Romana Exklusiv Band 382

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WEIHNACHTSHOCHZEIT AM WEISSEN STRAND von SHEPHERD, KANDY

Jesse Morgan sieht einfach verboten gut aus. Lizzie ist gewarnt, denn auch ihr Ex war ein Hingucker - und ein gewissenloser Playboy! Doch sie arbeitet mit Jesse zusammen in einem Strandcafé, und er scheint entschlossen, ihr die Angst vor Herzensbrechern zu nehmen …

ZÄRTLICHE TAGE AUF TENERIFFA von ROBERTS, PENNY

Eine Riesenüberraschung für Lindsey: Sie hat das Anwesen ihres Großvaters auf Teneriffa geerbt! Die wunderbaren Kindheitssommer dort, ihr geliebter Jacaranda-Baum … Sie ahnt nicht, dass sie schon bald in dessen Schatten von ihrem größten Feind geküsst werden wird!

IN ROM SCHENK ICH DIR TAUSEND ROSEN von BLOOM, BELLA

Attraktiv, aber skrupellos! Emily meidet den Geschäftsmann Sean Night. Bis sie ausgerechnet mit ihm nach Rom fliegen muss, um über die Rettung ihres Blumenladens zu verhandeln. Plötzlich überrascht er sie mit zärtlichen Küssen. Hat er etwa doch ein Herz, oder ist das nur Taktik?


  • Erscheinungstag 14.12.2024
  • Bandnummer 382
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524070
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kandy Shepherd

1. KAPITEL

Das ist also mein neuer Arbeitsplatz. Aufmerksam sah Lizzie Dumont sich im Bay Bites Café um. Alle waren so freundlich und hilfsbereit gewesen, dass sie sich niemals anmerken lassen wollte, wie schwer ihr der Abstieg von der preisgekrönten Spitzenköchin in großstädtischen Sternerestaurants zur Managerin eines Cafés in der kulinarischen Wüste von Dolphin Bay fiel. Die Arbeit unter Dauerstress in den gastronomischen Hochburgen von Paris und Lyon lag hinter ihr, stattdessen stand ihr das vergleichsweise betuliche Leben einer Bistroköchin bevor.

Den Höhepunkt ihrer Karriere hatte sie in Frankreich erlebt, der Niedergang hatte sich seit ihrer Rückkehr nach Sydney abzuzeichnen begonnen. Lange Nachtschichten in den Küchen angesagter Restaurants hatten ihr viel zu wenig Zeit für ihre fünfjährige Tochter Amy gelassen. Auf Unterstützung durch Freunde und Familie hatte sie nicht zurückgreifen können. Nach vielen Jahren in Frankreich hatte sie nur noch wenige Bekannte in Australien. Und die wohnten übers Land verstreut, genau wie ihre kleine Familie. Es war ihr zusehends schwergefallen, Amy ein angemessenes Leben zu bieten. Schulden, die sich seit ihrer Scheidung angehäuft hatten, unzuverlässige Babysitter und unzumutbare Dienstpläne hatten Lizzie schwer belastet. Nach einem Jahr in Sydney war sie nahezu pleite gewesen. Der Verzweiflung nahe, hatte sie sogar mit dem schier unerträglichen Gedanken gespielt, Amy ihrem Exmann Philippe zu überlassen, der in Frankreich lebte.

Das Angebot ihrer Schwester war ihr daher wie eine Rettungsleine erschienen. Sie sollte das brandneue Café managen, das an Sandys Buchhandlung angrenzte. Lizzie hatte dankbar zugegriffen.

Gerade erst war sie in Dolphin Bay eingetroffen. Der aufstrebende Badeort an der Südküste von New South Wales zeichnete sich durch einen denkmalgeschützten Hafen und einige wahre Traumstrände aus. In gastronomischer Hinsicht hatte der Ort jedoch nichts zu bieten. Sie erinnerte sich an einen Urlaub, den sie hier als Jugendliche mit der Familie verbracht hatte. Kulinarische Höhepunkte waren damals Bratfisch mit Pommes direkt aus der essiggetränkten Papiertüte einer Imbissbude und das solide, aber köstliche Essen ihrer Pensionswirtin gewesen.

Dennoch war sie heilfroh über den neuen Job. Er bot ihr die Chance auf ein neues Leben mit Amy. Sie nahm sich vor, ihre gesamte Energie der Aufgabe zu widmen, das Bay Bites zum besten Café der gesamten Südküste zu machen.

Dieser Vorsatz verlieh ihr neuen Schwung und das erhebende Gefühl, ab jetzt ihr eigener Herr zu sein. Kein übellauniger Küchenchef würde sie mehr beschimpfen, sie musste keine Gerichte zubereiten, die sie aus eigenem Antrieb niemals auf die Karte gesetzt hätte.

Ihre Stimmung hob sich weiter, während sie sich im noch nicht eröffneten Café umsah. Sandy hatte es geschmackvoll eingerichtet – gemütlich und modern zugleich. Die Delfine auf den handgemalten Kacheln im Servicebereich sowie in geschnitzter Form an der hölzernen Theke und am Holzrahmen der Tafel, auf der sie die Tagesangebote notieren würde, gefielen Lizzie besonders gut.

Allerdings bemerkte sie auch, dass es noch viel zu tun gab. Sehr viel sogar. Zahllose Kisten warteten aufs Auspacken ebenso wie etliche großformatige Gegenstände, die an einer Wand lehnten. Es juckte Lizzie in den Fingern, mit der Arbeit zu beginnen.

Irgendjemand war ihr schon zuvorgekommen und hatte die neuen Glasbehälter auf der Theke neben der Kasse aufgereiht. In den glänzenden Deckeln spiegelte sich die Nachmittagssonne, die durch die großzügigen Fenster mit Blick auf den historischen Hafen fiel. Gefüllt mit leckerem Gebäck, würden sich die Gefäße gut machen neben dem rotierenden Kuchenkabinett, das Sandy auf ihren Vorschlag hin angeschafft hatte. Auch die Küche ließ keine Wünsche offen, wie eine gründliche Inspektion ergeben hatte. Du schaffst das, schoss es Lizzie durch den Kopf.

Beinahe andächtig ließ sie die Hand über die Theke gleiten, bewunderte die detailreich geschnitzten Delfine und sog den angenehmen Geruch von frischer Farbe ein.

„Die Delfine sind doch cool, oder?“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihr.

Lizzie wirbelte herum und schnappte verblüfft nach Luft, als sie den Mann erkannte, der durch die Verbindungstür von Sandys Buchhandlung Bay Books hereinkam. Es war Jesse Morgan. Hochgewachsen, breitschultrig, mit schwarzem Haar und blauen Augen hätte er als Filmstar oder Topmodel durchgehen können.

Ihr Puls begann zu rasen. Soweit sie wusste, arbeitete er im Ausland. Wieso war er hier? Weshalb hatte Sandy sie nicht darüber informiert, dass er sich in der Stadt aufhielt?

Lizzies Schwester war mit Jesses Bruder Ben verheiratet. Bei der Hochzeit vor sechs Monaten war Jesse der Trauzeuge für Ben und Lizzie die Brautjungfer für Sandy gewesen.

Hoffentlich hat er vergessen, was damals passiert ist, dachte sie. Ein Blick in seine ausdrucksvollen Augen verriet ihr jedoch, dass sein Gedächtnis bestens funktionierte.

„Was tust du hier?“, fragte sie, sobald sie der Sprache wieder mächtig war.

„Auch dir einen wunderschönen guten Tag, Lizzie.“ Er lächelte kühl. Dabei verströmte er den Charme und das unerschütterliche Selbstbewusstsein eines Menschen, der ausnahmslos überall der bestaussehende Mann im Raum ist.

Fieberhaft überlegte Lizzie, was sie sagen sollte. Bei ihrer letzten Begegnung hatten sie sich leidenschaftlich geküsst, und sie hatte kurz davor gestanden, alle Vernunft in den Wind zu schlagen und noch viel weiter zu gehen.

„Dir auch, danke. Du hast dich von hinten angeschlichen“, rechtfertigte sie sich matt und bereute es sofort. Er brauchte nicht zu wissen, dass er sie aus dem Konzept brachte. Allein seine männliche Ausstrahlung jagte ihr Schauer über den Rücken. Das geht anderen Frauen bestimmt genauso, dachte sie missmutig. Vielen anderen.

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Sandy hat mich gebeten, dir beim Auspacken zu helfen. Wie du siehst, habe ich bereits angefangen.“

Er kam einen Schritt näher, und Lizzie wich instinktiv zurück bis an die Theke. In ihrem Bestreben, Abstand zu wahren, ignorierte sie die Rückenflosse des hölzernen Delfins, die sich in ihren Rücken bohrte.

Wie ungerecht, dass ein Mann so fantastisch aussieht, dachte sie. Er war das Abbild seiner Mutter, einer schwarzhaarigen, atemberaubenden Irin. Als Lizzie ihn einmal damit aufgezogen hatte, dass er als Schauspieler oder Model arbeiten könnte, hatte er es lachend abgetan, was ihn in ihren Augen nur noch anziehender erscheinen ließ.

„Ich bin gerade erst angekommen und muss mir noch überlegen, womit ich beginne.“

„Möchtest du etwas trinken? Wasser, Kaffee?“, bot er höflich an.

„Nein, danke. Ich habe unterwegs eine Kaffeepause eingelegt.“ Allmählich begann ihr Verstand wieder zu funktionieren.

Jesse war der Schwager ihrer Schwester. Sie konnte ihn nicht rauswerfen, obwohl sie das am liebsten getan hätte. Verstohlen betrachtete sie ihn. Hatte er sich in den vergangenen sechs Monaten verändert? Welche Veränderungen mochte er an ihr entdecken? Seit ihrer letzten Begegnung fühlte sie sich gealtert, weit über ihre neunundzwanzig Jahre hinaus.

Jesse musste etwa im selben Alter sein, schien jedoch keine Sorgen zu kennen. Der sonnengebräunte Teint bildete einen starken Kontrast zu seinen strahlend blauen Augen, er trug das schwarze Haar länger als bei der Hochzeit. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie weich es sich angefühlt hatte, als sie es beim Küssen berührt hatte.

Ob er sich noch an jene Nacht erinnerte? Sie hatten miteinander gelacht und getanzt, dann waren sie auf den Balkon getreten …

Man hatte Lizzie vor Jesse Morgan gewarnt. Er galt als Frauenheld, Schürzenjäger und Herzensbrecher. Ein Glas Champagner zu viel hatte sie jedoch den nach ihrer Scheidung gefassten Entschluss vergessen lassen, sich nie wieder auf zu gutaussehende, zu charmante Männer einzulassen. Zudem hatte er sich als amüsanter Gesellschafter erwiesen, und sie hatte lange nichts mehr zu lachen gehabt.

Sich im Mondschein auf dem einsamen Balkon in seine Arme zu schmiegen, hatte sich genau richtig angefühlt: magisch, sinnlich und aufregend. Gefühle und Bedürfnisse waren in ihr erwacht, die sie lange tief in sich begraben hatte.

Dann waren plötzlich andere Gäste auf den Balkon gekommen und hatten den Zauberbann gebrochen. Johlen und Buhrufe waren ertönt, und ein junger Mann hatte lachend gerufen: „Jesse tut’s schon wieder!“

Im Nachhinein war Lizzie die Situation schrecklich peinlich. Nicht wegen des Kusses. Sie war Single und erwachsen und konnte küssen, wen sie wollte. Auch nicht wegen des Klischees, als Brautjungfer und Trauzeuge beim Küssen ertappt zu werden. Sie empfand es als demütigend, dass sie seither als eine der zahllosen Eroberungen von Jesse galt.

Verlegen räusperte sie sich. Er sollte nicht merken, wie verwirrt sie war, und schon gar nicht, dass sie sich immer noch stark zu ihm hingezogen fühlte.

„Wieso reist du derzeit nicht um die Welt und vollbringst gute Taten? Ich dachte, du wärst in Indien.“ Jesse arbeitete für eine internationale Hilfsorganisation, die nach Naturkatastrophen den geschädigten Menschen half.

„Zuletzt war ich auf den Philippinen, wo wir ein von einem Erdrutsch zerstörtes Dorf wiederaufgebaut haben.“

„Ist das nicht sehr gefährlich?“, fragte sie, fasziniert von dem Widerspruch, dass der Partylöwe Jesse als Ingenieur notleidenden Menschen in Krisenregionen half.

„Gefahren und Arbeit im Dreck gehören zum Job“, wiegelte er bescheiden ab.

Wieso war sie nur so froh, dass er bislang allen Gefahren wohlbehalten entronnen war? Weil er zur Familie gehört, auch wenn er das schwarze Schaf ist, sagte sich Lizzie. „Und du bist hier, weil …?“

„Die guten Taten haben mir eine Schulterverletzung beschert.“ Er hob den rechten Arm. Schlagartig wich das Blut aus seinem schönen Gesicht, und er stöhnte auf.

Lizzie wollte ihn trösten, seine verletzte Schulter streicheln und küssen, bis der Schmerz fort war. Gerade noch rechtzeitig hielt sie sich zurück, verschränkte die Hände und ärgerte sich über ihre Reaktion. Eigentlich sollte sie mittlerweile immun sein gegen seine Anziehungskraft!

Seine Küsse bei der Hochzeit hatten so köstlich geschmeckt wie feinste belgische Schokolade. Sie hatte lediglich ein Eckchen probiert und sich den Rest verwehrt.

Was Schokolade betraf, verfügte sie über eiserne Willenskraft. Die musste sie künftig auch Männern gegenüber aufbringen, die nicht mehr zu bieten hatten als einen flüchtigen Kitzel.

Sie wollte ein neues Leben für sich und Amy aufbauen. Dabei konnte sie keinen Mann gebrauchen. Schon gar keinen, der die Dinge unnötig verkomplizierte. Nicht jetzt, vielleicht nie. Und sollte sie sich doch einmal wieder auf einen einlassen, dann gewiss nicht auf einen gutaussehenden Charmeur wie Jesse oder ihren Exmann.

Ihr nächster Partner – sofern es ihn je gäbe – würde im selben Land leben wie sie. Er wäre zuverlässig, ausgeglichen, nur durchschnittlich attraktiv und würde sich ausschließlich für sie interessieren.

Jesse war ein Spieler, und spielen wollte Lizzie nicht. Ihre Zeit als Partygirl lag längst hinter ihr. Sie wollte engagiert arbeiten und zugleich ihrer geliebten Tochter eine perfekte Mutter sein.

Zum Glück schien Jesse ohnehin nicht an ihr interessiert. Heute genauso wenig wie nach dem Kuss auf dem Balkon.

Nachdem man sie damals dort ertappt hatte, war Lizzie davongeeilt, um nach Amy zu schauen. Anschließend hatte sie, immer noch etwas atemlos, Jesse gesucht und ihn am Rand der Tanzfläche entdeckt. Er tanzte mit einer wunderschönen, dunkelhaarigen Frau. Sie hatten die Köpfe eng zusammengesteckt, gelacht und sich offensichtlich in Hochstimmung befunden. Hast du sie auch auf dem Balkon geküsst? hatte Lizzie sich gefragt und sich den Rest des Abends von ihm ferngehalten.

„Das mit deiner Verletzung tut mir leid“, sagte sie steif.

„Ich hätte eben nicht versuchen sollen, einen riesigen Betonpfeiler allein zu bewegen.“

„Bist du zur Erholung nach Hause gekommen?“ Plötzlich spürte sie die Delfinfinne im Rücken. Sie tat einen Schritt schräg nach vorn, streng darauf achtend, sich Jesse nicht mehr als nötig zu nähern. Sonst würde sie womöglich doch noch die Hände nach ihm ausstrecken.

„Ja, genau. Aber die Physiotherapie und das ständige ‚Lass es langsam angehen‘ nerven mich allmählich. Daher helfe ich Ben und Sandy, das Café herzurichten.“ Er gestikulierte mit dem unverletzten Arm. „Sieht toll aus hier, findest du nicht?“

„Ich bin ganz begeistert! Besonders die geschnitzten Delfine gefallen mir. Soweit ich weiß, muss jedes Geschäft in der Stadt Delfine in irgendeiner Form präsentieren. Diese hier sind wahre Kunstwerke.“

Lizzie plauderte gelassen weiter, obwohl sie innerlich vor Zorn auf ihre Schwester bebte. Sandy hatte bei keinem Telefonat erwähnt, dass Jesse sich in der Stadt aufhielt. Dabei wusste sie ebenso gut wie alle übrigen Einwohner von Dolphin Bay, was damals auf dem Balkon geschehen war.

Was in einer Metropole längst vergessen gewesen wäre, blieb fest im Gedächtnis der Kleinstadt verhaftet. Hier existierten sogar Wetten darauf, dass Jesse sich niemals mit einer Frau häuslich niederlassen würde.

Nervös sah Lizzie aus dem Fenster. Hoffentlich bemerkte kein Passant, dass sie mit Jesse allein war. Sie wollte weder zu seinem Mythos beitragen noch sich erneut zum Gespött der Leute machen. Zu seinen Eroberungen zählte sie ohnehin schon.

Sandy hätte sie auch darauf vorbereiten müssen, dass er mithalf, das Café startklar zu machen. Jetzt hatte sie keine Chance, ihm auszuweichen.

Als er unvermutet einen Arm ausstreckte und einen der Holzdelfine anfasste, tat sie vor Schreck einen Satz zurück. Er runzelte die Stirn, kommentierte es aber nicht. „Sie stammen von demselben balinesischen Tischler wie die Schnitzereien nebenan im Bay Books“, erklärte er stattdessen. „Sandy hat die Theke auf Maß anfertigen lassen. Ich bin erst gestern mit der Montage fertig geworden.“

„Sind die Montagearbeiten damit abgeschlossen?“ Und kehrst du bald auf die Philippinen zurück? hätte sie gern hinzugefügt.

„So ziemlich.“

„Dann hast du nicht mehr viel zu tun hier, oder?“, entfuhr es ihr.

Die Art, wie er die Lippen kurz aufeinanderpresste, deutete darauf hin, dass er ihre Erleichterung bemerkt hatte. „Die Kisten müssen noch ausgepackt und in deinem Apartment Fliesen verlegt werden.“

„Das machst du auch?“ Jesse in ihrem Bad, in ihrem Schlafzimmer? Der Gedanke irritierte Lizzie, doch das durfte er nicht wissen.

„Sandy möchte, dass du und deine Tochter es schön habt.“

„Danke für deine Mühe“, brachte sie über die Lippen. In erster Linie galt ihr Dank allerdings ihrer Schwester, die ihr nicht nur einen Job gab, sondern eine mietfreie Wohnung dazu.

Dass Jesse Teil des Deals war, hatte sie jedoch nie erwähnt. Du hättest dich niemals auf ihn einlassen dürfen, schalt Lizzie sich. Wieso war sie immer noch nicht immun gegen seinen Charme, sondern musste gegen seine enorme Anziehungskraft ankämpfen? Hoffentlich begegnete sie ihm nicht allzu häufig!

„Beeinträchtigen solche Bauarbeiten deine Genesung nicht?“

In seinen blauen Augen blitzte es gefährlich auf. „Würde es dich denn sehr stören, wenn ich noch eine Weile in Dolphin Bay bliebe?“

„Keineswegs“, log sie.

„Das ist gut, denn ich werde noch mindestens einen Monat hier sein.“

„So lange?“

Es zuckte um Jesses Mundwinkel. „Sandy braucht jede Hilfe, damit das Café zum geplanten Termin eröffnen kann. Ich werde meinen Teil dazu beitragen. Wir Morgans sind ihr zu unendlichem Dank verpflichtet. Wer weiß, wo Ben heute stünde, wäre sie nicht in sein Leben zurückgekehrt und hätte ihn gerettet.“

„Ja, natürlich“, murmelte Lizzie beschämt, weil sie nur an sich gedacht hatte.

Als Teenager hatten Lizzie und ihre Familie einmal die Schulferien im Gästehaus der Morgans in Dolphin Bay verbracht. Jesse war damals ein arroganter, muskelbepackter Typ gewesen, der sich nicht um die Mädchen kümmerte. Zwischen seinem älteren Bruder Ben und Sandy hatte es jedoch kräftig gefunkt. Nach den Ferien waren sie getrennt worden, hatten sich aber zwölf Jahre später wiedergefunden. Einige Jahre zuvor waren Bens erste Frau und sein kleiner Sohn durch ein Feuer im Gästehaus ums Leben gekommen. Lange konnte er ihren tragischen Tod nicht überwinden. „Mir ist es ebenso wichtig, dass das Café ein Erfolg wird. Für Sandy, für Ben.“

Sandy war der einzige Mensch, dem Lizzie voll vertraute. Bereits in ihrer Kindheit war das Familienleben zerrüttet und so mit Konflikten belastet gewesen, dass sich die Schwestern manchmal wie auf einem Schlachtfeld gefühlt hatten. Aber Sandy war ihre Verbündete und hatte die kleine Schwester vor dem tyrannischen Vater beschützt. Lizzie fühlte sich ihr zutiefst verpflichtet.

„Dann ziehen wir an einem Strang“, stellte Jesse fest.

„Absolut.“

„Das Bay Bites eröffnet in einer Woche. Für Streitereien bleibt uns keine Zeit.“ Jesse trat auf sie zu.

Instinktiv wich Lizzie zurück, bis die Delfinfinne im Rücken sie stoppte. Seine Nähe raubte ihr den Atem, rief Erinnerungen daran wach, wie wohl sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.

Doch nicht der lustige, charmante Jesse von der Hochzeit stand vor ihr, sondern ein harter, unbeugsamer Mann, der geradezu verächtlich auf sie herabblickte. „Beiß die Zähne zusammen. Du wirst meine Gesellschaft so lange wie nötig ertragen müssen“, warnte er.

2. KAPITEL

Lizzie sah ihn so bestürzt an, dass Jesse beinahe gelacht hätte. Offensichtlich wollte sie ebenso wenig mit ihm zusammenarbeiten wie er mit ihr.

Sein Ruf als Playboy störte Jesse nicht allzu sehr, er mochte ihn jedoch nicht besonders. Aber es hatte ihm gar nicht gefallen, beim Hochzeitsfest seines Bruders von Lizzie blamiert zu werden. Seine Freunde hatten gefragt, weshalb Lizzie kein weiteres Interesse an ihm hatte, nachdem sie sich anfangs so gut verstanden hatten. Das hätte er selbst gerne gewusst. Gute Ratschläge wie das Deo zu wechseln waren längst verstummt, ehe er begriffen hatte, dass Lizzie nicht zu ihm zurückkehren würde.

Jesse deutete auf die flachen Packstücke. „Fangen wir mit den Gemälden an.“

„Die kann ich gut alleine aufhängen.“ Lizzie verschränkte die Arme vor der Brust.

Die hochgewachsene, zarte Frau mit den platinblonden Locken wirkte zerbrechlich, Jesse wusste jedoch, dass der Eindruck trog. Ihre schlanken Arme waren stark vom täglichen Hantieren mit schweren Töpfen und Pfannen, wie sie ihm bei der Hochzeit erklärt hatte.

„Das ist meine Aufgabe.“

„Und deine Schulter? Du sollst bestimmt nicht schwer heben.“

„Leinwände sind kein Problem.“

„Vor dem Aufhängen möchte ich alle Bilder anschauen und entscheiden, welche mir gefallen.“ Trotzig reckte sie das Kinn in die Höhe.

Du bist wohl auf Streit aus! dachte Jesse verärgert. Er war nicht besonders erpicht darauf, mit Lizzie zusammenzuarbeiten. Aber Sandy hatte seinen Bruder aus tiefem Kummer befreit, als Jesse ihn schon verloren geglaubt hatte. Ihre Liebe hatte ihn ins Leben zurückgeholt. Zum Dank dafür würde er mit ihrer Schwester kooperieren und Lizzie würde sich ebenfalls zusammenreißen müssen.

Bei Familienfesten würden sie ohnehin immer wieder aufeinandertreffen. Und jedes Mal würde er die Anziehung ignorieren müssen, die sie auf ihn ausübte.

„Machen wir es so: Du wählst das Gemälde aus, und ich schlage den Nagel in die Wand und hänge es auf. Die Bilder, die du zurückweist, schicken wir an die Künstler zurück.“

„Zurückweisen?“ Entsetzt sah Lizzie ihn an. „Kunst ist tatsächlich eine persönliche Geschmackssache. Aber ich möchte keinen Künstler verletzen.“

„Alles, was wir hier aufhängen, steht zum Verkauf“, erklärte Jesse. „Für jedes verkaufte Bild erhältst du eine Provision. Was du heute nicht auswählst, kommt vielleicht bei einer anderen Gelegenheit an die Wand.“

Lizzie nickte zögernd. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihm recht zu geben. „Ich sollte eine A-Liste von den Bildern erstellen, die sofort ausgestellt werden, und eine B-Liste von denen, die nachrücken, wenn etwas verkauft ist.“

„Prinzipiell eine gute Idee, doch in einem Provinzstädtchen wie diesem solltest du vorsichtig mit Wertungen sein.“

„Ich vertraue ganz auf dein Urteil. Vom Leben in der Kleinstadt verstehe ich als Großstädterin nämlich nichts.“

Jesse entging der Hauch Sarkasmus nicht, und er musste sich das Grinsen verkneifen. Ihr bissiger Humor hatte ihm von Anfang an gefallen. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten war die schlanke Blondine mit den kühlen grauen Augen ihm zunächst ätherisch und kalt erschienen. Ihr in Wahrheit warmherziges Wesen und die mitreißende Lebhaftigkeit hatten ihn jedoch schnell eines Besseren belehrt.

Sie hatte ihn mit lustigen Anekdoten aus dem Alltag in Restaurantküchen unterhalten und sich ein Spiel ausgedacht, bei dem man die kulinarischen Vorlieben der anderen Gäste erraten sollte. Dabei hatte Lizzie erstaunlich oft richtig gelegen. Sie hatte seinen Vater korrekt als Liebhaber von Rinderfilet eingeschätzt, lediglich bei der mageren Freundin der Braut, die sich entgegen ihrer Prognose einen Berg Desserts auftat, hatte sie zu ihrer beider Überraschung danebengelegen. Jesse hatte jede Sekunde in ihrer Gesellschaft genossen, ganz besonders den Augenblick, als sie sich auf dem Balkon in seine Arme geschmiegt hatte.

Ihre unbeschwerte Fröhlichkeit hatte ihm gerade zu jener Zeit gutgetan. Kurz vorher hatte er nämlich eine enttäuschende Wiederbegegnung mit der Frau gehabt, die ihm Jahre zuvor das Herz gebrochen hatte.

Er war damals knapp fünfundzwanzig Jahre alt gewesen, als die ältere, welterfahrene Fotojournalistin Camilla die Arbeit seines Teams beim Aufbau eines zerstörten Dorfes in Sri Lanka dokumentieren sollte. Sie eroberte sein Herz – und zerstörte seinen Glauben an Liebe, Loyalität und Vertrauen.

Die sympathische, temperamentvolle Lizzie hatte ihm schlagartig bewusst gemacht, dass es ein Leben nach Camilla gab. Gleich darauf ließ sie ihn ebenfalls sitzen.

Die Frau, die ihm heute gegenüberstand, war ein anderer Mensch als die fröhliche Lizzie von vor sechs Monaten. Sie sprühte nicht mehr vor Leben, gab sich distanziert, sogar ein wenig feindselig. Was hatte ihn damals nur so stark zu ihr hingezogen? Hatte er sich in ihr ebenso getäuscht wie in Camilla?

Schön war Lizzie allerdings immer noch. Gerade deswegen eilte es ihm mit dem Aufhängen der Bilder und dem Leeren der Kisten. Sie zog ihn zugleich an und strapazierte seine Geduld. Daher nahm er sich vor, die gemeinsame Zeit auf erträgliche Einheiten zu begrenzen. Zwei Stunden erzwungener Höflichkeit täglich würde er wohl oder übel ertragen – und dabei ihre Attraktivität ignorieren können. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine Stunde und vierzig Minuten! „Beginnen wir mit den Bildern. Das mit den Delfinen in der Brandung solltest du dir als Erstes ansehen.“

Lizzie fluchte innerlich auf Englisch und Französisch, wie sie es in der angespannten Atmosphäre der Restaurantküchen gelernt und oft getan hatte. Was hatte Sandy sich nur dabei gedacht, sie zur Zusammenarbeit mit Jesse zu verdonnern?

Er behandelte sie wie eine Idiotin. Zugegeben, sie hätte sich bei der Hochzeit nicht mit ihm einlassen sollen, doch das gehörte der Vergangenheit an.

Seit Jahren träumte sie davon, ein eigenes Restaurant zu führen. Das war ihr und Philippes erklärtes Ziel gewesen, bis zu ihrer ungeplanten Schwangerschaft.

Ein Café an einem verschlafenen Ort wie Dolphin Bay hatte sie dabei nicht im Sinn gehabt, doch nun war sie bereit, Abstriche zu machen. Sie wusste, womit man Kunden anlockte und zur Wiederkehr bewegte. Einen Besserwisser wie Jesse, der ihr Bilder nach seinem Geschmack und womöglich auch noch die Speisekarte vorschreiben wollte, brauchte sie gewiss nicht.

„Packen wir sie aus, dann entscheide ich, welche mir gefallen – ohne eine Wertung abzugeben natürlich.“

Sie glaubte zu sehen, wie es um seine Mundwinkel zuckte. Für einen Augenblick wirkte er wieder wie der Jesse, der ihr damals so sympathisch erschienen war. Leider hatte sie sich gründlich in ihm geirrt. „Wir fangen mit dem größten Format an.“

Jesse nickte. „Das ist das mit den Delfinen.“

Am liebsten hätte sie ihre Entscheidung widerrufen. Das erschien ihr jedoch albern, daher griff sie nach dem Bild. Es war in festes Packpapier eingeschlagen, das sich nicht aufreißen ließ. Schweigend reichte Jesse ihr ein aufgeklapptes Taschenmesser.

„Danke.“ Lizzie kauerte sich nieder und schnitt das Papier entlang der oberen Rahmenkante auf. Als sie das Messer an einer Seite ansetzte, legte Jesse eine Hand auf ihre.

Unwillkürlich zuckte sie zurück. Fass mich nicht an! hätte sie ihn am liebsten angefaucht. Stattdessen biss sie die Zähne aufeinander.

„Wenn die Seiten nicht aufgeschnitten sind, lassen sich die Bilder leichter wieder einpacken.“

Lizzie rührte sich nicht, solange seine Hand auf ihrer lag. Er hatte schöne Hände, genauso schön wie der Mann insgesamt. Seine Finger fühlten sich warm und vertraut an. Unwillkürlich schloss sie die Augen. Ich halte das nicht aus! schoss es ihr durch den Kopf.

Gerade, als sie seine Hand abstreifen wollte, zog er sie zurück. Lizzie stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte, und hoffte, dass er es nicht bemerkte.

„Ich helfe dir, das Bild herauszuziehen. Für einen allein ist es zu schwer und unhandlich.“

„Danke.“ Gemeinsam hoben sie die große Leinwand aus der Verpackung.

Als sie die fröhlich in der schäumenden Brandung spielenden Delfine sah, entfuhr Lizzie ein Freudenschrei. „Es ist wunderschön. Nein, grandios!“

„Ganz meine Meinung“, pflichtete Jesse ihr bei, ohne dabei selbstgefällig zu wirken.

„Ist das nicht Big Ray Beach?“ Der Strand trug offiziell einen anderen Namen, die Einheimischen nannten ihn jedoch nach den beiden riesigen Mantarochen, die dort seit Jahren lebten. Als Kind hatte Lizzie zwischen Angst und Bewunderung für die gigantisch anmutenden Tiere geschwankt.

„Richtig. Auf einem kleineren Gemälde sind die Rochen auch abgebildet.“

„Lass uns das nächste aufmachen.“

„Dann gefällt dir das große?“

„Und wie! Du hattest recht, es ist einfach perfekt. Wir hängen es am besten dorthin.“ Sie zeigte auf die Mitte der Wand.

„Eine gute Entscheidung. Die Künstlerin wird sich freuen, dass du eines ihrer Bilder ausgewählt hast.“

„Sie?“, entfuhr es Lizzie.

„Hast du damit ein Problem?“

„Natürlich nicht. Es ist nur …“

„Zieh keine voreiligen Schlüsse! Sie ist eine Freundin meiner Mutter, eine Kunstlehrerin im Ruhestand. Keines von ‚Jesse’s Girls‘.“

„Daran habe ich keine Sekunde gedacht.“ Eine glatte Lüge!

Bei der Hochzeit hatte Jesse sie so fasziniert, dass sie seinen Ruf als Playboy völlig ignorierte. Bis er sie selbst daran erinnerte.

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Sie wollte seiner überwältigenden Präsenz entkommen, den muskulösen Armen, der breiten Brust, dem makellosen Gesicht. Noch immer war sie ihm so nahe, dass sie seine Körperhitze spürte, den ihm eigenen Duft roch. Das beschwor unausweichlich Erinnerungen in ihr herauf, die sie lieber unterdrückt hätte.

„Es ist so groß, dass ich dachte, ein Mann hätte es gemalt“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen.

„Das klingt logisch.“ Überzeugt wirkte Jesse nicht. „Wenn es als Blickfänger dienen soll, hängen wir es am besten sofort auf. Dann können wir die übrigen dazu gruppieren.“ Er trat zur Wand und deutete auf eine Stelle. „Hier würde es am besten zur Geltung kommen.“

Lizzie pflichtete ihm bei, ohne mehr zu sehen als seine prächtige Hinteransicht. Die breiten Schultern, der knackige Po … Hastig trat sie neben ihn, doch das war nicht besser, denn nun berührte sie fast seine Schultern. Vor ihn stellen konnte sie sich ebenso wenig. Sie würde nur daran denken, wie er sie auf dem Balkon umarmt hatte. Hastig tat sie einen Schritt zur Seite und stolperte prompt.

Sie hätte sich die Mühe sparen können, denn in diesem Moment ging Jesse zur Theke und holte einen Werkzeugkasten dahinter hervor, in dem sich Bohrer, Hammer, Wasserwaage, eine Handvoll Dübel und Nägel befanden. Damit kehrte er zurück.

„In dieser Wand sind keine Leitungen verlegt. Wir können das Bild exakt an der gewünschten Stelle aufhängen.“

Dass Jesse ständig im Plural sprach, irritierte Lizzie. Sie wollte kein Team mit ihm bilden. Andererseits war sie nicht in der Lage, mit einem Bohrer umzugehen, was Sandy sehr gut wusste. Wozu einen Handwerker bezahlen, wenn Jesse freiwillig seine Zeit opferte?

Er zog einen Bleistift aus der Gesäßtasche, markierte einen Punkt an der Wand und setzte die Bohrmaschine an.

Schaffst du das mit deiner Schulter? sorgte sich Lizzie, während er bereits ein sauberes Loch bohrte. Nur ein Hauch Bohrstaub schlug sich auf der frisch gestrichenen Wand nieder.

Zufrieden legte Jesse den Bohrer beiseite und griff nach Hammer und Dübel. Mit der Linken hielt er den Dübel fest, mit dem Hammer in der Rechten schlug er darauf – und ließ plötzlich laut fluchend den Hammer fallen.

„Was ist los?“

„Meine Schulter“, stöhnte er. „Der Winkel ist ungünstig.“

„Wie kann ich dir helfen?“ Lizzie fühlte sich nutzlos angesichts seines Schmerzes, und zu ihrem Verdruss spürte sie den Drang, ihn zu berühren und zu trösten.

„Wenn du den Dübel hältst, könnte ich den Hammer mit beiden Händen führen.“

„Ich könnte den Dübel selbst einschlagen.“

„Das überlasse besser mir.“

Obwohl sein Misstrauen in ihre handwerklichen Fähigkeiten sie ärgerte, gab sie widerspruchslos nach und tat wie geheißen.

Lizzie war hochgewachsen, doch Jesse überragte sie noch um ein Stück. Um den Dübel einzuschlagen, musste er die Arme um sie legen. Dabei wurden ihre Schultern gegen seine Brust gepresst. Er war ihr viel zu nahe. Ihr Herzschlag stockte, die Knie drohten unter ihr nachzugeben. Erschrocken ließ sie den Dübel fallen und wandte sich um. Sie hatte ihm entkommen wollen, stattdessen befand sich sein Gesicht nur Zentimeter vor ihrem. Wie gebannt standen sie da und sahen sich eine kleine Ewigkeit stumm an.

„So geht das nicht weiter“, murmelte Lizzie schließlich und drängte sich an ihm vorbei.

Jesse räusperte sich. „Du hast recht. Wir können nicht ignorieren, was auf der Hochzeit geschehen ist. Und auch nicht deine plötzliche Abreise am nächsten Tag, ohne mir auch nur Lebewohl zu sagen.“

3. KAPITEL

Lizzie fehlten die passenden Worte. Sie öffnete den Mund als wollte sie etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Nervös schob sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte es erneut. „Wir sollten es nicht ignorieren, sondern vergessen.“

„Willst du wirklich vergessen, was zwischen uns passiert ist?“

„Es war eine Fehleinschätzung meinerseits.“

Jesse machte eine abfällige Geste. „Man hat mich schon als vieles beschimpft, aber noch nie als Fehleinschätzung.“

Erschrocken schlug Lizzie eine Hand vor den Mund. „So habe ich das nicht gemeint.“

„Schon gut, ich habe gelernt einzustecken.“ Er zuckte die Schultern, was ihn ebenso schmerzte wie ihre Worte.

„Ich meine es ernst. Es hätte nie so weit kommen dürfen.“

„Soweit ich mich erinnere, hatten wir viel Spaß.“

Angriffslustig reckte sie das Kinn. „Dann weichen unsere Erinnerungen wohl voneinander ab.“

„Ich erinnere mich an viel Gelächter und eine warmherzige, schöne und sehr lebendige Frau.“

Lizzie, die instinktiv immer weiter zurückgewichen war, stand inzwischen wieder an der Theke. „Hast du vergessen, wie deine raubeinigen Freunde auf den Balkon gekommen sind und uns …“

„Beim Küssen ertappt haben? Keineswegs. Ich kenne sie schon mein Leben lang. Sie haben uns nur scherzhaft aufgezogen, und es schien dir nichts auszumachen.“

„Es war mir peinlich!“

„Dennoch hast du gelacht.“

Geistesabwesend spielte sie mit der losen Haarsträhne, wickelte sie um einen Finger, löste sie wieder. „Ich wollte mir nur nichts anmerken lassen.“

Prüfend sah Jesse ihr ins Gesicht. „Versuchst du häufig, deine Gefühle zu verbergen?“

„Tut das nicht jeder?“

„Du hast gelacht und gesagt, du müsstest nach Amy sehen.“

Verlegen wandte sie den Blick ab. „Ja.“

„Danach bist du nicht mehr zu mir zurückgekehrt.“

„Doch. Aber da warst du mittlerweile anderweitig beschäftigt.“

„Das kann nicht sein. Ich habe auf dich gewartet.“ Als sie nicht wiederkam, hatte er sich nach ihr umgesehen und sie auf der gegenüberliegenden Seite des Saals im Gespräch mit der schlimmsten Klatschbase von Dolphin Bay entdeckt. Den restlichen Abend über hatte sie ihm keinen Blick, kein Wort mehr gegönnt.

„Du hast mit einer anderen getanzt, obwohl du versprochen hattest, sämtliche Tänze für mich zu reservieren“, schleuderte Lizzie ihm hitzig entgegen.

Stunden vorher hatten sie gescherzt, dass er ein Schild ‚Reserviert für Lizzie‘ trüge und sie eines mit der Aufschrift ‚Reserviert für Jesse‘. Für Jesse war es mehr gewesen als ein Scherz. „Nach den Pflichttänzen – den mit deiner bezaubernden kleinen Tochter eingeschlossen – habe ich ausschließlich mit dir getanzt. Wer war denn diese andere?“

Lizzie sah verlegen beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre sie gerade lieber anderswo. „Ist doch egal. Natürlich hattest du das Recht, mit einer anderen zu tanzen.“

Verärgert streckte er einen Arm aus, umfasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. „Damit wir uns recht verstehen: Ich wollte in dieser Nacht mit keiner anderen außer dir tanzen.“ Erst als sie sich wand, gab er sie frei. „Wie sah die mysteriöse Frau aus?“

„Schwarzes Haar, hochgewachsen, sehr schön, rotes Kleid“, zählte sie widerwillig auf, und Jesse runzelte die Stirn.

„Ihr schient sehr glücklich miteinander zu sein“, ergänzte sie.

Plötzlich ging ihm ein Licht auf. „Rotes Kleid? Das war meine Cousine Marie. Sie hat mir erzählt, dass sie schwanger ist. Sie und ihr Mann hatten sich schon lange Nachwuchs gewünscht. Wir haben uns darüber unterhalten, während ich auf dich gewartet habe.“

„Oh“, hauchte Lizzie und ließ betreten den Kopf sinken.

„Ich habe sie vor Freude über die gute Nachricht im Kreis herumgewirbelt. Getanzt haben wir nicht.“

„Wie … schön für sie.“

„Hast du wirklich geglaubt, ich hätte dich auf dem Balkon geküsst – vor Publikum – und mir gleich darauf eine andere gesucht? Du warst nur wenige Minuten fort.“

„Es hat ganz danach ausgesehen. Ich habe mich noch nie im Leben so naiv gefühlt.“

„Wieso bist du nicht zu mir gekommen und hast mich zur Rede gestellt? So machen das eifersüchtige Frauen normalerweise.“

„Ich war nicht eifersüchtig. Eher … enttäuscht.“ Verlegen sah sie zu Boden.

„Und ich war enttäuscht, als du nicht zu mir zurückgekommen bist. Und ganz besonders, als du am nächsten Tag ohne Abschied abgereist bist und keinen meiner Anrufe angenommen hast.“

„Es … war ein Missverständnis. Tut mir leid.“

Sie kehrte ihm den Rücken und ging um die Theke herum, sodass diese eine Barriere zwischen ihnen bildete. Als sie nach einem der Glasbehälter griff, bemerkte Jesse, dass ihre Hände bebten.

Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich über die Theke zu beugen und sie zu berühren oder zu küssen. Er widerstand dem Impuls. Sie zeigte deutlich, dass sie nicht berührt werden wollte, und er hatte nicht vor etwas anzufangen, was er nicht fortführen wollte. Ihm ging es lediglich darum aufzuklären, was ihn seit sechs Monaten irritierte. Mehr wollte er nicht. Daher wich er einen Schritt zurück und gab ihr mehr Raum.

„Ich verstehe! Du hast gehört, dass ich ein Playboy bin. Man hat dich gewarnt, ich würde deiner schnell überdrüssig und du wärst nur eines von den sogenannten Jesse’s Girls.“ Damit spielte er auf einen Song des australischen Sängers Rick Springfield aus den Achtzigerjahren an, Jessie’s Girl, den seine Eltern bei seiner Tauffeier immer wieder gespielt hatten und der ihm seither anhaftete.

Lizzie errötete. „Ach, was!“

„Die Geschichten über mein Liebesleben sind allesamt übertrieben.“ Als Teenager und junger Erwachsener hatte dieser Ruf neben seinem guten Aussehen dazu beigetragen, Mädchen für ihn zu interessieren. Insgeheim hatte er sich schon damals darüber amüsiert. Nun, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, war er ihm lästig. Wenigstens bot er den Vorteil, dass niemand sich wunderte, wenn er keine ernsthafte Bindung einging und sich nur mit Frauen einließ, die nichts anderes als Spaß suchten.

Unwillkürlich gingen ihm Camillas Abschiedsworte durch den Sinn. „Du wirst mich nicht eine Minute vermissen. Ein hübscher Junge wie du kann jede Frau haben, die er will.“ Das war ein Irrtum, denn er hatte Camilla gewollt. Sehr sogar. Ihre Zurückweisung hatte ihm das Herz gebrochen. Einen solchen Schmerz wollte er nie wieder erleben.

„Mich hätte niemand vor dir warnen müssen. Die halbe Stadt hat über dich und Kate Parker, die andere Brautjungfer, gesprochen. Dass du zwischen deinen Reisen immer wieder mit ihr zusammen warst, sie dich aber genauso wenig einfangen konnte wie ihre zahlreichen Vorgängerinnen.“

Haben die lieben Mitbürger wirklich nichts als Klatsch im Sinn? fragte sich Jesse kopfschüttelnd. Den wahren Grund für sein Singledasein kannte niemand. Kate war seit Kindertagen seine beste Freundin, nicht mehr und nicht weniger. Übermütig und im Scherz hatten sie beschlossen einander zu heiraten, falls beide bis zum dreißigsten Geburtstag keinen Partner fanden.

„Blödsinn! Wir haben uns ein einziges Mal geküsst, um zu testen, ob zwischen uns mehr sein kann als Freundschaft. Nur, da war nichts. Wir sind und bleiben Freunde.“

„Das war mir klar, da sie bei der Hochzeit ausschließlich Augen für deinen Freund Sam Lancaster hatte.“

„Sie sind inzwischen glücklich verheiratet. Ich war Trauzeuge.“ Er freute sich aufrichtig für die beiden. Dennoch hatte es seinen Stolz verletzt, als Kate ihm erklärte, dass sein Kuss ihr nichts bedeutete. In Verbindung mit Camillas Zurückweisung hatte das dazu geführt, dass er sich bei der Feier elend gefühlt und Dinge infrage gestellt hatte, die er bis dahin nie hatte hinterfragen müssen.

Lizzie hatte an jenem Tag seinem verletzten Ego gutgetan – bis sie ihn ohne Erklärung stehen ließ.

Das lag sechs Monate zurück. Derzeit stand er am Wendepunkt seiner Karriere, er musste eine wichtige Entscheidung treffen. Die jüngste Begegnung mit Camilla hatte ihm bewusst gemacht, dass er sich beruflich verändern wollte. Daher hatte er seinen Vorgesetzten bei der Hilfsorganisation zu verstehen gegeben, dass er nach seiner Genesung womöglich nicht zurückkehren würde – außer als Spendensammler und ehrenamtlicher Helfer.

Ein multinationaler Baukonzern mit Sitz in Houston, Texas, hatte ihm eine Stelle angeboten, die ihn interessierte. Dafür müsste er jedoch in die Vereinigten Staaten ziehen und könnte noch seltener als bisher nach Dolphin Bay kommen.

Auch aus diesem Grund war es gut, dass er nicht mehr von Lizzie wollte als ein Missverständnis aus der Welt schaffen. Aus ihnen würde niemals ein Paar werden, diese Chance hatten sie vertan. Klare Verhältnisse waren jedoch wichtig, wenn sie friedlich zusammenarbeiten wollten. Obendrein gehörte sie zur Familie. Sie würden sich immer wieder begegnen und mussten dann miteinander auskommen.

„Hochzeiten sind gefährlich. Emotionen kochen hoch und verführen die Leute dazu, Dinge zu tun, die sie besser unterließen … wie wahllos herumknutschen.“ Lizzie konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen.

„Ich habe nicht wahllos mit dir geknutscht.“

„Vielleicht habe ich es mit dir getan?“ Sie errötete.

„Das wäre möglich.“

„Vielleicht bin ich ein Playgirl.“

Einen Moment lang sah Jesse das schelmische Glitzern in ihren Augen, das ihn vor sechs Monaten so fasziniert hatte.

An die flachbrüstige Bohnenstange, die sie als Sechzehnjährige bei ihrem ersten Besuch in Dolphin Bay gewesen war, erinnerte er sich kaum noch. Damals hatte er nur volle Brüste und reifen Sexappeal im Sinn gehabt. Während sein Bruder Ben sich Hals über Kopf in Sandy verliebt hatte, konnte Jesse sich nicht zwischen drei älteren Mädchen entscheiden, die ihm Interesse signalisierten.

Bei der nächsten Begegnung zwölf Jahre später hatte Lizzie ihn jedoch überwältigt mit Eleganz, dezenter Sinnlichkeit und mit Klasse. Selbst in Jeans und schlichter weißer Bluse mit hochgekrempelten Ärmeln, das Haar zu einem Zopf geflochten, sah sie umwerfend aus.

„Ich halte dich nicht für ein Playgirl.“

Schlagartig wurde sie wieder ernst. „Ich bin geschieden, alleinerziehend und ohne ausgeprägtes Sozialleben. Mein Bestreben ist, dieses Café zum Erfolg zu führen und mich meiner Tochter zu widmen.“

„Es ist bestimmt nicht einfach, ein Kind allein aufzuziehen.“

„Komplizierter, als du es dir vorstellen kannst. Aber es ist die Mühe wert. Amy ist das Beste, was mir je passiert ist.“

„Du warst noch sehr jung, als sie zur Welt kam.“

„Dreiundzwanzig. Sie war nicht geplant, ich habe es jedoch keine Sekunde bereut.“

„Wo ist sie überhaupt? Ist sie nicht mit dir aus Sydney gekommen?“ Jesse erinnerte sich gut an das niedliche Blumenmädchen, das alle Hochzeitsgäste bezaubert hatte.

„Sie verbringt die Schulferien in Frankreich bei ihrem Vater und den Großeltern. Sie lieben sie und möchten sie am liebsten als Französin erziehen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb aus dem Café ein Erfolg werden muss. Philippe wartet nur darauf, dass ich versage, damit er das alleinige Sorgerecht durchsetzen kann.“

Sandy hatte Jesse einiges aus Lizzies Leben erzählt: vom dominanten Vater, der frühen Heirat, dem Zerbrechen der Ehe. Lizzie hatte es nicht leicht gehabt. Im Nachhinein war Jesse froh, dass bei der Hochzeit nicht mehr zwischen ihnen passiert war. Er hätte sie nicht noch schlimmer verletzen wollen. Schließlich wusste er genau, wie weh das tat.

„Hier wirst du Hilfe haben, wann immer du sie brauchst. Deine Schwester ist jetzt eine Morgan, und die Morgans kümmern sich umeinander.“

„Gut zu wissen.“ Lizzie atmete einmal tief durch, dann sah sie ihn freimütig an. „Es tut mir leid, dass ich die Situation mit deiner Cousine falsch interpretiert habe. Dennoch darf sich nicht wiederholen, was damals geschehen ist. Das ist dir doch bewusst, oder?“

Insgeheim war Jesse erleichtert, dass sie keine Erwartungen an ihn stellte. Lizzie gefiel ihm immer noch sehr gut, doch für eine feste Beziehung war er nicht bereit. Und auf weniger würde sie sich nicht einlassen.

„Lizzie, ich …“, setzte er zu sprechen an, doch sie unterbrach ihn.

„Wie gesagt, ich habe kein Sozialleben. Das bedeutet, dass ich mit niemandem ausgehe.“

„Verstanden.“ Das war Jesse nur recht. Sein Beruf führte ihn in die entlegensten Orte der Welt. Sollte er sich jemals mit einer Frau zusammentun, dann mit einer ohne Bindungen. Als freischaffende Fotografin ohne Kinder wäre Camilla ideal gewesen. Allerdings waren ihm durch sie Frauen verleidet worden, die allzu selbstsicher, unabhängig und durchsetzungsstark waren. Alles Attribute, die er vorher sehr geschätzt hatte und als Voraussetzung einer Beziehung auf Augenhöhe angesehen hatte.

„Behalte die Hochzeit einfach als nettes Abenteuer in Erinnerung. Ich jedenfalls bereue nichts“, sagte er. „Aber es …“

„… darf sich nicht wiederholen“, beendeten sie den Satz im Chor.

„Freunde?“ Jesse reichte ihr über die Theke hinweg die Hand. Dabei wunderte er sich, dass er ihr die Freundschaft anbot. Es würde ihm schwerfallen, sich nicht mehr zu wünschen, denn sie zog ihn immer noch stark an.

Lizzie zögerte. „Wir kennen einander doch kaum. Ich bin wählerisch, wen ich Freund nenne.“ Sie dachte einen Moment lang nach. „Wir könnten zumindest versuchen, Freunde zu werden, oder?“

„Einverstanden“, stimmte er rasch zu und nahm sich erneut fest vor, nicht mehr als zwei Stunden täglich mit ihr zu verbringen. Alles darüber hinaus würde sein Verlangen nach ihr nur verstärken. Er würde sich mehr wünschen, als sie beide zu geben bereit waren, und das durfte nicht geschehen.

„Also gut.“ Sie ergriff seine Hand, schüttelte sie und ließ sie sofort wieder los.

4. KAPITEL

Das letzte Bild, das an den Künstler zurückgeschickt werden sollte, war verpackt. Lizzie lehnte sich aufstöhnend zurück und rieb das schmerzende Kreuz. „Geschafft! Das war anstrengender, als ich dachte.“

„Aber es hat sich gelohnt“, meinte Jesse, der neben ihr kniete.

„Auf jeden Fall. Die Bilder sorgen für eine tolle Atmosphäre. Hoffentlich besuchen die Künstler das Café, damit ich ihnen mit einer Tasse Kaffee danken kann.“

Lizzie war erschöpft, nicht nur vom anstrengenden Auspacken und Bilder an die Wand halten, sondern ebenso sehr vom Arbeiten an Jesses Seite.

Es würde ihr irgendwie gelingen, sich mit ihm anzufreunden, denn er gab sich umgänglich, war intelligent und schien nicht weiter an die Vorgeschichte anknüpfen zu wollen. Ganz der Gentleman, bestand er trotz der verletzten Schulter darauf, alles Schwere zu heben.

Dennoch schaffte sie es nicht, sich in seiner Gegenwart zu entspannen. Sie wog jedes Wort sorgfältig ab, ehe sie es aussprach, was sich manchmal unangenehm gestelzt anhörte. Obendrein musste sie immer wieder albern kichern, was sonst gar nicht ihre Art war.

Traurig überlegte sie, ob eine Freundschaft mit einem Mann, den man geküsst und begehrt hatte, überhaupt möglich war. Noch dazu, wenn er so unglaublich attraktiv war.

Es half nichts. Sie musste so tun, als wäre nie etwas zwischen ihnen geschehen, und sich nach Kräften um ein freundschaftliches Verhältnis bemühen. Ansonsten könnten Familienzusammenkünfte in Zukunft peinlich und quälend verlaufen.

Sie standen auf und betrachteten die Gemälde an der Wand. Zwar standen sie nicht so dicht beieinander, dass ihre Schultern sich berührten, dennoch nahm Lizzie den Duft wahr, den er verströmte: eine köstliche Mischung von Sandelholz und frischem Schweiß. Ihm so nahe, stieg die Erinnerung in ihr hoch, wie gut sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.

Sie neigte sich vor, um das Bild der beiden Mantarochen gerade zu rücken, und nutzte die Gelegenheit, einen Schritt zur Seite zu treten, weg von Jesse.

„Es sieht toll aus. Du hast klug gewählt“, lobte er.

„Die Endauswahl haben wir gemeinsam getroffen.“ Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Ton.

„Du hast häufig von deinem Vetorecht Gebrauch gemacht.“

„Willst du etwa andeuten, ich wäre ein Kontrollfreak?“, sagte sie leichthin.

„Das nicht gerade.“ Er lächelte. „Aber …“

Einen richtigen Freund hätte Lizzie jetzt in die Seite geknufft und mit ihm gelacht. Mit Jesse war das nicht möglich. Sie konnte nicht mit ihm herumalbern, durfte ihn nicht berühren. Es war zu gefährlich.

Stattdessen seufzte sie theatralisch. „Erfolg oder Misserfolg des Bay Bites lasten allein auf meinen Schultern.“

„Das stimmt nicht. Sandy und Ben helfen dir, außerdem das Personal, das sie angeheuert haben. Und ich auch.“

„Du?“ Verblüfft sah sie ihn an.

„Ich kann dir täglich zwei Stunden zur Hand gehen.“

„Zwei Stunden?“ Das erschien ihr seltsam. Konnte er seiner Schulter nicht mehr zumuten oder hatte er anderweitige Verpflichtungen in Dolphin Bay? Steckte eine Frau dahinter?

„Egal, was du brauchst, du kannst zwei Stunden täglich mit mir rechnen“, bestätigte er noch einmal.

Unvermittelt schossen ihr Fantasien durch den Sinn, was sie in dieser Zeit mit ihm in ihrem Schlafzimmer anstellen könnte, und ihr wurde siedend heiß. Reiß dich zusammen, er ist nichts als ein Freund, ermahnte sie sich.

Sie räusperte sich. „Zunächst einmal möchte ich dir für die Hilfe mit den Bildern danken. Du kannst mich gern einen Kontrollfreak nennen, weil ich das mit den Haien abgelehnt habe, obwohl es künstlerischen Wert besitzt. Nur bin ich diejenige, die diese Gemälde den ganzen Tag vor Augen haben wird.“

„Haie gehören nun mal zum Ozean. Als Surfer lernt man, sie zu respektieren. Es sind eindrucksvolle Tiere. Der Künstler hat sie perfekt eingefangen.“

Lizzie schauderte. „Es sind Raubtiere, und die mag ich nicht. Die Gäste wollen hier in Ruhe essen und dabei nicht Wesen betrachten, denen sie als Nahrung dienen könnten.“

Jesse grinste. Die weißen Zähne bildeten einen starken Kontrast zu dem sonnengebräunten Teint, und in seinen blauen Augen glitzerte es vergnügt.

Der Anblick raubte Lizzie den Atem. Sie wünschte, die Umstände wären andere. Zu gerne würde sie an das anknüpfen, was auf dem Balkon geschehen war.

„Da magst du recht haben. Dennoch finde ich, dass an der Wand zu viele liebliche Blumenbilder hängen.“

„Stimmen wir also überein, dass wir nicht übereinstimmen.“

„Lieblich gegen mutig?“, forderte er sie heraus und grinste noch breiter.

„Wenn Mut bedeutet, mit Haien zu schwimmen, lass dich nicht bremsen. Ich halte mich lieber an die Delfine.“

„Einer Herausforderung konnte ich noch nie widerstehen.“

Meinte er damit die Herausforderung der Jagd? Darüber wollte Lizzie lieber nicht nachdenken – oder wie es wäre, von ihm eingefangen zu werden. Sie musste sich von ihm fernhalten, so gut es ging. Dabei befürchtete sie nicht, dass er die Grenzen ihrer neuen Freundschaft überschreiten würde. Sie traute sich selbst nicht.

„Mir gefällt das Bild von den Delfinen in der Brandung am besten. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich es kaufen.“

Das verscheuchte das Grinsen von seinem Gesicht. „Verlieb dich bloß nicht zu sehr in die Bilder. Du sollst so viele wie möglich verkaufen. Das ist eine zusätzliche Einnahmequelle für das Café.“

„Ja, natürlich. Dennoch wird es mir das Herz brechen, wenn dieses Bild rausgeht.“

„Denk einfach an die Kommission. Je schneller das Café schwarze Zahlen schreibt, desto besser für alle.“

So viel kaltblütigen Geschäftssinn hätte Lizzie ihm gar nicht zugetraut. Andererseits war Jesse bei seinem Nomadenleben sicher nicht daran gewöhnt, sich mit hübschen Dingen zu umgeben. Deswegen verkniff sie sich eine spitze Bemerkung. Schließlich versuchten sie gerade, Freundschaft zu schließen.

„Nochmals danke für deine Hilfe. Ich würde dir gern ein Mittagessen anbieten, aber wie du siehst, bin ich noch nicht darauf eingestellt.“

„Ich habe gehört, du arbeitest noch an der Speisekarte. Ich freue mich schon auf das Testessen am Samstag.“

„Du kommst zur Verkostung?“, fragte Lizzie verblüfft.

„Sandy hat die ganze Familie zusammengetrommelt, um deine Gerichte zu probieren.“

„Oh!“ Erst in diesem Moment begriff Lizzie wirklich, wie kompliziert es werden würde, Jesse auszuweichen, solange er sich in Dolphin Bay aufhielt. Sich nicht wieder von ihm verzaubern zu lassen, würde noch viel schwieriger sein.

„Ich bin genau der Richtige, wenn es um gutes Essen geht.“

Unwillkürlich dachte sie daran, wie sie bei der Hochzeitsfeier unter großem Gelächter versucht hatten, die kulinarischen Vorlieben der übrigen Gäste zu erraten. In seiner wohltuenden Gesellschaft hatte sie all ihre Sorgen vergessen.

„Lass mich raten“, sagte sie und stützte ihr Kinn in die Hand, als dächte sie intensiv nach. „Die anderen Testesser werden sich mit dir um das langsam gebratene Lamm mit Rote-Beete-Püree schlagen müssen. Und vielleicht auch um den Apfelkuchen mit Karamellkruste und Vanilleeis.“

Jesse verschränkte die Arme vor der Brust. „Ob du recht hast oder nicht, verrate ich jetzt nicht. Du wirst bis zur Verkostung warten müssen.“

„Spielverderber!“

„Warten ist wohl nicht dein Ding?“ Er lächelte geheimnisvoll.

„Es gibt so manches, auf das es sich zu warten lohnt.“ Unwillkürlich erwiderte sie sein Lächeln. Sie sahen einander in die Augen, bis Lizzie den Blickkontakt abbrach. Hör auf, ermahnte sie sich. Es wäre so leicht, mit ihm zu flirten, sich erneut in seine Arme zu werfen. Doch das hieße, neues Unglück heraufzubeschwören. Künftig würde sie darauf achten, sämtliche Gespräche auf rein geschäftlicher Basis zu halten.

Nervös sah sie zur Verbindungstür zum Buchladen. Sandy wollte jeden Moment zu ihnen stoßen. Ihr blieben nur noch wenige Augenblicke allein mit Jesse. „Darf ich dich etwas im Vertrauen fragen?“

Verblüfft zog er die Augenbrauen hoch. „Klar. Schieß los.“

„Es geht um die Rohstoffe, mit denen ich arbeiten muss.“

„Was ist damit?“

„Sie entsprechen nicht ganz meinen Anforderungen.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Ich verstehe nicht. Beziehst du denn nicht alle Waren über das Harbourside Hotel? Das Restaurant dort gilt als das beste in der Stadt.“

Sein Bruder hatte das Hotel an der Stelle errichten lassen, wo früher das alte Gästehaus gestanden hatte. Auch die Ladenzeile, in der sich Bay Books und das Bay Bites Café befanden, hatte Ben gebaut.

Lizzie war bewusst, dass Jesse seinem Bruder loyal ergeben war, doch wen sonst konnte sie um Rat bitten? „Das ist ja das Problem. Das Essen im Harbourside entspricht der gehobenen Mittelklasse, und das genügt mir nicht für das Bay Bites. Nur möchte ich niemanden brüskieren.“

Lizzies Hang zu schonungsloser Offenheit war Jesse schon vor sechs Monaten aufgefallen. Er schätzte so etwas, doch das traf sicher nicht auf sämtliche Einwohner von Dolphin Bay zu. Sollten sie den Eindruck bekommen, dass Lizzie auf sie herabsah, hätte das Bay Bites keine Chance.

„Es ist doch nur ein Café“, entgegnete er.

Nur ein Café? Wie kannst du das sagen?“ Vor Empörung wurde sie laut. „Das bedeutet noch lange nicht, dass ich kein erstklassiges Essen anbieten kann.“ Stolz warf sie den Kopf in den Nacken.

Ihre Energie und Leidenschaft nötigten Jesse Respekt ab, gleichzeitig machte er sich Sorgen. Neuankömmlinge, die sich für etwas Besseres hielten, wurden in der Gemeinde nicht freundlich aufgenommen. „Wir sind hier nicht in Frankreich. Wenn ich dir einen Rat geben darf, setzt du auch nichts allzu Exotisches auf die Speisekarte. Es wäre unklug den Eindruck zu vermitteln, in Frankreich wäre alles besser. Oder in Sydney.“

Lizzie lachte schnaubend. „Ich werde gewiss keine raffinierten französischen Gerichte auf die Karte setzen und erwarten, dass sie angenommen werden. Obwohl ich etliche Jahre in Frankreich gelebt habe, bin und bleibe ich eine Australierin, die weiß, was ihren Landsleuten schmeckt.“

Jesse kannte ihren Ruf als exzellente Köchin. Ob sie über den nötigen Geschäftssinn verfügte, wusste er nicht. „Was schwebt dir denn vor?“

„Ich will die besten Zutaten schlicht zubereiten.“ Erneut warf sie den Kopf in den Nacken, und der blonde Zopf schwang über ihren Rücken. „So habe ich es in Frankreich gelernt. Nicht in den eleganten Pariser Restaurants, sondern in den Cafés und auf den Märkten von Lyon und bei Amys französischen Großeltern. Man sagt, das Herz der Franzosen ist Paris, aber ihr Magen ist Lyon.“

„Der Spruch ist mir neu.“ Als Student hatte Jesse Europa auf einer Rucksacktour bereist. Von Frankreich hatte er dabei nicht mehr als Paris und Versailles zu Gesicht bekommen. „Meine Reisen führen mich an Orte, in denen Katastrophen passiert sind. Von der Qualität des Essens dort willst du lieber nichts hören.“

„Du hast mir von den abgeschiedenen Orten erzählt, an denen du arbeitest.“

Lizzie hatte interessiert zugehört, als er ihr von seiner Arbeit berichtet hatte, ohne ihn darauf hinzuweisen, dass er in der Industrie mehr verdienen und Karriere machen könnte. Er hatte keinen Grund gesehen, ihr zu erklären, dass er dank des Erbes seiner Großeltern und einiger geschickter Investitionen finanziell gut dastand und es sich leisten konnte, für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, solange es ihm gefiel.

Das mochte bald ein Ende haben. Die texanische Firma hatte ihm einen interessanten Job angeboten und dazu ein verblüffend hohes Gehalt.

„Wieso möchtest du deine Ware nicht übers Hotel beziehen?“

„Was Grundnahrungsmittel angeht, habe ich kein Problem damit. Darüber hinaus benötige ich aber Bioware und regionale Produkte am besten direkt vom Erzeuger. Aber ich weiß nicht, wo ich die bekomme.“

„Ist das nicht sehr teuer? Zu teuer für ein Café?“ Jesse sah sich um: weiß getünchte Wände, runde Tische, Bugholzstühle. Das Café war so angelegt, dass man von der Buchhandlung direkt hineingelangen konnte, um sich gemütlich hinzusetzen und zu entspannen.

„Beim Produzenten direkt kauft man häufig preiswerter ein als über einen Zwischenhändler. Mir ist bewusst, dass zu hohe Preise dem Café den Todesstoß versetzen könnten. Andererseits hat das Bay Bites nur eine Chance, wenn es besser und anders ist als die Mitbewerber. Was würdest du vorziehen: einen billigen Burger mit Fleisch aus industrieller Massentierhaltung oder für ein, zwei Dollar mehr mit Fleisch von freilaufenden, extensiv gehaltenen Tieren? Tiefkühl-Pommes oder handgeschnittene mit selbstgemachter Mayonnaise?“

„Das ist einfach.“ Bei dem Gedanken begann sein Magen zu knurren. „Du wirst also normale Kost ...

Autor

Penny Roberts
<p>Hinter Penny Roberts steht eigentlich ein Ehepaar, das eines ganz gewiss gemeinsam hat: die Liebe zum Schreiben. Schon früh hatten beide immer nur Bücher im Kopf, und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Und auch wenn der Pfad nicht immer ohne Stolpersteine und Hindernisse war – bereut haben...
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Bella Bloom
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