ad erzählt hat, war Marla ihrem Vater sehr ähnlich. Für mich klingt es wie ein Kompliment, wenn Cutty feststellt, dass du anders bist als Marla.“

Von diesem Standpunkt aus hatte Kira es noch nie betrachtet. Bevor sie antworten konnte, fuhr Kit fort: „Und was Cuttys angebliche Kritik betrifft, dass du herumsitzt oder ausgehst oder mit den Zwillingen spielst, anstatt die Hausarbeit zu erledigen … Vielleicht wollte er zum Ausdruck bringen, dass ihm das besser gefällt als das Verhalten deiner Schwester, die ihn niemals zu seiner Geburtstagsparty begleitet hätte.“

„Vergiss aber nicht, dass es Ad war, der mir von Marla erzählt hat. Nicht Cutty“, verteidigte Kira sich. Gleichzeitig keimte die leise Hoffnung in ihr auf, dass Kit recht haben könnte.

Kit hatte auch dafür eine Antwort. „Sein Freund hatte doch gesagt, dass Cutty nie ein schlechtes Wort über Marla verlieren würde – schon gar nicht dir gegenüber. Nachdem, was du mir erzählt hast, hat Cutty aber auch niemals etwas Positives über deine Schwester gesagt. Er war es nicht, der dir ständig vorhielt, dass Marla alles besser konnte als du. Das kam ausschließlich von dieser Betty. Auch all die Lobeshymnen über Marla stammten von anderen Leuten.“

Das stimmt, überlegte Kira, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte. Es waren immer Betty oder Leute aus der Stadt gewesen, die Marlas Loblied gesungen hatten. Cutty hatte nie darin eingestimmt.

Andererseits konnte sie sich unmöglich derart geirrt haben. Sie versuchte sich zu erinnern, bei welcher Gelegenheit Cutty selbst darauf bestanden hatte, dass die Sachen so blieben, wie sie bei Marla gewesen waren, oder dass sie so erledigt werden sollten, wie Marla es getan hätte.

Doch so viel Mühe sie sich gab, ihr fiel kein einziges Beispiel ein. Im Gegenteil. Nach dem ersten katastrophalen Tag mit dem Haushalt und den Zwillingen hatte Cutty sie sogar aufgefordert, nicht immer daran zu denken, wie Marla wohl alles gemacht hätte. Selbst als Marlas Lieblingsvase zerbrach, hatte Cutty es ziemlich ungerührt hingenommen. Es war Betty gewesen, die ihr ein schlechtes Gewissen eingeflößt hatte.

Kira senkte den Blick und ließ sich Kits Worte noch einmal durch den Kopf gehen. „Oh je. Wäre es möglich, dass ich voreilige Schlüsse gezogen habe, weil ich mich ständig in einem Wettstreit mit Marla betrachte?“, fragte sie ihre Freundin.

„Ja. Mir scheint, du hast alles, was Cutty sagte oder tat, durch eine von diesem Wettstreit gefärbte Brille gesehen“, bestätigte Kit taktvoll. „Du hast so viel Zeit deines Lebens damit verbracht, dich mit Marla zu vergleichen und deren Messlatte als für dich maßgebend zu betrachten, dass es dir schwer fällt, es anders zu sehen. Übrigens glaube ich, dass du diesen Wettstreit inzwischen gewonnen hast – zumindest in Cuttys Augen. Aber du bist derart daran gewöhnt, dich Marla unterlegen zu fühlen, dass du gar nicht erkennst, wenn es jemandem allein und ausschließlich um dich geht.“

Kira hob den Kopf und sah die Freundin wieder an. „Aber da ist noch etwas, Kit. Selbst wenn ich den Wettstreit in Cuttys Augen gewonnen habe und selbst wenn Ad begründete Vorbehalte gegenüber Marla hat – da sind immer noch Betty und fast alle Bewohner der Stadt, die Marla vergöttern und immer nur deren Schwester in mir sehen würden. Ich bin nicht sicher, ob ich an einem Ort leben möchte, wo die allgemeine Auffassung herrscht, dass ich Maria nicht das Wasser reichen kann.“

„Natürlich gefällt mir die Vorstellung nicht, dass du wegziehen könntest“, gab Kit zu. „Aber wen interessiert schon, was andere denken? In Northbridge gibt es einen tollen Mann, in den du wahnsinnig verliebt bist und der dich ebenfalls wahnsinnig liebt, und zwei kleine Mädchen, die du vergötterst und die dich ebenfalls vergöttern. Was spielt es da für eine Rolle, was die anderen denken? Vielleicht ähnelst du in dieser Beziehung wirklich Marla oder deinem Vater.“

Kira lachte trocken. „Es läuft also all es darauf hinaus, dass ich in deinen Augen ein Dummkopf bin und etwas kaputt gemacht habe, was das Beste hätte sein können, das mir jemals im Leben passiert ist.“

„Du weißt genau, dass ich dich nicht für einen Dummkopf halte. Du hast die Sache aus einer Perspektive betrachtet, die deinen Erfahrungen entspricht. Das ist völlig normal. Aber jetzt solltest du erst einmal schlafen. Morgen rufst du Cutty an, redest mit ihm und findest heraus, ob ich recht habe. Das kann in keinem Fall schaden.“

Nach ungefähr zwei Stunden Schlaf tat Kira mehr, als Cutty nur anzurufen, wie Kit ihr geraten hatte. Sie nahm ein Flugzeug nach Montana, mietete erneut einen Wagen und war gegen drei Uhr am folgenden Nachmittag nur noch wenige Meilen von Northbridge entfernt.

Hatte sie den Verstand verloren? Wahrscheinlich. Doch sie schob den Gedanken rasch beiseite und konzentrierte sich einzig auf den Grund, weshalb sie gekommen war – um festzustellen, ob Cutty und sie ernsthaft eine Chance hatten.

Nachdem Kit gegangen war, hatte sie nicht einschlafen können und lange über die Worte der Freundin nachgedacht. Sie hatte auch lange darüber nachgedacht, was Ad ihr erzählt hatte. Vor allem aber hatte sie über Cutty nachgedacht.

Und sie war zu der Erkenntnis gelangt, dass Kit recht haben könnte. Vielleicht hatte sie tatsächlich die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Obwohl sie in Gedanken beinahe jede Minute durchgegangen war, die sie mit Cutty verbracht hatte, war ihr kein einziger Moment eingefallen, bei dem er sie kritisiert hatte. Sie erinnerte sich auch an kein einziges Mal, wo er sie mit Marla verglichen hatte. Oder ihr gesagt hatte, dass sie etwas genau so erledigen solle, wie Marla es immer getan hatte.

Und was die Einstellung der Bewohner von Northbridge gegenüber Marla betraf … Irgendwann gegen vier Uhr morgens war Kira zu dem Schluss gekommen, dass diese Liebe, diese Achtung und diese Bewunderung, für die ihre Schwester hart gearbeitet hatte, nicht in Frage gestellt werden durften. Sie gehörten zu Marla und der Erinnerung an sie. Vor allem, nachdem Marla wahrscheinlich einen hohen Preis dafür gezahlt hatte.

Wichtiger noch: Zum ersten Mal in ihrem Leben erkannte Kira, dass sie sich von Marias Schatten befreien konnte, wenn sie sich nicht ständig mit ihrer Schwester verglich. Wenn sie aufhörte, Marlas Maßstäbe auch als ihre zu betrachten. Es kam nicht darauf an, was all die Leute dachten, solange sie, Kira, nicht glaubte, dass sie weniger Wert wäre als ihre Schwester. Was andere dachten, durfte keinen Einfluss auf sie oder ihre Entscheidungen haben, wenn es um Cutty oder die Zwillinge ging.

Solange es nicht Cutty war, der die Erinnerung an Marla am Leben halten wollte – so wie Tom Wentworth all die Jahre versucht hatte, die Erinnerung an seine erste Frau aufrechtzuerhalten –, und solange es nicht Cutty war, der sie ständig mit Marla verglich, sollte es ihr egal sein.

Eine andere Sache hingegen war, dass sie durch ihr Verhalten gestern Vormittag die Tür verschlossen haben könnte, die Cutty für sie geöffnet hatte. Und das wäre ihr durchaus nicht egal.

Die Tankstelle, an der Kira bei ihrer ersten Ankunft in Northbridge nach dem Weg gefragt hatte, kam in Sicht. Bei dem Gedanken, wie nahe sie schon bei Cuttys Haus war, begann ihr Magen zu flattern.

Wenn Kit sich nun geirrt hat und ich recht habe

Dieser Gedanke war ihr wohl ein Dutzend Mal während der Fahrt durch den Kopf gegangen, und sie hatte ihn jedes Mal verdrängt. Diesmal ließ er sich nicht so leicht beiseite schieben.

Und wenn Cutty gemeint hatte, er akzeptiere die Tatsache, dass sie nicht so gut war wie Marla, und wolle es trotzdem mit ihr versuchen? Was verstand er in diesem Fall darunter? Wollte er einfach, dass sie in Northbridge blieb? Oder in dem Apartment neben seinem Haus? Oder ging es um mehr?

„Ich bin hier, um alles aufzuklären“, ermahnte Kira sich. „Anschließend werde ich meine Entscheidung treffen. Wenn Cutty mir nicht anbietet, was ich möchte, kann ich jederzeit Nein sagen und nach Denver zurückkehren.“

Mit solchen Überlegungen hatte sie sich Mut für diese Reise gemacht. Sie würde herausfinden, was Cutty gestern wirklich gemeint hatte, und dann – erst dann – beschließen, wie es mit ihr weitergehen sollte.

Kira hielt am Straßenrand vor Cuttys Haus an und fingerte am Zündschlüssel, um den Motor des ungewohnten Wagens auszumachen.

Betty würde wahrscheinlich da sein. Sie sehnte sich wahrlich nicht danach, der Haushälterin nach dem raschen tränenreichen Abschied von den Zwillingen gestern erneut gegenüberzutreten.

Aber sie hatte die lange Reise nicht unternommen, um jetzt zu kneifen, weil Betty sie nervös machte. Deshalb zog sie den Zündschlüssel ab, glitt hinter dem Lenkrad hervor und ging mit klopfendem Herzen in Richtung Haus.

Die Vordertür stand offen wie beim ersten Mal, als sie diese Stufen hinaufgestiegen war. Diesmal war Cutty nicht in der Diele und telefonierte. Kira sah ihn durch das Fenster in der Tür. Er saß auf dem Sofa und hatte sein eingegipstes Bein auf ein Kissen auf dem Couchtisch gelegt.

Sie hörte weder den Fernseher noch das Radio oder die Stereoanlage laufen. Er schien einfach in die Ferne zu starren. Mit einer sehr verdrießlichen Miene in seinem hübschen, frisch rasierten Gesicht.

Dann entdeckte er sie, und seine Trübsal verwandelte sich in Verblüffung. Cutty sprang von der Couch und erreichte gleichzeitig mit ihr den Eingang.

Einen kurzen Moment fürchtete Kira, er würde ihr die Haustür vor der Nase zuschlagen und das Schloss verriegeln. Doch so war es nicht. Er öffnete die Gittertür weit und sagte zögernd: „Hi!“

„Hi“, antwortete Kira ebenso.

„Du bist so ungefähr die Letzte, die ich erwartet hatte“, erklärte Cutty. „Komm rein.“

Kira betrat das Haus. Es müsste verboten sein, dass ein Mann in schlichten Jeans und einem weißen T-Shirt derart gut aussieht, überlegte sie. Jetzt würde es ihr noch schwerer fallen als gestern, ihn wieder zu verlassen, falls es nötig werden sollte.

Sie blickte sich suchend um. Die Zwillinge und Betty waren weder zu sehen noch zu hören.

„Betty ist mit den Mädchen im Park. Du hast sie gerade verpasst“, sagte Cutty, der erriet, was sie suchte.

„Sehr gut“, antwortete Kira. „Dann können wir in Ruhe reden.“

Cutty deutete mit seinem Stock zum Wohnzimmer. Kira ging voran und drückte heimlich beide Daumen, dass es kein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, dieses Gespräch am Telefon zu führen, wie

Kit vorgeschlagen hatte.

Aber jetzt war es zu spät. Ihr blieb nichts übrig, als das zu tun, weshalb sie gekommen war. Nervös hob sie einige Spielzeugsachen vom Boden auf.

„Ich denke, du willst mit mir reden?“, sagte Cutty hinter ihr.

Kira legte die Sachen in die Spielzeugkiste und drehte sich zu ihm. Cutty hatte sich auf seinen Stock gestützt und beobachtete sie aufmerksam.

Jetzt oder nie

„Ja, das stimmt.“

„Und worüber willst du mit mir reden?“

Kira nahm ihren ganzen Mut zusammen und antwortete: „Ich muss unbedingt herausfinden, ob ich dich gestern Morgen vielleicht missverstanden habe.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Ich dachte, ich hätte mich ziemlich klar ausgedrückt. Ich bat dich zu bleiben, und du sagtest Nein.“

Offensichtlich war Cutty nicht nur verwirrt wie bei dem gestrigen Gespräch. Er war jetzt auch verärgert.

„Was du über mein Bleiben gesagt hast, war alles andere als klar. Aber vielleicht können wir uns darüber unterhalten, nachdem du mir erst das Übrige erklärt hast.“

„Das Übrige?“

Kira holte tief Luft, um sich zu stärken. „Ich habe dich folgendermaßen verstanden …“ Sie erzählte Cutty, wie sie seine Worte aufgefasst hatte. Offen und ehrlich. Sie ließ nichts aus, auch nicht ihre eigene Unsicherheit, als es um den Vergleich mit ihrer Schwester ging, und ihr tiefes Bedürfnis, mindestens ebenso gut zu sein wie Marla, wenn nicht noch besser.

Je länger sie redete, desto stärker entspannte sich Cuttys Miene. Als sie fertig war, zog er ungläubig die Brauen in die Höhe.

„Du hast mich völlig falsch verstanden“, sagte er. „Ich weiß inzwischen, dass Ad dir einiges über Maria und mich erzählt hat. Er hat es mir gestern Abend gestanden. Er sagte, er hätte geredet, weil er wusste, dass ich es nicht selber tun würde. Das stimmt. Ich würde nichts Schlechtes über Marla sagen, weil sie nicht mehr da ist und weil alles, was sie tat oder sagte, Vergangenheit ist. Niemandem wäre damit gedient, es wieder aufzuwärmen. Außerdem legte sie unwahrscheinlich viel Wert auf ihren guten Ruf. Diesen Ruf wollte ich bei der lebenden Marla nicht beschädigen und werde es bei der toten erst recht nicht tun.“

Kira bewunderte Cuttys Loyalität, obwohl sie immer noch unsicher war. Sie musste unbedingt wissen, wie weit Ads Bericht neulich zutraf. „Dann war eure Ehe nicht so gut, wie Betty und all die anderen glauben?“

„Wäre Marla nicht schwanger geworden, hätte unsere Ehe wahrscheinlich keinen weiteren Monat gehalten. Wir waren damals beide noch Teenager. Nein, unsere Ehe war wirklich nicht so, wie die Leute glauben, Kira. Als du hier auftauchtest und anbotest, uns zu hellen, dachte ich, du müsstest zwangsläufig so sein wie deine Schwester. Das hätte ich nicht noch einmal ertragen. Deine Freundin hat recht. Ich war hoch erfreut, festzustellen, dass der größte Teil von dir völlig anders ist als Marla. Ich war froh, dass du bereit warst, auch einmal fünfe gerade sein zu lassen und mich zu dem Softballspiel, der Geburtstagsparty und dem Festakt zu meiner Ehrung zu begleiten. Als du mit den Zwillingen spieltest, anstatt wie eine Wilde zu arbeiten, um vor Bettys Rückkehr noch alles perfekt zu machen, wurde mir endgültig klar, dass du bleiben solltest.“

Eine ungeheure Erleichterung durchströmte Kira, und ihre Knie wurden weich. Trotzdem musste sie noch etwas wissen. Was genau verstand Cutty unter bleiben?

„Und jetzt erklär mir noch, was du darunter verstehst, wenn du sagst, dass ich bleiben soll“, sagte sie mutig.

Ein sinnliches Lächeln glitt über sein Gesicht. Cutty hob seinen Stock, hakte den Griff um Kiras Oberarm und zog sie zu sich heran.

„Offensichtlich habe ich mich gestern wirklich nicht klar ausgedrückt“, antwortete er. „Bleiben heißt, dass du nach Northbridge ziehen und mich heiratest sollst. Dass du Mel und Mandys Mutter werden sollst und wir gemeinsam noch weitere Kinder bekommen. Dass ich jeden Tag meines restlichen Lebens mit dir verbringen möchte und …“ Plötzlich betonte er jedes einzelne Wort. „Und dass ich dich so sehr liebe, dass es mich beinahe wahnsinnig macht.“

„Und du kannst mit dem Gedanken leben, dass vermutlich die ganze Stadt glaubt, du hättest dich verschlechtert?“, fragte Kira und lächelte jetzt ebenfalls.

„Die Leute werden dich bald ebenso lieben wie ich“, versicherte Cutty ihr. „Außerdem ist es mir ganz egal. Wichtig ist nur, dass du ein entschiedenes Ja dazu sagst, meine Frau zu werden.“

Eines musste Kira noch klären, wenn sie an eine mögliche Zukunft mit Cutty dachte, und am besten sofort. Doch sie zögerte einen Moment. Offensichtlich sah Cutty es ihr an, denn er fragte: „Was ist? Du wirst doch nicht Nein sagen?“

„Ich habe noch eine Bedingung“, antwortete sie vorsichtig. „Allerdings eine riesengroße.“

„Lass hören.“

„Die ganze Zeit, die ich hier war, musste ich immer denken: Dies ist Marlas Haus. Alles hier drin gehörte Marla.“

„Und du möchtest nicht in Marlas Haus und zwischen Marlas Sachen wohnen“, erriet Cutty.

Kira verzog das Gesicht. „Es tut mir leid. Natürlich ist es auch dein Haus, und es sind auch deine Sachen. Aber …“ Cutty lachte leise. „Ich habe verstanden. Du bist mir wichtiger als das Haus samt seinem Inhalt. Ich glaube auch, dass wir einen neuen Anfang machen sollten. Mel und Mandy werde ich allerdings behalten müssen“, fügte er scherzhaft hinzu.

Kira lachte erleichtert. „Die Zwillinge würde ich um keinen Preis der Welt aufgeben.“

„Ist das ein Ja auf meinen Heiratsantrag?“

„Ein ganz dickes Ja“, antwortete Kira nachdrücklich.

Cutty zog sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss, um ihre Vereinbarung zu besiegeln. Doch es dauerte nur einen Moment, und aus dem Kuss wurde viel mehr. Er entfachte das gleiche Feuer wie nach der Geburtstagsparty und weckte ein Verlangen, das heißer war als die Sonne.

Cutty hielt inne und blickte auf die Uhr auf dem Sims. „Hm. Wir dürften noch eine halbe Stunde für uns haben.“

Kira wusste, was er im Sinn hatte, und lächelte.

Das reichte Cutty. Wortlos nahm er ihre Hand und führte Kira durch die Küche und die Hintertür zu dem kleinen Apartment.

Sie vergeudeten keine Zeit, küssten sich verzehrend und streiften gleichzeitig ihre Kleider ab. Dann legte Cutty Kira auf die Matratze, und beide wurden von einer Leidenschaft erfasst, die weit über das hinausging, was sie beim ersten Mal erlebt hatten.

Keiner hielt sich zurück. Es gab nicht die geringste Scheu. Sie erforschten und erregten sich gegenseitig mit den Händen. Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Zungen begannen einen aufreizenden Liebestanz. Im nächsten Moment wurden ihre Körper eins. Sie bewegten sich in einem wiegenden Rhythmus zu immer neuen Höhen und schossen gemeinsam über den Gipfel der Lust hinaus.

Endlich rollte Cutty sich gemeinsam mit Kira zur Seite und küsste sie zärtlich auf den Kopf.

„Du kannst froh sein, dass du Ja gesagt hast. Ich glaube, sonst hätte ich dich hier bis zum Ende deiner Tage gefangen gehalten“, erklärte er nach einer Weile mit so rauer Stimme, dass Kira das Gefühl hatte, in der Luft zu schweben.

„Was würde ich denn dann sein? Deine Liebessklavin?“, fragte sie.

Er lächelte sinnlich. „Liebessklavin“, wiederholte er nachdenklich. „Das würde mir gefallen.“

„Aber denk an den Skandal, wenn Betty mich eines Tages hier mit Handschellen ans Bett gefesselt finden würde. ‚Kleinstadt-Polizist hält sich Mikrobiologin zu seinem persönlichen Vergnügen‘“, sagte Kira, als zitierte sie eine Schlagzeile.

„Das würde dir eine Menge Sympathien eintragen. Die ganze Stadt würde dich zu ihrem neuen Idol erheben.“

Kira merkte plötzlich, wie unwichtig ihr die Meinung der anderen war, solange sie nur in Cuttys Armen liegen konnte und wusste, dass er ihr gehörte. „Ich glaube, deine Frau zu sein, wird mir vollauf genügen“, antwortete sie lachend.

Er lehnte sich zurück und sah sie eindringlich an. Kira wunderte sich über den Ausdruck in seinen Augen. Ihre einfache Bemerkung schien ihn tief angerührt zu haben.

„Das will ich hoffen“, sagte er leise.

Sie legte die Hand seitlich an sein Gesicht und küsste ihn zärtlich. „Ich liebe dich, Cutty“, sagte sie aus vollem Herzen.

„Und ich liebe dich auch. Mehr, als mir bewusst war, bis du gestern plötzlich abgereist bist. Tu mir das nie wieder an.“

Vom Haus drangen Geräusche herüber. Betty war mit den Zwillingen zurück.

„Wir sollten aufstehen und uns anziehen, bevor sie uns hier ertappt“, sagte Kira.

„Ja, das sollten wir wohl“, antwortete Cutty lächelnd und küsste sie ein letztes Mal.

Sie streiften ihre Kleider rasch wieder über, kämmten ihr Haar und sorgten dafür, dass alle Spuren der letzten halben Stunde verschwanden.

Trotzdem blieb das warme Leuchten in Kiras Gesicht. Es wurde verstärkt von der Erkenntnis, dass sie endlich die wahre Bestimmung ihres Herzens gefunden hatte. Ihre wahre Liebe. Dass sie Cutty gefunden hatte.

Und mit ihm zwei entzückende kleine Mädchen, die sie nicht mehr lieben könnte, wenn sie sie selbst geboren hätte.

Diese beiden hübschen Mädchen waren eine wunderbare Zugabe und machten ihr Leben komplett.

– ENDE –

IMPRESSUM

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© 2004 by Victoria Pade
Originaltitel: „Wedding Willies“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1525 - 2006 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Louisa Christian

Umschlagsmotive: comstock / ThinkstockPhotos

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733773243

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
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1. KAPITEL

Es war beinahe halb zehn Uhr abends, als Kit MacIntyres Bus nach Northbridge, Montana, einfuhr. Sie war der letzte Passagier, und der Fahrer entlud ihr Gepäck und trug es persönlich in die Bahnhofshalle.

„Ich übernachte hier und fahre morgen früh die Tour wieder zurück“, erzählte er auf dem Weg dorthin.

Die kleine Bahnhofshalle war leer, und die einzige Angestellte, deren Schalter Informations- und Kartenverkaufsschalter zugleich war, wollte gerade die große Eingangstür abschließen. Sie begrüßte den Fahrer mit seinem Namen und nickte Kit zu. „Werden Sie abgeholt, meine Liebe?“, fragte sie, nachdem der Busfahrer wieder gegangen war.

„Meine Freundin wollte eigentlich hier sein“, sagte Kit und sah sich suchend um.

„Und wer ist Ihre Freundin?“

Überall anderswo hätte diese Frage seltsam geklungen. Doch Kira hatte Kit gewarnt, dass in dieser kleinen Stadt jeder den anderen kannte.

„Kira Wentworth“, antwortete sie.

„Ah, dann sind Sie wegen der Hochzeit am Samstag hier“, stellte die ältere Frau ehrfürchtig fest, als wäre es das gesellschaftliche Ereignis des Jahres.

„Ja, ich bin die Brautjungfer“, bestätigte Kit. „Außerdem backe ich die Hochzeitstorte.“

Langsam schien der Frau ein Licht aufzugehen. „Dann müssen Sie Kit sein. Ich habe von Ihnen gehört. Meine Nichte hat in Colorado geheiratet und wollte unbedingt eine Torte von Kit’s Cakes. Als Kira erzählte, wer ihre Torte backt, fiel mir der Name gleich wieder ein.“

„Ja, ich bin Kit MacIntyre.“

„Ich habe Kira heute noch nicht gesehen. Weiß sie, wann Ihr Bus ankommen sollte?“

Kit versicherte der Frau, dass sie ihrer Freundin die Ankunftszeit mitgeteilt hätte.

Die Frau warf einen Blick auf die große runde Wanduhr hinter dem Schalter. „Ich muss jetzt leider abschließen und nach Hause gehen. Aber es ist ja ein schöner milder Abend. Vielleicht können Sie draußen auf der Bank warten?“

Kit war sicher, dass Kira jeden Augenblick eintreffen würde. Die Freundin war immer zuverlässig. „Darf ich vorher noch zur Toilette gehen?“, fragte sie. „Ich werde mich beeilen.“

„Natürlich. Ich rufe meinen Mann schnell an und sage ihm, dass ich praktisch auf dem Weg bin.“

Kit folgte dem Pfeil auf dem alten Hinweisschild zu den Toiletten und trat ein. Sie war froh, dass sie noch etwas Zeit hatte, um ihr Make-up aufzufrischen und ihre Frisur wieder herzurichten. Sie würde Kiras Verlobten heute zum erst en Mal treffen und wollte nicht zu zerzaust aussehen.

Der Tag heute war wirklich lang gewesen! Erst hatte sie in ihrer Bäckerei noch letzte Hand an vier Hochzeitstorten legen müssen, bevor sie nach Hause eilte, packte und zum Flughafen fuhr. Nach der Landung dann noch die Überlandfahrt mit dem alten Bus, na ja, aber ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihr, dass sie längst nicht so erschöpft aussah, wie sie sich fühlte.

Ihre blasse Haut brauchte ein bisschen Rouge. Die Wimpertusche, die sie heute Morgen aufgetragen hatte, hielt zum Glück noch. Vorsichtig wischte sie eine winzige Spur mit dem kleinen Finger unter ihren violettblauen Augen fort. Sie frischte ihren hellrosa Lippenstift auf und löste das Gummiband, das ihr Haar zu einem Pferdeschwanz hielt.

Das Haar fiel in unzähligen wilden Locken über ihre Schultern. Kits Locken ließen sich einfach nicht bändigen. Doch wenn sie das Haar kurz schneiden ließ, fehlte das Gewicht, um es niederzudrücken, und es stand ihr von allen Seiten am Kopf ab. Wie eine Clownsfrisur.

Wenigstens ist nichts gegen die Farbe einzuwenden, dachte Kit, bürstete die dunkle haselnussbraune Mähne und ließ sie locker um das Gesicht fallen.

Anschließend legte sie ihr Kosmetiktäschchen wieder in die Handtasche und kehrte in die Halle zurück.

„Kira ist immer noch nicht da“, verkündete die Frau.

„Das macht nichts. Ich warte draußen“, antwortete Kit freundlich und folgte der Frau mit ihrem Koffer und ihrer riesigen Einkaufstasche, die ihre Backformen und Küchengeräte enthielt, durch die Vordertür.

„Wenn Kira und Cutty noch in ihrem alten Haus wohnen würden, könnten Sie zu Fuß gehen“, sagte die Bahnhofsangestellte. „Aber das neue Haus ist ziemlich weit weg von hier. Mit dem Koffer und der Tasche … Nun, ich bin sicher, dass Kira gleich hier sein wird.“

„Ich komme zurecht, machen Sie sich keine Sorgen“, versicherte Kit.

„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht“, erklärte die Frau und eilte davon.

Es war ein schöner Augustabend. Warm, aber nicht zu heiß. Kein Lüftchen regte sich.

Trotzdem wünschte Kit, ihre Freundin würde kommen. Es war beinahe unheimlich still. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.

Von der Bank aus, auf der sie saß, bot Northbridge einen hübschen Anblick. Der Busbahnhof lag gegenüber einer Tankstelle, mit der zusammen er am einen Ende der Main Street eine Art Eingangstor zur eigentlichen Stadt bildete.

Kit konnte nicht die ganze Hauptstraße einsehen. Doch sie sah, dass sich zwei- und dreigeschossige Backsteingebäude zu beiden Seiten reihten. Die Häuser wirkten so altmodisch, dass sie sich nicht gewundert hätte, wenn plötzlich eine Pferdekutsche auf sie zugekommen wäre.

Große schmiedeeiserne Laternen beleuchteten die Gehsteige zu beiden Seiten der Main Street. Sie waren von Blumenkübeln umgeben, in denen unzählige gelbe, orangerote und rotbraune Blumen blühten.

Doch so hübsch der Anblick war, Kit hätte ihn lieber an einem gemütlichen Nachmittag genossen, während Kira und sie zum Shoppen durch die Geschäfte bummelten. Sie überlegte, ob sie zur Tankstelle gehen und ihre Freundin anrufen sollte. Da bemerkte sie plötzlich eine Bewegung weiter unten an der Main Street.

Ein Mann hatte eines der Gebäude verlassen und kam direkt auf sie zu. Kira hatte erzählt, dass Northbridge eine sehr sichere Stadt sei. Trotzdem wurde es Kit ein bisschen flau im Magen.

Es war schon dunkel, und sie war völlig allein. Weit und breit war kein Mensch, der sie hören würde, wenn sie um Hilfe rief. Und der Mann kam nicht nur auf sie zu. Als er ungefähr einen Block entfernt war, begann er zu lächeln und winkte freundlich.

Kiras Verlobter war es nicht. Die Freundin hatte ihr ein Foto von sich und Cutty sowie seinen neunzehn Monate alten Zwillingstöchtern geschickt.

Bedrohlich wirkte der Mann nicht. Im Gegenteil, er sah eher fantastisch aus. Richtig toll. Geradezu unwahrscheinlich toll.

Doch das war noch längst keine Garantie dafür, dass er ungefährlich war.

Mit seinen langen muskulösen Beinen kam er rasch näher. Er hatte eine schmale Taille und breite kräftige Schultern. Sein schwarzes Haar war an den Seiten kurz und oben etwas länger geschnitten und leicht zerzaust. Und erst sein Gesicht! Mit diesen gemeißelten Zügen hätte er Werbung für Rasierapparate machen können: hohe Wangenknochen, eine breite eckige Stirn, eine schmale, sehr gerade Nase, etwas zu dünne Lippen, die aber zu ihm passten … Wenn er lächelte, bildeten sich zwei Grübchen in seinen Wangen und gaben ihm etwas sehr Schelmisches.

„Kit?“, fragte er, als er nur noch wenige Meter entfernt war.

„Ja“, antwortete sie zögernd und hätte nicht sagen können, was sie mehr beunruhigte: dass sie auf einer verlassenen Straße von einem Fremden angesprochen wurde oder dass dieser Fremde geradezu umwerfend gut aussah.

Er legte seine große Hand auf seine breite Brust, die von einem roten Polohemd bedeckt wurde, und erklärte: „Ich bin Ad, Ad Walker. Ein Freund von Cutty.“

Erwartungsvoll hielt er inne, um festzustellen, ob sie diesen Namen schon gehört hatte. Was der Fall war.

Sie selbst hatte auch den Zeitungsartikel gelesen, der Kira bewogen hatte, nach Northbridge zu reisen. Der Artikel berichtete, wie Cutty Grant und Addison Walker in ein brennendes Haus gelaufen waren und eine Familie vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Dabei waren sie selbst verletzt worden. Cutty hatte seinen Fußknöchel gebrochen, und Addison Walker war bewusstlos geworden. Kira hatte in Cutty Grant den Mann ihrer Schwester Marla erkannt und war hierher gereist in der Hoffnung, Marla endlich, nach dreizehn Jahren, wiederzufinden. Doch sie war zu spät gekommen – Cuttys Frau war vor mehr als einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

„Kira hat mir von Ihnen erzählt“, sagte Kit reichlich spät. „Ich bin Kit Maclntyre“, fügte sie überflüssigerweise hinzu und streckte ihm die Hand hin.

Ad legte seine warmen kräftigen Finger lächelnd um ihre Hand und schüttelte sie. Glühende Hitze schoss Kit den Arm hinauf und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Wie konnte ein einfaches Händeschütteln so sinnlich sein?

„Freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte er.

Der Händedruck war viel zu schnell vorüber. Kit war fast enttäuscht, als Ad sie losließ. So enttäuscht, dass es ihr schwer fiel, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

„Mel – eines der Zwillingsmädchen – ist gestürzt und hat sich am Kopf verletzt“, erklärte Ad Walker. „Die Wunde musste genäht werden. Deshalb baten Cutty und Kira mich, ob ich Sie abholen könnte.“

„Geht es dem kleinen Mädchen gut?“

„Ja. Es war nur eine Platzwunde“, versicherte Ad. „Ich weiß nicht, ob Kira es Ihnen schon erzählt hat: Sie schlafen bei mir.“ Rasch hob er die Hand. „Keine Sorge, es war anders gemeint, als es klang. Ich habe zwei Apartments über meinem Restaurant.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, aus der er gekommen war. „Ich wohne in dem einen und vermiete das zweite an College-Studenten. Während der Ferien steht es leer. Da Kiras und Cuttys neues Haus noch eine halbe Baustelle ist und Sie sowieso den Backofen des Restaurants für Ihre Hochzeitstorte benötigen, dacht en wir, Sie hätten nichts dagegen, in das leere Apartment zu ziehen.“

Kira hatte ihr das zwar längst erzählt. Aber Kit gefiel der Klang von Ad Walkers Stimme so sehr, dass sie es gern ein zweites Mal hörte.

„Es sind zwei völlig getrennte Wohnungen“, fuhr er fort. „Ich werde nicht einmal merken, ob Sie da sind oder nicht. Und umgekehrt.“

Kit bezweifelte, dass zwei getrennte Wohnungen genügen würden, um den Gedanken zu vertreiben, dass dieser Mann irgendwo in der Nähe war.

Andererseits nahm sie ja gerade eine Auszeit von den Männern. Nach zwei gewaltigen Katastrophen, für die sie selbst verantwortlich war, ging sie allen romantischen Beziehungen vorläufig aus dem Weg.

Ad Walker hob ihren Koffer auf. „Ich wohne nicht weit von hier die Straße hinab. Was halten Sie davon, wenn wir nun erst einmal in Ihr Apartment gehen, damit Sie sich frisch machen und auspacken können. Anschließend würden wir etwas essen und trinken, während wir auf Kira und Cutty warten. Ist Ihnen das recht?“

„Natürlich.“ Kira nahm ihre Einkaufstasche von der Bank. „Ich habe meine eigenen Formen für die Torte mitgebracht, weil ich nicht wusste, wie weit Sie in Ihrem Restaurant zum Backen eingerichtet sind.“

„Abgesehen von den Öfen habe ich überhaupt nichts zum Kuchenbacken“, gab er zu, während sie sich auf den Weg machten. „Bei mir gibt es nur die üblichen Snacks – Fisch und Chips, Hamburger, Sandwichs, Suppen und so weiter. Außerdem Käse- und Schokoladenkuchen. Aber die bekomme ich gefroren geliefert.“

„Oh je.“

Ad Walker lachte tief in der Kehle. „Ja, es ist mir ziemlich peinlich, so etwas gegenüber jemandem zuzugeben, der seinen Lebensunterhalt mit feinsten Kuchen verdient.“

„Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein paar meiner Grundrezepte bei. Es ist wirklich nicht schwierig zu backen. Es würde erheblich besser schmecken als die vorgefertigten Massenprodukte.“

Er sah sie lächelnd an. „Sie würden mir einige Ihrer weltberühmten Rezepte verraten?“

„Nun, vielleicht nicht die berühmtesten“, ging Kit auf seinen Scherz ein. „Aber ich könnte Ihnen einige weniger bekannte im Tausch gegen Bett und Frühstück beibringen.“ Die Neckerei mit diesem Mann gefiel ihr besser, als gut für sie war.

Sie hatten das Restaurant inzwischen erreicht. Ein großes Neonschild verkündete den Namen: „Adz“. Die Vorderfront bestand fast ganz aus Fenstern mit dunkelgrünen Cafehausgardinen, die den Blick auf die Gäste vollkommen versperrten. Der Eingang lag etwas zurück, und Ad Walker öffnete die Tür.

Das Lokal mit seiner dunklen Holzverkleidung, der gedämpften Beleuchtung und den Nischen an den Wänden rings um die frei stehenden Tische sah aus, als stammte es direkt aus England oder Irland. Eine lange geschnitzte Theke mit einer Fußleiste aus Messing und einer Spiegelwand dahinter verstärkte die freundliche einladende Atmosphäre.

„Hübsch“, stellte Kit fest.

„Danke. Mir gefällt es auch.“

Ad Walker leitete Kit zu einer Pendeltür neben der Theke, die in die Küche führte – ein hell erleuchteter Raum mit Spülbecken, Herden und Öfen an den Wänden und Arbeitstischen aus rostfreiem Stahl in der Mitte.

Das Personal beachtete die beiden kaum, während Ad Kit durch die Hintertür in eine sehr hübsche Gasse führte.

Die Straße war mit Backsteinen gepflastert, die wie Kopfsteine wirkten. Die Häuser waren gelb und weiß gestrichen und hatten hölzerne Fensterläden. Kutschlaternen auf beiden Seiten sorgten für die Beleuchtung.

„Wir wohnen da oben“, sagte Ad und deutete zu einer Holztreppe, die auf der Rückseite des Restaurants zu einer breiten Galerie mit zwei Türen führte.

Er öffnete die erste Tür und reichte Kit den Schlüssel. Dann schaltete er das Licht ein und ließ ihr den Vortritt.

Ein Doppelbett und ein Kosmetiktisch standen auf der einen Seite. Ihnen gegenüber befand sich eine winzige Küche. Ein Sofa mit passendem Sessel, ein Schreibtisch und ein Fernseher ergänzten die Einrichtung.

„Na ja, das Apartment ist recht unpersönlich“, gab Ad zu und zeigte mit seinem langen Arm auf zwei Türen. „Links ist der Kleiderschrank, rechts das Bad. Ich habe das Bett heute Früh schon bezogen. Frische Handtücher sind im Schrank im Bad. Im Kühlschrank ist nur das Wesentlichste. Eine Kaffeemaschine gibt es leider nicht. Wenn Sie etwas essen oder trinken möchten, können Sie jederzeit ins Restaurant kommen.“

„Ich erwarte nicht, dass Sie mich durchfüttern, während ich hier bin. Das Apartment ist völlig in Ordnung. Es gefällt mir“, versicherte Kit und meinte es ernst.

Ad Walker hob ihren Koffer über den Fußteil des Bettes, der ebenso wie der Kopfteil aus Messing bestand. Und Kit stellte ihre Einkaufstasche auf den winzigen Küchentisch.

Sie drehten sich fast gleichzeitig zueinander, und Kit sah Ads Augen nun zum ersten Mal ganz aus der Nähe. Der Mann hatte erstaunlich lebhafte aquamarinblaue Augen. Einen Moment verlor sie sich ganz in deren Tiefe.

Dann brachte Ads Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. „Möchten Sie einen Moment allein sein, oder wolt en wir gleich nach unten gehen?“

„Ehrlich gesagt, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und bin halb verhungert. Ich würde jetzt gerne in Ihr Restaurant gehen.“

Er lächelte, als hätte er auf diese Antwort gehofft. „Sehr gut. Ich empfehle Fish and Chips. Die sind heute besonders gut“, schlug er vor. „Aber Sie können natürlich auch etwas anderes essen.“

„Fish and Chips sind mir völlig recht. Und Eistee dazu, falls Sie welchen haben.“

Sie durchquerten die Küche erneut, und Ad gab die Bestellung auf. Dann schenkte er zwei Gläser mit Eistee aus einem Krug hinter der Theke voll und deutete zu einem kleinen freien Ecktisch. „Setzen wir uns da drüben hin.“

„Sie brauchen mir keine Gesellschaft zu leisten, falls Sie etwas anderes zu tun haben – oder tun möchten“, sagte Kit höflicherweise.

„Ich habe weder etwas anderes zu tun, noch möchte ich es“, antwortete er: „Es sei denn, Sie wollen lieber allein sein.“

„Nein“, antwortete Kit ein bisschen zu schnell. „Ich möchte Ihnen nur keine Ungelegenheiten bereiten.“

„Das tun Sie nicht. Es macht mir Freude, Ihnen Gesellschaft zu leisten.“

Diese Antwort gefiel ihr besser, als sie sollte. Doch sie verdrängte den Gedanken rasch. Sie setzten sich einander gegenüber, und Kit suchte nach einem unverfänglichen Thema, um sich mit dem Mann zu unterhalten, den sie gerade erst kennengelernt hatte und von dem sie den Blick nicht lassen konnte.

Aber wahrscheinlich fiel es jeder Frau schwer, nicht in dieses hübsche Gesicht und auf diesen muskulösen Körper zu schauen.

Plötzlich fiel ihr der Zeitungsartikel wieder ein.

„In dem Zeitungsartikel stand, dass Cutty und Sie eine Familie aus einem brennenden Haus gerettet haben und dabei selber verl etzt worden sind. Cuttys Gips kam letzte Woche herunter. Ich hoffe, bei Ihnen ist auch wieder all es in Ordnung?“

„Ja, ich bin so gut wie neu.“ Ad klopfte an seinen Kopf. „Ein Schädel hart wie Stahl. Auch das Haus ist inzwischen repariert, und die Familie konnte wieder einziehen. Selbst der versengte Schwanz des Hundes sieht wieder normal aus. Alles ist wie früher.“

„Außer, dass meine beste Freundin nicht mehr bei mir gegenüber wohnt“, stellte Kit fest, während die Kellnerin ihr Essen brachte. „Und das ist Ihre Schuld.“

Ad lachte leise. „Meine Schuld? Was habe ich damit zu tun?“

„Sie haben Kira von Cutty und seiner schweren Vergangenheit erzählt. Das gab den Ausschlag für ihre Entscheidung, die Beziehung mit Cutty zu vertiefen.“

„Aha.“ Sein Lächeln bewies Kit, dass er sie durchschaut hatte und wusste, dass sie ihn nur neckte. Doch anstatt eine Bemerkung über die Rolle zu machen, die er in der Romanze seines Freundes gespielt hatte, deutete er mit dem Kinn auf ihren Teller. „Wie schmeckt es?“, fragte er.

Kit hatte den in Bierteig gebackenen Kabeljau und die Pommes schon probiert und antwortete aufrichtig: „Der beste Fisch, den ich jemals gegessen habe. Allerdings glaube ich kaum, dass er mich für den Verlust meiner besten Freundin entschädigen kann.“

„Nicht einmal ein bisschen?“

Flirtete er mit ihr? Und sie mit ihm? Kit war sich nicht sicher. Aber ihr gefiel die kleine Plänkelei. Sehr sogar.

„Höchstens ganz, ganz wenig.“

„Hm. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie ebenfalls keinen geringen Anteil daran, dass Kira und Cutty am Samstag heiraten. Kira erzählte mir, dass Sie ihr die Augen geöffnet und sie dazu gebracht hätten, zu Cutty zurückzukehren.“

„Es war längst zu spät, als ich das Spielfeld betrat. Ich konnte nur noch das Beste aus allem machen“, erklärte Kit lachend. „Der eigentliche Schuldige sind Sie.“

Also das hatte wirklich nach Flirten geklungen.

Hör sofort auf, befahl Kit sich im Stillen. Was soll das denn? Du wolltest doch keinen Mann mehr an dich heranlassen!

„Dann muss ich wohl überlegen, wie ich es wieder gut machen kann“, gab Ad viel sagend zu.

Kit ging auf seinen Tonfall ein. „Das ist eine schwierige Aufgabe.“

„Ich liebe Herausforderungen.“ Seine aquamarinblauen Augen funkelten schelmisch und hielten sie derart in ihren Bann, dass Kit alles um sich herum vergaß. Sie bemerkte ihre Freundin erst, als Kira direkt neben ihr stand und fragte: „Stören wir etwa?“

Ad schien ebenso überrascht zu sein, dass Kira Wentworth und Cutty Grant eingetroffen waren.

„Kira!“, rief Kit und sprang rasch auf, damit die beiden nicht merkten, wie sehr dieser Mann sie gefesselt hatte.

Kira umarmte die Freundin herzlich. „Es tut mir unendlich leid, dass ich dich nicht vom Bus abholen konnte. Du kommst extra aus Montana, und ich bin nicht einmal da, wenn du eintriffst. Mel war mit dem Kopf an die Kaminecke geschlagen. Die Wunde musste genäht werden.“

„Ich weiß. Ad hat es mir erzählt. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich freue mich, dass du jetzt da bist“, versicherte Kit.

Ad war ebenfalls aufgestanden und hatte zwei Stühle von einem anderen Tisch herbeigezogen. „Was kann ich euch bringen?“, fragte er. „Etwas zu essen oder zu trinken?“

„Ein Bier, bitte“, sagte Cutty.

„Für mich auch“, erklärte Kira. „Ich wollte unbedingt, dass Kit Cutty heute noch kennenlernt.“

Während Ad das Bier holte, stellte sie die beiden einander vor. Dann setzten sie sich an den kleinen Tisch, und was immer zwischen Kit und Ad Walker vorgegangen war, war nun zu Ende.

2. KAPITEL

Nach einer unruhigen Nacht stand Ad am Sonntag früh auf. Er ging in die Küche seines Apartments, bereitete ein großes Frühstück zu und warf dabei immer wieder einen wachsamen Blick durch das Fenster auf die Gasse – und die Galerie, die er mit Kit teilte. Und verwünschte sich selbst dafür.

Er war nicht seit Anbruch der Dämmerung auf den Beinen, weil er ein Frühaufsteher war. Und er bereitete auch kein doppeltes Frühstück vor, weil er ungewöhnlich hungrig war. Und er blickte nicht aus dem Fenster, weil das Wetter sich ständig änderte.

Kit Maclntyre war der Grund.

Er hatte schlecht geschlafen, weil die Frau ihm nicht aus dem Kopf ging. Und er bereitete eine doppelte Portion vor, damit er sie zum Frühstück einladen konnte.

Er beeilte sich und sah ständig aus dem Fenster, damit sie ihm nicht entwischte und zum Essen ins Restaurant ging.

Das waren absolut schlechte Gründe. Allesamt.

Andererseits lernte er nicht jeden Tag eine Frau kennen, mit der er sich so gut verstand. Bei der er sich wohl fühlte und die – wenn er sich nicht irrte – in seiner Gegenwart ebenfalls völlig entspannt war. Sie hatten herumgealbert und sich gegenseitig geneckt. Die Zeit mit ihr hatte – nun, Spaß gemacht. So etwas hatte er lange nicht mehr erlebt.

Natürlich fiel es ihm nicht schwer, sich mit anderen Frauen zu unterhalten. Sie aufzuziehen und mit ihnen zu scherzen.

Aber bei Kit war gestern noch etwas hinzugekommen.

Anziehungskraft.

Okay, gab Ad zu. Er fühlte sich zu Kit hingezogen, ob er es wollte oder nicht. Und er wollte es nicht.

Was hatte er nach dem Debakel mit Lynda geschworen?

Nie wieder eine Frau von außerhalb. Schon gar nicht eine Beziehung mit einer, die einen eigenen Betrieb in einer anderen Stadt besaß.

Er verstand sich selbst nicht. Dabei war Kit gar nicht sein Typ. Normalerweise bevorzugte er Frauen mit von der Sonne gebleichtem Haar und gebräunter Haut. So Sportskanonen. Und solche mit endlos langen Beinen.

Kit war völlig anders.

Sie hatte kaffeebraunes Haar, das sie ein bisschen wild und ungezähmt aussehen ließ. Es umrahmte ihre blasse Porzellanhaut, die nicht aussah, als wäre sie jemals länger der Sonne ausgesetzt worden. Außerdem hatte sie keine sonderlich langen Beine. Wie sollte sie auch bei höchstens einssechzig?

Und trotzdem.

Nie zuvor war ihm eine Frau mit so feinen Zügen und so hohen Wangenknochen begegnet. Mit solch einer schmalen makellos geformten Nase. Mit so perfekten vollen rosa Lippen. Mit so dunklen purpurblauen Augen von der Farbe der Blüten des Busches, den seine Mutter besonders liebte.

Große funkelnde violette runde Augen mit den längsten, dichtesten schwarzen Wimpern der Welt …

Ad stieß einen langen Seufzer aus.

Kit besaß auch einen fantastischen Körper. Ihre Brüste hatten seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken mehr als einmal auf sich gezogen, und ihr Hintern würde genau in seine Hände passen …

Ja, ihr Aussehen gefiel ihm ganz entschieden.

Aber die Frau lebt in Denver, ermahnte er sich. Sie hat einen eigenen Betrieb in Denver. Sie ist nur wegen der Hochzeit hier. Und dann fährt sie wieder zurück in ihr eigenes Leben.

Diese Tatsache sollte ihn eigentlich abschrecken. Doch Ad musste ständig daran denken, dass Kit die ganze Woche seine Nachbarin sein würde.

„Du rennst in dein eigenes Elend“, murmelte er. Die Art von Elend, die er schon einmal erlebt hatte. Und die er nie wieder heraufbeschwören wollte.

Plötzlich hörte er, wie die Tür zu Kits Apartment sich öffnete und wieder schloss. Im nächsten Moment war er an der eigenen Tür und riss sie auf.

„Meine Güte, haben Sie mich erschreckt“, sagte Kit und drückte eine Hand auf ihre Brust.

„Tut mir leid“, entschuldigte Ad sich.

Kit trug weiße Shorts, die ihn zweifeln ließen, ob sie wirklich keine langen Beine hatte, und ein rotes T-Shirt mit winzigen Ärmeln. Es saß so eng, dass ihm der Atem stockte. Ihr Haar fiel in weichen Locken hinab. Und ihre Haut strahlte frisch gewaschen und …

Wow!

Ad brauchte einen Moment, bevor ihm klar wurde, was er tat. Energisch rief er sich zur Ordnung.

„Ich wollte Sie abfangen, bevor Sie nach unten gehen“, erklärte er. „Haben Sie Lust, mir beim Frühstück Gesellschaft zu leisten?“

„Das ist sehr nett“, antwortete Kit, und er merkte, dass ihm auch ihre leise sinnliche Stimme gefiel. „Aber Kira hat angerufen und gesagt, dass sie mich früher abholen kommt. Ich treffe mich gleich mit ihr. Trotzdem vielen Dank.“

„Gern geschehen.“ Ad tat, als machte ihm ihre Absage nichts aus.

„Ach, da hätte ich noch eine Frage: Schließt Ihr Restaurant sonntags früher?“, erkundige sich Kit.

„Ja, um acht.“

„Wäre es Ihnen recht, wenn ich dann die Böden für die Hochzeitstorte backen würde? Ich mache sie immer im Voraus und friere sie ein. Wenn die Küche leer ist …“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte Ad ihr zu. „Sobald das Restaurant geschlossen ist, haben Sie freie Bahn.“

Kit zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr: „Ja. Aber da ist noch etwas. Natürlich nur, falls es Ihnen nichts ausmacht und Sie keine anderen Pläne haben – es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie dabei sein könnten.“

„Ich soll den Assistenten für eine Konditormeisterin spielen?“

„Nein, das nicht gerade. Aber Sie könnten mir sagen, wo ich alles finde, wie Ihr Rührgerät arbeitet, wie lange Ihr Backofen vorgeheizt werden muss und was es sonst zu beachten gibt. Ich weiß einfach nicht, wie Ihre Küche funktioniert.“

„Kein Problem“, sagte Ad und freute sich jetzt schon darauf, mit Kit allein zu sein.

„Sie haben nichts anderes vor?“

„Nein.“

„Wunderbar. Dann sehen wir uns kurz nach acht.“

Du bist ein Rindvieh, Walker, schalt Ad sich kurz darauf. Ein verdammtes Rindvieh. Die Frau lebt in Denver. Erinnere dich an Lynda und die Jahre mit ihr

Doch es half alles nichts. Er freute sich wie ein kleiner Junge auf den Abend.

Kit stand vor Ads Restaurant und wartete auf Kira. So verlegen wie gerade war sie nicht einmal als linkischer Teenager in der High School gewesen. Wie war sie bloß auf den Gedanken gekommen, diese Shorts anzuziehen?

Sie hatte die Shorts aus einer Laune heraus gekauft, ohne sie anzuprobieren, und zu Hause festgestellt, dass sie viel zu kurz waren. So etwas würde sie niemals tragen. Andererseits waren sie nicht sehr teuer gewesen, und sie hatte auch keine Zeit gehabt, sie umzutauschen. Deshalb hatte sie die Shorts eingepackt und mit nach Northbridge genommen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sie dem jungen Mädchen zu schenken, das regelmäßig bei Kira als Babysitter einsprang.

Und jetzt trug sie die Shorts selbst.

Und kam sich richtig albern darin vor.

Und noch viel alberner, wenn sie an den Grund dafür dachte.

Dabei hatte sie wirklich hübsche züchtige geschmackvolle Kleider eingepackt, in denen sie gut aussah und sich wohl fühlte.

Doch als sie die Sachen heute Morgen durchgesehen hatte, war ihr alles so langweilig, so spießig vorgekommen. Sie wollte sexy aussehen. Nichts als sexy. Und das lag an Ad Walker.

Sie könnte sich sonstwohin dafür beißen.

Trotzdem hatte ihr Ads Reaktion eben sehr gefallen. Auch seine Stimme, die plötzlich heiserer geklungen hatte.

Andererseits, was sollte das Ganze? Sie wollte bestimmt nichts mit Ad Walker anfangen. Es konnte ihr also völlig gleichgültig sein, ob er sie wahrnahm oder nicht. Es sollte ihr gleichgültig sein.

Er war der beste Freund des Verlobten ihrer besten Freundin. Sie würden sich diese Woche ein paar Mal sehen und anschließend wieder getrennte Wege gehen.

Weshalb war es ihr trotzdem so wichtig, dass Ad sie bemerkte und dass ihm gefiel, was er sah?

Das war nicht die einzige Frage, die Kit durch den Kopf ging. Viele andere kamen hinzu. Zum Beispiel: Weshalb beschäftigte dieser Mann vom ersten Moment an alle ihre Gedanken? Weshalb hatte sie gestern im Bett gelegen und überlegt, wo er wohl auf der anderen Seite der Wand schlief und was er dabei trug? Und weshalb hatte ihr erst er Gedanke ihm gegolten, als sie heute Morgen erwachte?

Okay, gab Kit zu. Sie hatte einen attraktiven Mann kennengelernt – einen umwerfend attraktiven Mann, der ihren gesamten Verstand ausschaltete und sie alle Lektionen vergessen ließ, die sie schmerzlich gelernt hatte.

Was nicht hieß, dass mehr daraus werden musste als der

Wunsch, diese unmöglichen Shorts anzuziehen. Das würde sie nicht zulassen. Sobald sie bei Kira war, würde sie sich von ihr eine Jeans borgen und die Shorts ausziehen. Und sie würde dafür sorgen, dass sie alles – Ad Walker eingeschlossen – absolut nüchtern und praktisch betrachtete.

Sie war nur für eine Woche in Northbridge. Und Ad Walker war nur einer von vielen Gästen auf der Hochzeitsfeier. Jemand, zu dem sie höflich und nett sein musste. Mehr nicht.

Was machte es, dass er sagenhafte aquamarinblaue Augen hatte, ein markantes Kinn und einen unwiderstehlichen muskulösen Körper, bei dessen Anblick ihre Knie weich wurden? Dass ihr Puls sich allein schon bei dem Gedanken beschleunigte, heute Abend mit ihm allein zu sein? Wo sie heimlich seinen knackigen Hintern betrachten, seine Stimme und sein Lachen hören und die Grübchen sehen konnte, die sich in seinen Wangen bildeten, wenn er lächelte?

Vielleicht sollte sie die Shorts doch anbehalten.

Nein! Nein! Nein! schrie Kit stumm, sobald sie merkte, wohin ihre Gedanken wanderten. Das musste unbedingt aufhören. Sie hatte aus gutem Grund beschlossen, eine Auszeit von Männern einzulegen, und musste unbedingt bei ihrem Vorsatz bleiben. So schwer es ihr bei einem Mann wie Ad Walker unmittelbar vor ihrer Nase auch fiel.

Ein Kombi mit Kira am Steuer hielt am Straßenrand an. Kit sprang auf den Beifahrersitz und rief, ohne die Freundin zu begrüßen: „Du musst mir unbedingt ein paar Jeans borgen.“

„Okay“, antwortete Kira verwirrt.

„Ich trage diese Shorts hier heute zum ersten Mal, und sie gefallen mir überhaupt nicht.“

„Äh ja, sie sind schon ziemlich kurz“, gab Kira zu. „Ich kann aber auch gern einen Moment warten, wenn du wieder nach oben gehen und dich umziehen möchtest. Wir haben es nicht eilig.“

Das vielleicht nicht. Aber wenn sie nach oben ging, könnte sie erneut mit Ad Zusammentreffen und müsste ihm erklären, warum sie noch einmal in ihr Apartment ging. Oh Gott, nein, das wäre zu peinlich!

„Ich möchte ungern noch einmal durch das Restaurant laufen“, sagte sie deshalb. „Lieber trage ich etwas von dir. Ich wollte die Shorts sowieso deiner Babysitterin schenken. Ach so, und dann bräuchte ich noch ein Gummiband, um mein Haar hochzubinden. Ich hätte es nicht offen lassen dürfen. Es macht mich noch verrückt.“

„Okay“, wiederholte Kira. „Äh, Kit, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja. Ich fühle mich einfach nicht wohl in diesen Shorts“, log sie.

„Okay“, wiederholte Kira zum dritten Mal, immer noch leicht verwirrt, und fuhr los.

Normalerweise hätte Kit der Freundin alles anvertraut, was sie über Ad Walker dachte und fühlte. Sie hätten darüber geredet, es ausdiskutiert und viel gelacht. Und anschließend hätte sie sich besser gefühlt. Kira hätte die Angelegenheit sicher nüchterner betrachtet und ihr wie schon so oft geholfen, ihre Empfindungen richtig einzuordnen.

Doch obwohl sie den ganzen Tag mit Kira verbrachte, fand Kit keine Gelegenheit, ein paar Minuten mit ihrer besten Freundin allein zu reden.

Auf der kurzen zehnminütigen Fahrt nannte Kira ihr den knappen Zeitplan für den Tag heute und die restliche Woche vor der Hochzeit. Und als sie das zweistöckige Haus im Kolonialstil erreichten, in das sie kürzlich mit Cutty und den Zwillingen gezogen war, herrschte dort ein so gewaltiger Trubel, dass an ein persönliches Gespräch nicht im Geringsten zu denken war.

Cutty beaufsichtige die lebhaften neunzehn Monate alten Mädchen, die ihre Finger in alles und jedes steckten. Installateure bauten gerade eines der Badezimmer um, und eine ältere Frau namens Betty, die früher Cuttys Haushälterin und das Kindermädchen der Zwillinge gewesen war und jetzt nur noch stundenweise half, packte mit Kira und Kit kleine Päckchen mit Nüssen und Bonbons für jedes Hochzeitsgedeck.

Bei so vielen Leuten ringsum und so viel Arbeit hatte Kit keine einzige Minute gefunden, um der Freundin zu gestehen, wie schwer es ihr fiel, nicht ständig an Ad Walker zu denken.

Im Nu war der Tag vorüber. Auf der Rückfahrt erklärte Kira, was sie am nächsten Tag erledigen mussten, setzte Kit unten an der Treppe zu den Apartments ab und fuhr wieder davon.

Kit eilte die Treppe hinauf und schlüpfte in ihr Apartment, ohne dem Mann zu begegnen, der ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen war.

Vielleicht betrachte ich alles durch eine rosarote Brille, überlegte sie, während sie die Tür hinter sich schloss. Schließlich hatte sie nicht sehr viel Zeit mit Ad verbracht. Außerdem war sie nach der langen Reise müde gewesen. Sehr müde sogar. Möglicherweise hatte die Fantasie ihr einen Streich gespielt, und sie sah den Mann in einem besseren Licht, als es der Wirklichkeit entsprach.

Obwohl er heute Morgen tatsächlich fantastisch ausgesehen hatte …

Heute Abend würde sie bestimmt feststellen, dass er nur ein Mann wie jeder andere war.

Mit dem Gefühl, gut für eine neue Begegnung mit Ad gewappnet zu sein, zog Kit sich für die Arbeit um.

Der Bäckerkittel, den sie mitgebracht hatte, verbarg ihr rotes T-Shirt und ihre Jeans. Es ist gut, dass ich darin völlig geschlechtslos wirkte, sagte sie sich.

Sie zurrte das Gummiband um ihr Haar noch ein bisschen fester, damit sich auch ja keine Locke löste. Doch der Versuchung, ihr Rouge und ihre Wimperntusche aufzufrischen, konnte sie nicht widerstehen. Das ist völlig harmlos, redete sie sich ein.

Anschließend nahm sie ihre Einkaufstasche mit den Backformen, den Geräten und einigen Zutaten und stieg die Treppe hinab.

Er ist ein Mann wie jeder andere, wiederholte sie auf dem Weg nach unten. Er ist nichts Besonderes. Er ist ein ganz gewöhnlicher Kerl.

Ein ganz gewöhnlicher Kerl, der wahrscheinlich schreiend davonlaufen würde, wenn er von ihrer Vergangenheit erfuhr.

Kit legte die Hand auf den Griff der Küchentür, stählte sich innerlich für die Begegnung mit Ad und trat ein.

„Da sind Sie ja“, begrüßte Ad sie. „Ich hatte schon Angst, dass Sie mich vergessen hätten.“

Ich wünschte, ich könnte es … „Ich wollte nur sicher sein, dass Ihr Personal für heute fertig ist, bevor ich mich hier breit mache“, log sie. In Wirklichkeit hatte sie um acht Uhr noch um die richtige Haltung gerungen, Ad wieder gegenüberzutreten.

Ein einziger Blick auf ihn, und ihre Behauptung, dass er ein ganz gewöhnlicher Kerl wäre, verlor alle Gültigkeit. Himmel, der Mann sah unwahrscheinlich gut aus. Er trug schlichte Jeans und ein grünes Polohemd mit dem Namenszug des Restaurants auf der Brusttasche. Sowohl die Jeans als auch das Hemd saßen wie angegossen und betonten seine breiten Schultern, seine kräftige Brust, seine schmale Taille, seine schlanken Hüften und seine muskulösen Schenkel.

Er war frisch rasiert und roch fantastisch – ein Duft nach frischer Seeluft, der ebenso verlockend wie verführerisch war.

Sie musste unbedingt aus seiner Reichweite kommen.

„Wie wäre es mit einem Glas Eistee oder Limonade, während wir arbeiten?“, fragte Ad.

„Limonade wäre mir sehr recht“, nahm Kit sein Angebot an und überlegte, ob sie sich die kalte Flüssigkeit nicht lieber über den Kopf schütten sollte.

Während Ad zwei Gläser füllte, ging sie zu dem Arbeitstisch in der Mitte und begann, ihre Einkaufstasche auszupacken. Sie durfte unter keinen Umständen einfach nur dastehen und ihn anstarren. Auch wenn sie genau das am liebsten gemacht hätte!

„Zucker, Mehl, Vanille und Likör habe ich von zu Hause mitgebracht, weil ich spezielle Sorten und Marken verwende“, begann sie, einfach um irgendwas zu sagen. „Außerdem hatte ich Kira gebeten, in einem Lebensmittelgeschäft hier irische Butter zu bestellen. Die irische Butter ist einfach die beste, wissen Sie? Eier könnte ich von Ihnen bekommen, meinte Kira.“

„Ja, natürlich“, bestätigte Ad. „Auch alles andere, was immer Sie brauchen.“

Oh, da würde mir einiges einfallen! „Das wird nicht nötig sein. Die Himbeeren und die Schlagsahne kann ich spät er noch besorgen. Oh, da ist ja noch die Schokolade“, fügte sie hinzu und griff tief in die Tasche. „Ich habe meine eigene Schokolade dabei – weiße und halbbittere. Das muss ebenfalls eine bestimmte Sorte sein. Belgische.“

Ad brachte die Limonadengläser zum Tisch und reichte Kit eines. „Himbeeren und Schokolade? Das wird keine gewöhnliche Hochzeitstorte, nicht wahr?“

Kit trank einen Schluck und beobachtete diesen fantastischen Mann verstohlen über den Rand ihres Glases. „Ich werde dunkle Schokoladenböden backen und mit Himbeerlikör tränken“, erklärte sie. „Anschließend kommt eine Schicht Schokoladencreme darauf und darüber dick Himbeerpüree. Das Ganze wird mit einer dünnen Schokoladenglasur überzogen und mit einer Creme aus Butter und weißer Schokolade verziert.“

„Meine Güte. Backen Sie lieber mal eine riesige Torte. So etwas haben die Leute hier bestimmt noch nie gesehen. Wenn es nur halb so gut schmeckt, wie es klingt, werden die

Gäste wohl mehr als ein Stück Torte essen.“

„Keine Sorge. Das Ganze wird eine vierstöckige Pyramide mit fünf weiteren Torten rings um die untere Etage. Kira möchte sicher sein, dass genug für alle vorhanden ist.“

Ad zählte die unterschiedlichen runden Kuchenformen, die Kit auf dem Tisch gestapelt hatte.

„Tatsächlich, neun Formen. Sieht ganz danach aus, als hätten wir jede Menge Arbeit.“ Er breitete die Arme weit aus. „Verfügen Sie nach Belieben über mich.“

Kit lachte leise und verdrängte den Gedanken daran, dass sie eine bessere Verwendung für diesen Mann wüsste, als die Formen auszubuttern. Aber genau diese Aufgabe teilte sie ihm zu. Außerdem sollte er das Pergamentpapier für die Böden der Formen zuschneiden.

Während Ad sich an die Arbeit machte, begann Kit, das Eiweiß zu schlagen und den Teig vorzubereiten.

Das Laufgeräusch des elektrischen Rührgeräts war zu laut, um sich nebenher noch richtig zu unterhalten. Kit gab nur hin und wieder Anweisungen, und Ad führte sie aus. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich unterhalten können. Das hätte Kit vielleicht davon abgehalten, den Mann immer wieder verstohlen zu beobachten. Festzustellen, wie geschickt seine Hände und seine langen kräftigen Finger waren. Wie sich seine Brauen zusammenzogen, wenn er sich konzentrierte. Oder seinen Hintern zu betrachten, als er die Schere fallen ließ und sich bückte, um sie wieder aufzuheben.

Nachdem die Tortenböden im Ofen waren, räumten Kit und Ad die Küche gemeinsam auf. Anschließend konnten sie nur noch warten.

„Setzen wir uns nach draußen, da ist es kühler“, schlug Ad vor und nickte in Richtung Restaurant.

Sie ließen die Pendeltür offen, damit Kit die Herduhr piepen hören konnte, und nahmen ihre Limonadengläser mit. Ad hob zwei Stühle von den Tischen, damit sie sich setzen konnten.

Kit zog automatisch ihren Kittel aus, wie sie es immer nach Abschluss ihrer Arbeit tat. Erst als sie ihren Kittel abgestreift hatte, fiel ihr ein, dass sie das Kleidungsstück nicht nur als Schutz vor den Spritzern getragen hatte, sondern auch, um ihr hautenges rotes T-Shirt zu verbergen, das sie heute Morgen mit dem Gedanken an Ad gewählt hatte.

Doch jetzt war es zu spät. Ihr blieb nichts übrig, als so zu tun, als bemerkte sie seinen kurzen anerkennenden Blick auf ihre Brüste nicht.

„Sie scheinen sich in einer Restaurantküche auszukennen“, stellte er fest, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten.

„Das will ich hoffen. Mein erster Job bestand darin, in der Bar meines Onkels Pizzas zu backen. Onkel Mackie war der Bruder meiner Mutter. Er besaß einen kleinen Imbiss gleich bei uns um die Ecke.“

„Sie waren eine Pizzabäckerin?“, fragte Ad verblüfft.

„Mit allem Drum und Dran. Ich kann den Teig in die Luft werfen und anschließend wieder auffangen“, bestätigte sie lachend.

„Das würde ich gern einmal sehen“, sagte er und zog seine linke Braue viel sagend in die Höhe.

„Das kann ich mir vorstellen.“

„War das Pizzabacken der Grund, weshalb Sie Bäckerin geworden sind?“

„Ich habe schon als Kind gern Kekse gebacken. Aber die Pizzas gaben tatsächlich den Ausschlag. Ich liebte das Gefühl des Teigs, den Duft der Hefe. Dass ich aus derart einfachen Zutaten so etwas Leckeres anfertigen konnte.“

Ihre Stimme hatte einen sinnlichen Ton angenommen, und Kit unterdrückte ihn rasch.

„Wie dem auch sei“, fuhr sie fort. „Ich begann zu experimentieren und tat mehr Zucker in den Teig, damit ich Zimtrollen backen konnte. Anschließend ging ich zu Blechkuchen und aufwändigeren Keksen über. Am Ende kamen auch Pasteten und Torten hinzu. Als ich mit der High School fertig war, beschloss ich, nicht aufs College zu gehen, sondern eine Kochschule zu besuchen, um Konditorin zu werden.“

„Haben Sie in dieser Zeit weiter im Restaurant Ihres Onkels gearbeitet?“

„Auch noch eine Weile nach meinem Abschluss. Mein Onkel überließ mir einen Teil seiner Küche, damit ich jedes Dessert anfertigen konnte, das mir einfiel. Wo sonst hätte ich als blutige Anfängerin so selbstständig arbeiten können?“

„Und wann haben Sie das Restaurant verlassen?“

„Als ich meine eigene Bäckerei aufmachte. Zwei Jahre hatte ich jeden Cent gespart. Dann hatte ich genug zusammen, um einen Laden neben dem Restaurant zu mieten und die Öfen und die notwendige Einrichtung zu kaufen.“

„Arbeiten Sie dort immer noch?“

„Nein“, antwortete Kit, nachdem sie einen weiteren Schluck Limonade getrunken hatte. „Nach einigen Jahren wurde mein Betrieb zu groß, und ich brauchte mehr Platz. Inzwischen hatte ich festgestellt, dass ich mit Torten am meisten Geld verdiente. Deshalb stieg ich von Brot, Brötchen und süßen Teilchen ganz zur Konditorei um und gründete Kit’s Cakes.“

„Ihre Torten laufen fantastisch, wie ich gehört habe. Es ist kaum zu glauben, dass Sie allein von Hochzeitstorten leben können.“

Kit lachte über seine Skepsis. „Ich backe auch andere Torten. Für Partys, Abschiedsfeiern, Polterabende, Geburtstage und so weiter. Den größten Teil meines Umsatzes mache ich aber tatsächlich mit Hochzeitstorten. Die Torte für Kira und Cutty ist mein Geschenk für die beiden. Sie würden sich wundern, was ich normalerweise für eine Tortenpyramide fordern kann. Hoffen wir, dass Hochzeiten nie aus der Mode kommen“, schloss Kit mit einem Scherz, bei dem Ad erneut lächelte und seine Grübchen wieder sichtbar wurden.

Die Herduhr piepte, und Kit eilte in die Küche. Die Böden waren gut durchgebacken, mussten aber noch zehn Minuten ruhen und restlos auskühlen, bevor sie verpackt werden und in den Gefrierschrank kommen konnten. In der Zwischenzeit spülten Kit und Ad die Backformen aus und kehrten danach ins Restaurant zurück.

„Falls ich Sie langweile oder Sie etwas anderes erledigen müssen, kann ich jederzeit gehen“, erklärte Kit. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass Ad eigentlich keinen Grund hatte, noch zu bleiben.

„Sie langweilen mich keinesfalls, und es gibt auch nichts, was ich jetzt tun müsste“, versicherte er.

Kit freute sich mehr, als sie ihm zeigen wollte. „Also gut“, sagte sie und trank einen weiteren Schluck. „Dann zu Ihnen. Wie sind Sie zu diesem Restaurant gekommen?“

„Ich habe hier früher die Tische abgeräumt“, antwortete Ad und blickte liebevoll in die Runde. „Schon mit zehn.“

„Mit zehn?“, wiederholte Kit nun. „War das nicht etwas zu jung?“

„Mein Dad war Automechaniker. Als ich zehn Jahre alt war, stürzte ein Wagen, unter dem er lag, auf ihn hinab. Er war auf der Stelle tot.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte Kit und zuckte bei dem Bild innerlich zusammen.

„Das ist lange her. Aber meine Mutter hatte bis dahin nicht gearbeitet und blieb mit fünf kleinen Kindern und einer jämmerlich geringen Summe aus einer Lebensversicherung zurück. Sie fand einen Job bei einer Textilreinigung. Trotzdem hatten wir zu kämpfen. Und ich dachte mit meinen zehn Jahren, ich könnte ein bisschen helfen.“

Kit stellte sich den kleinen Jungen vor, der sich schon derart verantwortlich gefühlt hatte. Sie war hin und her gerissen zwischen Mitleid und Bewunderung für ihn. „Wie haben Sie den Job eigentlich bekommen, obwohl Sie noch ein Kind waren?“

„Bing – Bingham Murphy – war damals der Besitzer dieses Restaurants. Er sponserte und coachte unser kleines Baseballteam. Er sagte, er könnte immer Hilfe gebrauchen, Boden fegen oder das schmutzige Geschirr abräumen, solche Dinge eben. Und falls sich jemand Geld für ein neues Fahrrad oder so verdienen wollte, solle er sich bei ihm melden. Als ich Bing erzählte, wie es bei uns zu Hause stand, überließ er mir den Job allein.“

„Sie haben jeden Tag gearbeitet? Nach der Schule und an den Wochenenden?“

„Ja. Ich fegte die Böden und den Gehsteig vor dem Haus, putzte die Fenster, trug den Abfall hinaus und räumte das Geschirr ab. Und schenkte Wasser für die Gäste nach.“

„Und dieser Bing hat Sie dafür bezahlt?“

„Natürlich. Außerdem kannten die Gäste unsere Familie und wussten, was mit meinem Dad passiert war. Sie wollten uns helfen, ohne dass es wie ein Almosen aussah. Deshalb gaben Sie mir ein Extra-Trinkgeld. Es kam ganz schön etwas zusammen.“

„Für einen zehnjährigen Jungen.“

„He, am Ende besaß ich mein eigenes Restaurant!“, scherzte Ad, als hätte der Verdienst in seiner Kindheit dafür gereicht.

„Wie haben Sie das geschafft?“, fragte Kit.

„Mit Beharrlichkeit. Ich tat so ziemlich alles, was es zu tun gab – bediente an den Tischen, stand hinter der Theke und kochte. Als ich mein Diplom in Betriebswirtschaft machte, hatte Bing sich schon auf sein Altenteil zurückgezogen, und ich führte den Betrieb. Er bot mir an, das Restaurant samt Gebäude zu kaufen, und ich zahlte die Summe in Raten ab. Vor zwei Jahren habe ich all es hier renoviert und teilweise umgebaut. Seitdem habe ich das Ge fühl, dass es wirklich meins ist.“

„Sie haben tatsächlich schon mit zehn Jahren Ihren Weg gefunden?“, fragte Kit verblüfft.

„Ja. Ich fühlte mich hier von Anfang an wie zu Hause.“

„Mir ging es bei meinem Onkel ähnlich. Es war harte Arbeit, aber auch schön.“

Ebenso schön, wie hier gemeinsam mit Ad zu sitzen, einen Vorwand zu haben, ihn anzusehen, und zu erleben, wie seine Augen von Aquamarinblau zu dunklem Türkis wechselten, wenn seine Gefühle sich änderten.

Doch es war alles andere als vernünftig, sich derart davon verzaubern zu lassen. Das war Kit klar. Energisch riss sie sich zusammen und stand auf.

„Die Kuchen sollten inzwischen gut ausgekühlt sein“, erklärte sie und nahm ihr Glas mit.

Ad folgte ihr in die Küche und half ihr, die Kuchen in Plastikfolie zu schlagen, in Beuteln zu versiegeln und in den Gefrierraum zu tragen, wo sie dem Personal nicht im Weg sein würden.

Anschließend sammelte Kit ihre Geräte wieder ein, und Ad schaltete die Lichter aus. Sie verließen die Küche, und er verschloss die Tür.

Den ganzen Weg die Treppe hinauf kämpfte Kit gegen das traurige Gefühl, dass der schöne Abend mit Ad zu Ende ging. Du bist nur auf Besuch hier, ermahnte sie sich, das ist nicht der Anfang einer Beziehung. Obwohl es ihr so vorkam.

„Hat Kira Ihnen gesagt, dass morgen Nachmittag die Anprobe für unsere Hochzeitskleidung ist?“, fragte Ad, als sie die Galerie erreicht hatten.

„Ja“, antwortete Kit und versuchte, nicht zu tief zu atmen. Ihr schwindelte ein bisschen vom Duft seines Rasierwassers – oder einfach von seiner Nähe.

„Der Schneider wohnt ein kleines Stück die Straße weiter hinab. Wollen wir gemeinsam hinübergehen?“

Sein Vorschlag gefiel ihr entschieden zu gut.

„Okay“, sagte sie so gleichmütig wie möglich.

„Anschließend könnten wir vier – Kira und Cutty sowie Sie und ich – gemeinsam hier zu Abend essen. Betty passt sowieso auf die Zwillinge auf, und den beiden täte eine kleine Pause nach dem Stress wegen der Hochzeit und dem Umbau des Hauses sicher gut.“

„Das glaube ich auch“, stimmte Kit zu.

Ad nickte zu seiner Tür. „Dann rufe ich Cutty jetzt an und lade ihn und Kira für morgen Abend ein.“

„Gute Idee.“

Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern blickte über ihren Kopf zu ihrem Apartment. „Hatten Sie vorige Nacht alles, was Sie brauchten? War das Bett nicht zu weich oder zu hart?“

„Nein, das Bett war perfekt, und ich hatte all es, was ich brauchte.“ Es war ihr nur schwer gefallen, nicht ständig an ihn in seinem Bett nebenan zu denken.

„Dann ist alles in Ordnung?“

„Absolut“, antwortete Kit. Bildete sie es sich ein, oder zog Ad die Zeit mit ihr absichtlich hinaus?

Nicht, dass sie es besonders eilig gehabt hätte. Ein ganz anderes Bild tauchte plötzlich vor ihrem inneren Auge auf. Eine Szene, in der ein Date zu Ende ging.

Ein Date, das sie sehr genossen hatte. Bei dem sie sich zum Abschied küssen würden.

Aber das würde in Wirklichkeit nicht passieren.

„Dann sehen wir uns morgen“, erklärte sie bestimmt, um ihren Traum zu vertreiben.

Ad nickte und sah sie an, als versuchte er, in ihren Augen zu lesen.

Ein Anflug von Panik erfasste Kit bei der Vorstellung, dass er ihre Gedanken ahnen könnte.

„Gute Nacht“, sagte er endlich und ging zu seiner Tür.

„Gute Nacht. Danke, dass ich Ihre Küche benutzen durfte und für Ihre Hilfe heute Abend“, fügte sie hinzu und öffnete ihre Tür.

„Gern geschehen. Jederzeit wieder“, scherzte er mit einem sinnlichen Ton in der Stimme und lächelte.

„Vorsicht, ich könnte darauf zurückkommen“, warnte sie ihn, betrat ihr Apartment und schloss die Tür hinter sich.

Dieser Ad Walker war absolut nicht wie alle anderen Männer! Die letzten Stunden mit ihm hatten sie jedenfalls nicht von dem Blitz geheilt, der sie bei ihrer ersten Begegnung getroffen hatte.

Und sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte.

3. KAPITEL

„Oh Kira, das ist ja noch hübscher, als ich es mir nach deiner Beschreibung vorgestellt hatte“, sagte Kit am späten Montag, als sie den ersten Blick auf Kiras Brautkleid warf.

Nach einem weiteren anstrengenden Tag des Organisierens war es nach fünf Uhr nachmittags geworden, als sie Betty mit den Zwillingen allein lassen und zur letzten Anprobe zum Schneider fahren konnten.

Cutty und Ad waren schon vorausgegangen, um ihre Smokings abzuholen. Sie würden später im Restaurant mit ihnen zusammentreffen.

Kit bedauerte vor allem, dass sie sich nicht gemeinsam mit Ad auf den Weg hatte machen können, wie ursprünglich geplant. Hallo, war sie nicht wegen Kira hier? Sie musste den Mann wirklich schleunigst aus ihrem Kopf bekommen, schleunigst!

„Einfach wunderschön“, wiederholte sie, während Kira auf das Podest in der Mitte des großen Raums stieg, wo der Schneider die letzten Änderungen vornehmen würde.

Kira drehte sich langsam im Kreis, damit Kit das Kleid von allen Seiten betrachten konnte. „Ja, es ist hübsch, nicht wahr?“, sagte sie ehrfürchtig.

Das Brautkleid bestand aus weißem Satin. Es hatte einen weiten bodenlangen Rock und ein mit Perlen besticktes eng anliegendes Oberteil mit herzförmigem Ausschnitt, der bis über die Schultern reichte. Zwanzig winzige Knöpfe reihten sich den Rücken hinab.

„Es ist perfekt“, erklärte Kit.

„Meinst du, es ist in Ordnung, dass der Schleier nur bis zu den Ellbogen reicht? Einen längeren wollte ich nicht. Außerdem finde ich, dass er von dem Kleid ablenken würde.“

„Diese Länge ist genau richtig“, versicherte Kit.

„Und was ist mit der Tiara? Ist sie nicht zu viel? Ich wollte den Schleier eigentlich mit einem Band befestigen. Aber er bauschte sich so nicht genug.“

Der Schleier wurde von einer kleinen schlichten Tiara aus Bergkristallen gehalten.

„Nein, sie ist nicht zu viel“, antwortete Kit, nachdem sie die Tiara einen Moment betrachtet hatte. „Sie ist genau richtig. Das Ganze ist absolut perfekt.“

„Bist du sicher? Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Wahrheit sagst.“

„Ja, ich bin absolut sicher. Das Kleid, der Schleier und die Tiara passen perfekt zusammen. Nur die Taille sollte noch etwas enger gemacht werden, wenn du mich fragst.“

Kira betrachtete sich im Spiegel und zog den Stoff zusammen. „Stimmt. Zwei Zentimeter könnten wirklich noch weg.“

„Das ist wirklich alles. Sonst würde ich nichts ändern“, erklärte Kit nachdrücklich.

Ihre Freundin schien endlich überzeugt zu sein, denn sie fragte: „Und was ist mit deinem Kleid? Gefällt es dir immer noch?“

Kira war extra nach Denver gekommen, um mit Kit zusammen ein Kleid auszusuchen. Anschließend hatte Kira es mit nach Northbridge genommen, und Kit hatte es seitdem nicht mehr gesehen.

„ Sogar noch besser als bei unserem Kauf, falls das möglich ist“, antwortete Kit und blickte in den Spiegel. „Ich hatte so viele Kleider anprobiert, dass ich mich gar nicht mehr richtig erinnert habe, wie hübsch es ist.“

Der federleichte milchkaffeebraune Stoff war mit unzähligen Wildblüten in zarten erdfarbenen Tönen bestickt. Das Kleid wurde von Spaghetti-Trägern gehalten und umspielte ihre Figur locker bis zum Boden. Der Ausschnitt vertief gerade, war aber tief genug, um den Brustansatz erkennen zu lassen. Der eingearbeitete BH und die Raffung unterhalb ihrer Brüste betonten Kits Oberweite sehr vorteilhaft.

„Es steht dir fabelhaft“, sagte Kira. „Der Saum muss ein bisschen gekürzt werden. Aber sonst ist alles in Ordnung.“

„Außerdem ist es herrlich bequem. Mir ist, als würde ich nur einen Slip tragen“, sagte Kit und wiegte sich ein wenig, um den schimmernden Stoff zu spüren.

Sie waren zum ersten Mal ein paar Minuten allein, und Kira bemerkte eine seltsame Unruhe bei der Freundin.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie. „Tut mir leid, ich hatte noch keine Minute Zeit, um in Ruhe mit dir zu reden. Es macht dir doch nichts aus, in den ganzen Wirbel um die Hochzeit einbezogen zu werden? Oder in dem Apartment zu wohnen anstatt bei mir?“

Kit hatte gehofft, die Freundin würde ihr irgendwann ein Stichwort liefern, um über ihre Verwirrung wegen Ad zu reden. Doch Kira war den ganzen Tag so beschäftigt gewesen, dass es ihr egoistisch vorgekommen wäre, sie auch noch mit den eigenen Sorgen zu belasten. Daran hatte sich nichts geändert.

„Das Apartment ist völlig in Ordnung. Außerdem hatte ich nicht erwartet, dass ich hier herumsitzen und Löcher in die Luft starren würde. Ich bin gekommen, um dir zu helfen!“, sagte sie deshalb.

„Ja, ich weiß. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, dass sich alles nur um mich dreht.“

„He, du bist die Braut! Natürlich muss sich alles um dich drehen.“

Das entsprach der Wahrheit, und es verstärkte Kits Entschluss, nicht über die seltsame Anziehungskraft zu reden, die Ad auf sie ausübte.

Aber dann kamen sie doch auf den Mann zu sprechen.

„Du musst ständig etwas gemeinsam mit Ad erledigen“, sagte Kira. „Ist dir das überhaupt recht?“

„Ich bin die Brautjungfer, und er ist Cuttys Trauzeuge“, antwortete Kit. „Da ist es unvermeidlich, dass wir gemeinsame Aufgaben haben.“

Ihre Freundin ließ nicht locker. „Du wohnst in dem Apartment direkt neben ihm, und du benutzt seine Küche für die Hochzeitstorte. Ihr seht euch erheblich öfter als Brautjungfern und Trauzeugen normalerweise. Geht das in Ordnung? Ich meine, es sah nicht so aus, als ob dir seine Gesellschaft unangenehm wäre. Als Cutty und ich am Samstag endlich im Restaurant eintrafen, hat keiner von euch unsere Ankunft überhaupt bemerkt. Trotzdem: Ist es dir lästig, ihn so oft zu sehen? Soll ich eine Ausrede wegen des Essens heute Abend erfinden, damit du nicht schon wieder mit ihm zusammentreffen musst?“

„Nein, auf keinen Fall“, sagte Kit und versuchte, nicht zu erschrocken zu klingen. „Ad möchte dir und Cutty eine kleine Erholungspause von dem ganzen Stress verschaffen. Es macht mir nichts aus, ihn schon wieder zu sehen. Er ist ein netter Kerl.“

Kira lächelte verschmitzt. „Ich hatte gehofft, dass ihr beide euch leiden könnt. Richtig gut leiden, meine ich“, fügte sie nachdrücklich hinzu.

„Ich glaube schon, dass wir uns ziemlich gut leiden können.“

„Gut genug, um euch rasend zu verlieben und zu heiraten, damit du ebenfalls nach Northbridge ziehst?“, scherzte Kira.

„Na, so gut nun wieder nicht“, erwiderte Kit im selben Ton.

„Aber du magst ihn?“

„Er ist ein netter Kerl“, wiederholte Kit.

„Cutty fragt sich nämlich, ob das Abendessen vielleicht nur ein Vorwand ist.“

„Ein Vorwand?“

„Um die Tatsache zu verschleiern, dass Ad gern mit dir zu Abend essen würde.“

„Ach, das glaube ich nicht“, sagte Kit. Sie war sicher, dass das Essen genau das sein sollte, was Ad gesagt hatte: eine kleine Pause für Kira und Cutty. Trotzdem durchrieselte sie ein lustvoller Schauer bei dem Gedanken an die andere Möglichkeit. „Er sieht mich ja ständig“, fügte sie vorsichtshalber hinzu. „Dieser Abend ist für euch.“

Die Tür zum Ankleideraum öffnete sich, und das Eintreffen des Schneiders beendete ihre Unterhaltung.

Während sie zusah, wie Kiras Kleid abgesteckt und ihr eigener Saum gekürzt wurde, konnte Kit die winzige Erregung darüber, dass Ad das Abendessen vielleicht doch ihretwegen angesetzt hatte, immer noch nicht ganz unterdrücken.

Ad und Cutty verließen das Herrengeschäft, bei dem sie ihre Smokings gekauft hatten, und gingen ins Restaurant, um dort auf Kit und Kira zu warten. Die Hektik des Abendbetriebs hatte schon begonnen. Doch sie fanden zwei freie Plätze an der Theke und bestellten ein Bier.

„Wir sind dir wirklich aufrichtig dankbar, dass Kit bei dir wohnen kann“, sagte Cutty. „Unser Gästezimmer dient derzeit als Abstellkammer für den Umbau und ist vollgestopft mit Werkzeug, Farbeimern und Elektrokabeln. Wir hätten nicht gewusst, wo wir das alles unterbringen sollen. Die Garage ist auch randvoll.“

„Das ist doch kein Problem“, versicherte Ad dem Freund. „Das Apartment steht leer. Weshalb sollte sie es nicht benutzen?“

„Ja. Aber du übernimmst jetzt auch unsere Gastgeberrolle und kümmerst dich um Kit. So war das eigentlich nicht gemeint.“

„Ach was, das ist halb so wild. Außerdem ist Kit ja fast immer bei Kira. Ich habe ihr gestern Abend nur ein bisschen in der Küche geholfen, das war alles.“

„Und sie am Busbahnhof abgeholt und ihr Gesellschaft geleistet, als wir mit Mel zum Arzt mussten.“

„Auch das war keine große Angelegenheit.“

„Trotzdem sind wir dir etwas schuldig.“

„Das ist wirklich nicht nötig“, versicherte Ad ein bisschen atemlos. Die Zeit mit Kit war garantiert keine Belastung für ihn gewesen. Ganz im Gegenteil.

Vielleicht war es seiner Stimme anzuhören, denn der Freund sah ihn seltsam an.

Doch Cutty sagte nichts, und Ad gab keine weitere Erklärung. Stattdessen tranken beide einen Schluck.

Nachdem sie die Flaschen wieder abgesetzt hatten, fuhr Cutty fort: „Dieses Abendessen ist eine gute Idee. Ich hatte so viel zu tun, dass es eine Ewigkeit her zu sein scheint, seit ich den letzten richtigen Bissen zu mir genommen habe.“

„Ein neues Haus zu kaufen und umzubauen, umzuziehen und zu heiraten – das hält dich ganz schön auf Trab.“

„Sicher. Allerdings … Ich will ehrlich sein, Ad. Geht es dir heute Abend tatsächlich darum, dass Kira und ich ein bisschen Auszeit haben? Oder hast du nicht eher einen Plan ausgeheckt, um ein bisschen Zeit mit Kit zu verbringen? Vielleicht gefällt es dir ja sogar, unsere Gastgeberrolle zu übernehmen.“

Ad warf dem Freund einen Seitenblick zu. „So, das hast du dich gefragt, ja?“

„Es stimmt also?“

„Ich lade dich zu einem Bier und zu einem kleinen Abendessen ein, und du vermutest geheime Absichten dahinter“, scherzte Ad und tat, als wäre er beleidigt.

„Aha. Ich stelle hiermit fest, dass du es nicht abstreitest. Wäre es möglich, dass du ernsthaft an Kit interessiert bist?“, fragte Cutty.

„Sie ist eine interessante Frau. Wir haben einiges gemeinsam. Zum Beispiel die Arbeit im Restaurant.“

„Na also. Du bist also tatsächlich an ihr interessiert.“

Ad trank einen weiteren Schluck Bier. „Nein“, erklärte er. „Also gut, dann lass es mich anders ausdrücken. Wärst du richtig an Kit interessiert, wenn sie in Northbridge geboren und aufgewachsen wäre?“

„Richtig?“, wich Ad aus.

„Wärst du es?“ Cutty ließ nicht locker.

„Vielleicht.“ Mehr konnte Ad unmöglich zugeben. Nicht weil er seinem Freund etwas vormachen wollte. Er durfte sein Interesse für Kit nicht weit er verfolgen. Wenn er seine Gefühle gegenüber Cutty eingestand, könnte es der erste Schritt sein, alle Vorsicht fallen zu lassen. Und er wusste, wohin das führen würde. In einen großen Liebeskummer. Nein, das hatte er wahrlich hinter sich.

„Aber weil sie nicht ständig hier lebt, willst du unter keinen Umständen eine Beziehung mit ihr.“

„Du hast es erfasst.“

Cutty aß ein paar Erdnüsse, die auf der Theke standen. „Wenn ich mich nicht irre, ist die Anzahl deiner Dates mit Frauen aus Northbridge ziemlich gering.“

„He, ich bin mit einigen ausgegangen“, wehrte Ad ab. „Ja, ein oder zwei Mal. Aber nie hast du dich derart überschlagen wie bei deiner Einladung zum Abendessen. Ich wette, du würdest ein langes Gesicht machen, wenn nur Kira und ich heute Abend mit dir am Tisch säßen.“

„Ich habe mich nicht überschlagen. Ich habe dich angerufen und dich gefragt, ob wir nach der Anprobe gemeinsam essen wollen. Was ist daran auszusetzen?“

Das hatte wirklich nach Verteidigung geklungen.

Ad verschlang ebenfalls ein paar Erdnüsse und spülte sie mit Bier hinunter.

„Ich finde, du solltest deinen Vorsatz, niemals etwas mit einer Frau von außerhalb anzufangen, noch einmal überdenken.“

Genau das hatte Ad die letzten drei Tage erstaunlich oft getan. Und er war jedes Mal zu demselben Schluss gekommen. Nein!

„Es ist ein guter Vorsatz, und ich bleibe dabei“, erklärte er seinem Freund.

„Kira stammt auch von außerhalb. Sie ist hierher gezogen, und es gefällt ihr sehr.“

„Ich hoffe, es bleibt dabei. Um deinetwillen.“

„Aber du willst dieses Risiko nicht eingehen.“

„Gebranntes Kind scheut das Feuer“, sagte Ad.

„Schade“, meinte Cutty und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Kit scheint etwas ganz Besonderes zu sein.“

„Und sie besitzt einen eigenen Betrieb in Denver. Kit liebt ihren Beruf. Sie liebt ihr Geschäft. Weshalb reden wir also darüber?“

„Oho. Der Mann zeigt seine Krallen!“, reizte Cutty den Freund und ahmte den ungeduldigen Ton nach, der sich in Ads Stimme geschlichen hatte.

Doch Ads Ungeduld richtete sich nicht gegen den Freund. Sie war ein verräterisches Anzeichen für seine eigene Verärgerung, denn tief im Herzen stimmte er Cutty zu. Kit war wirklich etwas Besonderes. Sogar mehr als das. Und er hatte tatsächlich nur an sie gedacht, als er die Einladung zu dem Abendessen heute ausgesprochen hatte.

Nur änderte das nichts. Nichts würde etwas an seinem Entschluss ändern, sich nie wieder auf eine Frau einzulassen, die nicht in Northbridge lebte. Das stand fest.

„Also gut, wenn du es unbedingt hören willst: Eure Brautjungfer ist sehr sympathisch, und es macht mir Spaß, ihr Gesellschaft zu leisten“, gab er widerstrebend zu. „Aber es ist völlig harmlos. Und damit Ende des Gesprächs.“

Cutty ließ sich nicht beirren. „Nicht zuletzt deshalb haben Kira und ich deine Einladung ja angenommen: damit es harmlos bleibt.“

Ad verdrehte die Augen, als wäre das der größte Unsinn der

Welt. In Wirklichkeit war es wirklich auch ein Grund für die Einladung gewesen. Er brauchte Cutty und Kira als Anstandswauwaus, weil er sonst für nichts garantieren konnte. Ein Abend mit Kit allein – so überaus reizvoll das klang, es war gefährlich!

„Okay, ich mag Kit. Aber nicht mehr und nicht weniger als viele andere Leute. Können wir das Thema jetzt beenden und über etwas anderes reden?“

Cutty zuckte mit den Schultern. „Natürlich“, stimmte er zu und lächelte dabei so wissend, dass Ad erneut die Augen verdrehte.

Dass er immer wieder einen verstohlenen Blick zur Restauranttür warf und heimlich hoffte, dass Kit bald auftauchen würde, hatte nichts zu bedeuten.

Wenigstens redete er sich das ein.

Kiras Bemerkung, dass Ad das Abendessen zu viert möglicherweise nur vorgeschlagen hatte, damit er mit ihr zusammen sein konnte, ging Kit den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.

Das Essen schmeckte fabelhaft. Die Unterhaltung war lebhaft und unbeschwert, und die beiden Flaschen Wein trugen das ihre dazu bei, dass sie viel lachten und eine nette Zeit miteinander verbrachten.

Trotzdem überlegte Kit ständig, ob Kira recht haben könnte.

Und wenn ja: Bedeutete es, dass Ad sich ebenso zu ihr hingezogen fühlte wie sie sich zu ihm?

Es war töricht, dass dieser Gedanke sie derart erregte. Vor allem, weil sie sich mit all er Kraft gegen diese Anziehungskraft wehrte, die Ad auf sie hatte. Aber sie konnte nichts dagegen tun.

Ebenso wenig, wie sie verhindern konnte, dass sie ständig nach Anzeichen dafür suchte, dass Cutty sich nicht geirrt und Ad wirklich an sie gedacht hatte, als er das Essen vorschlug.

Doch leider waren keine Anzeichen da für zu erkennen. Ad war ihr gegenüber nicht aufmerksamer als gegenüber Kira oder Cutty. Kein einziger viel sagender Blick ging in ihre Richtung.

Genau so, wie es sein sollte. Wie Kit es wollte …

„Was findest du bloß an diesem Kerl?“, fragte Ad Kira, während der Abend fortschritt und das Personal ringsum schon aufräumte.

„He!“, protestierte Cutty, bevor Kira antworten konnte.

„Bist du sicher, dass du ihn heiraten willst?“ Ad ließ nicht locker.

„Vielleicht sollte ich wirklich noch einmal darüber nachdenken“, ging Kira auf seinen Ton ein.

„He, jetzt reicht es aber“, klagte Cutty.

„Nun ja, du schnarchst manchmal wirklich laut. Möglicherweise sollte ich es mir noch einmal überlegen.“

Cutty warf einen spöttischen Blick in Kits Richtung. „Hast du ihr diese Angst vorm Heiraten eingeflößt?“

„Guck mich nicht so an“, wehrte Kit ab. „Falls Kira Panik hat, dann von ganz allein.“

„Heiratspanik?“, wiederholte Ad ungläubig. „Was soll das denn sein?“

„Eine verstärkte Form von Angst vor der Hochzeit“, erklärte Cutty.

„Sie sind auf Hochzeitstorten spezialisiert und haben Bammel vor Hochzeiten?“, fragte Ad verblüfft und sah Kit an.

„Nur vor der eigenen“, warf Cutty ein und klang ein bisschen beschwipst.

„Cutty!“, sagte Kira vorwurfsvoll und fügte für Kit und Ad hinzu: „Ich glaube, ich bringe den Mann lieber nach Hause, bevor er noch mehr Unsinn redet.“

„Sollte ich das etwa nicht sagen?“, fragte Cutty verwirrt und blickte einfältig drein. „Das war doch bloß für Ads Ohren bestimmt. Zu Ad darf ich alles sagen.“

„Nein, das darfst du nicht.“ Kira warf Kit einen Blick zu, der besagte: Was soll man da machen? Er ist nun mal ein Mann. „Tut mir leid.“

Kit lachte leise. „Lass nur. Cutty hat ja recht. Wenn andere heiraten, bin ich nie nervös.“

„Trotzdem bringe ich den Bräutigam jetzt besser nach Hause“, beharrte Kira und schob ihren Stuhl zurück.

„Was steht morgen auf dem Terminplan?“, fragte Kit die Freundin, während Ad die Restauranttür aufschloss, um das Paar hinauszulassen.

„Das letzte Okay für die Blumenarrangements. Und dann sollten wir noch einmal mit dem Partyservice sprechen und ihnen die endgültige Zahl der Gäste durchgeben. Ach so, und dann kommt noch die Frau, die sich um den Empfang nach der Kirche kümmern wird. Morgen beginnt auch der Zeltaufbau, weißt du, für die Feier. Das Zelt kommt auf den Rathausplatz, habe ich das schon erwähnt? Ich muss festlegen, wohin die Tische fürs Büfett kommen, entscheiden, ob die Tische und Stühle in der einen Hälfte stehen soll en, sodass die andere Fläche zum Tanzen frei bleibt, oder ob sie die Tanzfläche umrahmen sollen. Ferner die Tischtücher und die Gedecke überprüfen und …“ Kira hielt erschöpft inne. „Es gibt tausend Dinge zu erledigen. Ich hatte keine Ahnung, dass eine Hochzeit so viel Arbeit macht.“

„Außerdem müssen wir noch einiges für deine Abschiedsparty morgen Abend besorgen“, erinnerte Kit die Freundin. Auf den traditionellen Junggesellinnenabschied hatte Kira bestanden. Sie fand es eine schöne Tradition, ein letztes Mal als unverheiratete Frau im Kreis anderer Frauen zu feiern.

„Ja, das auch“, stimmte Kira zu. „Wir fangen lieber früh an. Was hältst du von neun Uhr?“

„Bestens“, antwortete Kit.

Cutty legte den Arm um Kira. Die beiden dankten Ad für den schönen Abend und verließen das Restaurant.

Ad schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich an das Holz. Er trug Jeans und ein neues Polohemd mit dem gestickten Namen des Restaurants – diesmal in Rot. Trotz des eher unauffälligen Outfits sah er so gut aus, dass Kit nicht den Blick von ihm lassen konnte.

Und er nicht von ihr.

Dabei hatte sie sich heute wirklich so züchtig angezogen, wie es ihr Koffer hergegeben hatte. Eine schlichte weiße Leinenhose, die locker saß, und ein rosa T-Shirt mit einem unschuldigen runden Ausschnitt. Dennoch – sein Blick hatte etwas seltsam Forschendes.

„Heiratspanik?“, fragte er wie aus heiterem Himmel.

Kit hatte befürchtet, dass der letzte Teil der Unterhaltung ihn neugierig gemacht hatte. Sie wollte auf keinen Fall über dieses Thema sprechen. Deshalb sagte sie: „Kira hatte recht. Wir müssen morgen früh anfangen. Ich sollte ebenfalls schlafen gehen.“

Obwohl es ihr widerstrebte, den Abend zu beenden.

„Aha, das Thema Heiratspanik ist tabu“, stellte Ad fest, ohne sich von der Stelle zu rühren. Oder sie aus den Augen zu lassen. „Wenn ich verspreche, es heute Abend nicht mehr zu erwähnen – bleiben Sie dann noch ein bisschen und helfen mir, den restlichen Wein auszutrinken?“

Es war ein wunderbarer Wein. Ein sehr teurer Wein. Es wäre eine Schande, ihn zu vergeuden …

Kit war sich bewusst, dass sie nach einer Ausrede suchte, um noch zu bleiben. Na ja, aber was war schon dabei. Es wäre schließlich nur für eine Weile. Bis sie den Wein ausgetrunken hatten. So spät war es schließlich nicht. Noch nicht einmal Mitternacht. Und sie war nicht müde.

„Meinetwegen“, sagte sie endlich.

Ad stieß sich mit seinen breiten Schultern und seinen schmalen Hüften von der Tür ab.

Kit drehte sich um und ging zu dem Tisch zurück, an dem sie den ganzen Abend gesessen hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie geschmeidig und sexy ihre Schritte wirkten.

Der Wein reichte nur noch für ein halbes Glas für jeden, und Ad teilte ihn gleichmäßig auf.

„Ich muss immer daran denken, was Sie gestern Abend erzählt haben“, sagte Kit, um das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu bringen.

„Was habe ich denn erzählt?“

„Dass Ihr Vater so früh gestorben ist und dass Sie zum Unterhalt Ihrer Familie beitragen mussten. Haben Sie nicht das Gefühl, dass man Ihnen die Kindheit geraubt hat?“

„Nicht im Geringsten“, antwortete Ad, ohne zu zögern. „Natürlich war es schlimm, den Vater zu verlieren. Aber sonst hatte ich eine ziemlich normale Kindheit. Northbridge war – ist – ein großartiger Ort für Kinder.“

„Inwiefern?“, fragte Kit zwischen zwei Schluck Wein. „Jeder achtet auf den anderen. Daher können Eltern hier die Zügel etwas lockerer lassen. Wo ihr Kind auch ist: Immer wird jemand in der Nähe sein und ihm helfen, wenn es Hilfe braucht – oder es nötigenfalls zurechtweisen. Ich denke, für Kinder ist es wie ein kleines Paradies, sie haben hier, wo jeder jeden kennt, mehr Freiheit als anderswo. Und welches Kind möchte nicht frei herumlaufen und Abenteuer erleben?“

„Gab es denn so viele Möglichkeiten für Abenteuer in Northbridge?“, fragte Kit skeptisch. Das schien ziemlich unwahrscheinlich zu sein.

„Für uns Kinder? Natürlich. Alles, was nicht von den Eltern geregelt war, war für uns Kinder ein Abenteuer. Wir fuhren mit den Fahrrädern herum, schwammen an den langen Sommertagen im Teich und angelten oder tauchten im Fluss. Einmal bauten wir gleich zu Beginn der Ferien ein Baumhaus und übernachteten jeden Tag dort, bis die Schule wieder begann. Im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem Teich und rodelten den Sloan Hill hinab.“

Das klang nach viel Vergnügen.

„Hatten Sie als Kind viele Freunde, oder waren Sie hauptsächlich mit Ihren Geschwistern zusammen?“

„ Beides. Ich hatte viele Freunde. Aber auch zu Hause fehlte es mir nicht an Spielkameraden. Ich habe mich nie gelangweilt und war gewiss nicht einsam.“

„Dann hatten Sie trotz des Verlustes Ihres Vaters tatsächlich eine schöne Kindheit?“

„Ja. So eine Kindheit würde ich mir auch für meine Kinder wünschen.“

Kit spürte, wie wichtig ihm dies war. „Sie lieben Northbridge sehr, nicht wahr?“, schloss sie aus seinem herzlichen Ton.

„Es ist ein wunderbarer Ort zum Leben, eine Familie zu haben und Kinder großzuziehen.“

„Und was war als Teenager? Hatten Sie nie den Wunsch, auszubrechen und den engen Grenzen der Kleinstadt zu entfliehen?“

Ad zuckte mit den Schultern. „Natürlich gab es solche Momente. Aber normalerweise hatte einer von uns freitags oder samstags immer einen Wagen, und wir fuhren nach Billings. Wir versuchten, in den Kneipen dort ein Bier zu bekommen – erfolglos. Dann bandelten wir mit ein paar Mädchen an und zogen eine große Show ab. Das genügte uns als Stadtleben. Anschließend fuhren wir glücklich wieder nach Hause.“

„Sie gingen hier auch aufs College?“

„Na klar.“

„Dann habe Sie nie woanders als in Northbridge gelebt?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Er fügte nicht hinzu, wo er sonst noch gelebt hatte. Und wann. Kit hatte das Gefühl, dass er ebenso wenig darüber reden wollte wie sie über ihre Angst vor dem Heiraten. Deshalb drängte sie ihn nicht.

„Lebt Ihre Familie auch noch hier?“, fragte sie stattdessen.

„Ja. Meine Mom hat unser Elternhaus nie verlassen. Sie könnte längst in Rente gehen. Aber sie liebt ihre Arbeit. Sie leitet die Textilreinigung inzwischen, bei der sie damals einen Job gefunden hatte. Meine Schwester und meine Brüder wohnen auch noch hier. Mein Bruder Ben hat gerade ein

Heim für straffällige Kinder eingerichtet, das demnächst öffnen wird.“

„Ist eines Ihrer Geschwister verheiratet?“

Ad trank seinen Wein aus und schüttelte den Kopf. „Nee, leider nicht.“

Na klar … Nee … Ob das letzte halbe Glas Wein ein bisschen viel für Ad gewesen war? Sie selbst war auf jeden Fall beschwingter als zuvor. Beschwingter und sich jeder Einzelheit von Ad eindringlich bewusst.

Viel zu bewusst, stellte Kit plötzlich fest. Energisch schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. „Der Wein ist ausgetrunken. Sie wissen, was das bedeutet?“

„Sie wollen mich so plötzlich verlassen?“, fragte Ad enttäuscht.

„Ich fürchte, ja. Die Flasche ist leer, und Sie haben gehört, was Kira gesagt hat. Ich muss morgen früh raus.“

„Blöde Hochzeit“, klagte er, stand aber ebenfalls auf.

Gemeinsam trugen sie die vier Gläser und die leere Flasche in die Küche.

„Warten Sie einen Moment. Dann begleite ich Sie nach oben“, sagte Ad. Er stellte die Flasche weg und tat die Gläser in die große Spülmaschine.

Kit betrachtete ihn näher. Seine breiten Schultern bildeten den oberen Abschluss eines V, das sich zu seinen Hüften und seinem Hintern verschmälerte, der fest von seinen Jeans umspannt wurde. Der Anblick gefiel ihr sehr.

„Geschafft“, verkündete er und drehte sich wieder zu ihr.

Kit war nicht sicher, ob er sie bei ihrem Blick auf sein Hinterteil ertappt hatte oder ob ihr Kopf schnell genug oben gewesen war. Dann bemerkte sie das winzige Zucken seiner Mundwinkel. Verlegen verließ sie die Küche.

Die Nachtluft war warm und feucht. Kit atmete tief durch in der Hoffnung, wieder klar denken zu können.

Leider klappte es nicht, denn statt vernünftiger Abendluft stieg ihr der Duft von Ads Rasierwasser in die Nase, während er die Tür verriegelte.

„Kiras Frauenparty ist also morgen Abend“, stellte er fest, um Konversation zu machen, während sie die Stufen hinaufstiegen.

„Richtig“, stimmte Kit ihm zu.

„Morgen ist ein Softballspiel. Cutty kann wegen seines Knöchels zwar noch nicht mitspielen, aber er kommt zum Zuschauen. Auf diese Weise ist er euch Frauen aus dem Weg.“

„Sehr gut. Wir haben nämlich vor, uns so richtig wild zu benehmen“, sagte sie lachend.

Sie hatten die Galerie erreicht. Kit schloss die Tür zu ihrem Apartment auf und drehte sich zu Ad.

Er war näher, als sie geglaubt hatte. Sie standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

Keiner sprach ein Wort, und Kit war nicht sicher, weshalb das so war.

Sag einfach Gute Nacht und geh hinein!

Doch sie rührte sich nicht, sondern blickte in Ads markantes Gesicht … Beinahe, als erwartete sie etwas.

Sag einfach Gute Nacht, wiederholte sie stumm.

„Kira kommt mich morgen um neun Uhr abholen. Ich denke, ich bleibe dann den ganzen Tag bei ihr und komme erst nach der Party wieder hierher. Nur, falls Sie sich fragen, wo ich stecke …“, sagte sie stattdessen. Was redete sie da nur? Sag endlich Gute Nacht und verschwinde!

Ad zog nur seine Brauen in die Höhe. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Gesicht und ihre Augen eingehend zu betrachten.

Und sie? Sie meinte, noch weiter plappern zu müssen. Nur, um die Stille, diese erotische Stimmung zwischen ihnen, zu durchschneiden. „Viel Spaß dann morgen bei Ihrem Spiel.“

Wie aus weiter Ferne antwortete Ad: „Danke. Und Ihnen viel Spaß auf der Party.“

„Danke …“ Sie redete nicht weiter. War Ad noch näher gekommen? Beugte er sich tatsächlich zu ihr hinab? Wollte er sie etwa küssen?

Sie war sich nicht sicher.

Aus einem unerfindlichen Grund hob sie das Kinn plötzlich an.

Ich sollte dies nicht tun, dachte sie.

Trotzdem ging ihr Kinn einen weiteren Zentimeter in die Höhe.

Es muss an dem Wein liegen. Ich hätte das letzte Glas nicht trinken dürfen.

Doch Ad küsste sie nicht, sondern hielt unmittelbar vor ihrem Mund inne.

„Sie wollten hineingehen“, sagte er plötzlich, als wäre es ihm gerade eingefallen.

Oder um sich selbst daran zu erinnern.

Entschlossen richtete er sich auf, wandte sich ab und ging zu seiner eigenen Tür. „Gute Nacht.“

Kits Mund war so trocken geworden, dass sie nicht sprechen konnte. Hastig winkte sie Ad zu und hoffte zugleich, es sähe so aus, als wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, dass er sie küssen könnte.

Dann ging sie in ihr Apartment und schloss die Tür hinter sich. Ihr schwindelte.

Vielleicht hat Ad nur mein Gesicht näher ansehen wollen? Vielleicht hat er gedacht, eine Fliege säße auf meiner Nase? Vielleicht war er gar nicht kurz davor gewesen, mich zu küssen?

Nein, ihre Sinne hatten sie nicht derart täuschen können. Ad hatte sie küssen wollen.

Und sie war ein bisschen traurig, dass er es nicht getan hatte.

4. KAPITEL

Der Single-Abschied der Frauen ging bis in die späte Nacht. Die älteren der rund dreißig Gäste waren schon gegangen, aber die jüngeren amüsierten sich dank des gehaltvollen Punsches weiterhin prächtig. Natürlich waren die Männer das Hauptgesprächsthema.

„Cutty ist für uns nun ja verloren“, sagte die einzige Kosmetikerin der Stadt. „Aber zum Glück bleiben uns noch die Walker-Brüder.“

Allgemeines Stöhnen war die Antwort.

„Ich bin auf Ad Walker scharf“, gab Amanda Barnes zu, und Kit spitzte die Ohren. „Allerdings weiß ich nicht, was ich noch anstellen soll, damit er auf mich aufmerksam wird. Ich habe mindestens ein Dutzend Mal Fish and Chips in seinem Restaurant gegessen. Herausgekommen sind dabei nur fünf weitere Pfund auf meinen Hüften.“

Alle lachten – außer Kit.

Amanda Barnes, die Sekretärin des Colleges, war groß und langbeinig. Wenn sie wirklich zugenommen hatte, dann höchstens an ihren Brüsten. Sonst war kein Gramm zu viel an dieser blonden blauäugigen Schönheit. Es war schwer vorstellbar, dass Ad nicht auf sie aufmerksam geworden war. Vielleicht hatte er nur nicht gemerkt, dass die Sekretärin scharf auf ihn war?

Das alles gefiel Kit überhaupt nicht. Obwohl es ihr eigentlich nichts ausmachen sollte.

„Ads Brüder sind auch nicht übel“, fügte eine andere Frau hinzu. „Die Kerle müssen tolle Gene haben. Einer sieht besser aus als der andere.“

„Vor allem haben sie tolle Jeans. Meine Güte, sie füllen den Stoff vielleicht aus …“

Neues Gelächter erklang, und jemand stieß einen Pfiff aus.

„Ad ist wirklich cool. Aber ich stehe doch eher auf Ben Walker“, sagte die Kosmetikerin. „Der wäre durchaus eine Sünde wert.“

Das fand ebenfalls allgemeine Zustimmung.

„Ad ist Cuttys bester Freund, nicht wahr?“, fragte die Sekretärin.

„Ja. Seit Cutty nach Northbridge gekommen ist, sind die beiden quasi unzertrennlich“, bestätigte Kira.

„Könntest du nicht etwas für mich arrangieren? Ein zufälliges Treffen bei euch? Oder ein Abendessen zu viert?“

„Nein, das kann Kira nicht.“ Die Worte waren heraus, bevor Kit merkte, was sie tat. Sie konnte nur noch das Beste daraus machen. „Sie lehnt Verkuppeln strikt ab.“

„Weshalb?“, wollte die Kosmetikerin wissen.

Kira fiel keine spontane Antwort ein. Deshalb kam Kit der Freundin zu Hilfe. „Sie hat mich einmal mit einem furchtbaren Kerl zusammengebracht und seitdem geschworen, so etwas nie wieder zu tun.“

„Das stimmt“, sagte Kira und warf der Freundin einen Blick zu, der besagte, dass sie gerade überhaupt nichts verstand. Dass sie liebend gerne wissen wollte, was in aller Welt in Kit gerade vorging.

Aber nicht sofort. Jetzt musste sie erst einmal für einen Themenwechsel sorgen. „Wer möchte noch Punsch?“, fragte sie.

Zum Glück meldeten sich mehrere Frauen.

„Ich hole uns frischen“, schlug Kit vor. „Kira kann euch inzwischen erzählen, wo Cutty und sie ihre Flitterwochen verbringen werden“, fügte sie hinzu, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, und floh in die Küche.

Oh Himmel! Weshalb hatte sie sich eingemischt? Kit verstand nicht, was in sie gefahren war. Sie hatte doch nicht die geringste Veranlassung, jemanden davon abzuhalten, etwas mit Ad anzufangen. Oder Kira davon abzuhalten, dabei ein wenig nachzuhelfen.

Offensichtlich mochte die Sekretärin Ad sehr. Und sie würde ihm bestimmt auch gefallen, wenn er sie nur näher kennenlernte. Die beiden könnten sich ineinander verlieben, heiraten, ein Dutzend Kinder bekommen und bis ans Ende ihrer Tage glücklich sein. Das ging sie nichts an.

Weshalb dann diese Story, von wegen Kira würde nicht verkuppeln? Es war ja beinahe eine panische Reaktion gewesen. Reiner Instinkt. Als müsse sie ihr Revier schützen.

Ad war ihr Revier?

Vielleicht liegt es am Punsch, überlegte Kit, während sie den Krug erneut füllte. Oder an der unübersehbaren Anziehungskraft, die sie quälte, seit sie Ad zum ersten Mal begegnet war.

Nein, es musste am Alkohol liegen. Alles andere würde bedeuten, dass sie eifersüchtig auf die Vorstellung war, eine andere Frau könnte bei Ad Chancen haben. Daran mochte sie nicht einmal denken.

Also keinen einzigen Tropfen mehr für sie.

„Du bist unmöglich, Kit Maclntyre“, murmelte sie.

Zu Kiras Hochzeitsgeschenken gehörten auch einige Scherzartikel. Kit hatte keine Ahnung, wie sie in die Küche gekommen waren. Sie entdeckte einen BH mit steifen kegelförmigen Schalen und Quasten an den Spitzen, hängte ihn über den Kopf und band die Enden unter dem Kinn zusammen.

Mit dem vollen Krug in beiden Händen verließ sie die Küche wieder und rief, ohne richtig ins Wohnzimmer zu sehen: „Mädels, der Punsch ist da!“

Dort waren inzwischen neue Gäste eingetroffen: Cutty, Ad und eine Anzahl weiterer Männer, die vermutlich der Softball-Mannschaft angehörten.

„Oh!“, stieß sie hervor.

Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Die beiden BH-Schalen standen seitlich von ihrem Kopf ab, und die Quasten baumelten über ihre Ohren. Fassungslos sah sie die Männer an, zu denen zu ihrem größten Entsetzen auch Ad gehörte.

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie den BH schnellstens vom Kopf gezerrt. Aber für eine Hand war der Krug zu schwer. Deshalb stand sie wie angewurzelt da, während die Männer und die Frauen schallend loslachten. „Sehr hübsch“, rief eine lüsterne Stimme.

Kit blieb nichts übrig, als zu bluffen. „Danke“, antwortete sie, als machte ihr das Ganze nichts aus, und ging in Richtung Büfett.

„Was für eine Party habt ihr hier eigentlich?“, rief einer der Männer durch das Gelächter.

„Wusstest du nicht, dass wir immer so aufdrehen, wenn ihr nicht dabei seid?“, fragte die Kosmetikerin zurück.

„Ich hatte meinen Jungs gesagt, dass die Party bestimmt vorüber ist und wir nachschauen könnten, ob es noch etwas zu essen gibt. Aber auf eine solche Varietenummer hätte ich nie im Traum gehofft!“, sagte Cutty lachend.

Endlich erreichte Kit das Büfett. Rasch setzte sie den Krug mit dem Punsch ab und riss den BH von ihrem Kopf. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und sie wusste nicht, was sie mit dem Stück anfangen sollte. Sie hätte den BH hinter dem Geschenkstapel in der Ecke verstecken können. Aber damit hätte sie ihre Verlegenheit zugegeben und alles noch schlimmer gemacht.

Deshalb beschloss sie, den Weg zu Ende zu gehen. Entschlossen hängte sie einen Träger an ihren Zeigefinger und schleuderte den BH im Kreis, bis er sich löste und in die Menge flog.

Offensichtlich hatte das niemand von ihr erwartet. Doch es gefiel den Leuten sehr. Neues Lachen und Johlen erklang, und wieder stieß jemand einen Pfiff aus.

Plötzlich rutschten mehrere Frauen beiseite, um Platz für die Männer zu schaffen.

„Meinetwegen könnt ihr bleiben“, verkündete Kira und begrüßte Cutty mit einem Kuss.

Kit hatte das Gefühl, den Sturm überstanden zu haben, und suchte nach Ad. Nur um ihn zu begrüßen, redete sie sich ein. Wie es aussah, kam er ihr schon entgegen. Doch Amanda Barnes versperrte ihm den Weg.

Kit kam sich wie ein High-School-Mädchen vor, das auf ein Winken von jemandem reagierte, der die Schülerin hinter ihr gemeint hatte.

„Ich hole noch ein paar Gläser und Teller“, verkündete sie und floh erneut in die Küche.

Doch sobald sie dort war, spähte sie aus sicherem Versteck ins Wohnzimmer zurück.

Ad stand mit Amanda Barnes mitten im Wohnzimmer. Er trug eng anliegende Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt, unter dem sich seine kräftigen Muskeln abzeichneten.

Der Sekretärin entging das nicht. Sie ließ seine Brustmuskeln nicht aus den Augen und legte ihre Hand auf seinen nackten Unterarm.

Die Bewegung löste etwas in Kit aus, von dessen Existenz sie bisher nicht einmal gewusst hatte. Am liebsten hätte sie sich zwischen die beiden geworfen!

Aber das ging natürlich nicht.

Ihr blieb nichts übrig, als dazustehen und zuzusehen, wie Amanda Barnes lächelte und plapperte und Ad immer wieder berührte. Ob das Schicksal eingegriffen und Ad und Amanda absichtlich direkt vor ihr en Augen zusammengebracht hatte? Vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass die beiden tatsächlich füreinander bestimmt waren, und eine Warnung an sie, sich nicht einzumischen.

Okay, dann sollen sie sich haben, dachte Kit. Die zwei waren ja so ein attraktives Paar. Sie waren ungefähr im selben Alter und lebten in derselben Stadt, die so klein war, dass sie vermutlich dieselben Leute kannten und dieselben Orte aufsuchten. Vielleicht hatten sie sogar dieselben Interessen und passten fabelhaft zusammen.

Und trotzdem …

Plötzlich entdeckte Kit ihr Spiegelbild im Küchenfenster und merkte, dass ihre Frisur sich völlig aufgelöst hatte. Während sie das Haar oben auf dem Kopf wieder zusammenband und die restlichen Strähnen locker auf ihre Schultern fall en ließ, ermahnte sie sich, dass sie allen Männern fürs Erste abgeschworen hatte. Sie war gewiss nicht nach Northbridge gekommen, um sich einen Kerl zu angeln.

„Retten Sie mich!“

Kit zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. Ad stand in der Küchentür. Ohne Amanda Barnes.

„Sie retten?“, wiederholte Kit.

Er nickte unmerklich über die Schulter. „Amanda Barnes“, sagte er atemlos. „Ich konnte ihr gerade noch entkommen. Ich glaube, sie verfolgt mich.“

Kit musste unwillkürlich lachen. Nicht nur, weil der große Mann sich vor der Sekretärin fürchtete, die ein Auge auf ihn geworfen hatte, sondern auch, weil sie ungeheuer erleichtert war.

„Amanda Barnes verfolgt Sie?“, fragte Kit und spielte die Ahnungslose.

„Sie ist vor etwa einem halben Jahr nach Northbridge gezogen und treibt mich seitdem fast zum Wahnsinn. Sie besucht mein Restaurant und bestellt mich an ihren Tisch, als wäre ich eine Vorspeise. Sie kommt zu unseren Softball-Spielen und wart et vor dem Umkleideraum, um mich abzufangen und das Spiel noch einmal mit mir durchzugehen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie mir richtig auflauert. Sie hat eine einmalige Gabe, immer dort aufzutauchen, wo ich gerade bin. Und jetzt ist sie sogar hier. Ich kann sie einfach nicht abschütteln.“

„Vielleicht sollten Sie es gar nicht versuchen“, schlug Kit vor, um ein bisschen Schicksal zu spielen.

Ad betrat die Küche und beugte sich zu ihr. „Ich kann die Frau nicht ausstehen“, gestand er.

Kit gefiel dieses Geständnis mehr, als sie zugeben mochte. „Und was erwarten Sie jetzt von mir? Dass ich Sie in der Speisekammer verstecke?“, fragte sie.

Er lächelte verschmitzt. „Würden Sie mir dabei Gesellschaft leisten?“

Zum Glück ahnte Ad nicht, wie verlockend dieser Vorschlag für sie war.

„Das glaube ich kaum“, antwortete sie genau in dem Moment, als Amanda Barnes auf der Türschwelle auftauchte.

„Ich dachte, Sie wollten nur schnell einen Schluck Wasser trinken. Soll ich Ihnen ein Glas einschenken?“, fragte die Sekretärin.

„Nein danke, das schaffe ich schon allein“, erklärte Ad. „Gehen Sie ruhig zurück zu den anderen, ich komme auch gleich. Ich habe Cutty versprochen, Kit den anderen Männern vorzustellen. Das gehört sozusagen zu meiner Aufgabe als Trauzeuge.“

Bevor Amanda antworten konnte, fügte Kit hinzu: „Cutty und Kira verlassen sich darauf, dass Ad sich ein bisschen um mich kümmert, weil sie selber gerade so viel zu tun haben.“

Amanda schien darüber nicht wirklich erfreut zu sein. Ihr Blick glitt misstrauisch von Ad zu Kit und wieder zurück.

„Okay, aber wenn Sie Kit all en vorgestellt haben, kommen Sie wieder zu mir, Ad!“, schlug sie mit verheißungsvoller Stimme vor.

Ad nickte halbherzig. Offensichtlich bemerkte Amanda Barnes es nicht, denn sie zwinkerte ihm verführerisch zu, drehte sich auf dem Absatz um, damit er auch ihre Kehrseite bewundern konnte, und ging mit wiegenden Hüften davon.

„Mein Instinkt sagt mir, dass diese Frau eine Männermörderin ist“, stellte Ad fest, als Amanda gegangen war.

„Feigling“, zog Kit ihn auf. „Stimmt es, dass Sie mich den anderen Männern vorstellen sollen?“

„Nö. Reine Notlüge“, gab er zu. „Aber jetzt sollte ich es tatsächlich tun. Ich wette, dass Amanda uns beobachtet und sofort wieder angeschossen kommt, wenn ich mich nicht mit Ihnen beschäftige.“

„Aha, ich verstehe. Sie benutzen mich. Sie sind ja ein ganz Schlimmer“, stellte Kit fest und spielte die Gekränkte. In Wirklichkeit freute sie sich sehr über diesen Vorwand, Ad für sich zu haben.

„Nur ein bisschen“, antwortete er lächelnd. „Kommen Sie, machen wir das Beste daraus.“

Die Party dauerte noch eine Stunde. Ad fuhr mit Kit nach Hause. Schließlich standen sie vor ihrer Apartmenttür, doch statt Kit eine gute Nacht zu wünschen, beugte Ad sich zu ihr hinunter und küsste sie auf den Mund. Der Kuss war zart und viel zu kurz.

Fragend blickte sie ihm in die Augen.

„Das war mein Dank dafür, dass Sie mich heute Abend vor Amanda Barnes gerettet haben“, erklärte er.

Kit wusste nicht, was sie antworten sollte. War dieser Kuss tatsächlich nichts als eine Anerkennung für ihr Verhalten gewesen? Wenn ja, brauchte sie gar nicht erst auf mehr zu hoffen. „Viel Spaß morgen beim Junggesellenabschied“, sagte sie.

Ad nickte stumm. Dann ging er zu seiner eigenen Tür. Es sollte also tatsächlich bei diesem einen unschuldigen Kuss bleiben. Nun gut.

Sie wünschten sich eine gute Nacht, und Kit betrat dann ihr Apartment. Ganz gleich, ob der Kuss nur ein Dank gewesen war oder mehr: Das Gefühl seiner Lippen blieb noch lange erhalten.

Ebenso wie das Rasen ihres Herzens. Und es raste wirklich.

Mehr als bei jedem anderen Kuss zuvor. Dankbarkeit oder nicht.

5. KAPITEL

Kit saß auf der Spielzeugkiste im Kinderzimmer des neuen Hauses ihrer besten Freundin und sah zu, wie Kira Mandy und Melanie ihre Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Es war ein rührendes Bild. Kit staunte ein bisschen, wie gut Kira sich in ihre Mutterrolle eingefunden hatte. Und auch in die einer Ehefrau, obwohl sie erst am Samstag offiziell Cuttys Frau werden würde.

Ihre Freundin saß in einem Schaukelstuhl, die Zwillinge auf dem Schoß, und las die Geschichte von einem Bären, der sich im Wald verirrt hatte. Sie legte große Dramatik in ihre Worte und gab jeder Gestalt eine andere Stimme.

Die kleinen Mädchen kuschelten sich an sie. Mandys Kopf lag an Kiras Brust, und Mel rieb eine Falte von Kiras Bluse zwischen zwei Fingern und sog an dem Mittelfinger ihrer anderen Hand. Es war unübersehbar, dass Kira dieses abendliche Ritual sehr genoss.

Es ist schön, dachte Kit. Schön, dass Kira so gut zurechtkommt. Schön, dass die Kleinen auf sie reagieren, als wäre sie ihre leibliche Mutter. Schön, dass alles gut für sie geworden ist.

Kit freute sich aufrichtig für Kira.

Und sie war ein winziges bisschen eifersüchtig, dass die Freundin einen Mann gefunden hatte, der sie so liebte und mit dem sie fortan gemeinsam leben würde. Das hatte sie, Kit, noch nicht geschafft. Obwohl sie es versucht hatte.

Zwei Mal.

„Sagt gute Nacht zu Kit“, forderte Kira die Zwillinge auf, nachdem sie das Buch geschlossen und beiseite gelegt hatte.

„Nacht, Kit“, sagte Mandy niedlich.

„Nein Nacht“, weigerte Mel sich entschlossen.

Kit hatte die neunzehn Monate alten Zwillinge inzwischen oft genug erlebt, um zu wissen, dass Mel die Willensstärkere der beiden war. Sie riss sich zusammen, um nicht über die kleine Rebellin zu lachen.

„Oh doch“, erwiderte Kit. „Es ist Schlafenszeit, und ihr beide müsst ins Bett.“

Mel schob schmollend die Unterlippe vor und deutete auf die genähte Wunde an ihrem Kopf. „Wehweh“, stellte sie fest, als könnte das ihre Chance erhöhen, noch ein wenig aufbleiben zu dürfen.

„Ja, du hast ein Wehweh. Aber du musst trotzdem ins Bett“, beharrte Kira und konnte sich das Lächeln kaum verkneifen.

Mel runzelte die Stirn, murmelte aber ein verdrießliches „Nacht …“

Kit war schon ein paar Mal bei diesem abendlichen Ritual zugegen gewesen und hatte mittlerweile ihre ganz eigene Rolle darin übernommen. Sie stand auf und trat an den Schaukelstuhl.

„Gute Nacht, Mel“, sagte sie und küsste die rosa Pausbacke der Kleinen. Anschließend hob sie Mandy aus Kiras Armen, um der Freundin zu helfen.

„Gute Nacht, Mandy“, wiederholte sie und ließ sich von der herzlicheren Mandy auf die Lippen küssen.

Anschließend trat sie an den Fuß der beiden Bettchen, damit Kira erst den einen und dann den anderen Zwilling hineinlegen, gut zudecken und ihm einen Gute-Nacht-Kuss geben konnte.

„Schlaft gut, meine Schönen. Ich liebe euch alle beide“, sagte sie und schaltete das Licht auf der Wickelkommode aus.

Kit war inzwischen auf den Flur gegangen.

„Nacht, Kina“, antwortete Mel ziemlich schläfrig. Das R kam ihr immer noch nicht richtig über die Lippen.

„Gute Nacht“, wiederholte Kira, verließ das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu.

„Die Kleinen sind absolut goldig“, schwärmte Kit.

„Ja, das sind sie“, stimmte Kira ihr mit einem Anflug von mütterlichem Stolz zu.

„Und du kommst so gut mit ihnen zurecht.“

„Ach was, ich muss noch viel lernen. Aber ich werde langsam besser“, sagte Kira, während sie die Treppe hinabstiegen.

Früher am Abend hatten sie sich eine ausgiebige Gesichtsbehandlung gegönnt: Peeling, Maske und anschließend ein erfrischendes Gesichtswasser. Mandy und Mel hatten kräftig mitgemischt und ihre kleinen Gesichtchen großzügig mit der teuren Kosmetik eingeschmiert. Um zu verhindern, dass die Kleinen auch mit dem Nagellack spielt en, hatten Kit und Kira die Maniküre und die Pediküre für später aufgehoben.

„Holen wir frischen Eistee und ein paar Kekse, bevor wir unsere Nägel machen“, schlug Kira vor und ging durch das Wohnzimmer in die Küche.

Kit folgte ihr. „Wer hätte vor sechs Monaten gedacht, dass du heiraten und auch noch Zwillinge bekommen würdest?“, sagte sie.

„Ja, seltsam, nicht wahr? So viel hat sich in so kurzer Zeit verändert.“

„Du bekommst doch keine kalten Füße, nachdem das große Ereignis immer näher rückt?“

Kira verzog das Gesicht. „Nein, bestimmt nicht. Ich habe nicht den geringsten Zweifel. Im Gegenteil. Ich kann es gar nicht erwarten, Cuttys Ehefrau zu werden.“

„Und was ist mit der Vorstellung, jeden Tag deines restlichen Lebens mit ihm zu verbringen?“

Kira legte die Hand auf ihr Herz. „Sie er füllt mich mit solch einer Ruhe und Zufriedenheit und so einer reinen Freude, dass ich sicher bin, den richtigen Schritt zu tun.“

„Das freut mich für dich“, gab Kit zu und empfand erneut einen eifersüchtigen Stich.

Sie schenkten die Teegläser voll, nahmen die Schokoladenkekse und kehrten ins Wohnzimmer zurück.

„Du scheinst gut in diese Stadt zu passen“, stellte Kit fest. „Ich war überrascht, wie nett die Leute gestern bei der Frauenparty zu dir waren. Alle behandelten dich, als würden sie dich schon ein Leben lang kennen.“

„Ja. Sie haben mich sofort in ihre Reihen aufgenommen.“

Sie setzten sich auf das Sofa, stellten die Gläser und die Keksdose ab und griffen nach der Schachtel mit Kiras Maniküresachen.

„Ich war gestern Abend ein bisschen betrunken“, wechselte Kira plötzlich das Thema. „Deshalb ist es mir erst jetzt wieder eingefallen. Was sollte denn diese Sache mit Amanda Barnes?“

Kit hatte gehofft, die Freundin würde nicht auf den Vorfall zurückkommen.

„Was für eine Sache?“, fragte sie nun und spielte die Unwissende.

„Dass ich mich angeblich nicht an Kuppeleien beteilige, weil ich einmal ein mies es Blind Date für dich arrangiert habe.“ Kira hielt einen Moment inne. „Dir gefällt der Gedanke nicht, dass Amanda was mit Ad anfangen könnte, nicht wahr?“

Kira kannte sie einfach zu gut. Trotzdem versuchte Kit, ihre wahren Motive zu verbergen.

„Ad sagte, Amanda würde ihn verfolgen, seit sie nach Northbridge gezogen ist. Dabei könnte er sie nicht leiden.“

„Das ist mir aber neu. Mir gegenüber hat er das nie erwähnt.“

„Frag ihn doch, wenn du mir nicht glaubst“, sagte Kit ein bisschen zu trotzig. Die ganze Zeit hatte sie sich danach gesehnt, der Freundin ihre Gefühle gegenüber Ad zu gestehen – und sich von ihr ermutigen zu lassen, was Kira zweifellos getan hätte. Doch im Moment schien das keine gute Idee zu sein.

„Mag sein, dass Ad Amanda nicht leiden kann“, lenkte Kira ein. „Trotzdem hatte ich deutlich den Eindruck, dass du verhindern wolltest, dass die beiden gemeinsam ausgehen könnten. Dass du … eifersüchtig warst.“

„Ich? Weshalb sollte ich eifersüchtig sein? Ad und ich kennen uns doch erst ein paar Tage. Er bedeutet mir nichts. Außerdem nehme ich gerade eine Auszeit von den Männern, schon vergessen? Ganz abgesehen davon, dass wir in unterschiedlichen Staaten leben, uns nach der Hochzeit wahrscheinlich nie wiedersehen werden und …“

„Das sind ja eine Menge Gründe. Du musst viel darüber nachgedacht haben.“

„Das sind alles offensichtliche Gründe. Dafür brauchte ich nicht lange zu überlegen.“

„Hm. Nach deinem seltsamen Verhalten gestern Abend habe ich dich und Ad ein bisschen beobachtet. Er eilte zu dir, sobald er konnte, und klebte die ganze Zeit wie eine Klette an dir.“

Wirklich? Kits Herz tat einen Hüpfer. „Ich habe mich zwischen ihn und Amanda gedrängt, weil er mich darum gebeten hatte, das ist alles.“

Kira lachte fröhlich. „Aha. Und dabei hast du wie ein Weihnachtsbaum gestrahlt.“

„Das habe ich nicht!“

„Oh doch. Du strahlst über das ganze Ge ficht, sobald er in der Nähe ist, und merkst nicht einmal, dass noch andere Menschen im Raum sind. Das gilt übrigens ebenso für ihn.“

Kit verdrehte die Augen. „Das bildest du dir nur ein. Du hast selber gesagt, dass du etwas zu viel getrunken hattest.“

„So viel nun auch wieder nicht.“

Sie hielten ihre Zehen mit Schaumgummi getrennt und wählten unterschiedliche Farben für ihre Nägel.

„Dann möchtest du also lieber nichts Näheres über Ad wissen?“, fragte Kira, als hätte sie höchst geheime Informationen über den Mann.

Eigentlich musste Kit ihre gleichgültige Fassade aufrechterhalten. Doch es fiel ihr schwer, dem Köder zu widerstehen.

„Was gibt es denn über ihn zu wissen?“, fragte sie so neutral wie möglich.

„Zum Beispiel, dass er ein toller Kerl ist“, antwortete Kira. Sie stemmte ihre Füße auf die Tischkante und beugte sich vor, um den Nagellack aufzutragen. „Cutty sagt, ohne ihn hätte er es nach Marlas und Anthonys Tod nie geschafft. Ad hätte ihn davor bewahrt, den Verstand zu verlieren.“

Marla war Kiras Stiefschwester und Cuttys erste Frau gewesen und Anthony deren gemeinsamer Sohn. Die beiden waren kurz nach der Geburt der Zwillinge von einem Lastwagen erfasst und getötet worden.

„Außerdem kommt er fabelhaft mit den Zwillingen zurecht“, fuhr Kit fort. „Ich hätte nie gedacht, dass ein Single sich überhaupt für zwei kleine Kinder interessieren könnte. Doch er bringt ihnen Spielzeug mit und setzt sich zu ihnen auf den Boden, um ihre Puppen zu bewundern. Mandy und Mel lieben ihn heiß und innig. Außerdem kümmert er sich rührend um seine Familie. Er sorgt dafür, dass es seiner Mutter gut geht. Und er hängt sehr an seinen Brüdern und Schwestern. Er hat sogar eine Bürgschaft bei der Bank übernommen, als sein Bruder Ben das Heim für straffällige Kinder gekauft hat, ein Projekt, das ihm sehr am Herzen liegt.“

„Und wie kommt es, dass dieser erstaunliche Mann den Krallen sämtlicher Frauen wie Amanda Barnes bisher entkommen ist?“, fragte Kit und tat, als hielte sie Kiras Bericht über den wundervollen perfekten Ad für ziemlich übertrieben. In Wirklichkeit konnte sie sich das alles sehr gut vorstellen. Ad war perfekt.

„Es hat mal jemanden in seinem Leben gegeben“, antwortete Kira. „Die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass es Ad ziemlich mitgenommen hat, als es aus war. Aber er hat den Frauen nicht abgeschworen. Er möchte heiraten und eine Familie gründen, je früher, desto lieber.“

„Dann ist er garantiert nicht der richtige Mann für mich“, erklärte Kit ein bisschen atemlos, aber mit dem ihr eigenen Spott.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, protestierte Kira. „Nur weil es bei dir bisher nicht geklappt hat …“

„Es lag an mir, Kira. Das weißt du genau.“

„Du hast getan, was du tun musstest.“

„Die Frage ist nur: Musste ich es vielleicht nicht nur deshalb tun, weil ich furchtbare Bindungsängste habe? Warum erkenne ich mein Glück selbst dann nicht, wenn es direkt vor meiner Nase liegt? Gleich zwei Mal?“

„Du hast keine Bindungsängste, so ein Unsinn. Berts Mutter war der Grund, warum du dich von ihm trenntest. Ihre hässliche Bemerkung über dein Geld hatte dich abgeschreckt.“

„Nun, wie dem auch sei: Wir sollten Ad lieber nicht dem Risiko aussetzen, mit mir zusammen zu sein.“

Kira zuckte theatralisch mit den Schultern. „Okay, dann wird Amanda Barnes ihn eben bekommen.“

Kit wollte der Freundin nicht zeigen, wie eifersüchtig sie allein schon die Vorstellung machte. Deshalb antwortete sie so achtlos wie möglich. „Und ich werde wieder herkommen und die Hochzeitstorte backen.“

Kira lachte vergnügt. „Und ich werde dich im Gefängnis besuchen, wenn Cutty dich einsperren muss, weil du die Braut vergiftet hast.“

Es war nach Mitternacht, als Kit sich von ihrer Freundin verabschiedete. Da Cutty noch nicht zu Hause war und sie die Zwillinge nicht allein lassen wollte, hatte Kira ihr ihren Wagen geliehen.

Keine zehn Minuten später stellte Kit das Fahrzeug in der schmalen Gasse hinter dem Restaurant ab, wo die Junggesellen-Abschiedsparty offensichtlich noch anhielt.

Was geht auf so einer Party vor? überlegte sie.

Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht. Aber diesmal fand die Party unmittelbar vor ihrer Nase statt. Das schürte ihre Neugier. Und nachdem die Räder einmal begonnen hatten, sich zu drehen, ließen sie sich schwer wieder anhalten. Es wäre eine fantastische Gelegenheit, sich selbst zu überzeugen …

Vor der Küchentür blieb Kit stehen.

Sollte sie hineinschlüpfen und ein bisschen Mäuschen spielen?

Nein, lieber nicht. Das wäre kindisch.

Doch sie konnte nicht widerstehen und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Nur um zu sehen, ob jemand in der Küche war.

Die Luft war rein.

Und wenn ich erwischt werde? überlegte Kit, um die Versuchung zu unterdrücken, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Was, wenn sie hineinging, durch das rautenförmige Fenster in der Schwingtür zum Restaurant spähte und jemand entdeckte, dass sie ihre Nase an das Glas presste?

Das wäre furchtbar peinlich.

Also schließ die Tür wieder, steig die Treppe hinauf und geh ins Bett, riet sie sich selbst.

Aber sie tat es nicht. Wenn sie die Tür jetzt wieder schloss und schlafen ging, hätte sie Ad den ganzen Tag nicht gesehen. So gern sie auch wissen wollte, wie wild es auf einer Junggesellenparty zuging – ob nackte oder halb bekleidete Frauen dort tanzten –, wenn sie ehrlich war, wollte sie doch nur eins: einen Blick auf Ad erhaschen.

Dabei wollte sie sich doch gegen seine Anziehungskraft wappnen und jedem Impuls widerstehen, der etwas mit dem Mann zu tun hatte.

Ach, sei’s drum! Sie öffnete die Tür gerade so weit, dass sie in die hell erleuchtete Küche schlüpfen konnte, und eilte auf Zehenspitzen zur Schwingtür.

Musik und laute Männerstimmen drangen aus dem Restaurant herüber. Doch es war unmöglich, ein einziges Wort zu verstehen.

Wahrscheinlich besser so, dachte Kit. Ein ra scher Blick war bestimmt nicht ganz so schlimm, wie an der Tür zu lauschen.

Das Problem war nur, dass das rautenförmige Fenster zu hoch für sie war, um hindurchzuschauen. Doch nachdem sie so weit gekommen war, wollte sie sich auf keinen Fall von ihrem Ziel abbringen lassen.

Aufmerksam blickte sie sich in der Küche um. Nichts. Kein Hocker, auf den sie sich hätte stellen können, kein Stuhl.

Dann fiel ihr Blick auf eine orangerote Getränkekiste neben dem Abfalleimer. Kit eilte hinüber, holte die Kiste und stieg hinauf.

Langsam richtete sie sich auf und spähte durch das kleine Fenster.

Der Anblick war ziemlich unspektakulär. Sie entdeckte weder Frauen – bekleidete oder unbekleidete – noch eine riesige Torte, aus der eine gestiegen sein könnte. Nur viele, viele Männer, die an den Tischen und an der Theke saßen, jede Menge Biergläser, gefüllte und leere.

Offensichtlich hatte gerade jemand eine kleine Rede gehalten, denn alle hoben in diesem Moment ihre Gläser und stießen einen Hochruf aus. Für das, was Kit bislang von Junggesellenpartys gehört hatte, ging es hier zu wie in einem Kloster.

Kit suchte nach Ad.

Er stand gleich rechts neben der Tür hinter der Theke.

Ihr Herz begann zu rasen. Wie nahe er war! Er brauchte kaum den Kopf zu drehen, um sie zu bemerken.

Doch selbst diese Tatsache reichte nicht aus, damit sie ihr unsinniges Vorhaben sofort abbrach. Stattdessen betrachtete sie den Mann näher.

Ad trug eine khakifarbene lange Hose und ein schlichtes weißes Hemd mit bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln. Eigentlich nichts Besonderes. Trotzdem konnte sie den Blick nicht von ihm wenden. Obwohl sie wusste, dass die Gefahr, entdeckt zu werden, mit jeder weiteren Sekunde stieg.

Winzige Fältchen bildeten sich in Ads Augenwinkeln, wenn er lachte. Und unwahrscheinlich reizvolle Linien liefen seine Wangen hinab. Sie konnte einfach nicht wegsehen.

Bis er in Richtung Küche blickte.

Kit duckte sich rasch, und das Unvorstellbare geschah.

Bei der plötzlichen Gewichtsverlagerung brach ihr Fuß durch eine zu schwache Latte. Sie verlor das Gleichgewicht, stieß unwillkürlich einen Schrei aus und stürzte zu Boden.

Im Restaurant wurde es plötzlich still.

So schnell sie konnte, zerrte Kit den Fuß aus der Kiste, sprang auf und eilte aus der Küche. Im selben Moment hörte sie, wie die Schwingtür gegen die orangerote Kiste schlug.

Sie hatte keine Ahnung, ob sie es unbemerkt nach draußen geschafft hatte. Ad durfte sie auf keinen Fall in der Gasse entdecken. Deshalb rannte sie die Treppe hinauf, eilte in ihr Apartment und schloss die Tür hinter sich.

„Ich muss den Verstand verloren haben“, flüsterte sie, während sie im Dunkeln stand. Hoffentlich würde niemand jemals erfahren, was sie gerade getan hatte.

Kurz nach ihrer Flucht aus der Küche hörte Kit, dass die Junggesellenparty zu Ende ging. Sie hatte die letzten Minuten damit verbracht, die Splitter aus ihrem Fußgelenk zu ziehen und die Abschürfung zu behandeln.

Als es um ein Uhr an ihre Tür klopfte, war sie immer noch mit den weißen Shorts und dem pinkfarbenen T-Shirt bekleidet, die sie den ganzen Tag getragen hatte. Sie hatte ihr Make-up noch nicht entfernt und den Gummi noch nicht gelöst, der ihr Haar oben auf dem Kopf zusammenhielt, von wo es in wilden Kaskaden hinunterfiel.

Ihre äußere Erscheinung war also nicht der Grund, weshalb sie zögerte. Der Vorfall in der Restaurantküche war ihr immer noch zu peinlich, um darüber locker sprechen zu können. Und ganz bestimmt war Ad deshalb gekommen. Doch früher oder später würde sie ihr Verhalten ohnehin erklären müssen. Dann konnte sie es ebenso gut gleich hinter sich bringen.

„Auf in den Kampf“, murmelte Kit und öffnete die Tür.

Ad saß auf der oberen Treppenstufe, lehnte mit dem Rücken am Geländer und blickte ihr mit seinen aquamarinblauen Augen entgegen, in denen sich das Licht der Galerie spiegelte.

„Kommen Sie heraus und setzen Sie sich zu mir“, bat er mit seiner tiefen Stimme ohne jede Begrüßung.

„Es ist schon spät“, antwortete Kit. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Mann, war sie glücklich, Ad zu sehen!

„Sie sind noch auf“, erwiderte er. „Und angezogen. Nun kommen Sie schon heraus.“

Er klang nicht betrunken, sondern völlig entspannt. Und er war äußerst anziehend. Obwohl diese Anziehungskraft ein weiterer Grund war, sich nicht zu ihm zu setzen, betrat Kit die Galerie und schloss die Tür hinter sich.

Ad verzog seine Lippen zu einem trägen Lächeln und klopfte auf den Platz neben sich. „Und jetzt setzen Sie sich.“

Kit tat auch dies. Sie ließ sich auf dem schmalen Platz auf der oberen Stufe nieder, nur wenige Zentimeter von Ad entfernt, und stellte ihre nackten Füße auf die Stufe darunter.

Dann drehte sie sich zu ihm und merkte, dass sein Lächeln tückisch verschmitzt geworden war.

Ad hatte die Beine angezogen und die Arme auf die Knie gelegt. Plötzlich hob er die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf Kits zerkratzte Ferse. „Alles in Ordnung?“

Sie blickte auf ihren geschundenen Knöchel und antwortete: „Das ist nicht weiter schlimm.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Und was ist mit Ihrem restlichen Körper? Es klang, als wären Sie ziemlich heftig gestürzt.“

Oh Himmel, er wusste Bescheid!

Was sollte sie jetzt sagen? Kit hatte nicht die geringste Ahnung. Bevor ihr etwas einfiel, fuhr Ad fort: „Leugnen Sie es ja nicht. Ich sah Ihren Kopf am Fenster auftauchen. Und anschließend hörte ich es krachen.“

„Ich war eben neugierig, was auf so einer Junggesellenparty los ist“, gestand sie und schob das Kinn unmerklich vor. „Man hört ja immer die wildesten Geschichten.“

„Sie waren zu spät, um das Beste mitzubekommen“, sagte er und zog viel sagend eine Braue in die Höhe.

„Ja? Was habe ich denn verpasst?“

„Das würde ich niemals erzählen.“

„Weil es nichts zu erzählen gibt“, antwortete sie herausfordernd.

„Wenn Sie das dächten, wären Sie nicht auf die Getränkekiste gestiegen, um sich persönlich zu überzeugen.“

Kit konnte unmöglich zugeben, dass sie vor allem Ad hatte sehen wollen. Deshalb ließ sie ihn in seinem Glauben.

„Eines kann ich Ihnen allerdings verraten“, fuhr er fort. „Sollten Sie die Absicht haben, den Beruf zu wechseln und Spionin zu werden: Dieser Job ist nichts für Sie.“ Lächelnd lehnte er sich an das Geländer zurück.

„Dann werde ich wohl bei meinen Hochzeitstorten bleiben müssen“, antwortete Kit und konnte ihr Lächeln nicht mehr unterdrücken, nachdem sie wusste, dass Ad ihr nicht böse war.

„Ernsthaft“, sagte er plötzlich. „Haben Sie sich verletzt?“

„Außer ein paar Splittern und Kratzern, als mein Fuß durch die Kiste krachte, ist nichts passiert. Nur mein Stolz ist schwer angeschlagen.“

„Kann ich irgendetwas für Ihren Stolz tun?“, fragte er und ließ den Blick über ihren Körper gleiten.

„Das glaube ich kaum“, antwortete Kit ungerührt, obwohl ein lustvoller Schauer durch ihre Adern rieselte. Um die Unterhaltung in unverfänglichere Bahnen zu lenken, fügte sie hinzu: „Hatten Sie wenigstens eine Menge Spaß heute Abend?“

„Oh ja“, erklärte Ad nachdrücklich. „Und mir scheint, die anderen auch. Obwohl niemand einen BH auf dem Kopf trug.“

Der Mann war wirklich gemein. Kit wünschte nur, das würde seinen Charme nicht derart vergrößern.

„Falls Sie einen Berufswechsel erwägen, könnten Sie vielleicht in diese Richtung gehen“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Wie? Stripperin?“

„Hm.“

„Das glaube ich kaum“, wiederholt sie. „Außerdem: Wer behauptet denn, dass ich einen Berufswechsel erwäge? Sie haben meine Torte noch nicht einmal probiert und verdammen sie schon?“

„Ich?“, fragte er unschuldig. „Ich verdamme Ihre Torte nicht, sondern erkunde nur Ihre weiteren Möglichkeiten.“

Erneut lag ein lüsterner Ton in seiner Stimme.

Kit schüttelte lachend den Kopf. „Wie betrunken sind Sie eigentlich?“

„Nun, fahren dürfte ich nicht mehr“, gestand Ad. „Aber ich könnte immer noch auf einem Bein stehen, die Augen schließen und mit dem Zeigefinger meine Nase berühren. Soll ich es mal vormachen?“

Musste alles, was er sagte, so herrlich sexy klingen? „Nein, danke. Ich glaube es Ihnen auch so.“

„Sehr gut. Weil ich nämlich geblufft habe. Wenn ich mich auf ein Bein stellte, würde ich wahrscheinlich mit einem ähnlichen Kopfsprung enden wie Sie.“

„Das war gemein“, warnte sie ihn.

Er lächelte, als machte es ihm Spaß, sie zu ärgern. Doch er sagte: „Okay, ich werde mich von nun an benehmen. Reden wir von etwas anderem.“

„Sehr gut.“

„Was würden Sie tun, wenn Sie das Kuchenbacken leid wären?“

„Vielleicht Pasteten backen?“, scherzte sie.

„Wie wäre es mit Donuts? Donuts sind lecker. In Northbridge gibt es seit dem Tod von Cuttys Onkel keine richtig guten Donuts mehr.“

„Ich soll also nicht nur meinen Beruf wechseln, sondern auch nach Northbridge ziehen?“

„Es ist ein hübscher Ort“, sagte er, als wollte er sie überzeugen. „Ich werde ihn bestimmt nicht wieder verlassen.“

Das konnte nur heißen, dass er auch einmal woanders gewohnt hatte. Kit wurde neugierig. „Sie haben also nicht immer in Northbridge gelebt?“

„Nein, nicht immer“, gab er zu. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. „Aber ich fühle mich zu wohl, um jetzt darüber zu reden. Sagen wir einfach, dass ich meine Lektion gelernt habe. Ich habe die Absicht, mir eine nette Frau aus Northbridge zu suchen, die nicht von hier weg will, mich heiratet, mir Kinder schenkt und mir leckere Donuts backt.“

Schade, dass es eine nette Frau aus Northbridge sein musste. Kit fühlte sich seltsam ausgeschlossen. „Sie mögen Donuts wohl sehr“, zog sie ihn auf.

„Wahnsinnig“, gestand er lächelnd, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Und was ist mit Ihnen, Miss MacIntyre? Irgendwelche Heiratspläne?“

„Ich habe heute Abend zwar nur Eistee getrunken. Trotzdem fühle ich mich zu wohl, um darüber zu reden“, wiederholte sie seine Worte.

„Hm“, machte er nachdenklich, als wäre er misstrauisch geworden. „Sie wollen keine Kinder?“

„Doch. Ich mag Kinder. Eines Tages werde ich vielleicht welche haben.“

„Ohne einen liebevollen Ehemann?“, fragte Ad und spielte den Entsetzten.

„Ein liebevoller Ehemann gehört mit ins Bild. Nur ist dieses Bild noch ziemlich unscharf. Gewiss nicht so klar wie Ihres.“

Er sah sie immer noch eindringlich an und nickte, als hätte sie etwas Tiefgründiges gesagt. „Sicher ist also nur, dass Sie in Denver leben und weiterhin Hochzeitstorten backen möchten“, stellte er ein bisschen traurig fest.

„Nun ja. Dort wohne ich, und das ist mein Beruf.“

Ad ließ sie nicht aus den Augen.

„Was ist daran auszusetzen?“, fragte Kit und begriff nicht, weshalb diese Unterhaltung so große Bedeutung für ihn zu haben schien.

Er stieß sich von dem Geländer ab und setzte sich auf. „Na, wenigstens sind Sie jetzt hier. Und darüber bin ich froh.“

Das war Kit ebenfalls – auch wenn sie den Eindruck hatte, dass es gerade um etwas völlig anderes ging. Lange konnte sie allerdings nicht überlegen, denn Ad blickte ihr tief in die Augen. Sein hitziger Blick nahm sie gefangen und fesselte sie derart, dass sie keines klaren Gedankens mehr fähig war.

Plötzlich beugte er sich vor und presste seine Lippen auf ihren Mund.

Seltsamerweise war Kit nicht einmal überrascht. Instinktiv schloss sie die Augen und küsste ihn zurück.

Tief in ihrem Innern wurde Kit bewusst, dass sie gerade genau das tat, was sie keinesfalls tun durfte. Doch es war ihr egal. Es war viel zu schön, hier mit Ad zu sitzen und sich von ihm küssen zu lassen.

Der Kuss gestern Abend war eher eine Probe gewesen. Er hatte ihr gezeigt, dass Ad nicht sicher war, ob er das Richtige tat. Oder ob sie es zulassen würde. Ein flüchtiger Kuss, probehalber sozusagen, um ihnen beiden Gelegenheit zu geben, sich die Sache noch einmal zu überlegen.

Dieser Kuss dagegen …

Dieser Kuss war viel mehr. Er enthielt Vertrautheit. Zuversicht. Und er gab Kit das Gefühl, dass Ad nicht mehr um den heißen Brei herumredete.

Für Kit galt dasselbe. Sie genoss seine weichen seidigen Lippen, seinen warmen Atem, der federleicht über ihre Wange strich, sogar die rauen Bartstoppeln an ihrer zarten Haut. Das alles machte den Kuss beinahe perfekt.

Das Einzige, was sie vermisste, waren Ads Arme, die sich um ihren Körper legten. Seine Hände, seine Liebkosungen. Das Gefühl ihrer Brüste, die sich an seinen breiten Oberkörper pressten.

Plötzlich merkte Kit, in welche Richtung ihre Gedanken gingen, und sie hielt erschrocken inne. Ad hatte sich vielleicht nicht ganz unter Kontrolle. Sie wusste dagegen genau, was sie tat. Es war schlimm genug, dass sie sich erneut küssten. Sie durfte nicht einmal daran denken, wie es weitergehen könnte.

Sie musste dem hier ein Ende bereiten.

Aber es gefiel ihr so sehr. Zu sehr, um sich noch weiter darauf einzulassen.

Widerstrebend löste sie die Lippen von Ads Mund und richtete sich auf. Dann öffnete sie die Augen und sagte: „Du solltest lieber kalt duschen.“

Ad lehnte sich wieder an das Geländer. „Das klingt aber nicht nach Vergnügen“, verkündete er.

Er hatte recht. Das machte gewiss nicht so viel Vergnügen wie das, was sie gerade getan hatten. Doch Kit blieb standhaft. „Ich finde, du hast heute Abend genug Vergnügen gehabt.“

„Noch längst nicht“, widersprach er.

Endlich öffnete er ebenfalls die Augen, sah Kit an und seufzte tief. „Ich muss morgen Möbel bei meiner Mutter umräumen. Da sollte ich wohl ausgeschlafen sein.“

„Das solltest du.“

Er lächelte reizend. „Deckst du mich zu?“

„Tut mit leid“, antwortete sie, als wäre es keine verlockende Idee.

„Mir auch.“

Kit stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Ich sorge lieber dafür, dass du aufstehen kannst, ohne die Stufen hinabzustürzen“, bot sie ihm an.

Er lächelte noch breiter. „Sehr gut.“

Ad legte seine große kräftige Hand um ihre Finger, und ein sinnlicher Schauer rann ihren Arm hinauf. Darauf war sie wirklich nicht gefasst gewesen. Mühelos stand er auf, zog ihre Hand an seinem Mund und küsste die empfindsame Rückseite.

„Ist bestimmt alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ganz bestimmt“, erklärte Kit mit leiser atemloser Stimme, die verriet, welche Wirkung sein Kuss auf sie gehabt hatte.

Aber das durfte Ad auf keinen Fall merken.

Deshalb wünschte sie ihm rasch eine gute Nacht und floh förmlich in ihr Apartment.

Während der Sturz von dem Getränkekasten keine Spuren hinterlassen hatte, abgesehen von ein paar Schrammen, blieb die Erinnerung an seinen Kuss noch lange hartnäckig haften.

6. KAPITEL

„Ich gehe nur noch rasch ins Restaurant, um Ad daran zu erinnern, dass ich nachher an der Hochzeitstorte weiterarbeiten muss. Dann fahre ich los“, sagte Kit am nächsten Abend um sechs Uhr am Telefon.

Kira war am anderen Ende der Leitung und versicherte ihr, dass es keine Eile hätte. „Wir sind heute so viel in der Hitze herumgelaufen, dass ich wie ausgewrungen bin. Cutty lädt uns zu einer Pizza ein. Ich brauche also nicht zu kochen. Außerdem macht er uns Erdbeercocktails. Wir werden draußen im Schatten sitzen und einfach warten, bis du da bist.“

„Das klingt großartig“, sagte Kit aufrichtig. Es war wirklich ein anstrengender Tag gewesen. Ein, zwei erholsame Stunden, bevor sie sich an die Hochzeitstorte machte, würden ihr bestimmt gut tun.

„Frag Ad doch, ob er seine Arbeit nicht beenden und mitkommen kann“, fügte Kira hinzu.

Es hatte wie beiläufig geklungen. Doch Kit hatte den Verdacht, dass die Freundin ein bisschen kuppeln wollte. Kit hatte Ad seit gestern Nacht nicht gesehen. Auch deshalb wollte sie im Restaurant vorbeischauen und ihn an die Torte erinnern, bevor sie für den Rest des Abends verschwand.

„Ich werde ihm deine Einladung ausrichten“, erklärte sie.

Sie legten auf, und Kit eilte zu dem Bodenspiegel im Bad. In der Hektik der Vorbereitungen für die Hochzeit hatte Mandy Apfelsaft über ihre Hose geschüttet. Zwar hätte sie etwas von Kira anziehen können. Doch sie hatte sich so nach einer kalten Dusche gesehnt, dass sie sich erneut den Wagen der Freundin geliehen hatte und rasch zu ihrem Apartment gefahren war.

Natürlich hätte sie ihr Haar nicht zu waschen brauchen. Doch sie hatte es getan. Und bei der Auswahl der frischen Kleidung hatte sie nicht an den Abend mit Kira und deren Familie gedacht. Sie hatte die Stunden danach im Sinn gehabt, dann, wenn sie in Ads Restaurantküche die Hochzeitstorte zusammensetzen würde.

Nun ja, zugegeben, sie hatte nicht die praktischsten Sachen für diese Arbeit gewählt. Das enge weiße T-Shirt mit den überschnittenen Schultern und dem tiefen Ausschnitt würde für immer verdorben sein, wenn Schokoladencreme darauf geriet. Egal.

Und die grauen Shorts? Nun, sie waren längst nicht so eng oder kurz wie die weißen, die sie zu Beginn der Woche getragen hatte. Doch auch in diesen Shorts konnte ein Mann genug Bein sehen – wenn er es denn sehen wollte.

„Du solltest dich schämen“, sagte Kit zu ihrem Spiegelbild.

Doch sie zog sich nicht um. Sie vergewisserte sich nur, dass sie kein weiteres Mascara benötigte, ihr Rouge gleichmäßig aufgetragen war und ihr Haar gut saß. Sie hatte es wieder zu einem Dutt auf dem Kopf gebunden, weil es kühler war und bei der Arbeit später in der Küche praktischer sein würde.

Zum Abschluss trug sie einen Hauch Lipgloss auf, schlüpfte in ein Nichts von Sandaletten und verließ das Apartment.

Die Küchentür zur Gasse stand offen, als sie die Treppe hinabstieg, und Kit trat ein. Das Personal schien heute noch beschäftigter zu sein als sonst schon. Deshalb grüßte sie nur kurz und fragte nach Ad.

Einer der Köche deutete mit dem Daumen stumm über seine Schulter zum Gastraum und arbeitete sofort an seinem Gesicht weiter. Kit durchquerte die Schwingfür und ging nach vorn.

Erst jetzt erkannte sie, weshalb so eine Geschäftigkeit in der Küche herrschte. Das Restaurant war zum Bersten voll. Alle Tische und Barhocker waren besetzt, und zahlreiche weitere Gäste warteten an der Tür auf einen freien Platz.

Kit suchte in der Menge nach Ad und entdeckte ihn am anderen Ende der Theke. Er trug Blue Jeans, die seinen Hintern eng umspannten, und ein Polohemd mit dem Logo des Restaurants auf der Brusttasche. Es war beinahe von demselben Aquamarinblau wie das seiner Augen.

Trotz der Hektik sah er fantastisch aus.

Plötzlich blickte er in ihre Richtung und entdeckte sie. Und obwohl er wahrlich keine Zeit übrig hatte, lächelte er, reichte der wartenden Kellnerin ein Tablett mit Getränken und eilte zu Kit.

„Möchtest du einen Job?“, fragte er.

Bevor sie antworteten konnte, gab ein weiterer Kellner eine Bestellung für Bier auf. Ad zog drei gekühlte Krüge unter der Theke hervor und füllte sie, ohne Kit aus den Augen zu lassen.

„Meine Güte, ist heute viel los“, staunte sie und trat seitlich an die Theke, um aus dem Weg zu sein.

„Das liegt an der Hitze. Niemand mag heute kochen. Alle wollen lieber in einem klimatisierten Raum essen“, erklärte Ad, stellte die vollen Bierkrüge auf ein Tablett und schob es dem Kellner hin. „Normalerweise wäre das wunderbar. Nur haben sich heute zwei meiner Kellner krankgemeldet.“

Kit hatte angenommen, Ad hätte einen Scherz gemacht, als er sie fragte, ob sie einen Job wollte. Jetzt war sie nicht mehr sicher. „Brauchst du Hilfe?“

„Und ob!“ Er ließ den Blick über ihren Körper gleiten und hielt sich etwas länger an ihren Beinen auf. Dann sah er sie wieder an und sagte: „Aber du siehst so toll aus, dass du bestimmt etwas anderes vorhast.“

„Pizza essen in Kiras schattigem Garten“, antwortete Kit und überlegte, ob sie der Freundin absagen sollte.

Sie konnte einen netten entspannenden Abend mit einem kühlen Getränk und einer leckeren Pizza bei ihrer besten Freundin verbringen, den Zwillingen beim Spielen zuschauen und sich mit Kira und Cutty unterhalten.

Oder in einem randvollen Restaurant bedienen und sich die Füße wund laufen. Bei Ad.

„Kira und Cutty haben sicher gern mal einen Abend für sich“, hörte sie sich sagen. „Ich rufe sie schnell an, damit sie keine Pizza für mich bestellen. Dann gehöre ich dir.“

Das war vermutlich nicht die geschickteste Ausdrucksweise, denn Ad lächelte vieldeutig. Doch er enthielt sich einer Bemerkung und sagte stattdessen: „Es macht dir wirklich nichts aus?“

„Ich wollte sowieso nicht lange bleiben, sondern bald zurückkehren, um die Hochzeitstorte zusammenzusetzen. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, dass ich das heute erledigen muss …“

„Dieser Gedanke hat mich heute Morgen aus dem Bett getrieben“, antwortete Ad mit einem seltsamen Unterton in der Stimme und lächelte schief.

Kit verzichtete auf eine Bemerkung und fuhr fort: „Ich könnte erst hier ein bisschen bedienen und anschließend die Torte machen.“

„Ich habe ein schlechtes Gewissen, dich derart auszunutzen. Allerdings kein so schlechtes, um dein Angebot abzulehnen.“

„Also gut. Ich rufe Kira rasch an und sage ihr, dass ich nicht komme. Außerdem muss ich wissen, was ich mit ihrem Wagen machen soll. Ich habe ihn mir geliehen und wollte ihn eigentlich sofort zurückbringen.“

„Wir können ihn hinüberfahren, sobald es hier ruhiger geworden ist“, bot Ad an.

Kit wurde es richtig warm, als sie dieses „Wir“ hörte. Mann, hörte sich das gut an!

„Ich glaube kaum, dass Kira den Wagen heute noch braucht. Ich kann ihn bestimmt bis morgen behalten“, antwortete sie. „Lass mich nur schnell anrufen.“

Ad griff unter die Theke und reichte ihr ein schnurloses Telefon. „Ich werde den anderen sagen, dass wir Hilfe bekommen“, verkündete er und ließ sie allein.

Kit ließ Ad nicht aus den Augen und versuchte ihre seltsame Erregung zu dämpfen. Schließlich war es blanker Unsinn, sich darüber zu freuen, soeben einen schönen entspannenden Sommerabend mit Freunden gegen die harte Arbeit einer Kellnerin eingetauscht zu haben. Doch das freudige Gefühl wollte nicht weichen, und Kit kannte den Grund.

Selbst harte Arbeit hatte einen einzigartigen Reiz für sie, wenn sie diese Seite an Seite mit Ad erledigen konnte.

Darüber wollte sie lieber nicht zu eingehend nachdenken.

Gegen neun Uhr wurde es langsam ruhiger im Restaurant, und Kits Hilfe war nicht mehr so dringend nötig. Daher ging sie in die Küche, um die Hochzeitstorte fertig zu stellen.

Sie formte Blüten aus Fondant, rührte Schokoladen- und Buttercreme an, pürierte die Himbeeren und süßte sie, fügte etwas Himbeerlikör hinzu und dickte das Ganze zu einer marmeladenartigen Masse ein. Anschließend stellte sie eine Glasur aus weißer Schokolade und Butter her und setzte den Tortenturm schließlich aufeinander.

Ad hatte noch zu viel zu tun, um Kit wie am ersten Abend zu helfen. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, er fehlte ihr sehr.

Nicht dass er eine Hilfe gewesen wäre oder dass sie ihn dringend gebraucht hätte. Sie vermisste einfach seine Gesellschaft. Selbst wenn er ungewöhnlich oft in die Küche kam, war es kein Ersatz dafür, mit ihm allein zu sein oder mit ihm reden zu können.

Mitternacht war schon vorüber, als das Restaurant endlich schloss und das Personal gehen konnte.

Während Kit letzte Hand an die Torte legte, hörte sie, dass Ad den Barkeeper hinausließ. Nun waren sie allein.

„Das ist ja unglaublich“, sagte er und blieb verblüfft an der Schwingtür stehen.

Lächelnd beobachtete Kit, wie er an den Arbeitstisch trat und langsam um die Torte herumging, um ihre Arbeit näher zu betrachten.

Die Hochzeitstorte bestand aus vier Etagen, die nach oben immer kleiner wurden. Alle Kuchen waren mit weißer Schokoladenglasur überzogen, die eine perfekte Grundlage für die ebenfalls weißen handgearbeiteten Blüten bildete, die wie eine Kaskade von Etage zu Etage hinabrieselten.

„Ich kann nicht glauben, dass du das alles selber gemacht hast. Es ist ein wahres Meisterwerk“, sagte Ad, nachdem er ganz um die Torte herumgegangen war.

„Danke.“

„Und alles ohne meine Hilfe“, fügte er mit gespieltem Erstaunen hinzu.

„Das ist am schwierigsten zu glauben“, scherzte Kit. „Aber jetzt brauche ich deine Hilfe wirklich. Wir müssen die Torte zu zweit tragen.“

„Immer zu Diensten.“

Während Ad die Tür zum Gefrierraum öffnete, machte Kit die Torte zum Transport fertig. Gemeinsam trugen sie das kostbare Stück vorsichtig in den Raum, wo es bis zur Hochzeit bleiben würde.

Nachdem die Torte sicher verstaut war, betrachtete Ad das Kunstwerk erneut eine ganze Weile, als wagte er nicht, seinen Augen zu trauen. Dann kehrte er zum Tisch zurück, der mit zahlreichen Schüsseln, Schal en und Küchengeräten bedeckt war.

Plötzlich merkte Kit, dass sie es trotz der langen Arbeitsstunden nicht eilig hatte mit dem Aufräumen. Das Ende dieser Tätigkeit würde auch das Ende des Zusammenseins mit Ad bedeuten.

„Ich hatte heute Abend noch nicht einmal Zeit zum Essen“, sagte er, während sie die Sachen einsammelten und ins Spülbecken legten. „Hast du zwischendurch etwas zu dir nehmen können?“

„Nein, ich auch nicht“, gab Kit zu. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie nicht einmal daran gedacht hatte.

„Ich stelle gerade fest, dass ich halb verhungert bin. Und was ist mit dir?“

Jetzt merkte Kit es auch. „Ich könnte tatsächlich eine Kleinigkeit vertragen“, sagte sie.

„Was hältst du davon, wenn ich uns ein kleines spätes Abendessen bereite, während du den Abwasch erledigst?“

„Ja, einverstanden.“

Das Abendessen bestand aus zwei riesigen Sandwichs mit Schinken, Truthahn, Schweizer Käse, Tomaten, Mixed Pickles, Avocadoscheiben und – was Ad als sein Geheimnis betrachtete – zerdrückten Kartoffelchips.

Als Kit mit dem Abwasch fertig war, wickelte Ad die Sandwichs in Servietten und drückte Kit zwei Flaschen Mineralwasser in die Hand.

„Wie wäre es, wenn wir im Freien essen?“, schlug er vor. „Ich brauche ein bisschen frische Luft.“

„Auf der Treppe wie gestern Abend?“, fragte Kit.

„Ja, das ist eine gute Idee.“

Kit hatte ebenfalls nichts dagegen. Wortlos nahm sie die Flaschen, ging durch die Hintertür hinaus und war sicher, dass Ad ihr folgen würde.

Sie stiegen die Treppe hinauf und setzten sich wie in der Nacht nach der Junggesellenparty auf der oberen Stufe einander gegenüber. Nur waren sie diesmal zunächst völlig entspannt. Sie aßen ihr Sandwich und spülten es mit Mineralwasser hinunter.

Als ihr größter Hunger gestillt war, erklärte Ad: „Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du heute Abend eingesprungen bist.“

„Ich habe es gern getan. Aber es wird dich einiges kosten.“

„Wirklich?“, fragte er und zog neugierig eine Braue in die Höhe.

Er hatte ihr vorhin eine Bezahlung angeboten. Doch sie hatte abgelehnt und sogar ihre Trinkgelder dem Pers onal überlassen. Er wusste also, dass sie etwas anderes erwartete als Geld.

„Was wird es mich denn kosten?“, fragte er.

„ Informationen.“

„Worüber?“

Kit hatte ihr Sandwich gegessen und legte ihre Serviette beiseite. Nach einem letzten Schluck Wasser lächelte sie listig und sagte: „Du hast gestern Abend erzählt, du würdest Northbridge nie wieder verlassen. Mehr wolltest du nicht dazu sagen. Ich möchte wissen, was dahinter steckt.“

Ad verzog schmerzlich das Gesicht. „Das ist ein hoher Preis für das Bedienen an ein paar Tischen.“

„Ein paar Tischen?“, wandte Kit ein.

Er lächelte wehmütig und aß sein restliches Sandwich. Dann lehnte er sich an das Geländer und beobachtete sie unter den halb geschlossenen Lidern.

„Trotzdem“, sagte er und war offensichtlich nicht bereit, ihrem Verlangen ohne weiteres nachzugeben.

„Oh, ich verstehe. Du gehörst zu denen, die ihre Schulden ungern bezahlen“, erklärte sie und tat, als würde sie seinen Charakter beurteilen. In Wirklichkeit genoss sie seinen Anblick aus nächster Nähe sehr – seine breiten Schultern, die den Abstand zwischen den einzelnen Geländerstäben mühelos ausfüllten, seine Bizepse, die sich unter den kurzen Ärmeln seines Hemdes ballten …

Ad hatte ein Knie angezogen und stützte seinen muskulösen Unterarm darauf. Das andere Bein war zur nächsten Stufe hinabgestreckt, sodass der lange kräftige Schenkel sichtbar wurde. Das Licht der Galerie vergoldete sein erstaunlich hübsches, glatt rasiertes Gesicht.

„Du bist hart im Verhandeln“, stellte er fest. Doch seine Miene verriet, dass er Kit nicht böse war.

Endlich gab er nach.

„Vor ungefähr einem Jahr habe ich etwa sechs Monate in Los Angeles gewohnt.“

„Der eingeschworene Northbridger war in eine Großstadt gezogen?“, fragte Kit verblüfft. „Spürtest du das Bedürfnis, auch einmal die andere Seite des Lebens auszuprobieren? Oder was war passiert?“

„Nein, eigentlich wollte ich gar nicht von hier fort. Ich hatte nie das Bedürfnis, in einer Metropole zu leben. Mir hatte es in Northbridge immer gefallen.“

„Weshalb bist du dann gegangen?“

Ad war während ihrer Unterhaltung immer ernst er und verschlossener geworden. „Ich bin wegen einer Frau weggezogen“, verkündete er nach einer Weile.

„Welcher Frau?“

Das war vermutlich entschieden zu neugierig. Aber Kit wollte es unbedingt wissen.

Um nicht unverschämt zu erscheinen, fügte sie scherzhaft hinzu: „Oder ist das ein zu hoher Preis für eine kleine Kellnerin?“

Ad lächelte erneut, aber diesmal nur schwach.

„Du bist erheblich mehr als eine kleine Kellnerin.“ Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Der Name der Frau war – ist – Lynda Madson. Ich war mit ihr verlobt.“

„Aha.“ Aus einem unerfindlichen Grund hatte Kit sich nicht vorstellen können, dass Ad eine so ernste Beziehung mit einer Frau eingegangen war.

Diesmal befriedigte er ihre Neugier ungefragt.

„Lynda kam vor drei Jahren hierher, um eine Bankfiliale in Northbridge zu eröffnen. Sie war eine leitende Angestellte des Unternehmens und ging ganz in ihrer Arbeit auf. Sie war zwei Monate hier und arbeitete bis spät in die Nacht. Ihre Abendessen stammten fast immer vom Pizza-Service, aus dem Sandwich-Automaten an der Tankstelle oder, wenn sie rechtzeitig aus der Bank rauskam, aus der Speisekarte meines Restaurants. Sie kam meistens allein und setzte sich an die Bar. Wir kamen ins Gespräch. Na ja, und dann hat es uns einfach erwischt.“

Kit verstand sich selbst nicht. Allein die Vorstellung, dass eine andere Frau mit Ad zusammen gewesen war, machte sie furchtbar eifersüchtig.

Eigentlich wollte sie dies gar nicht hören …

Doch jetzt war es zu spät. Nachdem Ad einmal angefangen hatte, hörte er nicht mehr auf.

„Als die Bank hier gut lief, kehrte Lynda nach Los Angeles zurück“, sagte er. „Die nächsten zwölf Monate führten wir eine Fernbeziehung. Sie kam zu mir, ich flog zu ihr, oder wir trafen uns irgendwo in der Mitte. Und wir telefonierten so viel, dass ich beinahe Schwielen an den Ohren bekam.“

Er lächelte ein wenig. Kit merkte, dass es eher ein nostalgisches Lächeln war. Trotzdem legte ihre Eifersucht sich nicht.

„Dann bat ich sie, mich zu heiraten, und sie willigte ein“, fuhr er fort. „Uns war klar, dass es nicht bei dieser Fernbeziehung bleiben konnte. Meine Arbeit war hier, und ich wollte Northbridge nicht verl assen. Deshalb schien es mir logisch zu sein, dass sie L. A. verließ.“

Logisch oder nicht, Ads Miene verhärtete sich wieder.

„Lynda wurde Direktorin der hiesigen Filiale. Das klingt zwar toll, war in Wirklichkeit aber ein ziemlicher Abstieg. Trotzdem tat sie diesen Schritt und zog nach Northbridge.“

Kit wand sich heimlich bei den Bildern, die vor ihrem inneren Auge abliefen – die andere Frau mit Ad in der Stadt, im Restaurant, vielleicht genau an dem Platz, wo sie jetzt saß …

Ad schien ihr Unbehagen nicht zu merken. „Ich war überglücklich“, gestand er. „Wahrscheinlich war es wahnsinnig egoistisch, dass ich Lynda so viel aufgeben ließ. Doch ich war, wo ich sein wollte, und ich war mit der Frau zusammen, nach der ich völlig verrückt war. Wir würden heirateten. Von nun an würde mein Leben in geordneten Bahnen verlaufen. Davon war ich überzeugt.“

Der Spott in seiner Stimme verriet Kit, dass es anders gekommen war.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

Ad schüttelte den Kopf, als könnte er immer noch nicht glauben, wie naiv er gewesen war. „Lynda hasste das Leben hier“, erklärte er. „Sie fand diese Stadt hier, die ich so liebe, langweilig, spießig und altmodisch. Das hätte eigentlich das erste Anzeichen sein sollen, dass ich Lyndas Ansprüchen nicht gerecht werden konnte. Aber das war mir damals nicht klar. Ich dachte, sie hätte einfach Schwierigkeiten, sich hier einzuleben. In Wirklichkeit fand sie keine Freunde, weil sie gar nicht erst den Versuch machte.“

„Das klingt beinahe, als hätte sie nie ernsthaft vorgehabt, hier zu leben“, warf Kit ein.

„Richtig. Lynda wollte ein fach keinen Kontakt. So viele Frauen hier luden sie ein, sie kennen zu lernen. Sie wies alle zurück – sogar meine Schwester. Am Ende war sie ziemlich einsam. Außerdem fehlte ihr das Stadtleben. Sie vermisste die kulturellen Veranstaltungen, die Vielfalt, das hohe Lebenstempo einer Metropole. Hinzu kam, dass sie meinetwegen einen erheblichen Schritt auf der Karriereleiter zurückgefallen war – was sie mehr bedauerte, als sie damals zugeben wollte. Sie war zwar diejenige gewesen, die diesen Schritt gegangen war, aber es war ihr anzumerken, dass sie mir das vorwarf. Sie hatte mit ihrer Karriere zurückgesteckt, damit ich in einem Restaurant arbeiten konnte.“

Die Verachtung in seiner Stimme imitierte wohl den Tonfall, in dem seine ehemalige Verlobte dies ausgesprochen hatte. Doch Ad ging nicht näher darauf ein.

„Wie dem auch sei, alles an dem Kleinstadtleben ging ihr auf die Nerven – dass jeder hier alles über den anderen weiß, dass sie überall dieselben Gesichter sah und dass es hier nicht wirklich eine große Auswahl an Lokalen und Freizeitaktivitäten gibt. Schließlich erklärte sie, sie bekomme in Northbridge keine Luft zum Atmen.“ Ad zuckte hilflos mit den Schultern. „Sie konnte meine kleine heiß geliebte Stadt ein fach nicht leiden.“

„Deshalb ging sie“, nahm Kit an.

„Ja. Nach fünf Monaten. Und ich ging mit. Ohne mir bewusst zu sein, dass Northbridge und das Kleinstadtleben nicht das einzige Problem in unserer Beziehung waren.“

„Du bist ihr zuliebe aus Northbridge weggezogen“, fragte Kit und konnte die Eifersucht in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Ad musste diese Frau wirklich sehr geliebt haben!

„Ja, ich tat es ihretwegen“, gab er zu. „Ich liebte Lynda, und wir war en verlobt. Das konnte und wollte ich nicht einfach so aufgeben. Sie hatte es mit meinem Lebensstil versucht. Ich fand es nur fair, wenn ich jetzt ihren ausprobierte. Mein Bruder Ben übernahm das Restaurant, und ich ging nach L. A.“

„Wo hast du dort gearbeitet?“

Ad verzog das Gesicht, um ihr zu zeigen, dass ihm dieser Job nicht besonders gefallen hatte. „Ich leitete einen Club, der gerade eröffnet hatte“, sagte er. „So ein Schickimicki-Ding.“

„Schickimicki-Ding?“, wiederholte Kit. „Was ist das denn?“

Ad lächelte zum ersten Mal wieder, und sie war froh darüber. „Ein Club, in den nicht jeder hineinkommt. Ein Kerl stand vor der Tür und wählte aus der langen Schlange aus, die sich jeden Abend bildete. Nur schöne Menschen und Berühmtheiten durften passieren. Es gab VIP-Lounges und mehrere Bands, die aufspielten. Eine Zeitschrift in L. A. schrieb, es wäre der Ort, um zu sehen und gesehen zu werden.“

Kit konnte sich nicht einmal vorstellen, dass Ad in so einem Club einen Drink einnehmen würde. Schon gar nicht, dass er der Geschäftsführer war. Er war ein unwahrscheinlich gut aussehender, aber grundsolider Mann. Von VIPs und Schickeria hielt er gar nichts. „Du warst also ein Geheimtipp“, zog sie ihn auf.

„ Genau.“

„Aber es hat dir nicht gefallen.“

„So sehr Lynda Northbridge hasste, ich verabscheute diese Club-Szene noch zehn Mal stärker. Und das übrige Leben in L. A. auch. Den Verkehr und den Lärm und die Hektik … Dieses ständige Sich-Beweisen-Müssen …“ Er hielt plötzlich inne. „Am Ende wachte ich morgens mit geballten Fäusten auf und behielt sie bis zum späten Abend bei. Ich war einfach nicht mehr ich selber.“

„Aber deine Verlobte war glücklich?“

Ad antwortete nicht sofort, sondern überlegte seine nächsten Worte genau. „Natürlich war sie froh, zurück in L. A. zu sein und die Karriereleiter wieder hinaufzusteigen. In gewisser Weise war sie glücklich mit mir. Ich glaube schon, dass sie mich liebte. Doch es gefiel ihr nicht, dass ich im Gaststättengewerbe arbeitete, wie sie es nannte.“

Wieder sprach er in jenem verächtlichen Ton, den er vorhin für das Wort Restaurant verwendet hatte.

„Aber du warst doch Geschäftsführer eines trendigen Nachtclubs“, wandte Kit ein.

„Ja, aber es war eben trotzdem eine Bar. Lynda ging zwar gern essen und in Clubs. Aber sie wollte nicht privat mit Menschen verkehren, die in diesen Restaurants oder Clubs arbeiteten.“

„Aha“, sagte Kit und verzichtete auf die herablassende Bemerkung über Lynda, die ihr auf der Zunge lag. „Und was erwartete sie von dir?“

„Dass ich irgendwo von neun bis fünf in einem Anzug mit Krawatte arbeitete.“

„Du solltest also nicht nur dein altes Leben aufgeben und nach L. A. ziehen, sondern dich auch gleich selber vollkommen umkrempeln?“

Es hatte ein bisschen gehässig geklungen. Aber Kit konnte es nicht ändern.

Ad lachte freundlos. „So ungefähr. Chefin einer Bankfiliale in Northbridge zu sein, war nichts für Lynda. Sie brauchte das große Leben, den Vorstandsposten, das Arbeiten rund um die Uhr, die Hektik. Und für mich war es nichts, in Los Angeles zu leben und ein … ich weiß nicht, was zu sein.“

Er blickte hinab in die Gasse, und Kit merkte, dass ihm der Entschluss, zu dem er schließlich gekommen war, nicht leicht gefallen war. Sie ließ ihm Zeit und wartete stumm, bis er weitersprach.

Endlich drehte er sein hübsches Gesicht wieder zu ihr. „Wir mussten einsehen, dass wir keine gemeinsame Zukunft hatten. Wir wollten unterschiedliche Dinge, ein unterschiedliches Leben. Das ließ sich nicht vereinbaren. Deshalb trennten wir uns, und ich kehrte nach Northbridge zurück.“

Kit ahnte, wie schwer dieser Schritt für ihn gewesen war. „Das tut mir sehr leid“, sagte sie leise.

„Mir tat es damals auch leid“, antwortete er mit einem leichten Lächeln.

„Jetzt nicht mehr?“

„Nein. Inzwischen betrachte ich die Zeit mit Lynda als eine Erfahrung, aus der ich gelernt habe. Und ich bin froh, dass ich nicht tiefer in die Sache hineingeraten bin, bevor ich meinen Irrtum erkannte.“

„Und was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?“

Das war vermutlich wieder zu neugierig. Doch Ad schien es nichts auszumachen, darüber zu reden.

„Ich habe daraus gelernt, weitere Faktoren in Betracht zu ziehen, wenn ich eine Frau kennenlerne, die mir gefällt.“

„Zum Beispiel?“

„Der Wohnsitz ist mir wichtig. Ich wollte und will nie woanders als in Northbridge leben. Nach meinem Reinfall in L. A. weiß ich dies mehr denn je. Außerdem werde ich mich gewiss nie wieder mit einer Frau einlassen, die sich wegen meines Berufs als Restaurantbesitzer schämt.“

„Okay, das sind alles Dinge, die du nicht willst. Und was wünschst du dir?“

„Etwas ziemlich Traditionelles, würde ich sagen. Es ist vielleicht ein bisschen altmodisch. Ich wünsche mir eine Frau, die heiraten und ein Leben lang verheiratet bleiben möchte; die sich Kinder wünscht, Enkelkinder und Urenkelkinder. Ich möchte eine Frau, die Freude an kleinen einfachen Dingen hat; die kein großes Drumherum will oder braucht.“

„Und das alles in Northbridge“, fügte Kit hinzu.

„Ja, in Northbridge. Und jetzt denkst du wahrscheinlich, dass ich ein richtiger Hinterwäldler bin, nicht wahr?“

Im Gegenteil, Kit hatten seine Worte sehr gefallen. Sogar mehr, als sie sollten. Aber das würde sie Ad auf keinen Fall gestehen.

„Ich finde, es ist sehr schön, dass du genau weißt, was du willst und was du nicht willst“, sagte sie stattdessen. „Wieso? Weißt du es etwa nicht?“, forschte er nach.

Kit lachte kläglich. „Manchmal glaube ich, dass ich es weiß. Und dann bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher und …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Schließlich geht dann alles kaputt.“

„Wie bitte?“, fragte er verblüfft.

„Du hast richtig gehört. Es ist furchtbar verwirrend. Mein Liebesleben ist ein Chaos. Aber jetzt ist es wirklich zu spät, um das näher zu erklären.“

„He, das ist unfair“, rief Ad. „Ich habe dir meine Geschichte erzählt, und du willst mich hängen lassen?“

Kit lächelte verschmitzt. „Genau.“

Ad lachte, und im selben Moment fiel alle Spannung von ihm ab. „Siehst du? Genau das hatte ich gemeint. Ihr Stadtmädchen macht mich völlig verrückt.“

„Ich werde Amanda Barnes eine Nachricht zukommen lassen, dass du für sie zu haben bist“, stichelte sie.

Er lachte noch lauter. „Schlecht bis ins Mark“, erklärte er und umfasste spielerisch ihren Nacken.

Doch sobald er ihre nackte Haut berührte und sanft massierte, fiel alles Spielerische von ihm ab und machte etwas anderem Platz. Seine kräftigen Finger bewegten sich zärtlich, beinahe liebevoll, und sein Blick verlor sich in der Tiefe ihrer Augen.

„Oh ja“, sagte er so leise, dass es fast einem Flüstern glich. „Ihr Stadtmädchen macht mich wirklich verrückt.“

Langsam zog er Kit heran, beugte sich vor und küsste sie. Sein Kuss glich nur am Anfang dem der vergangenen Nacht. Dann öffnete er die Lippen und wartete geduldig, bis Kit es ihm gleichtat. Forschend drang er mit der Spitze ein und stieß an ihre Zunge. Er legte die Arme um ihren Körper, zog sie noch näher und presste beide Hände auf ihren Rücken. Glühende Hitze durchrieselte ihre Adern.

Im Gegensatz zu Ad war Kit sich keineswegs sicher, welche Art von Beziehung sie wollte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie gab sich dem Kuss völlig hin. Alle ihre Sinne wurden von diesem Kuss geweckt, und ihre Knie wurden weich.

Sie stieß an seine Zunge, spielte mit ihr, neckte sie und tauschte Geheimnisse mit ihr aus. Anschließend legte sie die Hände auf Ads Brust, strich über die kräftigen Muskeln und spürte beinahe körperlich, wie die Funken übersprangen.

Ihre Knospen wurden fest vor Lust, und ihr ganzer Körper bebte vor nie gekanntem Verlangen. Sie sehnte sich nach den Liebkosungen seiner Hände nicht nur auf ihrem Rücken, nach seinem Mund und seiner Zunge an ganz anderen Stellen als jetzt.

Ihre Küsse wurden immer kühner und fordernder. Das Verlangen erfasst ihren ganzen Körper und ließ sich immer schwerer leugnen.

Gerade wollte Kit ihren Gefühlen nachgeben, da nahmen ihre Gedanken eine unerwartete Wendung, und ihr fiel ein, was Ad ihr eben erzählt hatte. Was er sich wünschte und wie sehr er sich danach sehnte. Dass er keinen Zweifel daran hegte. Ehe. Kinder. Northbridge. Für immer.

Diese Sicherheit gab ihr zu denken. Denn sie passte absolut nicht zu ihrer eigenen völlig anderen Geschichte. Nein, Kit war keine Frau, auf die ein Mann sich verlassen konnte.

Anstatt seinen Körper weiter zu erforschen, wie sie es gern getan hätte, legte sie die Handflächen auf seine Brust, schob Ad zurück und beendete den Kuss.

„Vergiss nicht, ich bin ein Stadtmädchen“, sagte sie mit atemloser Stimme, die verriet, wie ungern sie ihn daran erinnerte.

Ad holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Das scheint mein Schicksal zu sein“, sagte er leise.

Doch er versuchte nicht, sie noch einmal zu küssen. Wehmütig ließ er seine Arme fallen, sank an das Geländer zurück und sah Kit erneut eindringlich an.

„Ich glaube, ich gehe jetzt lieber hinein“, sagte sie matt.

Ad antwortete eine ganze Weile nicht, sondern sah sie nur aufmerksam an. Dann nickte er unmerklich. Das war das Zeichen, das sie brauchte, um aufzustehen.

„Nochmals vielen Dank für deine Hilfe heute Abend“, sagte er leise, während sie die Tür zu ihrem Apartment aufschloss.

„Keine Ursache“, antwortete sie.

Ohne einen Blick zurück oder einen Gute-Nacht-Gruß ging Kit hinein und zog die Tür hinter sich zu.

Je weiter sie sich von Ad entfernte, desto stärker war ihr bewusst geworden, dass sie gar nicht gehen wollte. Dass sie kehrtmachen und sich wieder in seine Arme werfen wollte.

Ein weiterer Blick oder ein weiteres Wort von ihm, und sie hätte es vielleicht getan.

7. KAPITEL

Die letzten Hochzeitsvorbereitungen am Freitag verliefen ohne Zwischenfälle. Nachdem schließlich alles durchgesprochen, geprobt und organisiert war, ging die ganze Gesellschaft am Abend zu dem traditionellen Essen, das, so wollte es eine Tradition in Northbridge, immer vor dem großen Tag stattfand.

Ad hatte sein Restaurant dafür extra geschlossen. Die Ehefrauen von Cuttys Kollegen sowie zahlreiche weitere Frauen aus Northbridge hatten sich bereit erklärt, für das Büfett zu sorgen.

Kit, Ad, Kira und Cutty trafen als Erste ein. Der Gastraum war über und über mit Blumen geschmückt. Kerzen standen auf jedem Tisch und reihten sich auf der Theke. Sie tauchten den Raum in einen romantischen goldenen Schein. Es war, schlicht und ergreifend, umwerfend schön.

Tränen schossen Kira bei diesem Anblick in die Augen.

„Aber Kira, das ist doch hübsch“, tröstete Kit, die selbst ganz gerührt war, ihre Freundin.

„Ich weiß“, schluchzte sie, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Die beiden Männer standen hilflos daneben.

Weitere Gäste trafen ein, und Kira, die immer noch weinte, fasste Kits Arm. „Ich sollte mir dringend kaltes Wasser ins Gesicht schütten. Bring mich schnell in dein Apartment, bevor mich jemand so verheult sieht.“

„Okay, kommt mit.“

Kit ahnte, weshalb Kira so gefühlvoll reagiert hatte, als sie den geschmückten Saal sah. Doch sie sprach erst wieder, als sie ihr Apartment erreicht hatten und die Tränen der Freundin versiegt waren.

Sie reichte Kira ein Glas Wasser und sagte: „Zu Beginn deiner Beziehung mit Cutty hattest du große Bedenken, ob die Menschen dich hier akzeptieren würden. All diese Blumen und Kerzen sind wie eine Besiegelung dafür, dass du endgültig zu ihnen gehörst, nicht wahr?“

Kira nickte und trank einen Schluck Wasser.

Sie war ursprünglich nach Northbridge gekommen, um ihre Schwester zu finden, die in der High School schwanger geworden und gemeinsam mit Cutty durchgebrannt war.

Bei ihrer Ankunft hatte sie erfahren, dass Marla und Anthony bei einem Unfall ums Leben gekommen waren und Cutty allein mit den Zwillingen zurückgeblieben war. Da er sich gerade den Fuß gebrochen hatte, war sie geblieben, um ihm zu helfen und die Zwillinge besser kennen zu lernen. Dabei hatte sie gemerkt, wie sehr ihre Schwester von all en Menschen hier bewundert, ja beinahe verehrt worden war. Sie war besorgt gewesen, dass sie Marla niemals das Wasser reichen könnte. Vor allem hatte sie furchtbare Angst gehabt, dass sie von den Leuten abgelehnt werden würde, weil sie versucht hatte, Marlas Platz bei Cutty einzunehmen.

„Die Blumen und die Kerzen beweisen mir, dass die Einwohner von Northbridge damit einverstanden sind, dass Cutty und ich heiraten“, sagte Kira.

Kit umarmte die Freundin herzlich. „Natürlich sind sie einverstanden, dass du Cutty heiratest“, versicherte sie ihr. „Jeder, der euch beide sieht, erkennt, dass ihr wunderbar zusammenpasst. Dass du ihn glücklich machst.“

„Ich bin echt froh, dass diese ständigen Vergleiche mit Marla in letzter Zeit aufgehört haben“, antwortete Kira. „Ich höre den Namen nicht mehr andauernd, wenn ich mit jemandem spreche. Niemand sagt mir mehr, wie Maria dieses oder jenes gesehen oder getan hätte. Aber ich war nicht sicher, ob das etwas zu bedeuten hatte. Die Leute waren von Anfang an sehr nett zu mir. Warm und offen. Allerdings wusste ich nie, ob diese Freundlichkeit Marias Schwester galt oder mir persönlich.“

„Ich glaube nicht, dass die Frauen sich heute solche Mühe gegeben hätten, wenn es nicht für dich persönlich wäre“, sagte Kit. „Sie taten es nicht für Marla. Und auch nicht für Cutty, der ihre Anstrengungen vermutlich gar nicht erkennt. Männer haben für so etwas keinen Blick. Ich bin sicher, es ist ausschließlich für dich.“

„Das glaube ich auch“, stimmte Kira der Freundin zu und zwang sich, nicht erneut loszuheulen. Dann lachte sie unter Tränen. „Das ist ja schrecklich. Ich heirate morgen die Liebe meines Lebens und flenne wie ein Baby.“

„Na, besser du heulst vorher als nachher“, scherzte Kit.

Kira stand auf, nahm ihre Handtasche und ging ins Bad. „Ich bringe erst mal mein Gesicht wieder in Ordnung“, erklärte sie.

Kit folgte der Freundin, um festzustellen, ob ihr eigenes Make-up ebenfalls aufgefrischt werden musste.

„Hab ich dir schon gesagt, wie sehr mir dein Rock und dein Top gefallen?“, fragte Kira.

Kit betrachtete ihr Outfit. Sie hatte es extra für das Essen heute Abend gekauft – ein marineblauer Rock aus Seidenjersey, der locker über ihre Hüften fiel, und ein passendes Top mit Spaghettiträgern, das knapp unter ihrer Taille endete.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie bequem es ist“, sagte Kit.

Sie hatte ihr Haar nur an den Seiten mit Kämmen aufgesteckt. Der Rest fiel als wilde lockige Mähne hinab. Sie nutzte die Zeit im Badezimmer, um die dichte Masse durchzubürsten.

Als Kira die roten Flecken in ihrem Gesicht überschminkt hatte, war sie ebenfalls fertig.

„Keine Tränen mehr?“, fragte Kit.

„Das will ich hoffen. Aber bleib bitte bei mir, während ich mich bei allen für ihre Mühe bedanke. Vielleicht brauche ich moralische Unterstützung.“

„Kein Problem“, sagte Kit. Sie war nicht sicher, ob die Freundin das Ganze ohne Tränen überstehen würde. Kiras Stimme schwankte jetzt schon bedenklich.

„Diese kleine Stadt ist ein wunderbarer Ort zum Leben. Das Einzige, was sie noch schöner für mich machen würde, wärst du.“

Kit hakte sich bei ihr unter. „Ich bin doch hier.“

„Ja, jetzt. Aber es wäre toll, wenn du ebenfalls hier leben würdest. Ich heirate Cutty, und du könntest Ad heiraten. Wir könnten Nachbarn sein, gemeinsam Kinder bekommen und …“

„Du hast schon einen Ehemann für mich ausgesucht?“, fragte Kit lachend.

„Ich dachte, du könntest ein bisschen Hilfe gebrauchen“, erwiderte Kira.

Kit bestritt es nicht. Allerdings sollte diese Hilfe ihrer Meinung nach darin bestehen, sie von Ad fern zu halten, anstatt sie mit ihm zu verkuppeln. Letzteres schaffte sie nämlich auch ganz allein.

Doch da sie nicht die Absicht hatte, den Rest ihres Lebens in Northbridge zu verbringen, musste sie unbedingt Abstand zu diesem Mann halten.

Der Abend wurde ein voller Erfolg. Ein professioneller Partyservice hätte kein besseres Büffet ausrichten können. Bier und Wein flossen ausgiebig – ein Geschenk von Ad. Es war ein wunderbarer Ausklang nach einer Woche voller Vorbereiten und Organisieren.

Auch Kit genoss die Stunden sehr. Die Leute in Northbridge waren wirklich ungewöhnlich nett und warmherzig. Doch es war vor allem Ad, der ihr seine besondere Aufmerksamkeit schenkte, sie nicht aus den Augen ließ und wie schon die ganze Woche ihre Gedanken völlig ausfüllte.

Während der Abend fortschritt, hatte sie immer stärker das Gefühl, dass Ad und sie so etwas wie … ein Paar wären. Als sie Kira und Cutty spät in der Nacht zur Tür begleiteten, standen sie so nahe beieinander, dass ihre Hände sich zufällig berühren.

Natürlich war es ein Zufall, dessen war Kit gewiss. Auch wenn Ad seine Hand nicht gleich wieder fortnahm, sondern seine Finger um ihre legte und sie leicht drückte.

Das hat nichts zu bedeuten, redete Kit sich ein.

Was ihr schwer fiel, denn dieser heimliche Händedruck war sehr sinnlich gewesen. Glühende Hitze schoss ihren Arm hinauf, breitete sich in ihrem Körper aus und weckte etwas in ihrem Innern, das ihre Knie weich werden ließ.

„Du wirst dich doch morgen benehmen, nicht war?“, fragte Cutty.

„Benehmen?“, wiederholte Kit verblüfft und wusste nicht recht, worauf er anspielte.

„Du wirst bei der Hochzeitsfeier erscheinen und nicht aus dem Klofenster klettern und die Braut entführen?“

Es war eine gutmütige Neckerei. Dennoch versetzte sie Kit einen kleinen Stich ins Herz. Um keine Spielverderberin zu sein, antwortete sie: „Natürlich werde ich da sein. Und Kira ebenfalls“, erklärte sie, ohne Ads neugierigen Blick zu beachten. „Es sei denn, sie ändert ihre Meinung noch.“

Kira lachte fröhlich. „Keine Chance.“ Spielerisch stieß sie Cutty in die Rippen. „Du solltest doch nicht davon anfangen.“

„Oh je.“ Cutty verzog schuldbewusst das Gesicht. „Das hatte ich vergessen.“

„Wir gehen lieber, bevor du noch etwas vergisst“, sagte Kira. „Wir sehen uns morgen.“

Sie bedankten sich erneut für den wunderschönen Abend.

Dann zog Kira Cutty nach draußen.

„Aus dem Klofenster klettern?“, wiederholte Ad, sobald er die Restauranttür hinter dem Paar verriegelt hatte.

Kit tat, als hätte sie seine Worte nicht gehört. „Ich helfe dir schnell, wieder Ordnung zu schaffen“, sagte sie und kehrte in den Gastraum zurück.

Zahlreiche Tische waren zusammengeschoben worden, damit die ganze Gesellschaft beieinander sitzen konnte. Kit begann, die Kaffeetassen, Gläser und Dessertteller einzusammeln.

Ad trat zu ihr, half ihr aber nicht. Er blieb in der Nähe stehen, und Kit spürte seinen forschenden Blick.

„Hat dieses Klofenster etwas mit der Bemerkung zu tun, die Cutty neulich über deine Angst vorm Heiraten machte?“, fragte er.

„Das ist doch völlig egal“, wich Kit seiner Frage aus.

„Und wenn es mich trotzdem interessiert?“

„Das glaube ich kaum“, erklärte sie und wechselte das Thema. „Wir brauchen einen Geschirrkorb. Ich hole einen.“

Sie ließ Ad stehen und verschwand in die Küche.

Als sie zurückkehrte, stand er noch an derselben Stelle und beobachtete sie aufmerksam.

Kit arbeitete weiter, als wäre er gar nicht da. Sie stellte den grauen Korb in die Mitte der zusammengeschobenen Tische und füllte ihn mit dem schmutzigen Geschirr.

Kurz darauf begann Ad, ihr zu helfen. Doch er ließ sie immer noch nicht aus den Augen.

„Als wir gestern über meine Beziehung zu Lynda sprachen, sagtest du, es wäre schön, dass ich genau wüsste, was ich wollte und was ich nicht wollte. Und du fügtest hinzu, dass du manchmal glaubtest, es ebenfalls zu wissen, und anschließend unsicher würdest und alles kaputt machst.“

Vielleicht ist es doch nicht so gut, wenn ein Mann aufmerksam zuhören kann und alles behält, überlegte Kit.

„Habe ich das gesagt?“, wich sie aus.

„Hast du. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Angst vorm Heiraten und dieses Aus-dem-Fensfer-Klettern etwas miteinander zu tun haben.“

„Das möchtest du gern wissen, ja?“

„Genau.“

„Es ist schon ziemlich spät. Fast elf.“

„So spät ist das gar nicht.“

Kit ging nicht darauf ein. „Ich bringe das Geschirr rasch in die Küche und stelle es in die Spülmaschine. Kannst du inzwischen die Tische abwischen und wieder auseinander schieben?“

Ad antwortete nicht, und sie sah ihn neugierig an.

Er lächelte träge. Offensichtlich belustigten ihn ihr Zögern und ihre Ausflüchte. „Ich finde, es ist nur fair, wenn du mir auch deine Geschichte erzählst“, meinte er. „Langsam kommt mir nämlich der Verdacht, dass sie interessanter sein könnte als meine.“

Kit hatte es nicht eilig, ihm zu erzählen, was er wissen wollte. „Sei dir lieber nicht zu sicher“, sagte sie, hob den Geschirrkorb auf und trug ihn in die Küche.

Sie erwartete, dass Ad ihr folgen und hartnäckig auf seiner Forderung bestehen würde. Doch er blieb im Gastraum und schob die Tische wieder auseinander. Gut, das gab ihr etwas Zeit zu überlegen, ob sie ihm von ihrer bewegten Vergangenheit erzählen sollte.

Tat sie es nicht, würde er sowieso alles von Cutty erfahren. Sie wunderte sich, dass er den Freund nicht längst gefragt hatte. Wollte er Cutty nicht auf ihre dunkle Seite ansprechen? Oder wollte er nicht hinter ihrem Rücken über sie reden? Vielleicht respektierte er ja ihr Privatleben und wollte warten, bis sie ihm alles selbst erzählte.

Ja, Ad war zu anständig und sympathisch, um etwas über sie in Erfahrung zu bringen, das sie ihm nicht persönlich erzählte. Der Mann war keine Klatschtante. Und genau deshalb sollte sie so ehrlich sein zu ihm wie er gestern Nacht zu ihr.

„Bist du noch da?“, rief Ad aus dem Gastraum.

„Ja“, rief sie.

„Dann komm zurück. Wenn du mir nichts von deiner schmutzigen Vergangenheit erzählen möchtest, brauchen wir nicht darüber zu reden.“

Kit musste unwillkürlich lachen. „Wer sagt denn, dass sie schmutzig ist?“

„Nun, ich könnte es mir vorstellen.“

Plötzlich kam ihr der Gedanke, offen und ehrlich zu Ad zu sein, gar nicht mehr so erschreckend vor. Vielleicht sollte sie ihm tatsächlich alles erzählen. Sie schloss die Spülmaschine und trocknete ihre Hände.

„Ganz gleich, wie du dich entschließt: Spring bitte nicht aus dem Fenster“, rief Ad. „Ich weiß nämlich nicht, ob ich gegen so etwas versichert bin.“

Also gut, dann soll er was über meine Vergangenheit erfahren, beschloss Kit und lachte über seinen Scherz. Sie ging durch die Pendeltür zurück in den Gastraum.

Ad hatte die Tische wieder an ihren Platz geschoben. Er stand hinter der Theke und räumte die Lappen weg, die er zum Saubermachen benötigt hatte.

Er hob den Kopf, als sie den Speisesaal betrat, und diesmal war sein Lächeln nachsichtiger. „Oh Hilfe, was ist das denn für ein angespanntes Gesicht“, stellte er fest. „Kit, wenn du nicht über deine Vergangenheit reden willst – wir können auch über das Wetter oder die Politik sprechen.“

Kit lächelte erneut. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich Ad anzuvertrauen. Scheinbar ohne jeden Grund. Außer dass sie sich in Gegenwart dieses Mannes immer gleich besser fühlte. Vielleicht konnte er ihr ja helfen, alles positiver zu betrachten?

„Nein, es ist schon okay“, antwortete sie. „Ich werde dir von meiner schmutzigen Vergangenheit erzählen. Aber ich warne dich. Es ist keine schöne Story.“

„Sehr gut. Ich liebe solche Geschichten.“

„Das sagst du jetzt. Aber am Ende könntest du es bedauern.“

Er lächelte breit. „Das klingt ja immer besser.“

„Vielleicht wirst du mich anschließend im Namen aller Männer aus deinem Apartment werfen und mich nie wieder sehen wollen.“

Er zog eine Braue in die Höhe. „Wer bist du? Eine Schwarze Witwe, die ihr Männchen nach dem Paaren auffrisst?“

„Nicht ganz, aber so ähnlich“, ging sie auf seinen Scherz ein.

Ad blieb hinter der Theke, und Kit setzte sich auf einen Hocker ihm gegenüber.

Die Kerzen brannten immer noch, und der Duft der Blumen hing in der Luft. Es war viel zu romantisch für das, was sie erzählen wollte.

„Vielleicht sollten wir die Kerzen ausblasen und das elektrische Licht wieder einschalten“, schlug sie vor.

„Muss ich mir ein Küchenmesser besorgen für den Fall, dass du über mich herfällst?“

„Nun ja, so schlimm ist es nun doch nicht.“

„Dann sollten wir die Kerzen brennen lassen. Sie gefallen mir.“ Sein Ton verriet, dass er das Ganze kein bisschen ernst nahm, und Kit entspannte sich ein wenig. Trotzdem konnte sie ihm immer noch nicht in die Augen sehen. Sie nahm einen schwertförmigen Zahnstocher aus dem Behältnis auf der Theke und fingerte daran.

„Ich war zwei Mal verlobt“, verkündete sie endlich.

„Nur verlobt, aber nicht verheiratet?“

„Nein, ich habe nie geheiratet.“

„Weil du Angst vorm Heiraten hast?“, vermutete er.

„Nein, nicht weil ich Angst vorm Heiraten habe. Ich flippe nicht aus, wenn jemand anders heiratet. Ich finde Hochzeiten immer sehr schön.“

„Aber du bist lieber nur verlobt?“, fragte Ad in seinem typischen lockeren Ton.

„Nein, das auch nicht. Bert und ich waren vorher beinahe zwei Jahre zusammen, und mit Tim war es über ein Jahr.“

„Du nahmst die Heiratsanträge an, weil du die Männer liebtest?“, forschte er nach.

„Ich dachte, ich würde sie lieben. Aber dann … Wahrscheinlich liebte ich sie nicht genug.“

Ad nickte. „Ja. Das habe ich mir bei Lynda auch gesagt. Obwohl ich sie ganz erheblich liebte – vielleicht war es einfach nicht genug“, gab er zu. „Wie nahe bist du mit diesen beiden Männern denn einer Hochzeitsfeier gekommen?“

Kit war sicher, dass er an Cuttys Bemerkung über das Aus-dem-Fenster-Klettern dachte.

„Sagen wir so: Hätte ich die Verlobungen rechtzeitig gelöst, wäre nicht solch ein Chaos entstanden. Leider wurde es beide Male … sehr eng“, antwortete Kit leise.

„Wie eng?“

„Beim ersten Mal waren es keine vierundzwanzig Stunden mehr bis zur Trauung.“

„Und beim zweiten Mal?“

Kit verzog das Gesicht. „Eine Viertelstunde. Bevor ich den Gang zum Altar schreiten sollte, floh ich durch das Klofenster der Kirche.“

Ad sagte kein Wort, und Kit beobachtete ihn verstohlen unter halb gesenkten Lidern.

Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen.

Wenigstens war er nicht entsetzt. „Findest du das etwa komisch?“, fragte sie.

„ Entschuldigung. Für die armen Kerle war es bestimmt nicht komisch. Und ich nehme an, du hast es dir beide Male auch nicht leicht gemacht. Ich stelle mir nur gerade das Bild vor – wie du in einer großen weißen Robe und mit einem Schleier auf dem Kopf durch das Fenster kletterst. Wie ist es anschließend weitergegangen? Bis du mit einem Bus nach Hause gefahren?“

„Nein, Kira war dabei. Wir nahmen ihren Wagen.“

Ad lachte laut auf. „Kira war dabei?“

„Sie war meine Brautjungfer und wollte nach mir sehen. Als sie feststellte, dass ich gerade aus dem Fenster stieg …“ Kit zuckte mit den Schultern. „Da kam sie eben mit. Sie ist eine gute Freundin.“

„Kein Wunder, dass Cutty Angst hat, du könntest morgen aus dem Fenster klettern und Kira mitnehmen.“

„Ich werde Kira bestimmt nicht vom Heiraten abhalten. Aber wenn sie eine Viertelstunde vor Beginn der Trauung zu dem Schluss kommt, dass sie das Ganze lieber lässt – dann stehe ich ihr bei. Das bin ich ihr schuldig.“

Erneut merkte sie, dass Ad seine Belustigung kaum verbergen konnte. „Okay“, sagte er endlich. „Wenn es nicht die Trauung selber war, die dich in die Flucht geschlagen hat, was dann?“

Kit wurde noch verlegener, und sie drehte den Zahnstocher stärker zwischen den Fingern.

„Beide Male gab es nicht den einen bestimmten Grund“, gestand sie. „Genau das macht mir ja zu schaffen. Zwei Mal hatte ich viel Zeit und Geld investiert und eine Menge Leute beschäftigt, um die Hochzeit vorzubereiten. Trotzdem sprang ich in letzter Minute aus scheinbar nichtigen Gründen ab. Tim oder Bert hatten mich weder betrogen, noch hatte ich erfahren, dass sie notorische Spieler oder mehrfach vorbestraft waren. Doch je näher die Hochzeit kam, desto stärker gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich gewisse Dinge an ihnen auf Dauer nicht ertragen könnte. Sicher nicht für den Rest meines Lebens.“

„Was zum Beispiel? Aß einer von ihnen Cracker im Bett oder bohrte er in der Nase?“

Kit lächelte über seinen Scherz. „Bei Bert – das war die erste geplatzte Hochzeit vor drei Jahren, als Kira und ich gerade Freundinnen geworden waren – lag es daran, dass er immer alles bis ins letzte Detail geregelt haben wollte. Wir aßen jeden Tag genau zur selben Zeit. Die Handtücher mussten auf eine bestimmte Weise gefaltet werden, die Konserven perfekt in alphabetischer Reihenfolge geordnet …“

„Alphabetisch geordnet?“

„Er wollte eben, dass alles gut organisiert war.“

„Konserven alphabetisch zu ordnen geht weit über eine gute Organisation hinaus. Für mich war das immer ein Gag, den man in Komödien verwendet. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mensch so etwas wirklich tut.“

„Bei Bert war es der Fall.“

„Und was passierte, wenn du die Erbsen vor die Bohnen stelltest?“

„Er wurde sehr ungehalten, wenn etwas nicht ordentlich war – wenn die Kissen nicht genau richtig lagen oder die Borsten seiner Zahnbürste nicht in die gewünschte Richtung zeigten. Er sagte, es brächte ihn tagelang aus dem Gleichgewicht.“

„Aha“, murmelte Ad, als wüsste er nicht, was er dazu sagen sollte. „Und was war mit dem anderen Kerl?“

„Tim. Ihn hatte ich vor ungefähr sieben Monaten heiraten wollen. Er war völlig anders als Bert. Deshalb dachte ich, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen.“

„Bis fünfzehn Minuten vor der Trauung“, erinnerte er sie.

„Eigentlich hatte es schon früher begonnen. Aber ich behielt meine Bedenken für mich. Ich sagte mir, dass Tim ein lockerer Typ wäre. Er legte keinen Wert auf die Dinge, die Bert ungeheuer wichtig waren. Allerdings hielt er sich für eine Art Superstar – das hat er mir wörtlich gesagt. Und er war furchtbar enttäuscht, dass die anderen es nicht erkannten.“

„Was machte dieser Mr. Superstar beruflich?“

„Tim war Steueranwalt. Er brauchte viel Aufmerksamkeit, aber auch eine Menge Lob und Anerkennung. Immer wieder.“

„Das klingt anstrengend.“

„Ja“, stimmte Kit zu. „Andererseits gibt es schlimmere Dinge, als dass jemand von seinem Lebenspartner erwartet, dass er ihn für die Krone der Schöpfung hält. Bert und Tim waren beide sehr nett. Sie waren freundlich und aufmerksam und vergaßen nie einen Geburtstag oder einen Jahrestag. Sie waren treu und wollten eine Familie gründen. Beiden hatten so viele Pluspunkte, dass Freundinnen von mir sie sich schnappten, sobald ich aus dem Spiel war.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Bert heiratete letzten Monat eine Freundin, mit der ich auf dem College war. Sie ist überglücklich und behauptet, nach all den Männern, mit denen sie bisher eine Beziehung hatte, wären das korrekte Zusammenfalten von Handtüchern und das alphabetische Sortieren von Konserven ein sehr geringer Preis für das Leben mit ihm. Und die Freundin, die sich Tim unmittelbar nach der geplatzten Hochzeit schnappte, behauptet, er wäre genauso großartig, wie er sich selber findet. Sie betrachtet sich als seine Stütze und versichert, dass er sie ebenfalls unterstützt.“

„Du bist also zu dem Schluss gekommen, dass es an dir gelegen haben muss“, vermutete Ad freundlich.

„Nun, es hat an mir gelegen. Tim und Bert waren bereit, mit mir vor den Traualtar zu treten. Ich war diejenige, die wegen lauter Kleinigkeiten in Panik geriet. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, die Handtücher mein Leben lang genau in der Größe zu falten, die Bert mir auf einem Pappkarton vorgezeichnet hatte. Oder Tim jeden Tag zu versichern, dass er der klügste, der beste und der am stärksten unterschätzte Mensch der Welt wäre.“

„Ich halte diese Dinge durchaus nicht für Kleinigkeiten. Mich persönlich würde beides verrückt machen. Es war sehr klug von dir, das noch vor der Hochzeit zu erkennen und abzuspringen.“

Unmittelbar vor der Hochzeit“, verbesserte Kit ihn und fügte hinzu: „Die meisten Leute glauben, dass ich ein massives Bindungsproblem habe und jedes Mal in Panik gerate und davonlaufe, wenn der Augenblick der Wahrheit naht.“

„Und was glaubst du selber?“

Diese Frage hatte Kit sich schon hundert Mal gestellt. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie aufrichtig. „Sicher ist nur, dass mir beide Male die Vorstellung von ‚Bis dass der Tod euch scheidet‘ zu schaffen gemacht hat. Für mein restliches Leben. Für immer und ewig. Ich konnte solch ein Versprechen unmöglich abgeben. Obwohl ich wusste, dass ich beiden sehr wehtat, unsere Familien in Verlegenheit brachte und eine Menge Fragen würde beantworten müssen. Es ging einfach nicht.“ Sie hielt einen Moment inne.

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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