Romana Extra Band 61

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

SIEBTER HIMMEL ÜBER DER PROVENCE von BELL, CATHY
Grace ist wie erstarrt, als vor ihrem Gut in der Provence ein Segelflugzeug eine riskante Landung hinlegt. Das erinnert sie an die größte Tragödie ihres Lebens! Aber ein attraktiver Traummann steigt aus und lächelt sie so charmant an, dass ihr Herz rasend schnell klopft …

IN ROM BEGINNT DAS ZWEITE GLÜCK von LOVELACE, MERLINE
Wie oft hat Travis ihr versprochen, nach Italien zu reisen! Zu spät, jetzt steht ihre Ehe vor dem Aus, und Kate ist ohne ihn in Rom. Doch als sie eine Münze in den Trevi-Brunnen wirft und ihren sehnlichsten Wunsch flüstert, glaubt sie zu träumen: Neben ihr steht ihr Noch-Ehemann …

LIEBESZAUBER AUF SANTORIN von MOREY, TRISH
Auf Santorin soll Cleo einen Monat lang seine Geliebte spielen. Dafür zahlt der attraktive Grieche Andreas Xenides ihr eine Million Dollar. Ein reines Geschäft? Als Andreas es mit einem sinnlichen Kuss besiegelt, verspürt Cleo plötzlich heiße Leidenschaft …

WEIHNACHTSHOCHZEIT AM WEIßEN STRAND von SHEPHERD, KANDY
Jesse Morgan sieht einfach verboten gut aus. Lizzie ist gewarnt, denn auch ihr Ex war ein Hingucker - und ein gewissenloser Playboy! Doch sie arbeitet mit Jesse zusammen in einem Strandcafé, und er scheint entschlossen, ihr die Angst vor Herzensbrechern zu nehmen …


  • Erscheinungstag 01.11.2017
  • Bandnummer 0061
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744038
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Bell, Merline Lovelace, Trish Morey, Kandy Shepherd

ROMANA EXTRA BAND 61

CATHY BELL

Siebter Himmel über der Provence

Die Freiheit über den Wolken ist für den Flieger Pascal ein wahrgewordener Traum. Doch als er in der Provence die bezaubernde Grace kennenlernt, muss er sich entscheiden: ihre Liebe – oder seine Leidenschaft …

MERLINE LOVELACE

In Rom beginnt das zweite Glück

Mit einem brennenden Wunsch bricht Travis auf nach Italien: Er muss Kate zurückgewinnen! Die romantische Reise hat er geplant – Rom, Venedig, Toskana. Jetzt muss er Kate von seiner Liebe überzeugen …

TRISH MOREY

Liebeszauber auf Santorin

Spontan bietet Andreas der hübschen Cleo eine Million Dollar, wenn sie seine Geliebte spielt. Nur zum Schein, um eine aufdringliche Verehrerin abzuwehren! Aber plötzlich ist Cleo so unwiderstehlich …

KANDY SHEPHERD

Weihnachtshochzeit am weißen Strand

Ihr heißer Kuss im Mondschein war unvergesslich. Aber als Jesse die hübsche Lizzie in dem Hafenstädtchen Dolphin Bay wiedersieht, verhält sie sich abweisend.Was muss er tun, um sie erneut zu küssen – und mehr?

1. KAPITEL

Der Gewitterwolke hinter ihm war er gerade noch mal entkommen. Der Blick nach vorne war jedoch nicht viel besser. Ein gewaltiger Wolkenberg baute sich vor ihm auf. Finster und bedrohlich. Ausgerechnet darunter lag sein Flugplatz. Sein Ziel in etwa fünfzig Kilometern Entfernung.

Im Moment befand Pascal sich mit seinem Segelflugzeug zwischen den beiden Gefahrenzonen. An dieser Stelle war der Himmel noch trügerisch blau, doch das würde sich bald ändern. Gewitterwolken waren schnell, und das Monster hinter ihm holte auf. Es würde ihn bald erreicht haben.

Er schwebte also zwischen zwei Gewittern. Es ging weder vor noch zurück. Weiterzufliegen war keine Option, denn ein Flug durch solch eine schwarze Wolke war unmöglich. Der Regen war gefährlich genug, von den unberechenbaren Böen ganz zu schweigen. Vor allem bestand das Risiko, durch heftige Aufwinde in die Wolken hineingesogen und von Blitzen getroffen zu werden. Das sichere Todesurteil für jeden Segelflieger.

Eigentlich gab es jetzt nur eine einzige Lösung. Er musste auf einem Acker notlanden.

Seufzend wandte er den Blick von den dunklen Wolken ab und überprüfte den Erdboden unter sich. Wenigstens gab es hier keine Weinanbauflächen. Auf ihnen zu landen, war einfach unmöglich. Trotzdem war seine Auswahl recht begrenzt. Unter ihm lagen hauptsächlich umzäunte Weideflächen oder viel zu kleine Wiesen.

Endlich entdeckte er eine grüne Weide, die recht vielversprechend aussah. Der Platz würde reichen, wenn es auch eng werden würde.

Sobald man sich einmal zu einer Außenlandung, also einer Landung außerhalb eines Flugplatzes, entschlossen hatte, musste man bei der Entscheidung bleiben. Pascal arbeitete jetzt hoch konzentriert. Zunächst überprüfte er, ob alles sicher verstaut und er selbst gut angeschnallt war. Dann stellte er sich den Acker als ganz normalen Flugplatz vor: Gegenanflug, Queranflug, Endanflug. Landeklappen ziehen. Mittlerweile ging es schnell abwärts, der Boden kam rasch näher. Das Fahrwerk hatte er längst ausgefahren, so weit war alles in Ordnung.

Die Winde warfen den kleinen Flieger hin und her. Das war aber nichts, was Pascal wirklich Sorgen bereitet hätte. Der Boden kam immer näher. Zeit für das Landemanöver. Mit einem dumpfen Geräusch kam als Erstes das Heck des Flugzeugs auf, federte den größten Schwung ab. Sobald das Rad direkt unter ihm die Weide berührte, wurde er heftig durchgeschüttelt. Pascal hielt den Steuerknüppel eisern fest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sicherlich nur wenige Sekunden dauerte, kam der Flieger zum Stehen. Er neigte sich, bis eine Tragfläche das Gras berührte.

Pascal war gelandet.

Erst jetzt erlaubte er sich, tief durchzuatmen und sich einen Moment zu entspannen. Das war natürlich nicht seine erste Notlandung auf einem Acker gewesen, aber jede Außenlandung barg Gefahren. Zum Glück war alles gut gegangen. Mit steifen Fingern löste er die Sicherheitsgurte. Er war in Carpentras gestartet und gute drei Stunden geflogen. Seine Muskeln hatten sich verspannt, mit den Gedanken schwebte er noch in den Wolken. Die Nachwirkungen einer recht abrupten Landung.

Er beugte sich gerade vor, um in der Bordtasche nach seinem Handy zu suchen, da klopfte es heftig gegen die Scheibe. Vor Schreck zuckte er zusammen und stieß sich im engen Cockpit den Kopf.

„Mon Dieu!“, hörte er eine weibliche Stimme rufen. Eine junge Frau stand neben seinem Flieger. „Bewegen Sie sich nicht! Ich hole Hilfe“, schrie sie aufgeregt. Ehe er sichs versah, war sie schon losgerannt.

Pascal riss sich zusammen. Müde Knochen hin oder her, einen Krankenwagen konnte er nicht gebrauchen. Während er mit der rechten Hand die Sicherheitsgurte abstreifte, öffnete er mit der linken die Verriegelung der Flugzeughaube.

„Mir geht es gut“, rief er, doch die Frau hörte ihn nicht. Sie rannte wie gehetzt über den Acker.

Entschlossen sprang Pascal aus dem Flugzeug. Der Fallschirm auf seinem Rücken behinderte ihn zwar, aber zum Ablegen war gerade keine Zeit. Erst musste er die panische Frau einfangen.

Zum Glück wurde sie von einem Zaun aufgehalten, den sie umständlich zu überwinden versuchte. Pascal nutzte den Moment, um ihr mit großen Sprüngen nachzusetzen.

„Warten Sie!“, schrie er, so laut er konnte, und winkte hektisch. Die Frau schien ihn endlich gehört zu haben. Sie drehte sich um und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

„Mir geht es gut“, wiederholte Pascal und wurde langsamer. Er hatte sie tatsächlich stoppen können.

„Sie sollten sich nicht bewegen“, rief sie ihm zu, kletterte dabei aber wenigstens wieder zurück. Der Saum ihrer blauen Jeans blieb an der obersten Zaunlatte hängen, doch sie fing sich im letzten Moment ab. „Sie könnten verletzt sein!“

Pascal seufzte in Gedanken. „Mir geht es gut. Sehen Sie? Ich bin topfit.“ Er bewegte Arme und Beine. Doch sie blieb misstrauisch. Langsam, als würde sie sich einem verletzten Tier nähern, kam sie auf ihn zu und musterte ihn von oben bis unten. Sie hatte langes blondes Haar, das sie zu einem lässigen Zopf geflochten trug. Für eine Frau war sie recht groß. Pascal schätzte sie auf ein Meter fünfundsiebzig. Sie war nicht dick, aber auch nicht wirklich zierlich.

„Sie sind gerade abgestürzt“, erklärte sie und blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. Jetzt konnte er sehen, dass ihr Gesicht ziemlich weiblich war: hohe Wangenknochen, kleine Stupsnase, große Augen. Sehr blaue Augen. Und ein geschwungener, erdbeerroter Mund.

„Da irren Sie sich. Ich habe eine kontrollierte Außenlandung durchgeführt. Sehen Sie? Am Flieger ist kein einziger Kratzer. Es ist, als wäre ich auf einem Flugplatz gelandet. Alles kein Problem.“

„Bloß dass dieser Flugplatz mein Acker ist“, erwiderte sie zittrig. Sie zog die blonden Augenbrauen zusammen, während sie erst ihn und dann den Flieger musterte. Sein Blick folgte ihrem. Das Segelflugzeug neigte sich zur Seite, die rechte Tragfläche lag auf dem Erdboden auf. Die Haube stand offen, da er sie auf die Schnelle nicht hatte schließen können. Hinter dem Flugzeug war das Gras von der Landung aufgerissen.

Anscheinend hatte der Regen den Boden mittlerweile aufgeweicht. Seit Tagen wurde die Gegend von Unwettern heimgesucht. Normalerweise herrschten in der Provence um diese Jahreszeit dreißig Grad und schönster Sonnenschein. In dieser Woche aber hatte es ständig geregnet, was ungewöhnlich war. Der sonst trockene Boden hatte sich deshalb längst in Schlamm verwandelt. Das erklärte natürlich auch, warum Pascals Schuhe jetzt nass waren.

„Die Wiese gehört Ihnen?“, wandte sich Pascal wieder der Frau zu. Erst jetzt bemerkte er, dass sie im Gesicht ziemlich weiß war, ihre Wangen dagegen glühten rot. Er musterte sie, während ihr Blick noch immer seltsam in sich gekehrt auf dem Segelflieger ruhte. Da sie auf seine Frage nicht reagierte, trat er einen kleinen Schritt auf sie zu, womit er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er vorsichtig.

„Sie haben mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt“, erwiderte sie. „Ich habe wirklich gedacht, ich müsste einen Toten aus einem Krater in meiner Wiese ziehen.“ Zu seinem grenzenlosen Erschrecken meinte er, in ihren Augen Tränen zu sehen.

„Es geht …“

„… Ihnen gut. Ja, das habe ich verstanden. Ich …“ Seufzend ließ sich die Frau zu Boden sinken und barg das Gesicht in den Händen. „Geben Sie mir einen Moment. Ihnen mag es ja gut gehen, mir hingegen nicht. Ich muss mich kurz sammeln.“

Besorgt hockte Pascal sich neben sie und berührte sie an der Schulter. „Es tut mir leid, dass ich Sie so erschreckt habe“, sagte er leise. Dass Leute dachten, er wäre abgestürzt, hatte er tatsächlich schon das eine oder andere Mal erlebt. Es sah ja auch dramatisch aus, wenn ein Segelflieger plötzlich auf einer Wiese landete. Nur dass es jemanden derart aus der Bahn werfen konnte, war ihm neu.

Die Frau nahm endlich ihre Hände vom Gesicht und seufzte noch einmal tief. „Hauptsache, Ihnen ist nichts passiert. Ich bin übrigens Grace Bennett.“ Sie hielt ihm die Hand hin, die er etwas überrascht schüttelte.

„Pascal Dubois. Freut mich.“

Grace verzog das Gesicht. „Normalerweise bin ich nicht so hysterisch. Aber irgendwie haben Sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Und was machen wir jetzt mit Ihrem Flieger?“

„Ich rufe gleich meine Leute an. Die kommen dann, um mich abzuholen.“

„Aha.“ Grace nickte langsam. „Ihnen ist aber schon klar, dass sich da ein gewaltiges Gewitter nähert?“ Mit dem Zeigefinger deutete sie schräg hinter ihn. Pascal musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was sie sah. Die bedrohliche schwarze Front, die sich in ihre Richtung bewegte, war ihm nur zu gut in Erinnerung geblieben.

„Deswegen habe ich mich ja entschlossen, hier zu landen. In ein Gewitter reinzufliegen ist für einen Segelflieger kein Spaß.“

„Und im Hagel auf einer Wiese zu hocken, ist für eine Landwirtin nicht lustig“, erwiderte sie. So langsam nahm ihr Gesicht wieder Farbe an. „Wie lange brauchen denn Ihre Leute, um hierherzukommen?“

„Das kommt darauf an.“ Pascal erhob sich und lief zum Flugzeug, um sein Handy und eine Landkarte aus dem Cockpit zu holen. Grace folgte ihm. Wenn er sich nicht irrte, zitterten ihre Beine und Arme. Hatte sie einen Schock erlitten?

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie das Flugzeug musterte. Sie war etwa fünf Meter entfernt stehen geblieben und schien nicht näher herantreten zu wollen.

„Sie können ruhig rüberkommen“, bemerkte er, doch sie schüttelte heftig den Kopf. Seine Sorge wuchs. Mit der Karte in der Hand ging er zu ihr zurück. „Könnten Sie mir vielleicht zeigen, wo genau wir sind?“

Zögernd löste sie ihren Blick vom Segelflieger und sah auf die Karte in seinen Händen. „Montbrun-les-bains“, sagte sie leise. „Hier.“ Jetzt lächelte sie schwach. „Im schönsten Dorf der Provence.“ Sie zeigte ihm den genauen Standort auf der Karte, die ihm der Wind beinahe aus den Händen riss. Es wurde merklich dunkler. Pascal musste nicht zum Himmel schauen, um zu wissen, dass das Gewitter näherkam. Er roch es bereits. Regen und die knisternde Energie in der Luft.

Zeit, zu handeln! Hastig wählte er eine Nummer auf seinem Handy. Sekunden später meldete sich seine beste Freundin Melanie.

„Sag mir bitte, dass du am Flughafen in Carpentras gelandet bist!“

„Wenn dem so wäre, wüsstest du es doch. Oder bist du nicht mehr am Flugplatz?“, erwiderte er irritiert. Eine kurze Pause folgte, in der er deutliche Autofahrgeräusche hörte. „Bist du etwa schon unterwegs?“

„Bruno und ich mussten los. Das gesamte Teilnehmerfeld ist heute auf irgendwelchen Feldern gelandet. Du bist der Letzte. Wo zur Hölle steckst du?“

„Ich bin gerade auf einem Acker bei Montbrun-les-bains runtergekommen. Das erklärt aber nicht, wohin du unterwegs bist.“ Mel war seine persönliche Rückholerin für den Wettbewerb. Eigentlich hätte sie nirgendwohin fahren dürfen, solange er nicht angerufen hatte. Sie war schließlich nicht nur seine beste Freundin, sondern auch seine Angestellte.

„Frank ist ebenfalls außen gelandet“, erklärte sie. Frank war ein guter Freund von ihnen. „Er hat sich dabei ein Bein gebrochen.“

Pascal zog überrascht die Augenbrauen hoch, während Grace ihn mit ihrem Blick durchbohrte.

„Sehen Sie?“, flüsterte sie. „Man kann sich also doch was brechen!“ Die Frau hatte eindeutig gute Ohren.

Mel schien Graces Worte ebenfalls gehört zu haben. „Wer ist da bei dir?“

„Eine Landwirtin. Ihr gehört der Acker. Geht es Frank ansonsten gut?“

„Bis auf sein Ego ist alles heil geblieben. Er hat sich verletzt, als er aus dem Flieger gestiegen und auf der matschigen Wiese ausgerutscht ist. Das Problem ist seine Frau, sie ist total durchgedreht. Sie ist sofort mit dem Wagen losgefahren, allerdings ohne Anhänger. Den bringen wir ihr gerade hinterher.“

„Aha. Ihr Helden. Und was ist mit mir?“

„Du musst warten.“

„Na toll. Und wie lange dauert eure Rettungsaktion?“

„Na ja, Frank ist gut zweihundert Kilometer von hier in der Nähe von einem kleinen Dörfchen gelandet. Bleib tapfer. Du hast genug Geld, um dir ein Hotel zu leisten. In Montbrun gibt es jede Menge Luxushotels. Ist doch ein Kurort, oder? Check da ein, und wir holen dich morgen ab. Alles ganz easy.“

„Sag das der riesigen Gewitterwolke, die gerade auf mich zukommt“, brummte Pascal schlecht gelaunt. „Ich kann den Flieger doch nicht einfach mitten auf dem Acker stehen lassen.“

Mel seufzte tief. „Ach, Pascal. Ein gebrochenes Bein und eine panische Ehefrau schlagen ganz einfach einen gestrandeten steinreichen Kerl auf einem einsamen Acker. Sicher den Flieger, und dann geh in Deckung, vorzugsweise in einem Fünf-Sterne-Nobelhotel. Könnte schlimmer sein.“

Grace sah ihn aus ihren schillernden blauen Augen an und schien etwas sagen zu wollen.

„Ja?“, fragte Pascal sie.

„Also der Ortskern von Montbrun ist schon ein ganzes Stück entfernt. Mein Auto ist kaputt, es ist Hochsaison, und … es wird schwierig werden, an einem Samstagabend auf die Schnelle eine Unterkunft zu finden.“

„Was schlagen Sie dann vor?“

„Geben Sie mir mal das Handy.“ Ehe er protestieren konnte, hatte Grace ihm das Telefon aus der Hand genommen. Sie wirkte mit einem Mal überhaupt nicht mehr panisch, sondern wild entschlossen.

„Salut“, sagte sie zu Mel. „Ich bin die Landwirtin, auf deren Acker Ihr Freund gelandet ist. Er ist nicht Ihr Freund? Umso besser. Ist er gefährlich? Seltsam? Sollte ich irgendetwas über ihn wissen?“

Die Antwort konnte Pascal nicht verstehen, da Grace sich von ihm abgewandt hatte. Er beobachtete, wie sie aufmerksam zuhörte und nickte. Wehe, Mel erzählte peinliche Geschichten über ihn!

Was immer sie sagte, schien Grace zu beruhigen. Sie blickte auf und lächelte ihn an. „Sie können bei mir übernachten.“ Sie deutete ans andere Ende des Ackers, wo ein alter Bauernhof stand, wie Pascal jetzt feststellte. „Ich bin sicher, da finde ich noch ein Plätzchen für Sie.“

Sie reichte ihm das Handy, allerdings hörten sie beide überdeutlich, wie Mel noch laut rief: „Er ist übrigens Single und ziemlich nett!“

Grace musste unwillkürlich über Pascals entsetztes Gesicht lachen, was eine Wohltat war. Der Schock über die Landung saß ihr so tief in den Knochen, dass sie sich kaum konzentrieren konnte. Der Pilot hingegen brachte sie auf andere Gedanken. Er beendete gerade mit hochrotem Kopf das Telefonat und pfefferte das Handy mit Schwung ins Cockpit.

„Verdammt“, fluchte er. „Kann man sich denn auf niemanden verlassen?“

„Na ja, wenigstens weiß ich jetzt, dass Sie Single sind“, erwiderte Grace achselzuckend. „Vielleicht könnten wir dann aufhören, uns zu siezen, und uns der Frage zuwenden: Wie sichert man einen Segelflieger vor solch einem Gewitter?“

Beide blickten auf und sahen in finsterste Schwärze. Das Gewitter hatte sich verdammt schnell genähert.

„Hast du Seile und Zeltheringe? Oder Sandsäcke?“

„Sandsäcke nicht, aber jede Menge Heuballen. Allerdings müssten wir die hierherschleppen. Mein Trecker … ist eher zum Angucken als zur Arbeit zu gebrauchen.“

„Dann los!“

Pascal setzte sich in Bewegung, doch Grace hielt ihn zurück. „Lass uns die Rinder mitnehmen. Normalerweise bleiben sie über Nacht draußen, aber bei dem Gewitter ist es mir lieber, wenn sie in der Nähe des Hauses sind.“

„Rinder? Welche Rinder?“ Verwirrt sah Pascal sich um, bis sein Blick auf eine Herde Vierbeiner traf, keine fünf Meter von ihnen entfernt. „Oh“, sagte er leise.

„Ja, ‚oh‘. Sei lieber froh, dass du keins von denen erwischt hast. Glaub mir: Die hätten das überlebt. Du weniger.“ Seinem fassungslosen Blick nach zu urteilen, hatte Pascal die Herde beim Landeanflug tatsächlich nicht bemerkt. Wie konnte man fünfzehn Rinder übersehen?

Während er den Schrecken noch verdaute, lief sie bereits los und scheuchte die Tiere vor sich her. Je weiter sie sich vom Segelflugzeug entfernte, desto besser ging es ihr. In der Nähe des Fliegers hatte sie eine Last auf ihrer Seele gespürt.

Pascal folgte ihr. Der Pilot hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ihm ihre Hilfe anzubieten? Sie hätte sich in ihrem Haus verbarrikadieren und so lange warten sollen, bis er fort war. Zusammen mit seinem elenden Flieger und den Gefühlen, die der Anblick in ihr auslöste.

Sie empfand eine Mischung aus Panik, Trauer und einer so heftigen Sehnsucht, dass sie zu zittern begonnen hatte. Pascal hatte es bemerkt, da war sie sicher. Er war jedoch so taktvoll gewesen, nichts zu sagen.

Er schloss zu ihr auf. „Ich hätte schwören können, dass ich beim Überfliegen dieser Weide keine Kühe gesehen habe“, murmelte er mehr zu sich als zu ihr.

Ein Stich ging durch ihr Herz. Er hatte ihre Tiere nicht gesehen und sich damit in Gefahr gebracht. In Todesgefahr. Piloten eben. Sie schluckte und ermahnte sich, freundlich zu bleiben.

„Ich garantiere dir: Sie waren die ganze Zeit da“, sagte sie mit belegter Stimme. Sie räusperte sich. Reiß dich zusammen, dachte sie genervt.

Da Pascal etwas blass aussah, klopfte sie ihm aufmunternd auf die Schulter. Erst dabei fiel ihr auf, wie groß er war. Es war für eine Frau von ihrer Größe nicht leicht, einen Mann zu treffen, der sie um einen Kopf überragte. Nicht, dass sie Interesse an dem seltsamen Piloten gehabt hätte, der auf ihrem Acker gelandet war …

Wobei er wirklich schöne Augen hatte. Sturmgrau mit einem Hauch blau. Interessante Mischung. Seine kurzen schwarzen Haare passten zu seinem sonnengebräunten Teint. Und der Dreitagebart stand ihm ziemlich gut. Sexy. Das war wohl das beste Wort, um Pascal Dubois zu beschreiben. Verdammt. Warum war er nur Segelflugpilot?

Grace verscheuchte die Gedanken. Sie hatte gerade andere Probleme. Die Stalltür klemmte mal wieder, und Pascal musste ihr helfen, sie zu öffnen. Der Zustand ihres Hofs war ihr peinlich, doch er war kaum zu verbergen. Sie tat schon, was sie konnte, aber es genügte einfach nicht. Es würde niemals genügen. Sie verdrängte den Gedanken. Aus dem Stall tanzte ihnen der Staub entgegen. Es roch nach Stroh und Heu – und nach Gewitter. Die Wolkenfront schob sich unerbittlich näher.

Mit Seilen und Strohballen bewaffnet kehrten sie wenig später zum Segelflugzeug zurück. Pascal trug mühelos gleich zwei Ballen. Er schien sportlich zu sein. Seine Schultern waren muskulös, allerdings nicht übertrieben. Sie nahm an, dass er ins Fitnessstudio ging, es aber eher als Notwendigkeit betrachtete. Er war einfach … perfekt.

Grace knirschte mit den Zähnen. Reiß dich zusammen! In ihrem Inneren tobte ein Kampf. Einerseits wollte sie den Piloten so schnell wie möglich wieder loswerden, andererseits war sie froh, sich endlich mal mit jemandem unterhalten zu können. Sie war seit Tagen allein, hatte keine Zeit gefunden, um mit den Nachbarn zu reden oder in den Ort zu fahren. Die Arbeit fraß sie auf. Ihre Knochen waren schwer wie Blei, doch sie zwang sich, Pascal zu helfen. Je schneller der Bruchpilot fort war, desto schneller konnte sie sich wieder entspannen.

Ein Pilot! Ausgerechnet ein Pilot. Das Schicksal war manchmal wirklich gemein.

Eine heftige Böe holte sie ins Hier und Jetzt zurück. Der hochstehende Flügel des Segelfliegers wackelte gefährlich, der Rumpf rührte sich jedoch nicht. Der Donner kam näher. Ihnen lief die Zeit davon.

„Wir müssen den Flieger so herumdrehen, dass der Wind nicht unter den liegenden Flügel fahren und das Flugzeug umkippen kann. Kannst du die Tragfläche festhalten? Ich schiebe den Rumpf ein bisschen“, erklärte Pascal.

Grace blieb wie angewurzelt stehen und wünschte sich ganz weit weg, doch Pascal brauchte definitiv ihre Hilfe. Den Flieger auch nur zu berühren, ließ ihr Herz rasen. Mühsam zwang sie die aufsteigende Panik nieder und legte die Hände um den Flügel. Sie schien es richtig zu machen, denn Pascal versuchte bereits, den Rumpf anzuschieben. Der Flieger allerdings bewegte sich nicht.

„Das Rad steckt bis zum Flugzeugbauch in der Wiese“, sagte sie. „Du kannst den Flieger unmöglich zur Seite bewegen.“

Schließlich gab Pascal auf. Also begannen sie, den Flieger an den Strohballen festzuknoten, bis die ersten Regentropfen sie trafen. Das Gewitter war angekommen.

„Lass uns schnell reingehen“, sagte Grace.

Doch Pascal schüttelte den Kopf. „Ich bleibe hier und passe auf, dass der Flieger nicht abhebt. Geh du rein, ich komme nach.“

Grace starrte ihn ungläubig an. „Spinnst du? Da kommen Hagelschauer und Blitze auf uns zu.“

„Ich liebe diesen Flieger und lasse ihn nicht allein“, erwiderte Pascal mit fester Stimme. „Aber du solltest gehen.“

Grace starrte ihn an, ihr stand der Mund offen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Hier draußen war es gefährlich. Bei dem Flieger zu bleiben, war einfach dumm.

„Wir gehen jetzt“, sagte sie scharf.

Pascal sah sie an, offensichtlich überrascht von ihrem Tonfall. „Alles in Ordnung bei dir?“

Bei dem folgenden Donner fuhren sie beide heftig zusammen. Mit einem Schlag war es dunkler als zuvor, ein Blitz zuckte über den Himmel.

„Wir gehen jetzt ins Haus“, erklärte Grace. Entschlossen packte sie Pascal am Handgelenk und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Er rührte sich nicht, woraufhin sie ihn böse anfunkelte. „Darüber diskutiere ich nicht. Deine Freundin hat gesagt, du bist reich. Also vergiss den Flieger, und komm jetzt!“

Als sie erneut zog, gab Pascal nach, duckte sich und folgte ihr durch den Hagelschauer. Wahrscheinlich hatte er etwas in ihrem Blick gesehen, was ihn überzeugt hatte. Was genau, wollte sie lieber nicht wissen.

Ihre Brust fühlte sich seltsam eng an, und in ihrer Kehle saß ein Kloß. Aber ihre Gefühle mussten warten. Der Regen hatte sie schon komplett durchnässt, und die ohnehin aufgeweichte Wiese würde sich innerhalb von Sekunden in glitschigen Morast verwandeln. Sie schlitterte mehr zum Zaun, als dass sie lief, und kletterte ungeschickt hinüber. Pascal packte sie an der Hüfte und half ihr auf die andere Seite. Dann folgte er ihr.

Grace rannte zum Wohnhaus und angelte im Laufen den Haustürschlüssel aus ihrer Hosentasche. Pascal war direkt hinter ihr. Zitternd versuchte sie, die Tür zu öffnen und fluchte laut, als ein besonders heftiger Hagelschauer auf sie niederging.

Endlich sprang die Tür auf, und sie stürzten beide hinein, schlossen den Regen, den Hagel und den Anblick der Blitze aus.

Pascal stand dicht neben ihr und sah aus, als hätte er in Klamotten gebadet. Die helle Jeans war dunkel vor Nässe, das beige T-Shirt fast schwarz. Von seinem Kinn tropfte das Wasser, genau wie aus seinen Haaren und von der Nase. Ihre Schuhe hatten braune Flecken auf den weißen Fliesen hinterlassen. Um sie herum bildete sich eine Wasserlache.

„Was für ein Unwetter“, schimpfte Grace und schüttelte sich, dass das Wasser in alle Richtungen flog. Ihre Haare klebten unangenehm an der Kopfhaut, ihr Zopf triefte. Eilig zog sie die matschigen Schuhe aus.

Auch Pascal streifte die klitschnassen Sneaker von seinen Füßen ab. Er wollte sicherlich wissen, was das gerade auf dem Feld gewesen war, doch für eine Erklärung war sie noch nicht bereit.

„Bleib hier in der Diele“, sagte sie zu ihm, bevor er sie auf ihr Verhalten ansprechen konnte. „Ich hole uns was zum Abtrocknen.“ Sie lief ins Bad und nahm sich zwei Handtücher, ging zurück zu Pascal und warf ihm eines zu. „Irgendwo habe ich Sachen von meinem Bruder. Die kannst du anziehen.“

„Danke.“ Pascal hatte das Handtuch geschickt aufgefangen und rubbelte sich die nassen Haare. Grace hätte ihm gerne weiter dabei zugeschaut. Es war einfach ein schöner Anblick und lenkte sie ab. Ihm Sachen von William zu geben, erschien ihr mit einem Mal überhaupt nicht mehr wie eine gute Idee. Aber jetzt hatte sie es Pascal angeboten … Mit klopfendem Herzen machte sie sich auf die Suche.

Okay, Grace, du kannst das. Einfach rein ins Zimmer, schnell irgendwelche Jeans und einen Pullover packen und wieder raus, überlegte sie. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete sie die alte Holztreppe hoch und stand Sekunden später vor der Zimmertür ihres Bruders.

Am Rande nahm sie wahr, wie der Regen auf das Dach trommelte. Blitze erhellten den Flur. Beim nächsten Donnerschlag drückte Grace die Klinke herunter und stürmte ins Zimmer. Hektisch riss sie eine Schublade auf – Bloß nicht hochgucken, mach schnell! – und erwischte die Unterwäsche. Auch gut. Sie schnappte sich Boxershorts, Socken, eine Schlafanzughose und einen dicken Kapuzenpulli. Mit den Sachen im Arm sprintete sie in den Flur zurück, knallte die Tür hinter sich zu und atmete an die Wand gelehnt tief durch.

Für einen Moment befürchtete sie, die Nerven zu verlieren. Sie war seit Jahren nicht in diesem Zimmer gewesen. Wieso hatte sie es ausgerechnet jetzt gewagt? Jetzt, wo ein Segelflugzeug auf ihrem Acker lag und der Pilot in ihrer Diele auf sie wartete. Tränen traten ihr in die Augen. Sie kämpfte gegen die Trauer an und hätte sicherlich verloren, wenn Pascal sie nicht in diesem Augenblick gerufen hätte.

„Grace? Alles in Ordnung bei dir?“

Schuldbewusst zuckte sie zusammen und fluchte leise. Aber wenigstens gelang es ihr, sich wieder zu beruhigen. Langsam ging sie die Treppe hinunter.

„Ich habe keine Ahnung, ob dir die Sachen passen.“ Ihre Stimme bebte verräterisch, was Pascal hoffentlich überhörte. Er stand an derselben Stelle wie zuvor und wirkte ziemlich durchgefroren. Um ihn herum hatte sich eine große Pfütze gebildet, und er zitterte.

„Möchtest du heiß duschen?“

Pascal schüttelte den Kopf. „Ich will eigentlich nur nach meinem Segelflieger sehen“, gab er zu. Grace verdrehte die Augen und warf die Kleider in seine Richtung.

„Vorher musst du dich ein bisschen aufwärmen“, befahl sie. „Vom Küchenfenster aus kann man die Rinderweide sehen. Da darfst du aber erst hin, wenn du nicht mehr tropfst wie ein leckgeschlagener Kahn.“

Sie ließ ihn allein in der Diele zurück und huschte ins Bad. Dort warteten wie immer ihre Kuschelsachen auf sie, eine flauschige dunkelblaue Hose und eine dicke Strickjacke mit Kapuze. Sie schlüpfte aus ihren nassen Kleidern, trocknete sich ab und zog sich schnell die gemütlichen Sachen über. Mit einem Handtuch wickelte sie sich einen Turban um die nassen Haare. Schon ging es ihr etwas besser, sie bekam sich wieder in den Griff. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr allerdings, dass das nicht für ihr Äußeres galt. Sie sah noch immer aus wie eine nasse Katze, nicht gerade vorzeigbar. Erst recht nicht, wo so ein sexy Kerl einsam in ihrer Hütte gestrandet war.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Pascal sah gerade auch nicht viel besser aus.

Grace atmete noch einmal tief durch. Dann lief sie ins Wohnzimmer, wo sie abrupt stehen blieb. Der Anblick von Pascal in der alten Kleidung ihres Bruders traf sie wie ein Schlag.

Natürlich hatte sie es erwartet. Sie hatte ihm die Sachen ja selbst gegeben. Aber trotzdem. Der Kapuzenpulli passte ihm gerade so, während die Schlafanzughose viel zu kurz war. Auch die Socken waren definitiv zu klein. Er hatte sie dennoch angezogen.

Ausgerechnet dieser Anblick gab ihr den Rest. Mit einem erstickten Laut schlug sie die Hände vors Gesicht, drehte sich um und floh in die Küche.

Himmel, Grace! Jetzt fang nicht an zu heulen, dachte sie verzweifelt.

Pascals Stimme holte sie erneut in die Realität zurück. „Wohnst du hier eigentlich allein?“ Er war ihr in die Küche gefolgt und stand jetzt direkt hinter ihr.

Hektisch wischte sie sich über die Augen und brachte mühsam ein „Ja“ heraus.

Um sich abzulenken, ging sie zum Fenster hinüber und sah hinaus. Regen, Regen und jede Menge Hagel. In der Ferne meinte sie den Flieger zu erkennen, dessen Tragflächen in den heftigen Böen auf und ab wippten. Wenigstens war er noch da.

Pascal trat neben sie und schaute ebenfalls hinaus. Er roch nach Schlamm und Abenteuer, männlich herb mit einem leichten Hauch von Aftershave.

„Unsere Konstruktion scheint zu halten“, bemerkte er und warf ihr von der Seite einen Blick zu. „Alles in Ordnung bei dir?“

Offenbar hatte er wirklich sensible Antennen. Möglichst lässig zuckte sie die Schultern. „Ich bin ein bisschen durchgefroren, sonst nichts. Kaffee?“

Ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich der Maschine zu und begann, Wasser einzufüllen. Die gewohnten Bewegungen beruhigten sie. Sie wusste aus Erfahrung, dass ihr der emotionale Ausrutscher schon bald peinlich sein würde. Aber in solchen Momenten war sie ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert. Das Beste war, sich abzulenken und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Meistens funktionierte das ganz gut, doch Pascal schien tatsächlich zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war.

Er hütete sich zwar, es anzusprechen, doch an seinem Blick merkte sie, dass er sich Sorgen um sie machte. Was sie ihm nicht einmal verübeln konnte.

Wie zerrissen sie allerdings wirklich war, ahnte er bestimmt nicht. Seit Jahren fühlte sie sich leer. Wie betäubt. Seit der Sache mit William. Anfangs hatte sie sich noch zusammengerissen, aber allmählich wurde ihr alles zu viel. Der Hof. Die Einsamkeit. Das schreckliche Gefühl, so viel verloren zu haben.

Und zu allem Überfluss stand jetzt auch noch ein Pilot in ihrer Küche und sah sie fragend an. In den Sachen ihres Bruders. Zu viel. Viel zu viel. Sie musste sich abwenden. Tapfer drängte sie die Tränen zurück und versuchte, sich zu beruhigen. Er war nur ein Mann. Nur ein gestrandeter Mann, der ihre Hilfe brauchte. Aber er war auch ein Pilot. Und das machte die Sache fast unerträglich für sie.

2. KAPITEL

„Ehrlich gesagt trinke ich keinen Kaffee“, gestand Pascal nach gut einer Minute, nachdem er ihr einfach nur beim Hantieren zugesehen hatte. Seine gelassene Art zu sprechen beruhigte sie seltsamerweise. Grace drehte sich zu ihm um, sah ihn fragend an.

Pascal zuckte mit den Schultern. Er lehnte lässig mit der Hüfte an der alten Küchenzeile und sah so charmant aus, dass ihr Magen sich zusammenzog. Sie wollte es nicht, aber er brachte sie durcheinander. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass sie bei seinem Anblick traurig wurde. Er faszinierte sie. Vor allem, wenn er so frech grinste wie jetzt.

„Die meisten reagieren so wie du und fühlen sich in ihrer Kaffeeehre regelrecht gekränkt“, sagte er schmunzelnd. „Du bist ernsthaft empört, dass ich deinen Kaffee verschmähe, oder?“

Grace fühlte sich ertappt und musste schließlich lachen. „Ja, ein bisschen“, gab sie zu. „Aber ich komme drüber hinweg. Tee?“

„Sehr gerne. Ich mag eigentlich alle Sorten außer Kamillentee. Der erinnert mich immer ans Kranksein.“

„Hm“, machte Grace und kramte in ihren Schränken herum. „Das stellt uns vor ein Problem. Ich trinke nämlich keinen Tee, außer Kamillentee, wenn ich krank bin.“ Sie zog eine ziemlich zerknautschte Schachtel hervor. Kamillentee. Mist. Auf Zehenspitzen reckte sie sich, tastete umher, ohne zu sehen, wonach sie griff.

Pascal trat schließlich hinter sie und langte über ihren Kopf hinweg nach einer Packung ganz hinten im Küchenschrank. „Na, lecker“, sagte er nach einem Blick auf das Etikett. „Vor fünf Jahren abgelaufener Bronchialtee. Ich verzichte und trinke Wasser.“

Grace drehte sich zu ihm um und stellte fest, dass er ihr näher war, als sie erwartet hatte. Ihre Hüften berührten sich fast. Als er aufsah und bemerkte, wie dicht er bei ihr stand, trat er automatisch einen Schritt zurück.

„Ich habe nur Leitungswasser oder … Milch!“, erklärte sie und räusperte sich erschrocken. Seit wann klang ihre Stimme wie ein Reibeisen? Jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen, Grace! „Ich könnte dir einen Kakao machen.“

„Du musst mich nicht bedienen, wirklich nicht. Ich bin ja schon dankbar, dass ich bei dir unterschlüpfen darf. Danke übrigens dafür.“

„Gern geschehen. Ich finde es eigentlich ganz angenehm, bei einem finsteren Gewitter einen großen starken Kerl an meiner Seite zu haben.“ Langsam taute Grace auf, selbst wenn sie ihn noch immer nicht allzu lange ansehen konnte. Warum hatte sie ihm auch die alten Klamotten ihres Bruders gegeben? Nicht drüber nachdenken … mach einfach den verdammten Kakao!

Während der Kaffee bereits vor sich hin blubberte, holte Grace einen Topf heraus und kippte Milch hinein. Wie alles in der Küche war der Topf ziemlich alt, aber sauber. Sie mochte ja im Moment mit ihrem Leben überfordert sein, doch sie achtete strikt auf Sauberkeit. Die Küchenablage glänzte, genau wie der Herd. Pascal beobachtete sie mit amüsierter Miene.

„Den Kakao findest du irgendwo im Schrank hinter dir“, sagte sie in die Stille hinein.

Pascal drehte sich um und kramte eine Weile herum. „Du hast hier ziemlich viele alte Lebensmittel. Diese Backmischung ist seit sieben Jahren abgelaufen.“ Er wedelte mit der Packung in der Luft herum und stellte sie auf die Anrichte, anstatt sie in den Schrank zurückzulegen.

Ein Stich ging Grace durchs Herz. Sie hatte ganz vergessen, wie es in den Schränken aussah. William war für den Einkauf zuständig gewesen. Er hatte gerne viele Vorräte im Haus gehabt. Sie selbst kaufte nur das Notwendigste.

Seitdem sie allein war, hatte sie es nie über sich gebracht, die Schränke durchzusehen und die alten Sachen wegzuschmeißen. Stattdessen hatte sie sie ignoriert und die frischen Waren einfach davorgestellt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die alten Lebensmittel waren ihr Geheimnis gewesen, gut versteckt im alten Küchenschrank. Dass Pascal sie jetzt gefunden hatte, war ihr ziemlich peinlich.

„Ich bin nicht so die Küchenfee“, murmelte Grace. Irgendeine Begründung musste sie ihm ja liefern, sonst hielt er sie noch für komplett verrückt. „Der Hof frisst meine ganze Energie. Ich habe einfach keine Zeit zum Kochen.“

Um genau zu sein, war sie sogar ziemlich ordentlich. Sie hatte es nur nie geschafft, Williams Sachen wegzuschmeißen. Seine Pullover lagen noch in den Schränken. Seine Bücher noch in der Kommode. Selbst die abgelaufenen Lebensmittel waren noch da.

„Und wovon ernährst du dich dann?“ Pascal hatte noch weitere abgelaufene Sachen gefunden und reihte sie sorgfältig auf der Anrichte auf. Alte Aufbackbrötchen, H-Milch und Brühwürfel kamen zum Vorschein. Grace sah ihm aus den Augenwinkeln zu und ließ ihn einfach machen, während er immer mehr skurrile Dinge zutage förderte. Nur den Kakao fand er nicht.

„Vielleicht ist der Kakao schon längst verrottet“, sagte Pascal nach einer Weile trocken und zwinkerte ihr zu. Dabei zeigten sich um seine Augen und seinen Mund viele kleine Fältchen, die ihr wirklich gut gefielen. Es war schön, mal wieder ein Lachen in der Küche zu hören.

Jetzt nicht schwermütig werden, dachte Grace und rührte entschlossen in der Milch. Hör auf, dich in deinem persönlichen Drama zu suhlen.

Da der Kakao verschwunden blieb, verwendeten sie die Milch für Vanillepudding. Der war wenigstens noch haltbar. Pascal stieg auf Wasser um, und Grace nahm sich Kaffee. Schweigend standen sie am Fenster, nippten an ihren Getränken und sahen den Blitzen zu, die über den Himmel flackerten. Wie es schien, hatte sich das Wetter in dieser Woche gegen die Provence verschworen.

„Das wird eine Schlammschlacht werden, wenn wir deinen Flieger aus dem Sumpf ziehen müssen“, überlegte Grace laut. „Gehört er dir eigentlich?“

„Ja. Ich habe ihn mir vor fünf Jahren gegönnt. Hab ihn meinem Verein abgekauft. Der wollte ihn loswerden. Da ich schon so viele schöne Stunden in seinem Cockpit verbracht hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, ihn für immer zu verlieren.“

„Ganz schön schwülstige Worte für einen Kerl“, spottete Grace. „Du redest ja über den Flieger, als wäre er deine Geliebte.“

„Wenigstens gibt er keine Widerworte, freut sich, wenn ich komme, und meckert nicht, wenn ich mich verspäte. Wir verstehen uns ganz prächtig, was in meiner letzten menschlichen Beziehung nicht gerade der Fall war.“

„Du bist also Pilot mit Haut und Haaren. Warum landest du dann in meinem Bergdorf?“

„Ich mache bei einem Wettbewerb mit. Fünfzehn Piloten versuchen, so schnell wie möglich eine bestimmte Distanz zu fliegen. Allerdings hat uns das Wetter bisher ziemlich im Stich gelassen. Von zehn Tagen konnten wir nur an dreien fliegen.“

„Und wie es scheint, wärt ihr heute besser am Boden geblieben.“

Pascal zuckte die Schultern. „Ich schätze mal, dass der ganze Wettkampf demnächst abgebrochen wird. Der Flugplatz ist eine ähnliche Schlammwüste wie deine Rinderweide.“

„Das klingt ja nach einem tollen Wettkampf. Hast du eigentlich Hunger?“ Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: „Natürlich hast du Hunger. Ich mache uns Spaghetti – und keine Sorge: Die sind garantiert nicht abgelaufen.“

Sie ließ unerwähnt, dass sie seit Jahren für niemanden mehr gekocht hatte. Sie vermisste es schrecklich. Die gemütlichen Abende mit Will, an denen sie gemeinsam neue Gerichte ausprobiert hatten. Die Momente der Ruhe und der Entspannung. Doch seitdem ihr Bruder nicht mehr da war, war sie schon froh, wenn sie überhaupt etwas in den Magen bekam.

Heute allerdings gönnte sie sich den Luxus, einen Abend freizumachen. Sie hatte Besuch, selbst wenn der sie mehr durcheinanderbrachte, als sie ertragen konnte.

Nach einer guten halben Stunde war das Gewitter vorübergezogen, sodass Pascal schnell nach seinem Flieger sehen konnte. Er war schlammbespritzt, aber unversehrt. Danach konnte Pascal entspannt seine Spaghetti essen.

Grace blieb recht rätselhaft für ihn, obwohl das Innere des Hauses ihn positiv überrascht hatte. Von außen sah der Hof so aus, als fiele er fast auseinander. Er wirkte düster und heruntergekommen. Innen jedoch war es ganz anders. Luftig, hell, im Landhausstil eingerichtet. Pascal hatte sofort gespürt, wie viel Herzblut und Liebe in der Einrichtung steckten, angefangen bei den Möbeln bis hin zur farblichen Gestaltung der Wände.

Statt der erwarteten dunklen Holzvertäfelung war das Wohnzimmer schneeweiß gestrichen, sodass die dunklen alten Dielen fast edel aussahen. Der wuchtige Wohnzimmerschrank war sicherlich eine Rarität und Jahrzehnte alt. Jemand hatte ihn aufwendig restauriert und die alten Verzierungen kunstvoll in Pastelltönen nachgezeichnet. Zwar sah man ihm sein Alter an, doch er wirkte trotzdem modern. Pascal war sich sicher, dass Grace dafür verantwortlich war. Wo sie sich häufig aufhielt, hatte sie es sich gemütlich gemacht und geschickt Farbakzente gesetzt.

Nur die Deko fehlte. Es gab keine Familienporträts oder sonstigen Erinnerungsstücke. Nicht einmal Bilder an den Wänden. Der Kamin war durch helle Backsteine interessant in Szene gesetzt, aber auch dort fand sich nichts Persönliches. Einzig die vielen Blumen deuteten auf Graces weibliche Seite hin. Sie liebte offenbar Lavendel, der in zierlichen Vasen überall im Raum stand.

Das war allerdings nicht das einzig Rätselhafte. Die Sache mit den abgelaufenen Lebensmitteln kam Pascal zum Beispiel äußerst seltsam vor. Der Wohnbereich war insgesamt sehr sauber. Da passten die unaufgeräumten Schränke nicht ins Bild. Oder steckte etwas anderes dahinter? Grace hatte irgendwie ertappt gewirkt. Als hätte er ein Geheimnis entdeckt, das besser verborgen geblieben wäre.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Das spürte Pascal ganz genau. Normalerweise wäre er jetzt auf Abstand gegangen. Das Letzte, was er zusätzlich zu seinen eigenen Problemen gebrauchen konnte, war eine hysterische Frau. Sein Leben hatte in den vergangenen Monaten einer Achterbahnfahrt geglichen. Kaum hatte er sich aus dem Tal heraufgekämpft, war wieder etwas geschehen, was ihn hinuntergezogen hatte.

Er konnte wahrhaftig keine hysterische Frau gebrauchen, aber etwas an Graces Verhalten hatte ihn aufhorchen lassen. Nun wollte er unbedingt herausfinden, warum sie sich so seltsam benahm. Mal wirkte sie fröhlich, nur um in der nächsten Sekunde blass zu werden, und sie starrte ihn an wie einen Geist. Offenbar wohnte sie ganz allein auf dem Hof, kümmerte sich um die Tiere und bewirtschaftete die Felder. Allein. Wo ihre Familie abgeblieben war oder warum sie keine Helfer hatte, ließ sie im Dunkeln. Pascal spürte, dass er da besser nicht nachhaken sollte, und schwenkte um auf andere Themen.

Er fand heraus, dass sie studiert hatte, aber wo und was, erfuhr er nicht. Erst als er im Bett lag, fiel ihm auf, dass sie das Thema geschickt umgangen hatte. Auch, warum sie nie fertig studiert hatte, ließ sie unerwähnt. Stattdessen hatte sie ihn mit Fragen abgelenkt.

Er hatte wie immer vom Segelfliegen erzählen wollen, doch das schien sie nervös zu machen. Sie bekam dann einen merkwürdigen Gesichtsausdruck – irgendwie leblos, als würde sie in Gedanken in eine andere Welt abdriften. Sie sah so gequält aus, dass er das Thema Fliegen fallenließ. Damit war sein Gesprächsthema Nummer eins tabu, was ihm noch nie passiert war. In seiner Not erzählte er von persönlichen Nebensächlichkeiten, die er normalerweise nicht erwähnte.

Zum Beispiel von seinem kleinen Garten, den er heiß und innig liebte, obwohl er keinen grünen Daumen hatte. Von seiner Familie, die in der Provence lebte und niemals auch nur im Traum daran denken würde, von dort wegzugehen. Von seiner Zeit in Lyon und Paris, von der Suche nach einer Heimat in einer größeren Stadt. Er erwähnte sogar den Moment, als ihm klar geworden war, dass er wohl wieder zurückziehen würde – etwas, wovon er nur selten so deutlich sprach.

Sein Scheitern, die Trauer und die Wut über sein Versagen ließ er unerwähnt.

Grace war eine gute Zuhörerin, die durch geschicktes Nachfragen die Themen weiterbrachte, die Erzählung aber nicht zu häufig unterbrach. Gleichzeitig hatte sie kurze persönliche Anmerkungen gemacht. Doch jetzt, wo er im Bett lag und dem Heulen des Windes zuhörte, stellte er fest, dass die Informationen über sie reichlich spärlich gewesen waren.

Er wusste eigentlich nur, dass sie das Landleben liebte, Schafe nicht mochte, vor Pferden Angst hatte und in England geboren war. Nicht gerade viele Informationen.

Trotzdem hatte er zu keiner Zeit den Eindruck gehabt, das Gespräch mühsam aufrechterhalten zu müssen. Die Unterhaltung war leicht gewesen, amüsant, nachdenklich, interessant. Es war schon lange her, dass er einen ganzen Abend von sich erzählt hatte, ohne zu erwähnen, was er arbeitete und wo genau er lebte – und mit wem.

Es hatte aber einige Hinweise gegeben, die die geheimnisvolle Grace entlarvten, ohne dass sie etwas gesagt hätte. Sie war ganz offensichtlich keine große Handwerkerin: Die Türen quietschten oder ließen sich kaum noch öffnen. Der alte Wasserboiler funktionierte nicht mehr richtig, weshalb seine heiße Dusche recht kurz ausgefallen war, und die vielfältigen Aufgaben, die die Instandhaltung eines alten Hauses mit sich brachte, schienen ihr über den Kopf zu wachsen.

Dazu passte auch, dass ihr Auto in der Reparatur war und der Trecker nicht mehr funktionierte.

Gegen zehn Uhr hatte sie ihn ins Gästezimmer gebracht, einen winzig kleinen Raum mit holzvertäfelten Schrägen, einem grauen Teppich und einem knarrenden Doppelbett. Der Schrank war ziemlich windschief, passte aber perfekt in eine Ecke. Bilder oder sonstige Dekoration gab es genau so wenig wie im Rest des Hauses. Das Zimmer war der absolute Kontrast zu dem hellen Wohnbereich in der unteren Etage. Pascal ging davon aus, dass Grace noch keine Zeit gehabt hatte, es zu verschönern. Wahrscheinlich war der gesamte Hof früher so eingerichtet gewesen. Ein weiterer Beweis, wie viel Arbeit Grace in die untere Etage gesteckt hatte.

Pascal seufzte und drehte sich auf dem knarrenden Bett herum. Der Bettbezug musste gut zwanzig Jahre alt sein. Er war vom vielen Waschen ganz ausgeblichen, das Muster kaum noch zu erkennen, aber er roch frisch und war angenehm weich auf der Haut. Immerhin hatte Grace ein passendes Ladekabel gefunden, sodass er sein Handy hatte aufladen können. Er blickte auf die Uhr auf dem Display.

Sechs Uhr früh. Endlich war die schlaflose Nacht vorbei.

Grace war schon seit einiger Zeit wach und arbeitete, wie er an den verschiedenen Geräuschen im Haus hören konnte. Er hatte erst mit ihr aufstehen und ihr helfen wollen, sich dann aber dagegen entschieden. Vielleicht wollte sie lieber ihre Ruhe haben. Da er sie so wenig wie möglich stören wollte, hatte er wach im Bett gelegen und sich gefragt, warum sein Herz so schnell schlug und sich ein seltsamer Druck in seinem Magen aufbaute.

Die innere Unruhe war nicht neu für ihn. Sie hatte ihn schon seit vielen Jahren fest im Griff, trieb ihn an und ließ ihn rast- und ruhelos erscheinen. Sein Drang nach Freiheit hatte ihn schon das ein oder andere Mal in ernste Schwierigkeiten gebracht, vor allem in seinem Privatleben. Deshalb liebte er das Segelfliegen. Dabei hatte er alles unter Kontrolle. Niemand schrieb ihm vor, was er zu sagen oder zu tun hatte.

Heute jedoch war das Flattern in seinem Magen anders als sonst. Es fühlte sich … fast gut an. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er sich auf den Tag freute. Etwas, das ihm seit Monaten nicht passiert war. In letzter Zeit hatte er kaum Lust auf die Arbeit gehabt, schließlich bedeutete sie meist, dass er sich von einer Vorstandssitzung zur nächsten quälte. Aber das war ein Geheimnis, das er niemals laut aussprach.

Heute stand ihm keine schwierige Konferenz bevor. Kein mühsamer Arbeitstag. Keine Hetze von Termin zu Termin. Heute konnte er es gar nicht erwarten, Grace wiederzusehen.

Kaum hatte er das gedacht, richtete er sich auf und schüttelte ungläubig den Kopf. Genau. Mit einer seltsamen, wenn auch zugegebenermaßen sehr gut aussehenden Landwirtin zu flirten, war exakt das, was er in seiner Situation tun sollte.

Seine Teilnahme am Wettkampf hatte ihm bereits Ärger eingebracht. Eigentlich hatte er für solche Veranstaltungen keine Zeit. Die Vorstandsvorsitzenden waren entsetzt gewesen, als er ihnen gesagt hatte, er würde für diese Zeit Urlaub nehmen. Da Segelfliegen jedoch sein Leben und seine Passion war, hatte er alle Ratschläge ignoriert und es einfach gemacht. Er hatte sich die Freiheit genommen.

Seufzend stand er auf und zog die Sachen an, die Grace ihm gegeben hatte. Seine eigenen Klamotten hatten sie am Abend noch in die Waschmaschine gestopft, doch Grace besaß keinen Trockner. Die Jeans war bestimmt noch feucht.

Er mühte sich gerade mit den viel zu kleinen Socken ab, da klingelte sein Handy. Mel war dran. Sie kündigte an, dass Bruno und sie gegen Mittag bei ihm sein würden.

„Du musst also nicht mehr lange ausharren“, sagte sie.

Er erwähnte nicht, dass er es keineswegs eilig hatte, hier wegzukommen. Mel hätte nur hartnäckig nachgefragt. Als seine Angestellte und beste Freundin kannte sie ihn zu gut. Sie war sein Rettungsanker gewesen, als nichts mehr ging. Sie hatte ihm klargemacht, dass er so nicht weiterleben konnte – und ihm ziemlich düster ausgemalt, wo er in ein paar Jahren wäre, wenn er weiter auf seinem selbstzerstörerischen Kurs bliebe. Von Herzinfarkt über Burnout bis hin zu Drogenabhängigkeit und vollständiger Isolation hatte sie ihm so ziemlich alles prophezeit.

Das hatte ihn tatsächlich dazu veranlasst, etwas zu verändern. Okay. Er war gerade erst dabei, sich neu zu erschaffen, aber er bemühte sich. Immer ein Schritt nach dem anderen, hatte er sich vorgenommen. Der nächste Schritt führte ihn geradewegs in Graces Küche.

Als er eintrat, saß sie am Küchentisch und trank Kaffee. Sie drehte sich zu ihm um – und lächelte.

In genau dieser Sekunde wurde Pascal absolut klar, dass er verloren war. Gestern Abend hatte er sie schon attraktiv gefunden und sich darüber gewundert, wie sein Körper auf sie reagierte. Heute Morgen, sobald er ihr Lächeln und die vom Schlaf zerzausten Haare sah, war es vollständig um ihn geschehen.

Sein Magen zog sich zusammen.

Seine Beine wurden weich.

Sein Puls stieg aufs Dreifache.

Sein Atem setzte aus, und er vergaß sogar zu blinzeln.

Stattdessen stand er vollkommen reglos im Türrahmen und sah Grace an, während ein Kribbeln nach dem nächsten über seine Haut jagte.

Grace bemerkte Pascals Blick, konnte ihn sich allerdings nicht erklären. Warum starrte er sie an, als wäre sie eine Erscheinung? Sie war kurz davor, ihn danach zu fragen, da rührte er sich endlich.

„Guten Morgen“, sagte er heiser und kam langsam auf sie zu. Sein Blick war noch immer intensiv, fast schon durchdringend. Inzwischen bemühte er sich aber, sie nicht allzu sehr anzustarren. Seine Augen huschten nervös über den Tisch. Dabei knetete er unsicher seine Hände.

„Guten Morgen. Entschuldige, falls ich dich geweckt habe“, erwiderte Grace. Sie zog die Zeitung auf dem Tisch zur Seite und deutete auf die Sitzbank. Die Bank war früher dunkelbraun gewesen, aber sie hatte sie mit viel Liebe in hellem Weiß gestrichen, sodass das Blumenmuster wieder gut zu sehen war. Damals. Als sie noch Zeit für so etwas gehabt hatte. „Mach es dir gemütlich. Ich habe endlich den Kakao gefunden, also falls du magst …“

Pascal nickte anstatt einer Antwort und nahm sich etwas Müsli. Grace fand es schön, ausnahmsweise nicht allein frühstücken zu müssen. Schön, aber ungewohnt, genau wie in der Nacht.

Sie hatte zunächst nicht schlafen können, immerhin lag Pascal ein paar Zimmer weiter in seinem Bett. Seine Anwesenheit machte sie ganz nervös. Schließlich war sie aber doch eingeschlafen. Das Wissen, nicht allein zu sein, hatte sie beruhigt. Die knarrenden Dielen hatte sie ausnahmsweise mal nicht unheimlich gefunden, das Knacken in der Wand war ihr egal gewesen. Im Notfall wäre ja jemand da gewesen, der den Marder hätte vertreiben können. Einbrecher verirrten sich zum Glück nicht hierher. Dazu lag der Hof zu abgeschieden.

„Dein Flieger steht noch sicher und tief im Matsch versunken an derselben Stelle“, informierte Grace ihn. Pascal war heute Morgen deutlich schweigsamer als gestern Abend. Irgendwie sah er mitgenommen und müde aus.

„Schön zu hören“, sagte er schließlich. „Wie schlimm steht es eigentlich um deinen Trecker? Ist er gar nicht mehr zu gebrauchen? Ich würde gerne versuchen, den Flieger damit aus dem Matsch zu ziehen.“

„Vergiss es. Da ist nichts mehr zu machen.“

„Und wie kommt eine Landwirtin ohne Trecker klar?“

„Indem sie dem Nachbarn schöne Augen macht und seinen nimmt.“

Ihre Blicke begegneten sich, verhakten sich ineinander, was ein Ziehen in Graces Magen auslöste. Sie schluckte hart.

Auch Pascal wirkte verunsichert und rettete sich in ein schiefes Lächeln. „Kann ich dir noch irgendwie helfen?“, fragte er in die Stille hinein.

Sie stand abrupt auf und nahm die beiden Müslischalen mit zur Spüle, wusch sie aus und stellte sie ordentlich zum Trocknen in ein Gestell. Dabei dachte sie nach. Konnte sie Pascal bitten, ihr zu helfen, ohne dass es seltsam war?

„Es gibt tatsächlich ein paar Dinge, die ich nicht alleine machen kann“, gab sie zu.

Wie sich herausstellte, waren es nicht nur ein paar Dinge, die Pascal erledigen konnte, sondern eine ganze Menge. Kaum hatte sich Grace die erste Aufgabe überlegt, fielen ihr tausend andere ein. Zum Glück konnte sie mit Pascal problemlos zusammenarbeiten. Er half mit solch einem Feuereifer, dass ihr schlechtes Gewissen fast verschwand.

Ehe sie sichs versahen, war es bereits Mittag, und Pascals Handy klingelte. Er lächelte, als er den Anruf entgegennahm.

„Hey, Mel. Wo seid ihr?“

„In der Nähe. Glaub ich zumindest. Wie hieß doch gleich die Straße?“

Grace half ihm, seine Leute in die richtige Richtung zu lotsen. Wenig später fuhr ein pechschwarzer Range Rover auf den Hof. Er war auf Hochglanz poliert und sah teuer aus. Der Segelfluganhänger wirkte hinter dem riesigen Auto fast klein.

Grace unterbrach ihre Arbeit und atmete tief durch. Das Auftauchen von Pascals Freunden versetzte ihr einen Stich. Es bedeutete, dass Pascal bald aus ihrem Leben verschwinden würde.

Dann wäre sie wieder allein auf dem Hof. Ein Umstand, der ihr mehr Angst machte, als er sollte. Eigentlich hätte sie doch froh sein müssen, den Piloten loszuwerden. Mit ihm würden die Erinnerungen verschwinden, ohne ihn würde allerdings die Einsamkeit zurückkehren. So viel wie heute war auf dem Hof schon lange nicht mehr los gewesen.

Eine recht kleine, kompakte Frau kletterte aus dem Wagen. Sie hatte braune Haare, zu einem kinnlangen Bob geschnitten, und vor Aufregung waren ihre Wangen ganz rosig. Ihre Kleidung sah zwar sportlich, aber schick aus. Eine Frau, die auf ihr Äußeres achtete.

„Salut“, rief sie Pascal schon von Weitem zu. „Dein Taxi ist da!“

Die beiden umarmten einander herzlich, während sich Grace etwas verschämt im Hintergrund hielt. Normalerweise war sie keineswegs schüchtern, aber in diesem Fall fühlte sie sich gehemmt. Am liebsten hätte sie Pascal noch länger für sich gehabt.

„Das Taxi hat sich ja mächtig Zeit gelassen“, antwortete Pascal lachend und klopfte einem Mann, der zu ihnen trat, kumpelhaft auf die Schulter. Im Gegensatz zu der Frau war er groß und gertenschlank, fast schon dürr. Er hatte eine gelassene, freundliche Ausstrahlung.

„Grace, das hier sind Mel und Bruno Delacour, meine beiden … äh … zwei gute Freunde von mir.“

Grace bemerkte zwar das Zögern in Pascals Erklärung und die irritierten Blicke der beiden, ging aber darüber hinweg. Stattdessen reichte sie Mel und Bruno die Hand und zwang sich zu lächeln.

„Sie haben also unserem Bruchpiloten aus der Patsche geholfen“, bemerkte Mel und grinste breit. Grace zuckte bei ihren Worten ein wenig zusammen. Der Kloß in ihrem Hals schien noch dicker zu werden. Obwohl sie sofort versuchte, sich zusammenzureißen, bemerkte Mel offenbar ihre Reaktion. Sie warf ihr einen fragenden Blick zu, den Grace geflissentlich überging.

„Willkommen“, sagte Grace steif und trat dann wieder in den Hintergrund, um Pascal alles Weitere zu überlassen. Sie hörte den dreien eine Weile dabei zu, wie sie sich freundschaftliche Wortgefechte lieferten. Es ging hauptsächlich um das Thema Fliegen.

Als Grace es irgendwann nicht mehr aushielt, nickte sie allen grüßend zu und wandte sich zum Gehen. Ihr Herz war seltsam schwer, und sie fühlte sich uralt. Früher hätte sie sicherlich mitgemischt, hätte mitdiskutiert und die drei mit ihrer Fliegerleidenschaft aufgezogen. Aber das war in einem ganz anderen Leben gewesen. Heute fühlte sie sich schon überfordert, wenn mehr als zwei Leute auf ihrem Hof auftauchten und sich nett über das Wetter unterhalten wollten. Einerseits freute sie sich unendlich über die Gesellschaft, andererseits wurde ihr schnell alles zu viel. Dann wünschte sie sich sehnlichst, wieder allein zu sein.

So wollte sie auch Mel und Bruno jetzt wieder loswerden. Obwohl die beiden wirklich nett wirkten, hatte sie keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten, sie kennenzulernen. Vielleicht lag es daran, dass sie gekommen waren, um Pascal abzuholen. Sie würde ihn tatsächlich vermissen. Ihn und die fröhlichen Gespräche, die sie geführt hatten. Endlich hatte sie sich wieder ganz normal mit einem Mann unterhalten können.

Seine freundliche und herzliche Art erinnerte sie an William. Das tat ihr zwar furchtbar weh, machte es aber auch irgendwie einfacher, mit ihm umzugehen. Sie fühlte sich wohl mit ihm, so seltsam das klang. Während sie in Richtung Haus lief, runzelte sie die Stirn, überlegte, was mit ihr los war. Sie brauchte einen Moment, um das Durcheinander in ihrem Inneren zu ordnen.

Seit Langem war Pascal der erste Mann, der nichts über ihre Vergangenheit wusste. Der sie nicht mit diesem speziellen Blick musterte und sich fragte, ob sie wohl gleich durchdrehen oder in Tränen ausbrechen würde. Nein. Pascal behandelte sie ganz normal. Das war es, was sie in letzter Zeit so schmerzlich vermisst hatte. Einfach wie eine Frau behandelt zu werden.

Mühsam unterdrückte Grace einen tiefen Seufzer. Jetzt nicht wieder in Selbstmitleid zerfließen, dachte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Als ihr Blick jedoch auf das Scheunentor fiel, sank ihr Mut. Sie hatte es zwar freundlich weiß gestrichen, aber leider sah es nur hübsch aus. Die Schienen rosteten, sodass es sich nur schwer auf und zu schieben ließ. Es ohne Hilfe zu reparieren, war unmöglich.

Sie musste es einfach einsehen: Sie war nicht wie andere Frauen. Sie hatte einen Hof, der ihr über den Kopf wuchs, und mehr Probleme, als sie schultern konnte. Pascal würde alles nur verkomplizieren.

Sie drehte sich um und beobachtete ihn, wie er mit seinen Freunden sprach. Er wirkte vollkommen deplatziert zwischen der alten Scheune auf der einen und dem halb verrosteten Traktor auf der anderen Seite. Schon bald würde er aus ihrem Leben verschwinden und in seine Welt zurückkehren. Wahrscheinlich war das auch besser so.

Er schien ihren Blick bemerkt zu haben, denn er drehte sich um, suchte nach ihr. Als er sah, dass sie ihn beobachtete, hob er kurz die Hand und lächelte. Sie versuchte, die Geste zu erwidern, doch dazu musste sie sich schrecklich anstrengen. Ihr Herz war schwer, und die Angst saß in ihrem Magen. Wenn er fortging, war sie wieder allein mit ihrem Hof. Sie wollte nicht mehr allein sein. Aber das konnte sie nicht ändern, ohne sich selbst und ihre Familie zu verraten. Der Hof war jetzt ihr Leben, ob sie es wollte oder nicht.

Mit dem Auftauchen seiner Angestellten war Grace von einer Sekunde auf die andere wie ausgewechselt gewesen. Das Strahlen in ihren Augen war verschwunden, ihr Lächeln kam ihm gezwungen vor, die Bewegungen abgehackt. Die Begrüßung wirkte oberflächlich und steif. Merkwürdig.

Pascal musste sich zwingen, nicht ständig an sie zu denken. Das Abrüsten seines Segelfliegers war schwierig genug. Seine ständig wandernden Gedanken halfen da nicht.

Sein Team und er schafften es nur mit Mühe, den Flieger näher an den Zaun zu ziehen. Pascal hielt das Ende eines Flügels, während Bruno im Cockpit hockte und die Anschlüsse löste. Mel stand neben ihrem Mann und sprach mit ihm, kam dann aber zu Pascal herüber. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wollte sie reden – über Grace.

Pascal seufzte. Seine beste Freundin hatte ein spezielles Radar für alles Zwischenmenschliche. Und sie nahm kein Blatt vor den Mund. Da er nicht entkommen konnte, nutzte sie die Chance, ihn auszuquetschen.

„Kann es sein, dass du deiner Retterin nicht sagen wolltest, dass wir deine Angestellten sind?“, fragte sie ihn und zog die Augenbrauen hoch.

„Kann sein.“

„Und warum nicht?“

Pascal zuckte hilflos mit den Schultern, was die Tragfläche in Schwingung versetzte. Bruno fluchte am anderen Ende.

„Guck dir ihren Hof an. Der zerfällt fast. Irgendwie kam es mir unpassend vor, ihr meinen Reichtum unter die Nase zu reiben. Sie kann sich kaum über Wasser halten. Ich hingegen habe zwei Angestellte, die mir bei meinem Hobby helfen. Irgendwie war mir das peinlich.“

Jetzt zog Mel die Augenbrauen noch höher. „Und warum bitte schön ist dir wichtig, was sie denkt?“

Ach Mel, dachte Pascal genervt. Wie immer hatte sie die Situation genau erfasst.

„Keine Ahnung. Ich mag sie.“

„Sie ist merkwürdig.“

„Ist sie nicht. Gestern Abend war sie total nett. Sie verhält sich erst so, seitdem ihr hier aufgetaucht seid.“

„Also eine Eigenbrötlerin, die sich nur auf eine einzige Person konzentrieren kann. Das ist genau das, was du jetzt nicht gebrauchen kannst, mein Lieber. Soviel ich weiß, hast du genau so eine schwierige Person zu Hause sitzen – und die macht dir seit geraumer Zeit das Leben zur Hölle.“

„Herrje, Mel! Ich habe Grace gestern kennengelernt. Sie hat mir aus der Patsche geholfen, und vermutlich werde ich sie niemals wiedersehen, sobald wir hier weg sind. Außerdem warst du es doch, die ihr gesagt hat, ich sei Single.“

„Da hatte ich sie noch nicht gesehen. Hast du bemerkt, wie traurig sie wirkt? Wie müde ihre Körperhaltung ist? Wie düster der Hof? Hier kann man ja nur depressiv werden.“

„Hör auf, alles zu dramatisieren. Du musst dir mal das Innere des Hauses anschauen. Das ist ganz anders als hier draußen: freundlich, hell und gemütlich.“

Mel blieb einen Moment stumm, straffte sich dann und sah ihn scharf an. „Ich habe deinen Blick bemerkt.“

„Welchen Blick?“

„Den ‚Du-brauchst-Hilfe-Blick‘. Ich kenne den. Der bringt dich immer in Schwierigkeiten.“

Pascal erwiderte nichts und wandte sich stattdessen an Bruno. „Du brauchst doch bestimmt Hilfe mit den Anschlüssen, oder? Soll Mel rübergehen?“

Bruno, der seine Frau sehr gut kannte, steckte den Kopf aus dem Cockpit des Segelfliegers und musterte die beiden. „Mel, hör auf!“, rief er. „Sonst sind wir schneller arbeitslos, als du das Wort buchstabieren kannst.“

Mel verdrehte die Augen. „Die Frau bedeutet Ärger“, sagte sie düster zu Pascal. „Lass die Finger von ihr.“

3. KAPITEL

Grace war überrascht, wie schnell und effektiv die drei den Flieger auseinandergenommen und in den Segelfluganhänger gepackt hatten. Sie schienen ein gutes Team zu sein.

Sie ging automatisch davon aus, dass Mel und die Männer noch zum Essen bleiben würden, doch auf einmal änderte sich die Stimmung. Mel drängte zum Aufbruch, als wollte sie Pascal so schnell wie möglich vom Hof fortbringen. Die beiden Männer sträubten sich erst, aber die nächste Regenfront zog bereits heran.

„Ich fürchte, wir müssen jetzt los“, sagte Pascal entschuldigend zu Grace. Er sah ziemlich zerknirscht aus und warf seinen beiden Freunden genervte Blicke zu. Sie saßen bereits im Auto und warteten bei laufendem Motor.

Grace atmete tief ein und aus. Es war albern, dass dieser Abschied sie so traurig stimmte. Sie kannten sich ja so gut wie gar nicht. Trotzdem fühlte sie sich, als müsste sie einem guten Freund Lebewohl sagen. War ihre Einsamkeit so schlimm, dass sie sich über jede Art von Gesellschaft freute?

„Deine Freunde können es wohl kaum erwarten, wieder in die Zivilisation zurückzukommen“, merkte sie an und war selbst erschrocken darüber, wie bitter sie klang.

Pascal schien von der plötzlichen Wendung des Gesprächs genauso überrascht, versuchte es aber mit einem lässigen Schulterzucken abzutun. „Die beiden wollen endlich nach Hause. Was ist mit dir? Kommst du klar?“

Grace runzelte irritiert die Stirn. „Natürlich komme ich klar“, sagte sie mechanisch. Gleichzeitig fragte sie sich, ob es so offensichtlich war, dass sie längst die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte. Pascal hatte es offenbar innerhalb eines Tages erkannt, was sie erschreckte.

Pascal schien seine Frage mit einem Mal peinlich zu sein, denn er trat unruhig von einem Bein aufs andere, griff dann aber beherzt in seine Hosentasche und zog eine Visitenkarte heraus. „Du kannst mich jederzeit anrufen“, sagte er und drückte ihr die Karte in die Hand. „Wegen des Schadens auf dem Acker wird sich mein Anwalt bei dir melden.“

„Welcher Schaden denn?“

„Die Wiese ist zerfurcht.“

„Glaub mir, meine Rinder zerstören mit den Hufen an einem Tag mehr als dein kleiner Segelflieger durch tausend Landungen. Du schuldest mir nichts.“

„Das sehe ich anders.“ Pascal schien ihren finsteren Gesichtsausdruck richtig zu deuten, denn er legte den Kopf schief und lächelte gewinnend. „Lass mich dir finanziell ein wenig helfen.“

„Ich will dein Geld nicht.“ Die plötzliche Wut in ihrem Inneren überraschte sie selbst. Sah sie etwa so arm aus? So erbärmlich? Grace hasste es, wenn jemand sie für hilflos hielt. Das war sie nicht, zumindest wollte sie es nicht sein. Früher war sie stark und unabhängig gewesen. Dass sie es jetzt nicht mehr war, tat ihr in der Seele weh.

Wütend drückte sie ihm seine Visitenkarte in die Hand und wandte sich zum Gehen, doch Pascal reagierte ziemlich schnell. Er verstellte ihr den Weg, hob entschuldigend die Hände.

„Okay, das kam jetzt vielleicht etwas seltsam rüber. Ich wollte mich nur bedanken. Wenn du das Geld nicht willst, ist das in Ordnung, aber nimm doch zumindest meine Karte. Falls du mich mal anrufen willst.“ Er sah sie fragend an und hielt ihr das zerknautschte Papier hin.

Sie zögerte. Wenn sie die Karte nahm, ermöglichte sie den Kontakt zu Pascal. Wollte sie das? Sollte sie nicht einfach einen Schlussstrich ziehen? Einen Piloten konnte sie weder als Freund noch als Bekannten gebrauchen. Mit dieser Welt wollte sie nichts zu tun haben. Die Vorstellung, Pascal niemals wiederzusehen, schmerzte jedoch, vor allem wenn er sie so eindringlich ansah.

Ihr Magen zog sich zusammen, sie spürte ein seltsames Kribbeln im Nacken. Dieser Mann machte etwas mit ihr, etwas, das sich einerseits schön anfühlte, sie andererseits erschreckte. Ihre Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Sie hob die Hand, sodass Pascal das Papier hineinlegen konnte.

„Ruf an“, bekräftigte er noch einmal und nickte ihr zu. Im ersten Moment dachte sie, er würde ohne eine weitere Abschiedsgeste zum Auto gehen, und war ein wenig enttäuscht darüber. Doch Pascal tat nur zwei Schritte, drehte sich dann zu ihr um und kam zurück. Er zog sie rasch und entschlossen an sich, hielt sie einen Moment länger als nötig.

„Danke“, raunte er leise in ihr Ohr. „Und melde dich bei mir. Schmeiß die Karte nicht einfach weg.“ Sein Duft umhüllte sie für einen Moment. Sie roch frische Seife und einen leichten Hauch von Gras. Darunter lag seine eigene Note. Männlich und anziehend, verwirrend und faszinierend zugleich. Sie atmete tief ein und versuchte, sich den Geruch einzuprägen. Viel zu schnell löste sich Pascal von ihr, berührte sie ein letztes Mal an der Schulter und verschwand dann so plötzlich, wie er in ihrem Leben aufgetaucht war.

Grace sah dem Auto noch einen Moment wie betäubt hinterher und wollte sich dann ihrer Arbeit zuwenden. Die Visitenkarte hielt sie noch immer fest in der Hand. Sie warf einen Blick darauf.

Pascal Dubois. Flugsicherheitsunternehmen Dubois.

Weiter konnte sie nicht lesen, denn ihre Sicht verschwamm, ihre Muskeln versteiften sich, ihr Puls raste. Er war nicht nur Hobbypilot. Er arbeitete in der Flugzeugindustrie. Die Luftfahrt war sein Leben.

Sie ballte die Hand zur Faust und zerknüllte die Visitenkarte, zerdrückte sie bis zur Unkenntlichkeit. Mit steifen Bewegungen ging sie zum Misthaufen und warf den Fetzen darauf. Schon bald war er vom Regen durchnässt und nichts weiter als ein unleserliches Stück Papier.

Bewegungsunfähig blieb Grace im Regen stehen und sah zu, wie die einzige Verbindung zu Pascal sich allmählich auflöste. Sie hatte gehofft, dass es ihr mit jedem Tropfen besser gehen würde, weil der Pilot aus ihrem Leben verschwand. Stattdessen wurde sie immer trauriger. Pascal hatte etwas in ihrem Inneren berührt, er hatte sie mehr erschüttert, als er es hätte tun dürfen.

Pascal war Mel nicht böse. Zwar fand er, dass sie sich Grace gegenüber unmöglich benommen hatte, doch er wusste genau, warum sie das getan hatte. Seitdem in seinem Privatleben so ziemlich alles schiefgegangen war, versuchte sie, ihn zu beschützen. Eigentlich war er der Meinung, dass er ganz gut auf sich selbst aufpassen konnte, aber Mel wollte das nicht hören. Da er keine Lust auf ein weiteres Wortgefecht mit ihr hatte, ließ er die Sache fürs Erste auf sich beruhen.

Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf die sagenhafte Landschaft. Montbrun-les-Bains lag am Hang des Mont Ventoux – der Berg war der Blickfang in der Gegend, beliebt bei Mountainbikern und Wanderern. Pascal hatte ihn das ein oder andere Mal mit dem Segelflieger umrundet. Das Bergdorf schmiegte sich an den Hang und schien mit dem Berg zu verschmelzen.

Wenn sich Pascal richtig erinnerte, galt der Ort als eines der schönsten Dörfer Frankreichs und war dank seiner vielen Quellen ein bekannter Kurort. Er hätte das Dorf gerne mal besichtigt, musste sich jetzt aber damit zufriedengeben, es aus der Ferne zu bewundern. Besonders auffällig waren die Ruinen der riesigen Burg ganz oben auf dem Hügel. Sie ließen das Bergdorf mystisch und geheimnisvoll erscheinen, wie geradewegs dem Mittelalter entsprungen. Ein Turm etwas weiter unten am Hang verstärkte diesen Effekt. Wenn er genau hinsah, meinte er auch die gusseiserne Laterne an der Spitze erkennen zu können.

Mit der nächsten Kurve verschwand das Dorf aus seinem Blickfeld. Die Äcker und Weiden blieben hinter ihnen zurück. Stattdessen sah er nun ein lilafarbenes Lavendelfeld am anderen. Er liebte diesen Anblick, verband er ihn doch mit seiner Heimat. Allerdings wirkten die Felder in dieser Saison etwas trauriger als sonst, schließlich regnete es weiterhin, was einen seltsamen Kontrast zu der ausgedörrten Landschaft bildete.

Regen im August war mehr als ungewöhnlich, doch in diesem Jahr schien sich das Wetter sowohl gegen die Urlauber als auch gegen die Teilnehmer des Segelflugwettbewerbs verschworen zu haben. Immerhin blühte der Lavendel. Wenigstens das.

Als sie auf dem Flugplatz von Carpentras ankamen, regnete es so heftig, dass sie nicht einmal trockenen Fußes in das kleine Fliegercafé gelangten. Dort warteten bereits die anderen Teilnehmer des Wettbewerbes. Alle starrten trübe nach draußen. Die Segelflieger wünschten sich nichts sehnlicher, als bei gutem Wetter über den Wolken zu schweben. Das würde aber heute definitiv nicht mehr möglich sein.

Auch an den kommenden Tagen blieb es stürmisch und grau. Ein Gewitter nach dem nächsten entlud sich, sodass die Organisatoren langsam nervös wurden. Der Wettkampf drohte wortwörtlich ins Wasser zu fallen.

Schon am dritten Tag hielt Pascal es nicht mehr aus. Seine Unruhe war zurück, stärker und heftiger als zuvor. Diesmal wusste er jedoch genau, woher sie kam.

„Bruno, pack deinen Werkzeugkoffer ein. Mel, hol bitte meinen aus dem Hangar. Die nächsten zwei Tage ist Dauerregen angesagt, da passiert hier eh nichts. Wir haben Besseres zu tun.“

Bruno fragte nicht nach, sondern holte das Gewünschte. Mel hingegen legte den Kopf schief und sah Pascal scharf an. „Was hast du vor?“

„Sag ich dir, wenn wir da sind. Los jetzt.“

Da Pascal immer noch ihr Arbeitgeber war, fragte sie ausnahmsweise nicht weiter nach. Minuten später saßen sie im Auto und fuhren los. Bei der zweiten Abzweigung ahnte Mel, wohin sie unterwegs waren.

„Wir fahren zu diesem Bauernhof“, sagte sie und seufzte.

„Genau. Und du wirst dich benehmen und mir kein schlechtes Gewissen einreden. Wir haben nichts zu tun, Grace braucht Hilfe, und wir können die Zeit genauso gut sinnvoll nutzen.“

„Sie wird nicht begeistert sein. So steif, wie sie dich verabschiedet hat, war sie froh, dich loszuwerden“, prophezeite Mel düster.

Leider behielt sie recht. Als Pascal den Wagen auf den Hof lenkte, kam Grace mit gerunzelter Stirn aus dem Stall. Ihre Haltung war definitiv ablehnend.

„Ihr bleibt hier“, sagte Pascal zu den anderen und warf Mel einen finsteren Blick zu. „Und ich will jetzt nichts hören, klar?“

Mel hob hastig die Hände. „Ich habe nichts gesagt. Wirklich nicht.“

Pascal stieg aus dem Auto und lief durch den Regen zur Stalltür. Grace regte sich nicht.

„Hey“, sagte er und versuchte es mit einem Lächeln, das sie jedoch nicht erwiderte. Stattdessen musterte sie ihn aus ihren blauen Augen. Das Funkeln, das er an ihrem gemeinsamen Abend gesehen hatte, war nicht mehr da. Stattdessen wirkte ihr Blick traurig und erschöpft.

„Habt ihr was vergessen?“, fragte Grace anstatt einer Begrüßung.

Pascals Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte schon mit vielen Finanzhaien verhandelt und sich so manche hitzige Bieterschlacht geliefert, und nun wurde er ausgerechnet bei einem Gespräch mit Grace Bennett nervös. Er hatte schlicht Angst vor ihrer Reaktion.

„Wir haben nichts vergessen“, erklärte er nach einer Pause. „Wir wollen dir nur unsere Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Die nächsten zwei Tage werden wir definitiv nicht fliegen können – und da dachten wir, wir greifen dir unter die Arme.“

Grace wurde aschfahl und sah aus, als hätte er sie geschlagen. Für einen langen Atemzug sagte sie kein Wort, dann drehte sie sich abrupt um und ging in den Stall zurück. „Ich brauche keine Hilfe“, teilte sie ihm mit. In der nächsten Sekunde schnappte sie sich die Mistgabel und schaufelte mit abgehackten Bewegungen altes Stroh auf eine Schubkarre.

Pascal sah ihr eine Weile schweigend zu und lauschte dem Regen, der auf das Dach trommelte. An vielen Stellen tropfte das Wasser auf den Boden.

„Grace“, sagte er sanft. Als sie nicht reagierte, versuchte er es erneut, diesmal lauter. „Grace!“

Endlich sah sie auf und blickte ihn an. Wie er bereits befürchtet hatte, schimmerten Tränen in ihren Augen.

„Ich will mich nicht aufdrängen, ganz bestimmt nicht. Aber wenn du es zulässt, hängen Bruno und ich das Scheunentor wieder in die Schiene. Mel könnte sich den Traktor angucken. Auch wenn sie vielleicht nicht so aussieht, sie ist eine hervorragende Mechanikerin.“

In Grace schien etwas zu zerbrechen. Zunächst wirkte sie verunsichert und völlig überrumpelt, doch schließlich nickte sie. Nur ganz leicht, aber das genügte Pascal. Er lächelte ihr aufmunternd zu.

„Das wird schon wieder“, sagte er.

Grace wandte sich hastig ab, weil sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Vergeblich, denn Pascal hatte sie längst bemerkt.

Es war unglaublich. Seit etwa vier Stunden glich ihr Hof einer Werkstatt. Bruno und Pascal hatten das Tor so schnell repariert, dass Grace es kaum fassen konnte. Jetzt ließ es sich wieder problemlos schließen.

Mel gab sich recht schweigsam, hatte ihr nur kurz zugenickt und sich dann dem Traktor zugewandt. Er stand hinter dem Stall, und Mel war seit einiger Zeit dort verschwunden. Das konnte Grace nur recht sein. Sie fand die ganze Sache mehr als unangenehm, vor allem, weil Pascal ihre Tränen gesehen hatte.

Er musste sie entweder für hysterisch oder für völlig hilflos halten. Wie peinlich. Oder hatte er nur ihre große Not gesehen? Ihr einfach helfen wollen, ganz ohne Hintergedanken? Möglicherweise hatte auch er die seltsamen Schwingungen zwischen ihnen bemerkt. Wann immer sie sich über den Weg liefen, flimmerte die Luft. Grace bemühte sich zwar, locker zu wirken, verkrampfte sich dadurch aber umso mehr. Und dann diese Blicke. Sobald sie in seine Augen sah, kribbelte es tief in ihr drin. Ein seltsames Gefühl, das sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatte.

Deine letzte Beziehung ist ja auch schon eine ganze Weile her, dachte sie bitter.

Als sie während einer Regenpause die Zeit nutzte, um sich endlich um die Viehtränke zu kümmern, kam Pascal zu ihr. Ihm schien die schwere Arbeit zu gefallen, er glühte geradezu vor Energie. Obwohl es mittlerweile recht kühl geworden war, hatte er sein Hemd bis zu den Oberarmen aufgekrempelt.

„Bruno hat sich auf den Weg gemacht, um Material für das Dach zu holen. Mel sagt, der Traktor läuft immer noch nicht rund. Sie ist mit ihm losgefahren, um Ersatzteile zu besorgen“, sprudelte er hervor. „Und wie sieht es bei dir aus?“

„Ich … ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll.“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ein Danke genügt. Es ist ja auch nicht so, als wäre uns die Arbeit auf dem Hof völlig fremd. Ich habe selber einen Hof.“

Die Nachricht brachte Grace noch mehr aus dem Takt. Sie ließ die Stahlwolle sinken, mit der sie die Tränke gescheuert hatte. „Ehrlich?“, fragte sie irritiert.

Das Thema schien Pascal mit einem Mal unangenehm zu sein. „Wir haben Pferde und ein paar Esel und Schafe. Dazu Grünland und … äh … einige Hektar, die wir anderweitig nutzen.“

„Einige Hektar? Und wer ist ‚wir‘?“, bohrte Grace nach.

„Wir – das ist meine Familie. Ich selbst reite überhaupt nicht. Ich gucke mir nur gerne die Fohlen an, wenn sie herumtollen. Die Esel finde ich hauptsächlich lustig, und die Schafe sind mehr ein Hobby.“ Er zuckte die Achseln. „Allerdings kenne ich mich mit Weideflächen aus – ich will dir nicht zu nahe treten, aber deine sehen wirklich grauenhaft aus.“

Im ersten Moment war Grace eingeschnappt, doch dann fiel ihr Blick auf die wild wuchernde Heuwiese neben der Rinderweide, und sie musste ihm recht geben. Ohne eigenen Traktor war es einfach unmöglich, sich um die Wiesen zu kümmern. Sie sah Pascal in einem ganz neuen Licht.

„Wenn du mir jetzt auch noch erzählst, dass du dich morgen dieser Wiese annehmen willst, falle ich aus allen Wolken.“

„Ich werde mich morgen dieser Wiese annehmen. Mel fragt nach deinen Autoschlüsseln. Sobald der Traktor wieder läuft, will sie sich dein Auto vornehmen.“

Konnte das tatsächlich wahr sein? Seit Jahren wusste sie nicht, wie sie all die Arbeiten erledigen sollte – und dann kam ein Pilot daher und brachte die praktischsten Helfer mit, die sie je kennengelernt hatte.

„Mel ist wirklich Mechanikerin?“

„Eigentlich ist sie Flugzeugmechanikerin, aber sie hat in einer Autowerkstatt gelernt.“

Da war es wieder. Das Thema Fliegen. Sie schien ihm nicht zu entkommen, wenn sie mit Pascal sprach. Es gehörte zu ihm, war ein fester Teil seines Lebens. Sie straffte sich. Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten: das Gespräch abzubrechen oder sich darauf einzulassen. Sie entschied sich für Letzteres, denn sie wollte Pascal kennenlernen.

„Du hast also dein Hobby zum Beruf gemacht? Auf deiner Visitenkarte steht, dass du bei einem Luftfahrtunternehmen arbeitest.“

Pascal antwortete nicht sofort, musterte sie stattdessen neugierig. Offenbar überlegte er, wie viel er ihr sagen sollte. Er kam näher und blieb dicht neben ihr stehen, sodass sie seinen herben Duft wahrnahm.

„Ich entwickle Flugwarnsysteme für die Luftfahrt. Kommen sich zwei Flieger zu nahe, wird ein Alarm ausgelöst. Die bisherigen Systeme sind für Hobbyflieger ziemlich teuer und von Land zu Land unterschiedlich. Sie sind nicht kompatibel. Unser System setzt sich jetzt allmählich durch.“

Grace schluckte schwer. Noch so ein Thema. Wieso hatte sie auch nachgefragt? „Das heißt, Fliegen ist dein Leben“, stellte sie trocken fest.

„Ja, das war es schon, seitdem ich als Jugendlicher den Segelflugschein gemacht habe. Allerdings hat es so seine Tücken. Es lässt sich zum Beispiel nicht gut mit einer Familie vereinbaren. Dafür ist es einfach zu zeitaufwendig. An dem Problem arbeite ich noch.“

„Wie meinst du das?“

„Na ja … ich versuche, mich ein wenig von der Fliegerei zu lösen. Mich auch mal auf etwas anderes zu konzentrieren. Aufs Handwerkern zum Beispiel.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Hof und grinste. Dadurch wirkte er sofort um Jahre jünger. „Du bist, ehrlich gesagt, seit Langem meine erste Bekanntschaft, die nichts mit Fliegen zu tun hat, und das tut mir unsagbar gut. Auf der anderen Seite wären wir zwei uns ohne das Fliegen nicht begegnet.“

Zum ersten Mal, seit er so unverhofft bei ihr aufgetaucht war, um ihr seine Hilfe anzubieten, erwiderte sie sein Lächeln. Diesmal erreichte es auch ihre Augen, sie spürte es genau. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie fragte sich, ob es ihm wohl auffiel. Er brachte sie aus dem Tritt, das war nicht zu leugnen. Aber es war ein angenehmes Gefühl. Ganz anders als das Chaos, das sonst in ihr herrschte.

„Was für dich das Fliegen, ist für mich der Hof. Er ist meine Lebensaufgabe, der ich nicht entkommen kann“, erklärte sie ihm.

„Macht dir denn die Arbeit keinen Spaß?“

Sie zögerte eine Spur zu lange und beschloss deshalb, ihm die Wahrheit zu gestehen. „Nein, eher nicht. Als ich sagte, dass mich die Arbeit geradezu auffrisst, war das ernst gemeint. Ich habe den Eindruck, sie verschlingt mich, bis nichts mehr von mir übrig ist.“

„Das kommt bestimmt daher, dass dir alles über den Kopf gewachsen ist. Sobald wir hier fertig sind, siehst du wieder Land“, sagte er zuversichtlich und hielt die Hand auf. „Hast du noch mehr Stahlwolle? Geteiltes Leid ist halbes Leid.“

Normalerweise hätte sie sicherlich mit ihm diskutiert und ihm versichert, dass sie es auch allein schaffte. Aber sie schaffte es nicht mehr allein. Also gab sie ihm eine zweite Rolle Stahlwolle und ging wieder an die Arbeit.

Zu ihrer Überraschung machte ihr das Schrubben mit einem Mal Spaß. Früher hatte sie die Arbeit auf dem Hof geliebt. Damals, als sie nicht Teil ihres Überlebenskampfes gewesen war. Sie hatte freiwillig geholfen, sich liebevoll um die Tiere gekümmert und die Weiden gepflegt. Doch seitdem ihr Leben aus dem Ruder gelaufen war, hatte sie die Freude an der Hofarbeit verloren. Sie hasste sie regelrecht und verfluchte jeden Morgen ihr Schicksal.

„Wie ist das mit dir?“, fragte sie nach einer Weile. „Liebst du deine Arbeit?“ Sie wusste, dass es eine gewagte Frage war. Die Antwort hatte garantiert etwas mit Fliegen zu tun.

„Ich lebe für meine Arbeit“, antwortete Pascal wie aus der Pistole geschossen. „Sie macht mich aus, deshalb …“ Er unterbrach sich, ließ die Stahlwolle sinken, legte den Kopf schief und sah Grace an. „Um ehrlich zu sein, mache ich mir seit Jahren etwas vor. In der Anfangszeit, als ich noch in der Werkstatt stand und tüfteln durfte, war ich mit Feuereifer dabei. Aber seitdem ich erfolgreich bin, wird es immer schwieriger. Statt in der Werkstatt zu arbeiten, reise ich von Sitzung zu Sitzung.“

„Das klingt so traurig.“

„Das ist auch etwas, was kein erfolgreicher Manager gerne zugibt. Vor ein paar Monaten wurde mir alles zu viel. Die Arbeit, die Familie, all die Verpflichtungen …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Notbremse gezogen und bin abgetaucht. So richtig entspannen konnte ich mich aber nicht. Bis jetzt.“ Er grinste breit. „Mit dir den Wassertrog zu scheuern ist beruhigender als jeder Wellnessurlaub.“

Sie lachte und warf einen Schwamm nach ihm. Er fing ihn geschickt auf und zwinkerte ihr zu, woraufhin ihr Herz schneller pochte.

Für einen Moment ließ sie die Glücksgefühle zu, die Pascal in ihr auslöste. Ein besorgter Teil in ihr fragte sich, was es für sie bedeuten würde, wenn er wieder verschwand. Der Fall würde tief werden. Sehr tief.

Er hatte Grace die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit über seine Arbeit. So deutlich hatte er noch nie darüber gesprochen. Derartige Probleme wurden in seinen Kreisen totgeschwiegen.

Ja, er hatte den Bezug zu seiner Arbeit verloren. Seit Jahren schleppte er sich zu den Terminen und hasste es. Hasste es aus tiefstem Herzen. Den Schlips, die Anzüge, den Small Talk und erst recht die harten Verhandlungen. Davor und danach war der Druck in seiner Brust immer am heftigsten, was ihm deutlich zeigte, dass er etwas ändern musste.

Aber was? Sein Unternehmen konnte er nicht einfach so aufgeben. Er brachte es auch nicht über sich, es zu verkaufen. Sein Leben zu verkaufen.

Nachdem er Grace gegenüber zugegeben hatte, was er wirklich fühlte, ging es ihm besser. Der Nebel in seinem Kopf hatte sich etwas gelichtet. Ihm war endgültig klar geworden, dass er etwas ändern musste. Nur ein klein wenig. Vielleicht würde er einen Geschäftsführer einstellen, der seine ungeliebten Aufgaben übernehmen konnte. Mel drängte ihn schon die ganze Zeit dazu, aber Aurelie hatte ihm ins Gewissen geredet. Aurelie. Die Frau, über die er am liebsten gar nicht nachdenken wollte. Sie befürchtete, dass er die Kontrolle über sein Unternehmen abgab. Trotz all ihrer Probleme miteinander hörte er noch immer auf sie.

Mittlerweile hatte er allerdings nichts mehr gegen ein bisschen Kontrollverlust. Sich fallen zu lassen, auf sein Herz zu hören – das war eine gute Entscheidung gewesen. Sie hatte ihn immerhin hierhergebracht. Zu Grace.

Am Abend grillten sie alle zusammen. Zwar regnete es weiterhin heftig, aber sie konnten den Grill halbwegs trocken unterstellen. Dank einer uralten Markise saßen sie beim Essen einigermaßen geschützt. Mel taute endlich auf und trieb ihre Späße, bis sie und Bruno schließlich ins Bett gingen. Grace hatte ihnen das Gästezimmer zugewiesen. Pascal musste mit der Couch im Wohnzimmer vorliebnehmen. Mel und Bruno war das etwas unangenehm, immerhin war er der Boss. Sie diskutierten zum Glück nicht allzu lange darüber und freuten sich schließlich über das Doppelbett.

Pascal war ebenfalls zufrieden. Er mochte das Wohnzimmer mit den verzierten Möbeln und den Lavendelsträußen. Hier spürte er Grace in jeder Ecke. Die nostalgische Couch erwies sich als überraschend gemütlich. Er war sicher, dass sie früher einmal mit dunklem Leder bezogen gewesen war. Grace hatte es durch einen schönen cremefarbenen Stoff ersetzt.

Grace weckte ihn am frühen Morgen, als sie sich ihren Kaffee machte. Er gesellte sich zu ihr und half ihr bei der ersten Hofarbeit des Tages. Als sie ihn fragte, ob er mit ihr in die Stadt fahren wolle, freute er sich.

„Mel und Bruno möchten hierbleiben und das Dach weiter reparieren“, sagte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Pascal musterte sie. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen, seitdem sie die beiden bei der Arbeit gesehen hatte. „Ich muss aber dringend etwas einkaufen.“

Pascal verstand. Mel hatte ihr Auto auseinandergenommen, es war nicht fahrtüchtig. Grace brauchte also einen Chauffeur. Da er Montbrun-les-Bains ohnehin nicht kannte, sagte er gern zu.

Schweigend fuhren sie los. Grace wirkte noch immer nachdenklich, doch offenbar hatte sie nicht vor, mit ihm darüber zu sprechen. Sie lotste ihn in den Kern des kleinen Bergdorfes, und er musste sich konzentrieren, da die Straßen immer enger wurden.

Sie stellten den Wagen auf einem winzigen Parkplatz im Zentrum ab. Von dort ging es zu Fuß weiter Richtung Altstadt, durch schmale Gassen, vorbei an den vielen Brunnen, für die Montbrun-les-Bains berühmt war. Das Dorf lag terrassenförmig am Berghang, und schon bald waren die Straßen nicht mehr geteert, sondern gepflastert. Bunte Blumen und grüne Bäume bildeten schöne Kontraste zu den meist braunen und grauen Häusern.

„Im Schloss befindet sich ein Thermalbad“, sagte Grace in die Stille hinein. „Es ist noch ein Stück bis dahin, aber es lohnt sich. Wenn du willst, kannst du hingehen. Ich brauche eine Weile.“

Pascal schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei dir. Aber … Grace, was ist eigentlich mit dir los?“

Sie blickte ihn fragend an, doch ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie sich ertappt fühlte.

„Du bist sauer auf mich, das spüre ich. Allerdings weiß ich nicht, warum“, sagte er. Er blieb auf einem kleinen Vorsprung stehen, um den Touristen nicht im Weg zu sein.

Sie folgte ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Bruno repariert das Dach.“

„Ja, und?“

„Ich frage mich, wer die Dachschindeln bezahlt. Ich habe kein Geld dafür.“

„Sie sind schon bezahlt.“

„Das dachte ich mir.“ Grace atmete tief ein und aus. „Pascal“, sagte sie dann mit trauriger Miene. „Dass du für mich auf dem Hof arbeitest, ist eine Sache. Das finde ich wirklich charmant. Aber es geht nicht, dass du Geld für mich ausgibst. Das will ich nicht.“

„Ich bin reich, du bist arm. Ich will dir helfen, du brauchst Hilfe. Wo ist das Problem?“

„So können auch nur reiche Leute denken. Mir ist das unangenehm. Was versprichst du dir davon?“

Ihre direkte Frage machte ihn sprachlos. Ja, was versprach er sich davon? Er musste sich eingestehen, dass es merkwürdig war, sich so für den Hof einer Fremden einzusetzen. Sie kannten sich ja kaum. Trotzdem fühlte es sich gut und richtig an.

„Ich will dir helfen. Ohne Hintergedanken“, erklärte er. „Obwohl …“ Er brach ab. Es war schwierig, diese Frage zu stellen, ohne sie unter Druck zu setzen. Sie zog eine Augenbraue hoch und wartete.

„Ich finde dich sehr nett“, versuchte Pascal es. „Unsere Hilfe ist wirklich und wahrhaftig unentgeltlich, allerdings wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen, ob du dir vorstellen könntest, mit mir auszugehen.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief die steile Gasse hinunter, zurück Richtung Auto. Pascal hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit solch einer Reaktion. Hastig eilte er ihr hinterher.

„Grace! Jetzt lauf doch nicht gleich weg, sondern rede mit mir.“

Autor

Merline Lovelace
Als Tochter eines Luftwaffenoffiziers wuchs Merline auf verschiedenen Militärbasen in aller Welt auf. Unter anderem lebte sie in Neufundland, in Frankreich und in der Hälfte der fünfzig US-Bundesstaaten. So wurde schon als Kind die Lust zu reisen in ihr geweckt und hält bis heute noch an.
Während ihrer eigenen Militärkarriere diente...
Mehr erfahren
Kandy Shepherd

Kandy Shepherd liebte das Schreiben schon immer. Um ihrer Leidenschaft auch beruflich nachzukommen, wandte sie sich dem Journalismus zu, arbeitete für angesehene Frauenmagazine und machte sich in dieser Branche als Redakteurin schnell einen Namen. Sie mochte ihren Job – doch noch lieber wollte sie Geschichten schreiben! Also ließ sie den...

Mehr erfahren
Cathy Bell
Mehr erfahren
Trish Morey
Im Alter von elf Jahren schrieb Trish ihre erste Story für einen Kinderbuch- Wettbewerb, in der sie die Geschichte eines Waisenmädchens erzählt, das auf einer Insel lebt. Dass ihr Roman nicht angenommen wurde, war ein schwerer Schlag für die junge Trish. Doch ihr Traum von einer Karriere als Schriftstellerin blieb.
Nach...
Mehr erfahren