Romana Extra Band 164

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ZWEITE CHANCE UNTER SPANISCHER SONNE von JULIE DEARING
Nur aus einem Grund reist Mateo zurück in sein Heimatdorf an der Costa de la Luz: um sein geerbtes Land an einen Investor für Golf-Resorts zu verkaufen. Da trifft er seine Jugendliebe Lucia wieder. Sofort knistert es verführerisch. Aber Lucia will seine Pläne verhindern …

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  • Erscheinungstag 27.09.2025
  • Bandnummer 164
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533157
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julie Dearing, Rebecca Winters, Soraya Lane

ROMANA EXTRA BAND 164

Julie Dearing

1. KAPITEL

Die Klimaanlage des nagelneuen Mercedes E in glänzendem Nachtschwarz summte leise vor sich hin. Die Temperatur im Innenraum des Mietwagens war angenehm kühl – nie wäre Mateo früher im Leben darauf gekommen, Kühle zu genießen.

Es war offensichtlich, er lebte inzwischen zu lange in London. Er hatte sich tatsächlich an das kalte und nasse Wetter Englands gewöhnt, so sehr, dass ihm die Wärme, als er in Sevilla aus dem Flieger gestiegen war, fast die Luft zum Atmen nahm.

Erleichtert hatte er sich wenig später in den von seinem Assistenten vorbestellten Mietwagen gesetzt und zuallererst die Klimaanlage und danach das Radio angestellt. Das Verdeck, das sich öffnen ließ, hatte er außer Acht gelassen, denn gute hundertdreißig Kilometer hatten vor ihm gelegen, die er zügig hinter sich bringen wollte.

So genoss er es beim Fahren, der spanischen Moderatorin und den wechselnden Popsongs zu lauschen. Je näher er Cádiz kam, desto mehr achtete er auf die Umgebung. Er schaltete das Radio aus, drosselte leicht das Tempo und ließ den Blick während der Fahrt schweifen.

Bald würde er die Costa de la Luz erreichen, die Küste des Lichts, die am Golf von Cádiz lag. Er konnte spüren, wie gut ihm der Anblick der Landschaft tat, die immer dichter werdenden Pinienwälder, die im Wechsel mit Olivenhainen an ihm vorbeizufliegen schienen.

Ja, er war tatsächlich lange nicht mehr in Spanien gewesen – aus vielerlei Gründen, die meisten von ihnen waren mit seiner Arbeit zu begründen. Der Anlass seiner Rückkehr war allerdings nicht erfreulich – sein Lieblingsonkel Juan war gestorben und hatte ihm ein Stück Land hinterlassen. Auf den Fotos, die der Nachlassverwalter ihm geschickt hatte, war das kleine Haus zu erkennen, das noch so aussah, wie er es in Erinnerung hatte – und das, obwohl er viele Jahre nicht mehr dort gewesen war. Letztlich war das Haus wertlos, wenn überhaupt würden vielleicht das Grundstück und die zwei dazugehörigen Felder ein wenig Geld abwerfen.

In der Gegend gab es viele Golfplätze, und La Hacienda de la Luz, einer der großen Platzhirsche dieser Ballsportart, hatte Interesse signalisiert, das Grundstück kaufen zu wollen.

Diese Entwicklung hatte einen großen Vorteil, sie ersparte ihm den Umweg über einen Makler und damit Zeit und Geld. Gleichermaßen erschien es ihm einleuchtend, so ein Grundstück an den Golfsport zu verkaufen. Wer sonst sollte sich für ein bewaldetes, steiniges und hügeliges Stück Land, ohne Meerblick obendrein, interessieren? Er wäre dankbar, das Ganze mittels eines Anwalts schnell über die Bühne bringen zu können.

Im Anschluss wollte er etwas Zeit vor Ort genießen.

Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal Urlaub gemacht hatte. Mateo lachte spöttisch auf. Wenn ihm vor zwanzig Jahren irgendwer gesagt hätte, dass das Nach-Hause-Kommen einmal Urlaub für ihn wäre, hätte er den Gedanken weit von sich gewiesen. Damals war der Weg nach London für ihn auch eine Flucht aus der Provinz, ein Weg ins Abenteuer, hinein ins pralle Leben.

Und jetzt?

Inzwischen war es so weit, dass er sich nach Ruhe, nach Abgeschiedenheit sehnte. Nach Provinz und sogar ein wenig nach den einfachen Verhältnissen, die seine Kindheitstage geprägt hatten.

Wie einfach damals alles gewesen war, so übersichtlich und wohlbehütet. Er dachte an seine Eltern – sein Vater war früh gestorben und seine Mutter hatte er vor gut zehn Jahren verloren. Viel Verwandtschaft war ihm nicht geblieben. Eine Großtante in Deutschland, irgendwo in der Nähe von Dortmund, und ein Cousin, oder war es ein Großcousin? Jedenfalls ein Typ, der ihm so wenig nahestand, dass er sich nicht einmal an dessen Namen erinnerte.

Er schob die Gedanken beiseite und öffnete nun doch das Verdeck. Als Fahrtwind ließ sich die Wärme gut ertragen. Es war Mai und die Temperaturen waren eher sommerlich als frühlingshaft. Tief sog er die Luft ein und meinte, das Meer schon riechen, das Salz in der Luft schmecken zu können.

Mateo wurde sich bewusst, dass ein Lächeln über sein Gesicht glitt.

Er war neugierig, wie es den Menschen in Fuentes de Martín, dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, ergangen war. Wen würde er noch kennen? Wer war geblieben, wer war weggezogen? Wer hatte wen geheiratet, wer hatte wen verlassen? Wer hatte Kinder bekommen. Und wessen Kinder waren, so wie er, in die Ferne verschwunden, weil das Dorf und die Küste, auch die Kleinstädte der Umgebung, eben doch nur begrenzte Möglichkeiten der beruflichen Entwicklung boten?

Er bog auf eine Landstraße ab, die an der Küste entlangführte, und bekam einen Blick auf die ersten Buchten der Costa de la Luz.

Lang gezogene, weiße Sandstrände, für die Menschen aus aller Welt anreisten.

Der Anblick war überwältigend schön.

Und weil der Golf von Cádiz zum Atlantik zählte, strich mit einem Mal ein Wind übers Wasser, der nahezu kühl war. Eine ordentliche Brise, die an den Segeln vereinzelter Surfer riss, die aufgebauschten Wellen in weiß gurgelnden Schaum zerlegte und dann an Land wehte, um über den leeren Strand hinwegzuziehen. Das Rauschen des Wassers klang in Mateos Ohren vollkommener als jeder der Songs, die er kurz zuvor gehört hatte.

Er ließ den Blick über die grünen Hügel schweifen, die sich im Hinterland der Strände erhoben und dicht mit Pinien, Kiefern, Olivenbäumen und Korkeichen bewachsen waren. Hin und wieder konnte er auch Palmen ausmachen, die aber eher an der Strandseite wuchsen. In gemächlichem Tempo durchquerte er mehrere kleine Dörfer.

Als er schließlich vor Onkel Juans Grundstück anhielt, atmete er für einen Moment tief durch. Es war alles wie früher, so, wie er es Erinnerung hatte. Eine leicht ansteigende Auffahrt, steinig und staubig, führte zu dem kleinen Haus, das etwas zurückversetzt lag. Onkel Juan hatte es eigenhändig gebaut, wie er wusste. Vor langer, langer Zeit.

Das Grundstück hatte nichts, was für Mateo interessant war. Es bot keine beeindruckende Aussicht aufs Meer, war nicht in einer der zauberhaften kleinen Gässchen von Fuentes de Martín gelegen, sondern etwas abseits. Das Grundstück war stark zugewuchert. Der üppige Baumbestand, vorwiegend Olivenbäume, bot immerhin Schatten und Schutz vor den vom Atlantik hereinbrechenden Stürmen, die im Winter gelegentlich über die Küste hinwegfegten.

Als er ausstieg und dann die Auffahrt hinauflief, erwog Mateo kurz, alles abreißen und neu aufbauen zu lassen, um Wohnungen für Touristen anbieten zu können. So machte man das an der Costa de la Luz, wenn man ein Grundstück nicht selbst nutzte. Aber der Aufwand war einfach zu hoch, wenn man es ganz pragmatisch betrachtete.

In London arbeiten und in Cádiz bauen, das würde wegen der Entfernung und der Schwierigkeiten, die Bauarbeiten zu begleiten, nur Ärger geben. Zudem genügte ein Haus allein nicht. Bei dieser Lage müsste er außerdem wenigstens einen Pool und eine ausgefeilte Außenanlage bieten. Und wer um Himmels willen sollte sich um all das kümmern und so eine Anlage bewirtschaften?

Er erreichte das Haus und betrat die Veranda, deren Holzdielen bei jedem Schritt knackten. Der Anwalt hatte ihm mitgeteilt, dass er den Schlüssel unter einem der unansehnlichen Tontöpfe dort versteckt hatte, was eigentlich überflüssig war, denn bei diesem Haus gab es keinen Grund, einen Diebstahl zu befürchten.

Mateo schloss die Tür auf und schlenderte durchs Haus, wobei er nicht mal die Fensterläden öffnete, um mehr Helligkeit einfallen zu lassen. Auch das schummerige Licht konnte nicht verbergen, dass das Gebäude verwohnt und abrissreif war.

Mateo wünschte, dass alles in ihm still bliebe, denn es war so viele Jahre her, dass er hier gewesen war. Völlig konnte er seine Emotionen aber nicht unterdrücken. Er wandte sich auf dem Absatz um, denn er wollte hier weg. Er musste schneller sein als die schmerzhaften Erinnerungen.

Sachlich bleiben.

Bestandsaufnahme. Den Wert schätzen, alles abstoßen und fertig.

Mateo nickte. Ja, er würde das Haus verkaufen. Bevor er es verließ, machte er noch einige Innenaufnahmen und war erleichtert, als er wieder in die wärmende Sonne trat. Nachdem er auch Fotos vom Grundstück aufgenommen hatte, stieg er in seinen Mietwagen. Er beschloss, noch die zwei Felder abzufahren, die zur Erbmasse gehörten und die am Ende der Straße gelegen waren.

Nach wenigen Minuten stand er vor … Bäumen. Als Feld hätte er diesen verwilderten Olivenhain nicht ausgewiesen, aber nun gut, er wollte nicht kleinlich sein. Er schoss auch hier ein paar Fotos und machte sich zu Fuß auf den Weg zum zweiten Feld, das ebenfalls fast einem Urwald glich, wie er bei der Ankunft feststellte.

Mateo seufzte. Landwirtschaftlich bestellte Felder hätten den Wert erhöht und den Verkauf vereinfacht. Um dieses Land zu roden, beispielsweise für Golfflächen, war erheblicher Aufwand nötig. Das würde das Golf-Resort La Hacienda de la Luz ihm – wenn auch unausgesprochen – in Rechnung stellen und den Preis drücken. Erneut fotografierte Mateo das Grundstück und ging dann zum Wagen zurück.

Gemächlich fuhr er ins Dorf hinein, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Fuentes de Martín. Die Quellen des Flusses Martín.

Die in dieser Region häufig anzutreffenden maurischen Einflüsse spiegelten sich in der Architektur von Fuentes de Martín durch die Verwendung von schlanken Säulen wider, die gern paarweise verwendet wurden. Hinzu kamen geschwungene Fensterbögen, zahlreiche bunte Mosaikfliesen, die manchmal Bändern gleich die Hauswände oder die Böden der Patios zierten.

Der im Zentrum des Dorfes stehende Brunnen, der sich aus einer seit Jahrhunderten bestehenden Quelle speiste, die Namensgeber des Ortes war, begeisterte durch ein cremefarbenes geschwungenes Becken mit angedeuteter Muschelform, dessen Innenseite mit türkisen Fliesen ausgelegt war.

Vereinzelte Palmen, die in den Gärten in die Höhe ragten, und an vielen Stellen aufgestellte Blumenkübel, meist geweißt, aber mit einer Blütenpracht, in der nahezu alle Farben umeinander wetteiferten, prägten das Bild seiner Erinnerung. Und über allem hatte damals ein liebenswerter Hauch von Provisorium legen, denn aufgrund der im Sommer einsetzenden Hitze blieben Projekte auch mal für eine Weile liegen – was stets mit einem Schulterzucken und einer Handbewegung gen Sonne erklärt worden war.

Mateo war überrascht, da er ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens empfand, und sein Herz wärmte sich daran. Kurz sah er auf die Datumsanzeige des Displays seines Wagens. Es war der neunzehnte Mai. Er erinnerte sich, dass Mitte Mai stets die traditionellen religiösen Festakte begannen, die sich, verteilt auf verschiedene Veranstaltungen, bis zu fünf Tage hinzogen und in deren Mittelpunkt die Segnung des Brunnenwassers stand.

Er stellte den Mercedes vor dem Dorf auf einer staubigen Fläche ab, schlenderte die Hauptstraße entlang, direkt auf den Marktplatz zu, und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen – das Dorf hatte sich enorm verändert. Es war nicht nur größer geworden, es wirkte deutlich gepflegter, fast wohlhabend.

Die meisten Häuser waren frisch verputzt und erstrahlten in leuchtendem Weiß. Zwischen den traditionellen Gebäuden standen nun auch moderne Bauten aus weißem Sichtbeton, die er eher in Londoner Vororten erwartet hätte. Er sah ökologisch sinnvoll arrangierte Gärten, Solar-Lichterketten, großzügige Pergolen und tatsächlich den einen oder anderen Pool.

Nichts davon hatte es damals gegeben. Früher hatten Plastikstühle vor den Häusern gestanden, auf denen die Bewohner gesessen hatten, während sie alles beobachtet, kommentiert und nebenbei aus den in Reichweite stehenden Blumenkübeln verblühte Blüten gezupft hatten. In den Gärten waren Sonnenschirme, Gemüsebeete und maximal Planschbecken der Standard gewesen.

So sah es also aus, wenn der Tourismus Einzug hielt. Er hatte das Dorf verändert, schien ihm aber zu bekommen.

Mateo erreichte den Marktplatz, auf dem lebhaftes Treiben herrschte. Immerhin sah der große Martín-Brunnen noch so aus wie vor siebzehn Jahren.

Er stutzte. Siebzehn Jahre! Himmel, wo war die Zeit geblieben? Was ihm ein unangenehmes Ziehen im Bauch verursachte, war die Tatsache, dass er, wenn überhaupt, in all der Zeit nur dreimal zu Besuch im Dorf gewesen. Ob man ihm das vorhalten würde?

Langsam ging er am Restaurant vorbei, vor dem jeder Tisch besetzt war. Es gab inzwischen eine schicke überdachte Außenbar, an der Sherry aus der Region ausgeschenkt wurde. Mateo gönnte sich ein Glas, lehnte sich an den Tresen und sah sich um. Bisher hatte ihn niemand erkannt.

Sein Blick fiel auf die Bühne, die neben dem Brunnen aufgebaut worden war. Eine Tanzformation, die den rhythmischen Klängen des Flamencos folgte, begeisterte das Publikum.

Schon nach wenigen Sekunden fiel ihm eine Frau unter den Tänzerinnen ins Auge und sein Herz machte einen Satz.

Lucia!

Sie lebte also immer noch hier. Sie trug eins der typischen Flamenco-Kleider, die figurbetont waren und von den Knien bis zu den Knöcheln in weichen Volants ausliefen.

Himmel, wie lang war es her, dass er sie gesehen hatte? Siebzehn Jahre? Bei seinen spärlichen Kurzbesuchen war er ihr nie begegnet.

Wenn er sich recht erinnerte, war sie keine zwei Jahre jünger als er. Sie musste jetzt also zweiunddreißig sein. Und sie sah sensationell aus – ihr volles Haar, das ihr bis über die Schulterblätter reichte, war dunkel und seidenglänzend und zu einem lockeren Zopf geflochten, in dem eine Hibiskus-Blüte an der Seite steckte. Ihr Gesicht war schmal, die Haut hell, die Figur kurvig.

Ob sie Kinder hatte? Verheiratet war? Sicherlich. Frauen ihres Alters waren, zumindest in Fuentes de Martín, spätestens mit Ende zwanzig Ehefrau und Mutter.

Der Klang der Kastagnetten wurde lauter, die Finger der Gitarrenspieler flogen über die Saiten, die Tänzerinnen drehten sich, das Klatschen des Publikums wurde fordernder, der Gesang steuerte seinem Höhepunkt entgegen, die Schrittfolgen wurden schneller, drängender – es waren nur noch wenige Augenblicke und der Tanz wäre beendet. Die Tanzenden, die Musiker und das Publikum würden für den Bruchteil einer Sekunde erstarren und schweigen, genießen und dann in Jubel ausbrechen. So war es immer.

Eine Gänsehaut lief Mateo über den Rücken.

Bis eben hatte er gar nicht gewusst, dass ihm diese Fähigkeit zu Emotionen derart gefehlt hatte. Wie steif und trist London mit einem Mal wirkte.

Er nippte an seinem Sherry. Die Musik schwoll an, die Tanzenden gaben alles, wirbelten umeinander, die Kastagnetten klapperten – dann Stille.

Daraufhin Applaus.

Und mit einem Mal spürte er Lucias Blick auf sich.

Nickend prostete er ihr zu. Die kommenden Tage versprachen spannender zu werden, als er angenommen hatte, denn eins war sicher, sie hatten beide noch eine Rechnung miteinander offen und er würde Lucia nicht schonen.

Wenn sie tanzte, gab es nichts anderes, Lucia verschmolz förmlich mit den Tönen, wurde eins mit der Musik. Ihr Körper folgte der Choreografie, als hätte er sie selbst entwickelt. Und jetzt, wo die Musik verklungen war, blieb sie noch einen Moment mit gehobenen Armen und geschlossenen Augen stehen. Sie spürte die Hitze in ihrem Körper und das Pumpen ihres Herzens sowie ihre Lunge, die nach Luft verlangte.

Es war ein wundervoller Zustand, und sie liebte ihn.

Der Applaus rollte über sie hinweg, und obwohl sie ihn genoss, hatte er ein Stück weit an Bedeutung für sie verloren. Hatte sie früher die Bestätigung gesucht, war es ihr inzwischen wichtiger, was die Musik ihr abgesehen von den schlaglichtartigen Momenten öffentlicher Aufmerksamkeit gab. Der Tanz hatte aus ihr eine selbstbewusst durchs Leben gehende Frau gemacht, an der jede Faser ihres Körpers trainiert und kraftvoll war.

Eine Frau, die sich nur verbog, wenn sie es wollte.

Lucia öffnete langsam die Augen, sie spürte das Lächeln, das auf ihrem Gesicht lag. Ihr Blick fiel ohne besonderes Ziel in die Menge, und noch bevor sie gedanklich erfassen konnte, dass da etwas nicht stimmte, war ihr Körper bereits in Habachtstellung.

Sie ließ den Blick schweifen, unauffällig wie sie hoffte.

Was irritierte sie so?

Und dann entdeckte sie ihn.

Es war üblich, dass sich Touristinnen und Touristen unter den Zuschauenden befanden, auch in der Vorsaison im Mai. Doch zwischen den Rentnerinnen und Rentnern, die sich zu dieser Jahreszeit mehrheitlich hier aufhielten, stand ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann mit energischem Kinn. Ein Mittdreißiger mit einem Drei-Tage-Bart in lässigem Sommer-Outfit, das aus einem dunklen Polohemd und einer beigefarbenen Chino bestand. Er kam ihr so bekannt vor, doch im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie ihn einordnen sollte.

Der Applaus verebbte, und Maria, eine Freundin und Mitglied der Tanzformation, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. Lucia konnte nicht umhin, sich noch einmal umzudrehen.

Der Mann hatte ihren Blick bemerkt, er erwiderte ihn grinsend und prostete ihr sogar zu.

War sein Verhalten herablassend? Amüsiert?

Mit einem Mal war sie sich ihres Körpers in dem Flamenco-Kleid sehr bewusst, und obwohl sie sich meistens feminin und begehrenswert darin fühlte, wünschte sie sich jetzt doch statt der Volants eine sportlich bequeme Hose und eine Bluse, hochgeschlossen selbstverständlich. Und Sneakers, um ihm – falls sie ihm wieder begegnen sollte – mit festem Schritt gegenübertreten zu können.

Mateo! Es ist Mateo!

Sie zuckte zusammen und blieb stehen.

Ihre Freundin drehte sich zu ihr um. „Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Inzwischen hatten sie die Bühne verlassen und befanden sich im Backstage-Bereich, der vom Marktplatz aus nicht einsehbar war. „Äh ja, fast. Also …“ Lucia suchte nach Worten. „Kannst du dich noch an Mateo erinnern?“, fragte sie leise.

Sie ließen die Herren der Formation an sich vorbeigehen, unter ihnen war auch Felipe, Lucias Bruder. Er war verschwitzt, strahlte aber gut gelaunt und war in ein Gespräch mit einem der Musiker vertieft. Als die Männer außer Hörweite waren, fixierte Lucia erneut ihre Freundin.

Maria beugte sich vor und senkte die Stimme: „Meinst du Mateo, der vor ewigen Zeiten nach London gegangen ist, oder Mateo Hidalgo, den Sohn des Fleischers aus El Palmar?“

Lucia nickte, dann schüttelte sie den Kopf. „Na, Mateo, der von hier …“ Sie geriet ins Stocken. „Mateo Hernández.“

„Ach, also der Londoner. Ich kann mich dunkel an ihn erinnern. Warum, was ist mit ihm?“

„Ich bin der Meinung, er steht vorne auf dem Marktplatz.“

„Ja, und selbst wenn?“ Maria zog sie mit sich in den Friseurladen, den sie zum Umziehen nutzen durften. „Was wäre dann?“

Lucia schluckte. Was wäre dann? Die Frage sollte viel eher lauten: Was war damals gewesen?

„Nichts, gar nichts. Ich war nur überrascht, ihn wiederzusehen“, murmelte sie. Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder aus einer Zeit auf, an die sie sich nur ungern erinnerte.

Sie sah sich in ihrem Bett liegen, tagelang. Ihrer Mutter hatte sie vorgemacht, sie hätte Migräne. In Wahrheit hatte sie an einem gebrochenen Herzen gelitten, aber das wurde – zumindest damals – nicht ernst genommen, weshalb sie es nicht erwähnt hatte.

Wie lange war das alles her? Eine gefühlte Ewigkeit. Damals war Mateo nach London aufgebrochen, nach jenem wundervollen Sommer, in dem sie jeden Moment gemeinsam genossen hatten, obwohl sie wussten, dass der Abschied nahte. Mateo war entschlossen, in England sein Pharmazie-Studium zu beginnen, das er sich nur leisten konnte, weil er ein Stipendium ergattert hatte.

Ja, er war klug gewesen, witzig, vielseitig talentiert, und er hatte ihr Treue und wortreich seine Liebe geschworen. Er hatte betont, dass dieses eine Jahr, bis sie ihren Schulabschluss machen würde, im Flug vorbei wäre, dann könne sie nachkommen. Bis dahin würde er ihr Briefe schreiben, sie mit Postkarten fluten und sie anrufen. Sie hatte keine Sekunde an seinen Worten gezweifelt.

Und dann?

Nichts.

Keine Karte, kein Brief, kein Anruf.

Vergeblich hatte sie auf ein Zeichen gewartet, darauf, dass er ihr seine Adresse schickte. Es wäre natürlich einfach gewesen, seine Eltern zu fragen, die nur einige Querstraßen entfernt gewohnt hatten, aber sie hatte auch ihren Stolz.

War sie ihm, der plötzlich in einer Weltstadt wie London gelandet war, wie eine blasse Erinnerung aus der Provinz vorgekommen?

Dank Mateo hatte sie mit siebzehn Jahren ihre erste Lektion im Umgang mit Männern gelernt: Sie sagen viel und tun wenig, vertraue ihnen nicht, verlass dich nicht auf sie und pass auf dich auf! Stehe auf eigenen Beinen und bleibe unabhängig!

Immer wieder hatte sie sich damals diese Worte eingehämmert, wieder und wieder.

Lucia folgte Maria in den Friseursalon und sank in einen der Friseurstühle vor einem großen Spiegel. Ein DJ sorgte nun auf dem Marktplatz für Stimmung, die ersten Töne eines Boleros klangen durch die geöffnete Tür, und innerlich wiegte sich ihr Körper noch immer im Takt mit. Nachdenklich schaute sie sich an, als sie die Blume aus ihrem Haar zog, betrachtete das gut sitzende Oberteil des Kleides, ihre glatten braunen Arme, den weichen Schwung ihres Halses.

Ja, sie war inzwischen zweiunddreißig, und sie war nicht verheiratet.

Was in Spanien durchaus ungewöhnlich war, zumindest in Fuentes de Martín. Daran war Mateo nicht unschuldig, aber tatsächlich hatte er ihr auch etwas geschenkt, und zwar einen großen Schritt in ihrer Entwicklung, der zu einem Teil ihrer Persönlichkeit geworden war, zu dem unter anderem gehörte, zu ignorieren, was andere über sie dachten.

Lucia nahm ein Kosmetiktuch, entfernte die für den Auftritt aufgetragene Schicht Schminke und zog sich dann schnell um. So fühlte sie sich wohler, zumindest in diesem Moment. Eine leichte Sommerhose, weich fallend, in Schwarz, ein enges ärmelloses Oberteil und dazu flache Schuhe. Die Haare ließ sie offen und hängte sich dann noch die kleine schwarze Handtasche um.

Das war sie, Lucia Martínez, die Sprecherin der Kommunalverwaltung der Provinz Cádiz. Die rechte Hand des Bürgermeisters, und sie würde jetzt hinausgehen und ihre ehemalige Jugendliebe begrüßen.

Sie verabschiedete sich mit einer Umarmung von Maria und eilte auf den Marktplatz hinaus, ohne sagen zu können, wie sie dem Mann gegenübertreten wollte, der einst ihr Herz gebrochen hatte. Wäre es besser, ihn zu ignorieren? Aber das konnte sie nicht, zielstrebig ging sie ihm entgegen.

Er wirkte nicht überrascht, seine Körperhaltung schien eher davon zu sprechen, dass er sie erwartet hatte.

„Dass du so schnell, also schon nach siebzehn Jahren, wieder nach Hause kommst, damit hätte ich nun nicht gerechnet“, begrüßte sie ihn in sarkastischem Ton.

„Onkel Juan hat mir sein Haus vererbt“, erwiderte er, sein Blick war unergründlich.

Lucia schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Oh! Bitte entschuldige. Das tut mir leid, mein aufrichtiges Beileid. Ich wusste davon gar nichts, warum auch immer. Normalerweise spricht es sich herum, wenn ein Mitglied der Dorfgemeinschaft von uns gegangen ist.“ Sie runzelte irritiert die Stirn.

„Na ja, er hat in den letzten Jahren sehr zurückgezogen gelebt. Kein Wunder, dass seine Abwesenheit keine größere Lücke in die Gemeinschaft reißt.“

Lucia sah Mateo lange an. Der Abschied von seinem Onkel schien ihn nicht sonderlich zu belasten, er wirkte ruhig, in sich ruhend, und nicht wie einer, der vor Schmerz verging.

„Es ist schön“, sagte Mateo unvermittelt, „heute Abend zum Fest der Brunnensegnung wiederzukommen, den Tanz zu erleben, die Gemeinsamkeiten im Dorf. Es gibt Dinge, die ändern sich nicht.“

Lucia lachte auf und hörte selbst, dass sie ein wenig hämisch dabei klang, weil er so falsch lag mit seinem Urteil. „Seit du weggegangen bist, hat sich hier viel verändert. Ich glaube, du hast einen völlig unrealistischen Eindruck von uns.“

Zweifelnd sah Mateo sich um. „Gut, das kann sein. Einige Veränderungen habe ich schon bemerkt. Man sieht deutlich, dass der Tourismus sich nun auch ins Hinterland ausgebreitet hat.“

„Allerdings, es geht uns gut, aber das sind monetäre Dinge, die meine ich weniger.“

„Okay, ich verstehe wohl nicht so recht, wovon du redest. Hast du in den nächsten Tagen vielleicht Zeit, eine Führung zu machen, dann kannst du mir das gerne im Detail erläutern?“

„Allerdings, aber nicht irgendwann. Lass uns gleich konkret werden, morgen früh, um zehn“, erwiderte Lucia scharf.

Mateo nickte und wirkte überrascht.

„Du wirst dich wundern. Wir sind inzwischen eine Region, die ökologisch und familienorientiert organisiert ist und sich für die Belange von Frauen stark macht.“

Lucia bemerkte, dass Mateos linke Augenbraue in die Höhe sprang. Mit diesen Themen hatte er vermutlich nicht gerechnet. Sie lächelte, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr es in ihr brodelte.

Es war keine Wut, sondern Empörung. Ja, das war das passende Wort. Er hatte ihre Begrüßung unkommentiert gelassen, dabei war ihr Hinweis auf die siebzehn Jahre, in denen er sich nicht hatte blicken lassen, eine deutliche Anspielung gewesen. Es war, als hätte sie nichts gesagt. Sie konnte es nicht glauben.

Kein Wort der Entschuldigung, nicht mal ein Ansatz von Unbehagen war auf seinem Gesicht abzulesen! Stattdessen stand er hier, weil er einen Familienangehörigen verloren hatte, und redete vom Tourismus. Unpersönlicher konnte ein Wiedersehen kaum verlaufen.

War ihm denn überhaupt nicht klar, welche Lücke er vor siebzehn Jahren in ihrem Leben hinterlassen hatte? Erinnerte er sich nicht, oder war es ihm gleichgültig, was er ihr damals angetan hatte? Wie konnte er wortlos darüber hinweggehen?

Sie wusste es nicht. Eins war aber klar, sie würde ihn sich noch vorknöpfen, nicht hier, nicht heute Abend vor aller Augen und Ohren. Aber gleich morgen war er fällig und er würde ihr nicht so billig davonkommen.

2. KAPITEL

Sie hatten verabredet, sich am Bäcker am Marktplatz zu treffen. Mateo war zu früh da, bestellte sich einen Espresso und nahm an einem der Tische mit ausladenden Sonnenschirmen Platz, die auf dem Bürgersteig vor dem Bäcker zum Verweilen einluden. Er atmete tief ein – wie anders es in Fuentes de Martín roch. Nach Sommer, nach Meer und Blüten. Dazu ein wenig Süße, die war jedoch auf die Bäckerei zurückzuführen.

Es versprach ein warmer Tag zu werden, der Himmel war bereits jetzt leuchtend blau und die Sonne ließ die weiß gekalkten Häuser erstrahlen. Einige Häuserwände, deren Schattierungen von sandsteingelb bis ockerfarben changierten, setzten einen schönen Kontrast. Sie waren vor langer Zeit aus Findlingen gemauert worden, die man von den Feldern ins Dorf gebracht hatte. Zwei Palmen, die in einem der Gärten wuchsen, wiegten sich im leichten Wind, und allerorten standen bunt bepflanzte Blumentöpfe.

Wenigstens das hatte sich nicht verändert. Auch der Brunnen war noch wie damals, das Becken muschelförmig und innen leuchtend türkis ausgekleidet.

Mateo ließ den Blick weiterschweifen. Nur eine bunte Solarlichterkette, die von der Außenbar des Restaurants zum Springbrunnen gespannt war, ließ erahnen, dass hier am Abend zuvor gefeiert worden war.

Kurz kehrten seine Gedanken zum gestrigen Aufeinandertreffen mit Lucia zurück. Leider hatte er sie nicht überzeugen können, noch mit ihm einen Sherry zu trinken oder gar eine Kleinigkeit zu essen. Ihr Verhalten hatte regelrecht ablehnend gewirkt, was er nicht verstand.

Bei der Verabschiedung damals, als er nach London gegangen war, hatte sie geweint und große Versprechen gegeben. Und dann? Nichts mehr.

Kurz zog sich sein Magen zusammen, als er an die Anfänge in London dachte. Eine Stadt, die ihn überwältigt, ihm aber eine Welt voller Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet hatte. Er hatte sich in sein Studium gestürzt, Freunde und einen Job gefunden, aber sein Herz war hiergeblieben, in Fuentes de Martín.

Nur hatte es offensichtlich niemanden interessiert und schon gar nicht Lucia. Hatte sie jetzt, bei diesem überraschenden Wiedersehen, doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen?

Ein junger Mann fuhr auf einem laut knatternden Moped über den Platz und riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Frauen radelten an ihm vorbei, irgendwo bellte ein Hund. Das Moped wurde leiser und die allgemeine Geräuschkulisse, unterlegt von Vogelgezwitscher und erstem Grillenzirpen, gewann wieder die Oberhand.

Mateo fühlte sich großartig. Die Wärme und das Licht taten ihm so gut. Kurz schloss er die Augen, genoss die Ruhe und spürte Müdigkeit.

Er konnte es nicht leugnen, er hatte unruhig geschlafen. Während er wach gelegen hatte, hatte er sich Gedanken gemacht, welche Themen er bei dem Treffen mit Lucia besprechen wollte und welche er lieber nicht anschnitt.

Am Morgen hatte er ernsthaft überlegt, was er anziehen sollte. Er wollte weder zu urlaubsmäßig daherkommen noch im Anzug den englischen Businessman heraushängen lassen. Und so hatte er sich für eine dunkelblaue Hose mit weißem Leinenhemd entschieden. Erstaunt stellte er fest, dass er sich schon lange nicht mehr solche Gedanken gemacht hatte.

Hatte er sich eigentlich vor dem Abflug nach Sevilla auch nur einmal mit der Frage befasst, dass er Lucia wiederbegegnen könnte? Er konnte sich nicht erinnern. Als er vor gut sieben Jahren zur Beisetzung seiner Mutter nach Fuentes de Martín angereist war, hatte Lucia auswärts studiert – Kommunikationswissenschaften. Das hatte er in Erfahrung gebracht, aber ansonsten hatte er es vermieden, weiter nachzufragen.

Wieso hatte er jetzt nicht mit einem Wiedersehen gerechnet? Vermutlich hatte er angenommen, sie sei, so wie er selbst, nicht nach Andalusien, oder vielmehr ins Dorf, zurückgekehrt.

Verdammt, warum beschäftigt sie mich so? Ganz egal, was geschehen war, es lag Jahre zurück.

In London konnte er sich über mangelndes Interesse von Frauen an seiner Person nicht beklagen. NHMP, das für Notting Hill Medical Products stand, war kurz davor, an die Börse zu gehen. Ein Wissenschaftler mit einem gut laufenden Unternehmen für pharmazeutische Produkte, das zwei der von Ärzten am häufigsten verschriebenen medizinischen Cremes herstellte, zog die unterschiedlichsten Frauen an, vor allem die klugen und die erfolgreichen, von denen viele auch noch überaus attraktiv waren.

Mateo schmunzelte bei dem Gedanken, wie ihn andere Menschen vermutlich einschätzten – als intellektuellen Kosmopoliten mit Verbindungen in die ganze Welt, vor allem in die der Wissenschaft. Wenn er selbst über sich nachdachte, sah er einen Mann, der in seinem Herzen immer noch der Junge von der spanischen Atlantikküste war, und der seine halbe Jugend auf dem Surfbrett verbracht hatte.

Als er den ersten Schluck Espresso nahm, hielt ein Wagen am Straßenrand direkt vor seinem Tisch. Ein dunkelblauer Mini, offensichtlich mit einem E-Motor, denn er hatte ihn nicht kommen gehört.

Die Tür auf der Beifahrerseite wurde aufgestoßen und Lucia winkte ihm zu. „Hopp, hopp, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ich muss nachher noch ins Büro.“

Mateo lachte auf, trank den Espresso mit einem Schluck und stieg dann in den Wagen. „Ich hatte gedacht, ich darf dich noch zu einem Croissant oder einem Brötchen einladen.“

„Ich esse so gut wie keine Kohlenhydrate“, erwiderte sie streng. „Spanische Frauen legen sehr viel Wert auf ihre Ernährung, und dabei geht es nicht nur ums Gewicht, auch um die Gesundheit. Ich habe beispielsweise den Blutzucker im Blick. Ich weiß nicht, wie das in London ist mit euren Bratwürstchen und Bohnen. Was für Zeug ihr bereits zum Frühstück zu euch nehmt, grauenvoll. Das liegt doch schwer im Magen und raubt die Energie für den Tag.“ Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, um ihre Ablehnung geräuschvoll deutlich zu machen.

Es war ein Schnalzen, das Mateo so nur von Spanierinnen, Italienerinnen oder Griechinnen kannte – noch nie hatte er beispielsweise eine Dänin oder Österreicherin so ihren Unwillen zum Ausdruck bringen hören. Erst recht keine Engländerin. Er wies auf den Bäcker. „Na ja, besonders gesund sah das nicht aus. Ein Kuchenstück sündiger als das andere.“

„Der Bäcker wird von Deutschen geführt.“ Lucia schüttelte den Kopf, runzelte die Stirn und schaute ihn an. „Gefrühstückt wird in Spanien eigentlich überhaupt nicht. Seit wann haben wir eine ernstzunehmende Frühstückskultur? Was ist los mit dir? Hast du das alles vergessen?“

„Ist ja gut, ich wollte mit der Einladung nur freundlich sein.“ Mateo legte den Gurt an. Er fühlte sich verunsichert – zeichnete sich bereits jetzt schon ab, dass es ein schwieriges Treffen sein würde?

Warum hatte er überhaupt nach einer Führung gefragt? War das ein sentimentaler Moment gewesen?

Als Lucia gemächlich durch die Straßen fuhr, bemerkte er, dass sich sein erster Eindruck von Fuentes de Martín bestätigte, das Dorf hatte sich enorm vergrößert. War es vielleicht inzwischen angebrachter, von einer Kleinstadt zu reden? Flächenmäßig war das Dorf jetzt schätzungsweise mindestens viermal so groß wie früher.

„Also, das geliebte Fuentes des Martín unserer Kindheit und Jugend wächst und gedeiht“, sagte Lucia, als hätte er laut gedacht. „Es hat sich in den letzten Jahren enorm vergrößert, weil vornehmlich junge Familien hierhergezogen sind. Sie schätzen den Preisunterschied, der zu den vorwiegend touristisch geprägten Küstendörfern besteht. Bei uns gibt es noch Bauland, zumindest hin und wieder. Und natürlich sind vor allem junge Familien an der heilen Welt interessiert, die ihnen so eine überschaubare Dorfgemeinschaft im besten Fall bieten kann.“

„Wie ist der Arbeitsmarkt in Fuentes de Martín?“

„Weiterhin bescheiden, aber wir senken gerade die Steuern, in der Hoffnung, dass sich mehr Gewerbe in der Region ansiedelt.“

„Was meinst du mit ›wir‹?“

„Ich arbeite als Sprecherin der Kommunalverwaltung der Provinz Cádiz und bin so etwas wie die rechte Hand des Bürgermeisters. Ich bekomme viel mit und habe die Möglichkeit, an Entscheidungsprozessen mitzuwirken, weil ich oft als Beraterin bei unterschiedlichsten Themen hinzugezogen werde.“

Mateo nickte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass die Menschen in deiner Umgebung deine Meinung schätzen.“

Abermals musterte Lucia ihn. Ihr Blick war unergründlich.

„Die Zugezogenen haben zumutbare Anfahrtswege nach Cádiz und an die Küste“, fuhr sie fort. „Außerdem ist erwähnenswert, dass diese jüngeren Einwohnerinnen und Einwohner ganz andere Anforderungen ans Leben haben als die alteingesessenen. Der Anteil an ökologischer Landwirtschaft in der Umgebung hat sich beispielsweise massiv erhöht, schlichtweg, weil es die Nachfrage gibt. Wir haben mit Wasserknappheit zu kämpfen und arbeiten dementsprechend an und mit modernen Bewässerungstechniken und Anbaumethoden. Die Lohnarbeit auf den Feldern, vor allem während der Ernte, wird nicht mit billigen Arbeitskräften, die ausgebeutet werden, bestritten. In unserer Region legen wir viel Wert auf ordentliche Arbeitsverträge und angemessene Unterkünfte. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass in unserer Verwaltung inzwischen viele Frauen arbeiten.“

„Das klingt so, als wären ausschließlich wir Männer daran schuld, wenn Menschen bei der Arbeit ausgebeutet werden.“

Lucia schüttelte den Kopf. „Lass uns das lieber nicht vertiefen. Jetzt bin ich in deinen Augen wahrscheinlich eine Emanze, oder?“

„Warum erzählst du mir das alles?“

„Spanien hat sich verändert. Es ist gerechter geworden und vor allem feministischer. Was das betrifft, haben wir in Europa eine Vorreiterrolle.“

„Ja, das habe ich mitbekommen, und ich finde es wunderbar, wenn Frauen Forderungen stellen. Ich würde auch nicht ausschließen, dass durch ihren Einfluss die Welt sozialer und gerechter wird. Du denkst, ich halte euch für Dörfler, oder?“

„Kann sein.“

„So ist es nicht.“

„Gut, entschuldige, ich wollte dir das nicht unterstellen. Und ich will auch nicht behaupten, dass Frauen alles besser machen. Aber trotzdem, es ist Zeit, dass wir die Gesellschaft aktiv mitgestalten. Wie ist das in London?“

Mateo schluckte. Er hatte sich noch nie sonderlich mit dieser Frage auseinandergesetzt und hielt sich für modern, aufgeklärt und fortschrittlich. Zumindest hatte sich noch nie eine Frau bei ihm beschwert. „Ja, ebenso. Alles in Bewegung und Entwicklung“, murmelte er.

War da auf Lucias Gesicht ein leichtes Grinsen? Sie schaute weiterhin auf die Straße vor sich.

„Da wir gerade beim Thema Entwicklungen sind, ich gebe zu, ich würde sehr gerne das Grundstück sehen, das du geerbt hast.“

„So, du interessierst dich also nur für mein Hab und Gut“, erwiderte Mateo amüsiert. „Aber klar, ich kann dir das Grundstück zeigen, warum nicht? Das Haus liegt an der Avenida Verte.“

„Okay.“ Lucia wendete so rasant, dass die Reifen quietschten, und beschleunigte dann das Tempo.

Sie ist wie damals, dachte Mateo, leidenschaftlich und stark. Nur, dass sie noch femininer, offensiver und schöner geworden ist. Er würde jedoch einen Teufel tun, ein Wort darüber zu verlieren. Wahrscheinlich würde sie ihn beschimpfen und ihm vorhalten, dass Äußerlichkeiten keine Rolle spielten.

Er blickte zum Seitenfenster hinaus. Auch wenn er gerade Gegenteiliges behauptet hatte – manchmal, das konnte er nicht abstreiten, verwirrten ihn Frauen und ihre Sicht auf die Welt.

Lucia parkte den Wagen direkt vor dem Grundstück, das Mateo geerbt hatte. Sie spürte ein Kribbeln in der Magengegend, das sie nicht genau zuordnen konnte. Es war ein nicht von der Hand zu weisender Fakt: Dieses Grundstück samt der dazugehörigen Felder war so etwas wie ein Joker im Kartenspiel der örtlichen Landwirtschaft. Nicht zu nah an der stürmischen See und nicht zu weit in den Hügeln gelegen und gut erreichbar für die Landwirte aus der Umgebung.

Die Möglichkeiten, es sinnvoll zu nutzen, waren vielfältig. Bereits jetzt war ihr klar, dass sie Interesse hatte.

Am Grundstück selbstverständlich. An nichts anderem. Und schon gar nicht an Mateo.

Sie musste aufpassen, sich das nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Er war vermutlich ein harter Verhandlungspartner. Vielleicht konnte sie ihn an seiner Ehre packen und daran appellieren. Ihm suggerieren, dass es ihm doch sicher eine Ehre wäre, etwas für die Region zu leisten, einen Beitrag, der langfristig nachwirken würde. Es blieb abzuwarten, wie er sich verhielt.

Mateo sprang aus dem Wagen, stellte sich mit offenen Armen in die Einfahrt und rief: „Willkommen im Dschungel von Fuentes de Martín. Also, falls das Grundstück noch zur Gemeinde zählt.“

„Ich denke schon“, sagte Lucia beiläufig und registrierte die Vielfalt der Baumarten, während sie die Einfahrt hinaufging. Pinien, Kiefern, Olivenbäume unterschiedlicher Art, vor allem alte Sorten, und groß gewachsene Korkeichen. Wie hatte sein Onkel das gemacht, auf so engem Raum so viele Baumarten zu pflanzen?

Sie umrundeten das Haus. Im Garten bemerkte sie zahlreiche verwilderte Kräuterbeete, die von fruchtbarer Erde zeugten. Es wurde immer besser, ihr Interesse stieg minütlich.

Als sie weitergingen, spürte sie Mateo neben sich fast körperlich. Seine Anwesenheit fühlte sich gut an. Angenehm. Sehr angenehm. Wieder war da dieses Kribbeln in ihrem Bauch, das sie zu ignorieren versuchte.

Lucia ließ den Blick schweifen. Viel Schatten, ein Brunnen am Ende des Grundstückes.

Mateo wandte sich zu ihr. „Also, wie du siehst, ist das ein relativ reizloses Gelände, extrem zugewuchert obendrein. Es ist für den Tourismus nur mäßig geeignet, denn es verfügt weder über eine besondere Aussicht noch ist es nah genug am Meer gelegen.“

„Es ist hervorragend“, entfuhr es ihr. Entsetzt hielt sie inne und wandte sich ab, tat, als würde sie einen Olivenbaum in Augenschein nehmen.

„Hervorragend? Was meinst du?“ Mateo klang erstaunt.

Innerlich verfluchte Lucia sich. Sie hatte doch sachlich bleiben wollen, aber es fiel ihr schwer, ihre Begeisterung zu verbergen. Allerdings wollte sie nicht mit gezinkten Karten spielen, daher drehte sie sich zu ihm um, verschränkte die Arme und sah ihn direkt an. „Es ist ein wertvolles Grundstück für die Landwirte in dieser Region“, gab sie zu. „Es wäre eine feine Geste, wenn du es dem Verband der ökologischen Landwirte zum Kauf anbieten würdest. Ich würde mich mit darum bemühen, dass es in gute Hände kommt. So könntest du den Verkauf eventuell ohne einen Makler und ohne zusätzliche Kosten abwickeln. Ich habe dir ja gesagt, wir haben hier eine sehr aktive Landwirtschaft mit vielen Jungbauern, und die haben Schwierigkeiten, neues Land zu kaufen oder zu pachten.“

Mateo blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Das weiße Hemd, das er trug, betonte seine natürliche Bräune.

„Ach, hoffst du auf einen Sonderpreis?“

„Warum nicht? Wenn ich richtig informiert bin, dürfte es für dich nicht so darauf ankommen, ob du ein paar Euro mehr oder weniger einnimmst.“

Mateo runzelte die Stirn.

Lucia fühlte sich genötigt, ihren letzten Satz zu ergänzen. „Ich dachte, du würdest dich gerne auf diese Weise für die Gegend einsetzen, etwas für dein Heimatdorf tun. Also das meine ich.“

„Das mache ich doch. Ich werde den regionalen Tourismus unterstützen.“

„Und wie? Du sagtest eben noch, das Grundstück sei nicht geeignet für eine touristische Erschließung.“

„Das ist es durchaus, wenn auch eher indirekt. Ich beabsichtige, das Land an La Hacienda de la Luz zu verkaufen.“

„Du meinst das Golf Resort?“

„Ja, natürlich! Das ist sinnvoll, davon profitiert die Region doch auch. Die Costa de la Luz ist schließlich das El Dorado der Golfspieler in Spanien.“

Lucia fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, sie hörte Grillen zirpen und spürte den Wind in der Luft. „Es gibt sehr viele Golfplätze in der Umgebung, ich denke, es sind genug. Oder bist du ein Golfer und ziehst es in Erwägung, weil du dich dem Sport verbunden fühlst?“

„Nein, ich bin kein Golfer.“

„Also geht es dir ums Geld? Weil das Resort vermutlich mehr zahlen wird als ein kommunaler Bauernverband oder ein privater Landwirt?“

„Ja. Warum soll es mir denn nicht ums Geld gehen? Was ist daran verwerflich? Für wie viel den Quadratmeter wird das Land denn hier in der Umgebung von Fuentes des Martín gehandelt?“

Lucia nannte kleinlaut den Betrag.

Mateo lachte auf. „Nimm es mir nicht übel, aber der Inhaber des Golf-Resorts hat mir vorab bereits das Doppelte geboten. Schon bevor wir mit den Verhandlungen angefangen haben. Ich bin sicher, ihr könnt auch woanders Zucchini und Tomaten anbauen.“

„Tomaten und Zucchini anbauen?“, fuhr Lucia auf. „Warum reduzierst du uns so? Was soll das?“

„Nein, das habe ich nicht, ich habe niemanden reduziert. Du redest doch dauernd von Öko-Bauern, und wenn ich deren Produkte erwähne, dann ist das falsch?“

„Dein Verhalten wundert mich nicht“, stieß Lucia wütend hervor. „Es gibt einfach Menschen, die ändern sich nicht. Und da du fragst, ja, es ist falsch, denn es ist herablassend formuliert. Siehst du, ich hab’s ja gewusst, deshalb habe ich versucht, dir zu zeigen, wer wir heute sind. Aber du bist genauso, wie ich es vermutet habe, ein Snob, der aus London kommt. Einer, der sich für etwas Besseres hält, großgönnerhaft durchs Dorf stapft und auf uns herabsieht. Und wenn man dann mal eine Bitte formuliert, eine Frage stellt, die nicht dir, sondern unserer Gemeinschaft zugutekäme, dann hast du bloß Dollar-Zeichen in den Augen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um, marschierte wortlos zum Auto und öffnete die Tür.

„Lucia, warte!“, rief Mateo ihr hinterher. „Was redest du da? Was soll das alles? Du kannst mich doch jetzt hier nicht stehen lassen.“

„Warum nicht?“, antwortete sie über das Dach des Minis hinweg, glitt auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu. „Sieh zu, wie du klarkommst ohne uns“, sagte sie, ließ die Scheibe hochfahren und startete den Motor.

3. KAPITEL

Mateos Blick streifte über das weiß getünchte Haus, bei dessen Fenster auch am späten Nachmittag noch die Läden geschlossen waren. Er seufzte und schaute auf die Tüte mit den Geschenken, die er bei sich trug.

Warum machte er das?

War das eine gute Idee?

Diese Entscheidung hatte allerdings nicht in seiner Hand gelegen, wenn man sich die Situation genau betrachtete. Angefangen hatte alles so belanglos und beiläufig. Er war gestern Josefa Martínez beim Bäcker begegnet. Beim deutschen Bäcker, der Süßspeisen und sonstige Weizenprodukte verkaufte. Ein wenig hatte er darüber grinsen müssen, Lucias Mutter ausgerechnet hier zu treffen – so viel zur Theorie, wie sich spanische Frauen inzwischen ernährten. Ihre Mutter stand den süßen Freuden des Lebens jedenfalls offen gegenüber, wofür ihre riesige Bestellung sprach, die sie für den kommenden Tag aufgegeben hatte.

In der Warteschlange, verborgen hinter einem Touristenpärchen, das zwischen ihnen beiden stand, hatte er Josefa beobachtet, während sie bestellte. Eine mittelgroße Frau – hierin unterschied sie sich von Lucia, die bestimmt einen halben Kopf größer war. Sie hatten jedoch die gleiche ovale Gesichtsform, den langen Hals und die welligen Haare, nur waren bei Josefa vereinzelte silbergraue Strähnen auszumachen. Auch sie war attraktiv, eine einnehmende Erscheinung, die er sofort bemerkt hatte, als er den Laden betrat.

Nachdem Josefa ihre Bestellung beendet und sich zum Gehen umgewandt hatte, war ihr Blick über einen der Wandspiegel auf ihn gefallen – und sie hatte nicht eine Sekunde gebraucht, um ihn wiederzuerkennen. Ihre Freude war berührend überschwänglich. Zwischen all den anderen Kundinnen und Kunden hatte sie ihn umarmt, ihn auf beide Wangen geküsst und ihn mit Fragen überschüttet.

Seit jenem Aufeinandertreffen waren rund dreißig Stunden vergangen. Mateo war sicher, dass die Informationen, die sie ihm noch in dem kleinen Laden vor den Kundinnen und Mitarbeiterinnen entlockt hatte, inzwischen in Fuentes de Martín die Runde machten. Alle Anwesenden hatten offensichtlich und interessiert zugehört.

Jetzt war mit Sicherheit überall bekannt, dass es ihm beruflich hervorragend ging. Nun war öffentlich, dass er in einem Londoner Vorort wohnte – nein, nicht in der Nähe des Flughafens Heathrow – und dass er nicht verheiratet, nicht geschieden und auch noch nicht Vater geworden war. Und dass er bereits am Grab seiner Eltern war, das war ebenfalls wichtig gewesen.

Waren Spanierinnen immer so laut? Oder Spanier generell? Und so unverhohlen neugierig? Hatte er wirklich so vieles vergessen?

Mateo zuckte mit den Schultern und dachte an das Ende des Gespräches. Josefa hatte ihn eingeladen, am heutigen Tag an der Geburtstagsfeier ihres Mannes Graciano teilzunehmen, der siebzig Jahre alt wurde. Noch bevor er überhaupt darauf reagieren konnte, hatte sie der Verkäuferin schon zugerufen, noch einen Marzipankranz zu ihrer Bestellung hinzuzufügen.

Er hätte gern gezögert und mit Ausreden angesetzt, um sich diesem Besuch zu entziehen, aber für die Anwesenden war es eine ausgemachte Sache. Mateo Hernández war nun offiziell Gast bei der Geburtstagsfeier von Graciano Martínez. Widerstand war zwecklos bis undenkbar gewesen.

Es war ihm unklar, wie es Frauen aus Josefas Generation immer wieder gelang, ohne viel Aufhebens ihren Willen durchzusetzen. Sie agierten anders als die heutige Frauengeneration, die wesentlich offensiver vorging, aber das Ergebnis war das gleiche – oft waren Entscheidungen gefällt, bevor dem Gegenüber Zeit blieb, auch nur darüber nachzudenken.

Klar war, ganz gleich wie überzeugt Josefa von ihrer Entscheidung war, ihre Tochter Lucia würde von dieser Einladung nicht begeistert sein. Das ist ein Thema, das die beiden Frauen miteinander klären müssen, dachte er und straffte die Schultern.

Immerhin hatte Lucia ihn vor zwei Tagen nicht, wie er zunächst befürchtet hatte, am Grundstück an der Avenida Verte stehen lassen. Mit laufendem Motor und grimmigen Blick hatte sie gewartet und ihn doch noch zum Marktplatz mitgenommen. Dafür hatte sie auf der Rückfahrt aber auch kaum ein Wort an ihn verschwendet. Ihre Verabschiedung war frostig ausgefallen und seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört.

Keine Idealvoraussetzung, um jetzt bei der Familienfeier zu erscheinen.

Vielleicht konnte er sich ein wenig mit Felipe unterhalten. Am Tag seiner Ankunft hatte er ihn auf dem Marktplatz während des Auftritts gesehen, aber Lucias Bruder hatte ihn an dem Abend offensichtlich nicht bemerkt.

Es war erstaunlich, drei Tage Anwesenheit in Fuentes de Martín reichten und seine Gedanken waren wieder damit beschäftigt, wer was sagen, denken und weiterverbreiten würde. Eigentlich amüsant.

Trotzdem atmete Mateo tief ein. Er war Geschäftsführer von NHMP, einer Firma, die Produkte herstellte, die vielen Menschen Linderung verschafften. Aber viel entscheidender war, es war ein erfolgreiches Unternehmen mit fünfundvierzig Angestellten, mit einem Labor in London und Herstellungsanlagen, die in der ganzen Welt lagen. Der Jahresumsatz lag im mittleren siebenstelligen Bereich, und er hielt regelmäßig große Gesprächsrunden mit seinem Team ab. Er hatte seine Dissertation verteidigt und auf drei TED-Konferenzen vor Hunderten Gästen und unzähligen Zuschauern, die online vor den Bildschirmen dabei waren, über Themen seiner Forschungen gesprochen.

Auch wenn er solche Dinge nie herausstellte, stand er mit beiden Beinen fest im Leben. Er würde es wohl hinbekommen, heute ein paar Stunden im Kreise der Familie Martínez zu verbringen, freundlich lächelnd Small Talk zu betreiben und dabei so wenig wie möglich aufzufallen.

Er würde ein Gast von vielen sein.

Hoffte er.

Bevor er das angelehnte schmiedeeiserne Tor aufschob, drückte er den Rücken durch und ging den mit hellen Steinplatten gepflasterten Weg entlang, der an der seitlich gelegenen Haustür vorbei in den Innenhof führte. Dann betrat er den großzügigen Patio, dessen ausladende Überdachung von weißen Säulen getragen wurde.

Es waren bereits zahlreiche Gäste anwesend, fröhliches Stimmengewirr mischte sich mit dem Lachen spielender Kinder. Ein voller Grill verbreitete appetitanregenden Duft, im Hintergrund lief beschwingte Salsa-Musik. Der helle Steinboden und zahlreiche Blumentöpfe in unterschiedlichen Größen mit verschiedenen blühenden Blumen setzten bunte Akzente. An einer Hauswand rankte eine pinkfarbene Bougainvillea bis zum ersten Stockwerk hinauf. Es war geschmackvoll und gemütlich und tatsächlich dem noch sehr ähnlich, wie er das Dorfleben in Erinnerung hatte.

Bevor er sich in Ruhe umsehen und die Gäste der Feierlichkeit in Gänze erfassen konnte, erblickte Josefa ihn. Offensichtlich freute sie sich wirklich, ihn zu sehen, denn sie umarmte ihn überschwänglich und küsste seine Wangen, als wäre er ein Familienmitglied.

Für einen Moment lag die Aufmerksamkeit aller auf Josefa und ihm. Mateo meinte, für wenige Sekunden nur das Quengeln eines Kleinkindes und die Musik zu vernehmen. Als würde er das nicht bemerken, überreichte er der Gastgeberin einen Blumenstrauß. Daraufhin ließ er sich zu Graciano führen, der heute der Mittelpunkt der Feierlichkeiten war. Lucias Vater auf die Schulter klopfend, überreichte er ihm einen besonderen Sherry, den er in Cádiz besorgt hatte.

Gefühlt zog sich die Begrüßungsrunde ewig hin, und Mateo war erleichtert, nach zahlreichen Umarmungen und reichlichem Schulterklopfen am Tisch Platz nehmen zu können. Sofort verwickelten die Männer um ihn herum ihn in ein Gespräch über Fußball und die klassische Frage, ob derzeit Real Madrid oder FC Barcelona der einzig wahre Fußball-Club sei. Schon nach wenigen Minuten befand Mateo sich in einer lebhaften Diskussion. Er fühlte sich willkommen. Anders konnte er es nicht formulieren.

Im Laufe des Gesprächs erhob sich Graciano, holte ein Glas, um einen Sherry einzugießen, und schob es ihm über den Tisch hin.

Irritiert blickte Mateo sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass am Grill drei jüngere Männer und eine Frau anstanden und sich Lammspieße und Garnelen auf die Teller legten, während ein anderer gerade dabei war, sich am üppigen Kuchenbuffet zu bedienen.

Er verstand, hier war Selbstbedienung angesagt. Graciano hatte sich vermutlich nur erhoben, weil er den Anblick eines Gastes ohne Getränk nicht mehr ertragen hatte. Es war Mateo unangenehm, dass ihm das entgangen war.

In London arbeitete er viel, und überall gab es Menschen, die ihn unterstützten – Assistenten, Praktikanten, sogar einen Fahrer hatte er und eine Haushaltshilfe. Hatte er sich zu sehr daran gewöhnt, dass andere ihm Dinge abnahmen und manchmal schon im Voraus erledigten?

Anders konnte er sich nicht erklären, wieso er so eine Kleinigkeit, sich ein Getränk zu organisieren, übersehen hatte. Oder sich gleich, wie es sich gehörte, eine Flasche zu besorgen und den alten Herren einem nach dem anderen einzuschenken. Respekt vor den Dorfältesten war ihm wichtig. Er hatte seinen Gedanken nachgehangen und wollte um Himmels willen nicht falsch verstanden werden, aber nun war es zu spät. Vermutlich hielten ihn jetzt alle für einen Londoner Snob, der keinen Finger mehr krümmte.

Er bedankte sich hastig bei Graciano, der ihm den Sherry angeboten hatte, dann prosteten sie einander zu.

„So, nun erzähl mal“, sagte der Jubilar, „was machst du denn heute so?“

„Ich habe Pharmazie studiert“, wiederholte Mateo geduldig. „Nun bin ich Biochemiker und führe ein Forschungslabor für Medizinprodukte in London, in Notting Hill. Eins der ersten Produkte, das wir entwickelt haben, war ein Mittel gegen Neurodermitis, eine Hautkrankheit. Es hat vielen Menschen geholfen.“

„Und dir hoffentlich zu einem großen Vermögen verholfen.“ Einer der Männer lachte.

Graciano zwirbelte grinsend seinen Bart. „Dann bist du ja fast sowas wie eine Berühmtheit“, sagte er.

„Nein, das bin ich nicht. Vielleicht im Bereich der Neurodermitis-Forschung oder im Bereich der Naturkosmetik, aber ich glaube, das zählt nicht, oder?“

„Aber du bist weit gekommen und hast was erreicht, mein Gu...

Autor

Rebecca Winters
<p>Rebecca Winters war eine berühmte amerikanische Romanceautorin aus Salt Lake City, Utah. Ihre Heimat und ihre Lieblingsurlaubsziele in Europa dienten oft als Kulisse für ihre romantischen Liebesromane.</p><p>In ihrer 35-jährigen Schaffenszeit schrieb sie 175 Romance Novels, die weltweit fast 30 Millionen Mal verkauft wurden.</p>
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Soraya Lane
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