Russische Millionäre - Gefangen zwischen Macht & Verlangen (2 Miniserien)

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LIEBESNÄCHTE IN ST. PETERSBURG von PENNY JORDAN
Die Nächte mit Kiryl in St. Petersburg sind für Alena der Himmel auf Erden. Umso tiefer ist der Sturz, als sie zufällig ein Gespräch zwischen ihm und ihrem Bruder belauscht. Ist sie für ihren attraktiven Geliebten nur ein wertvolles Tauschobjekt, mit dem er noch mehr Geld machen will?

ZWISCHEN LÜGE UND VERLANGEN von PENNY JORDAN
Eine verhängnisvolle Schwäche überkommt Laura während des Bewerbungsgesprächs mit Vasilii Demidov: Sie spürt, dass dieser mächtige Tycoon sie will! Nur als persönliche Assistentin, die fließend exotische Sprachen beherrscht – oder als seine Geliebte?

EINE BRAUT FÜR DEN MILLIONÄR von LUCY MONROE
Glamourgirl Maddie sorgt wie immer für Schlagzeilen! Aber davon hat ihr Vater jetzt genug. Er will nur noch eins: ihre Hochzeit mit Viktor Beck! Für Maddie keine echte Strafe – der erfolgreiche Geschäftsmann ist schon lange ihr Schwarm. Aber wird er auch ihre Liebesträume erfüllen?

VERFÜHRUNG IN SAN FRANCISCO von LUCY MONROE
Es heißt, dass Max Black alles für seinen Erfolg tut. Nichts sonst ist ihm wichtig. Deshalb sollte die junge Erbin Romi Grayson gewarnt sein, als der attraktive Tycoon heiß mit ihr flirtet. Doch ihr dummes, unschuldiges Herz will einfach nicht auf die Stimme der Vernunft hören …


  • Erscheinungstag 18.11.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512336
  • Seitenanzahl 640
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Jordan, Lucy Monroe

Russische Millionäre - Gefangen zwischen Macht & Verlangen (2 Miniserien)

IMPRESSUM

Liebesnächte in St. Petersburg erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2011 by Penny Jordan
Originaltitel: „The Most Coveted Prize“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 356 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Dagmar Heuer

Umschlagsmotive: Lucky Business / Shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2021.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751512343

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Von der ersten Minute an hatte Alena gespürt, dass sie diesen Mann haben wollte. Das war vor einigen Tagen im Foyer dieses Londoner Hotels gewesen. Der plötzliche Ausbruch körperlichen Verlangens war so gewaltig gewesen, dass es sie buchstäblich fast umgehauen hätte. Sie hatte am ganzen Leib gezittert und die unmissverständliche Kraft der eigenen Begierde verspürt.

Wie Alena vermutete, verkörperte dieser Mann genau das, wovor ihr Halbbruder Vasilii sie so oft gewarnt hatte. Er stellte eine Gefahr dar. Sie war sich dessen bewusst, selbst wenn Vasilii sie oft immer noch wie ein Mädchen und nicht wie eine junge Frau behandelte.

Alena seufzte. Sie liebte Vasilii wirklich sehr, auch wenn er der altmodischste und überfürsorglichste Bruder war, den man sich vorstellen konnte. Doch dem Mann, der sie gegen jede Vernunft so anzog, konnte sie nicht widerstehen. Er stellte alles in den Schatten, was sie bisher in dieser Hinsicht erlebt hatte. War es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick oder einfach nur pure Lust, die von ihr Besitz ergriffen hatte? Vielleicht eine Kombination aus beidem. Womöglich hatte sie die Anfälligkeit für durchtriebene russische Männer von ihrer englischen Mutter geerbt, die sich Hals über Kopf in ihren Vater verliebt hatte.

Es spielte keine Rolle. Bei dem, was ihr gerade passierte, halfen ihre keine der analytischen Fähigkeiten, die ihr auf der Schule beigebracht worden war. Nichts hatte mehr Bedeutung außer dem stürmischen Verlangen, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Die sexuelle Ausstrahlung dieses Mannes und ihr Bedürfnis, sich der Lust hinzugeben, beherrschten sie völlig. Allein der Gedanke, dieselbe Luft einzuatmen wie er, erzeugte ein wonniges Schwindelgefühl. Ihr Körper befand sich in einem Zustand erotischer Erregung, als hätte er sie bereits berührt, sie liebkost und ihr gezeigt, was es bedeutete, eine Frau zu sein.

Alena erschauerte. Jeden Augenblick konnte er sich umdrehen, und dann würde er sehen, welche Wirkung er auf sie hatte. Ihr Herz machte einen heftigen Sprung, aus Vorfreude und Angst zugleich. Oh ja, er stellte eine Gefahr dar – und sie sehnte sich nach dieser Bedrohung.

Sie war zwar „erst“ neunzehn, wie Vasilii immer wieder betonte, doch alt genug, um zu wissen, was das für ein Typ Mann war, der da mit blitzenden malachitgrünen Augen auf der anderen Seite der exklusiven Hotellobby eine angeregte Diskussion mit einem anderen Russen führte. Er war eine wandelnde sexuelle Gefahr, besonders für eine Frau wie sie. Jemand, der außerhalb aller Konventionen und Regeln lebte.

Mit rasendem Puls beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Er war groß – mindestens einen Meter neunzig, so wie Vasilii, jedoch etwas jünger als er, vielleicht Anfang dreißig. Sein dickes rotbraunes Haar hätte in den Augen ihres Halbbruders sicher einen Haarschnitt verdient.

Seine energischen Gesichtszüge verrieten, dass er einer Linie entstammte, deren männliche Vertreter es gewohnt waren, alle Konkurrenten zu bekämpfen und zu besiegen. Ein absoluter Alphamann, bereit, jeden herauszufordern, der ihm dieses Recht absprechen wollte.

Er hieß Kiryl Androvonov, und schon der Klang dieses Namens betörte ihre Sinne. Sie hatte sich so erwachsen und selbstsicher gefühlt, als sie den Hotelportier ganz beiläufig nach dem Mann dort drüben gefragt hatte. Sie hatte vorgegeben, in ihm einen Bekannten ihres Bruders zu erkennen. Der Name Kiryl deutete auf einen Adelstitel hin, doch der Portier sagte nur, dass er ein Geschäftsmann sei und bereits zum zweiten Mal hier zu Gast sei.

Kiryl hatte nicht im Sinn gehabt, ihren Blick zu erwidern. Den Blick dieser schlanken, gazellenhaften jungen Frau mit dem seidigen dunkelblonden Haar und den silbergrauen Augen, die ihn an das fahle Sonnenlicht auf einem zugefrorenen See erinnerten. Oder an heimtückische Sirenen, die Männer in ein nasses Grab lockten. Zum einen war sie ganz und gar nicht sein Typ, und zum Zweiten hatte er weitaus Wichtigeres zu tun, als ihrer stummen, aber unmissverständlichen Einladung zu folgen.

Doch er hatte ihren Blick erwidert, daran gab es nichts zu deuten. Sie saß immer noch in demselben Sessel wie vorher und schenkte sich Tee aus einem Samowar ein, mit dem das Hotel seine russischen Gäste verwöhnte.

Sie trug keinen Ehering, was in der heutigen Zeit jedoch nichts bedeutete. Vielleicht war sie ein Callgirl der höheren Klasse, das seinen Köder auswarf? Vielleicht, doch Kiryl bezweifelte es. Eine Nutte hätte sich schon längst an ihn rangemacht; Zeit ist Geld, auch in dieser Branche.

Aber sie hatte es auf ihn abgesehen, das wusste er. Doch er versagte sich jegliche Begierde. Obwohl der zweifellos astronomisch teure Seidenpullover, den sie trug, verführerisch ihre perfekt geformten Brüste zur Geltung brachte. Dennoch, die schimmernden kleinen Perlmuttknöpfe, die ihr Dekolleté verbargen, hätten bei ihm eigentlich nicht das Verlangen auslösen dürfen, sie aufzureißen, um die nackte Haut darunter zu berühren. Doch sie taten es. Ihre diamantenen Ohrringe, die seiner Ansicht nach echt waren, mussten ein Vermögen gekostet haben. Er wusste das, denn seine letzte Gespielin hatte versucht, ihm ein solches Schmuckstück zu entlocken, bevor er entschied, sich von ihr zu trennen.

Kiryl betrachtete noch geistesabwesend die Ohrringe der Unbekannten, da hob sie den Kopf und sah ihn geradewegs an. Für einen Augenblick wich die Farbe aus ihrem Gesicht, dann kam sie zurück, und die silbergrauen Augen hinter den dunklen Wimpern glänzten plötzlich nicht mehr wie ein zugefrorener Fluss, sondern glühten wie heiße Lava. Überraschenderweise reagierte sein Körper auf diesen rasanten Wechsel von einem eiskalten St. Petersburg hin zu einer sommerlich heißen russischen Steppe mit all der Leidenschaft, die sein Vaterland stets in ihm ausgelöst hatte. Diese Frau verkörperte alles, was er je mit seiner Herkunft verbunden hatte. Er spürte, wie sich das Verlangen in ihm regte, ein solches Juwel in Besitz zu nehmen und mit niemand anderem zu teilen. Die Unbekannte erregte ihn so über alle Maßen, dass es um mehr gehen musste als allein um seine alte Sehnsucht, an sein russisches Erbe anzuknüpfen.

„Und wie ich Ihnen bereits sagte, gibt es nur einen Konkurrenten, der Ihnen im Wege steht, den Auftrag zu bekommen. Er heißt Vasilii Demidov.“

Kiryl zuckte zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Agenten zu, der ihm helfen sollte, den für seine Geschäfte so wichtigen Auftrag zu bekommen. Die Tatsache, dass einer von Russland reichsten Männern sich ebenfalls darum bemühte, konnte Kiryl nicht abschrecken. Im Gegenteil – seine Entschlossenheit, diesen entscheidenden Auftrag zu erringen, war dadurch nur noch größer geworden.

„Bisher hat Demidov noch nie Interesse an der Schiffsindustrie gezeigt. Auch in das Containerwesen hat er bislang nicht investiert. Ihm gehört lediglich der Hafen und alles, was damit zusammenhängt. Deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, dass er sich groß um diesen Auftrag bemühen wird.“

„Nun, das ist schon richtig, aber er ist gerade dabei, einen großen Deal mit den Chinesen abzuschließen. Man hat ihm eine Mehrheitsbeteiligung an einer Containerreederei angeboten. Und Sie dürfen auch nicht vergessen, dass er Sie jederzeit im Preis unterbieten kann, selbst wenn ihm das vorübergehend Verluste einträgt. Schließlich verfügt er über enorme finanzielle Reserven. Ich weiß aus sicheren Quellen, dass es zurzeit nur zwei Kandidaten gibt, die sich um diesen Auftrag bemühen – er und Sie. Und ich denke, Sie können sich vorstellen, wer von Ihnen die besseren Karten hat. Tut mir leid, aber ich fürchte, Sie haben keine Chance.“

Kiryl sah den Agenten nachdenklich an. „Ich weigere mich, das zu akzeptieren.“

Er war fest entschlossen, diesen Auftrag zu bekommen. Es war der letzte Mosaikstein in seinem Geschäftsimperium, der ihm noch fehlte. Sollte er den bekommen, wäre er endlich Marktführer auf diesem Gebiet. Niemand würde das verhindern können – niemand. Dafür hatte er zu lange und zu hart an diesem Ziel gearbeitet.

Ganz unvermittelt stieg vor seinem inneren Auge das Bild seines Vaters auf, der streng und abweisend auf ihn, den kleinen Kiryl, herabblickte. Der Vater, der ihm nicht nur das Recht genommen hatte, seinen Namen zu tragen, sondern auch das Recht auf seine russische Identität.

„Dann können Sie nur noch auf ein Wunder hoffen“, bemerkte der Agent.

Kiryl verbarg seine Gefühle und erwiderte kühl: „Ich brauche kein Wunder. Bestimmt gibt es irgendeinen Weg, ihn zur Strecke zu bringen. Ein Mann wie er macht sein Vermögen nicht, ohne ein paar Leichen im Keller zu haben.“

Der Agent nickte, fügte aber warnend hinzu: „Sie sind nicht der Erste, der nach Schwachpunkten in Demidovs Leben sucht. Aber es scheint keine zu geben. Ob Sie es glauben oder nicht, der Mann ist unangreifbar.“

Kiryls Mund wurde zu einem dünnen Strich. „Er hat eine beeindruckende Karriere hingelegt, das gebe ich zu. Aber niemand ist unangreifbar. Irgendeine Schwäche hat er bestimmt, und ich verspreche Ihnen, dass ich sie finden werde.“

Der Agent erwiderte nichts. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, Kiryl zu widersprechen. Dafür war dieser viel zu mächtig und zu sehr daran gewöhnt, dass man seinen Befehlen nachkam. Doch er verließ Kiryl nicht ohne eine letzte Warnung: „Hören Sie auf meinen Rat und ziehen Sie Ihr Angebot zurück. Dann verlieren Sie wenigstens nicht das Gesicht und vermeiden eine öffentliche Demütigung.“

Das Angebot zurückziehen? Jetzt, da er kurz davor stand, das Versprechen einzulösen, dass er sich selbst vor so langer Zeit gegeben hatte? Niemals!

Konnte sie es wirklich riskieren, die Teetasse zum Mund zu führen? Was, wenn sie den Tee verschüttete? Noch immer war Alena innerlich völlig aufgewühlt, wenn sie an den Blick seiner grünen Augen dachte. Erschrocken wurde ihr klar, dass ihre Wangen vor Aufregung glühten. Sie durfte seinen Blick auf gar keinen Fall erneut erwidern. Mit solch geballter männlicher Energie konnte sie nämlich einfach nicht umgehen.

Dennoch fühlte sie sich geradezu magisch von ihm angezogen. Ihr Puls raste, und ihre Kehle war trocken. Langsam wandte sie den Kopf und musste zu ihrer Bestürzung feststellen, dass er nicht mehr im Raum war und sie nicht mehr die Chance hatte … ja, was eigentlich? Diesen Blickkontakt zu verlängern, der ihr das Gefühl gab, innerlich dahinzuschmelzen.

In diesem Augenblick sah sie etwas auf dem Boden liegen. Einen goldenen Kugelschreiber. Bestimmt gehörte er ihm. Er musste ihn verloren haben. Sie hob ihn auf, sah sich suchend um und erblickte schließlich den Mann. Er stand bereits am Ausgang. Neben ihm der seriöse Typ, mit dem er sich zuvor unterhalten hatte. Ohne nachzudenken, eilte Alena auf die beiden zu.

Kiryl hörte das Klappern der Absätze und drehte sich um. Außer Atem streckte die unbekannte Frau ihm einen Kugelschreiber entgegen.

„Ich glaube, das hier haben Sie verloren.“

Ihre Stimme war sanft wie eine Frühlingsbrise. Kiryl sah sofort, dass der Kugelschreiber nicht ihm gehörte, aber er nahm ihn trotzdem entgegen. Prüfend sah er sie an. Sie wirkte wie eine Frau, die mehr zu bieten hatte als Jugend und gute Gene. Ihre natürliche Schönheit wurde durch ihr dezentes Make-up und die geschmackvolle Kleidung noch unterstrichen. Sie musste aus einem begüterten Haus stammen.

Es passte Kiryl ganz und gar nicht, dass sie einen so starken Eindruck auf ihn machte. Spöttisch erwiderte er: „Und natürlich haben Sie sofort die Gelegenheit ergriffen, ihn mir wiederzugeben, richtig? Glauben Sie, Ihr Interesse an mir ist mir nicht aufgefallen? Wissen Sie nicht, dass es eigentlich Aufgabe des Mannes ist, seine Beute zu jagen, und nicht die der Frau?“

Alena errötete bis unter die Haarspitzen. Ja, diesen Spott hatte sie verdient, das hätte ihr Bruder Vasilii bestimmt auch so gesehen. Trotzdem war sie nicht darauf vorbereitet gewesen und fühlte sich verletzt.

Kiryl merkte, wie sehr sie mit sich kämpfte, um sich nicht von der Demütigung überwältigen zu lassen. Bestürzt biss sie sich auf die Unterlippe, und er musste daran denken, wie es sich wohl anfühlte, diese vollen Lippen zu küssen.

„Bitte entschuldigen Sie. Das war wirklich nicht sehr nett von mir“, räumte er ein.

Seine Entschuldigung war natürlich nicht ernst gemeint. Er hatte weder die Zeit noch den Wunsch, sich mit dem fragilen Ego einer jungen Frau zu befassen, egal wie begehrenswert sie ihm erschien. Dafür kannte er sich zu gut – sich und die Abgründe, die in ihm schlummerten. Manch einer hätte gesagt, dass diese Abgründe ihren Ursprung in seiner Kindheit hatten. Aber Kiryl hatte keine Lust, sich an jene Zeit zu erinnern, in der er so verletzlich gewesen war. Stattdessen zog er es vor, in der Gegenwart zu leben. Und im Augenblick kam es nur darauf an, sich diesen Auftrag zu sichern. Die junge Frau war dabei nur eine Schachfigur in einem Spiel, in dem es um alles ging. Einem Spiel, das Kiryl unbedingt gewinnen musste.

Alena hingegen wusste nicht, womit sie diese harsche Abfuhr verdient hatte. Sie wich zurück, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten zu ihrem Tisch zurück.

Sie bat den Kellner um die Rechnung. Wie peinlich das Ganze war! Sie hatte sich vor diesem Fremden völlig lächerlich gemacht. Nur gut, dass Vasilii das nicht mitbekommen hatte. Alena schossen Tränen in die Augen.

Mit zwiespältigen Gefühlen beobachtete Kiryl ihren überstürzten Aufbruch und verspürte dabei ein leichtes Bedauern, das er sich nicht erklären konnte. Außerdem fiel ihm erneut die Anmut auf, mit der die Frau sich bewegte, registrierte ihr langes blondes Haar und ihre schlanke, aber äußerst feminine Figur.

Eigentlich war sie durchaus sein Typ, musste Kiryl sich eingestehen, aber ihm gefiel nicht, mit welcher Offenheit sie sich ihm anbot. Er wusste, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, und die schöne Fremde würde ihm gehören. Vielleicht war es ja nicht einmal eine schlechte Idee, ihr Angebot anzunehmen. Eine solche Zerstreuung würde ihm helfen, den Ärger und die Frustration zu vergessen, die er beim Gedanken an Vasilii Demidov verspürte.

Es sollte ihm doch ein Leichtes sein, den schlechten Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, wieder auszubügeln! Schließlich hatte er eine Menge Erfahrung mit Frauen, und er wusste, wie man sie am besten für sich gewann. Er rief eine Kellnerin herbei und gab eine Bestellung auf, bevor er zu dem Tisch eilte, an dem die unbekannte junge Frau jetzt auf ihre Rechnung wartete. Sie war offensichtlich im Begriff zu gehen.

„Aber Sie haben Ihren Tee ja noch gar nicht ausgetrunken“, bemerkte Kiryl galant. „Wie wäre es, wenn wir uns einen Samowar teilen würden? Als Erinnerung an unsere gemeinsame Heimat Mütterchen Russland?“

Beim Klang seiner Stimme drehte Alena sich um. Erschrocken stellte sie fest, dass der Fremde die Hand ausgestreckt hatte und nach der ihren griff.

Sein charmantes Lächeln zog sie unwiderstehlich in den Bann. Es ließ seine Gesichtszüge, die vorher so hart und arrogant gewirkt hatten, weicher erscheinen. Der Mann, der vor ihr stand, versprühte die gefährliche Sinnlichkeit eines Kosaken. Er besaß die romantische Ausstrahlung eines Zigeuners, die Unberechenbarkeit eines Piraten und die Anziehungskraft eines Helden. Es wäre Wahnsinn, sich darauf einzulassen.

„Nein, vielen Dank“, erwiderte Alena mit belegter Stimme und räusperte sich. Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, war aber wie gelähmt.

Sein Lächeln wurde jetzt noch gewinnender, geradezu intim. Seine Augen, die sie an Malachite erinnerten, funkelten auf betörende Weise.

„Ich war sehr unhöflich zu Ihnen, und jetzt sind Sie böse auf mich. Wahrscheinlich denken Sie, dass ich Ihre Gesellschaft nicht verdient habe. Und damit hätten Sie wahrlich recht. Andererseits hoffe ich, dass Sie ein Herz haben und mir noch einmal verzeihen.“

Wie charmant er war – charmant und gefährlich. Leider machte ihn das vollkommen unwiderstehlich.

Das Lächeln, das seine Entschuldigung begleitete, enthüllte blendend weiße Zähne und ließ kleinen Lachfältchen um seine Augen in Erscheinung treten. Alena stockte der Atem, und ihr wurde ganz flau im Magen. Doch sie hatte seine Beleidigung noch nicht vergessen, und eine innere Stimme warnte sie, auf der Hut zu sein.

Noch immer hielt der Fremde ihre Hand und begann nun, sanft ihr Handgelenk zu massieren, was ihre Aufgewühltheit noch verstärkte.

„Ich muss gehen, ich …“

Sie sprach akzentfreies, makelloses Englisch. Insgesamt wirkte sie nicht wie eine typische Russin – bis auf die silbergrauen Augen, die Kiryl so sehr an den Fluss Newa und an seine Geburtsstadt erinnerten. Und an den Schmerz, den er dort erlebt hatte.

„Ich habe mir erlaubt, uns Tee zu bestellen. Ach, hier kommt er ja auch schon.“

Zwei Kellnerinnen näherten sich dem Tisch. Eine von ihnen brachte die Rechnung, die andere servierte den Tee. Die Kellnerin mit der Rechnung lächelte Alena höflich zu und sagte: „Bitte entschuldigen Sie, Miss Demidova. Ich dachte, Sie wollten zahlen.“

Demidova – also war sie doch Russin. Mit diesem Namen konnte es gar nicht anders sein. Schließlich war es kein beliebiger Nachname. Es hatte schon etwas Ironisches, dass sie genauso hieß wie Kiryls schärfster Konkurrent. Vielleicht war das ja ein Omen. Seine Stiefmutter, die ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgezogen hatte, war ausgesprochen abergläubisch gewesen. Aber was kümmerte ihn das? Er war schließlich ein moderner, aufgeklärter Mann.

„Wohnen Sie hier im Hotel?“, fragte er und rückte einen Stuhl für sie zurecht. Damit blieb ihr keine andere Wahl, als sich wieder hinzusetzen.

Aus der Nähe betrachtet erschien ihr der Fremde noch überwältigender, noch viel männlicher als zuvor. Selbst in diesem Ambiente hatte er die Aura eines Mannes, der eigentlich in die russische Steppe gehörte – mit ihrer klaren Luft und der Wildheit der Natur. Oh ja, Alena hatte sich nicht getäuscht. Dieser Mann war äußerst gefährlich.

„Ja“, antwortete sie. „Mein Bruder Vasilii hat hier eine Suite, die er bewohnt, wenn er in London ist.“ Alenas Halbbruder war eine Art Nomade, der überall auf der Welt zu Hause war. Obwohl er sich meist in Zürich aufhielt, gab es keinen Ort, den er prinzipiell bevorzugte.

Warum habe ich Vasilii eigentlich erwähnt, fragte sie sich im Stillen. Wollte sie dem attraktiven Fremden durch die Blume zu verstehen geben, dass sie nicht allein und ohne Schutz war? Oder hatte sie plötzlich an ihren Bruder denken müssen, weil sie ziemlich sicher war, dass er ihr Verhalten verurteilen würde, wenn er davon erfuhr? Denn schließlich wähnte er sie in der sicheren Obhut von Miss Carlisle, der pensionierten Direktorin eines bekannten Mädcheninternats, die Vasilii engagiert hatte, um ein Auge auf Alena zu werfen. Leider hatte die ganz plötzlich eine Blinddarmentzündung bekommen, und Alena hatte darauf bestanden, dass sie sich nach der Operation in Ruhe auskurierte.

Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen, wenn sie daran dachte, wie sie Miss Carlisle versichert hatte, dass sie sich in die Obhut von deren Nichte begeben würde, die in dieser Zeit für sie einspringen wollte. Denn leider war die Nichte einen Tag vor der Operation nach New York geflogen. Und Alena hätte natürlich Vasilii Bescheid geben müssen. Aber das hatte sie nicht getan. Und in einem war sie ganz sicher: Miss Carlisle, die noch zur ganz alten Schule gehörte, weigerte sich, so etwas wie einen Computer oder ein Handy zu benutzen. Daher war auch nicht damit zu rechnen, dass ihr Schwindel aufflog.

Als Vasiliis Name fiel, schien Kiryls Herz für einen Schlag auszusetzen. Der Schreck nahm ihm den Atem. Das konnte kein Zufall sein, mit Sicherheit gab es keine zwei Vasilii Demidovs, die reich genug waren, um sich eine Suite in einem großen Londoner Luxushotel zu leisten. Vielleicht hatte seine Stiefmutter mit ihrem festen Glauben ans Schicksal ja doch recht gehabt?

Aber im Gegensatz zu ihr war Kiryl durch und durch Geschäftsmann, und für ihn zählten nur Fakten. Er wartete, bis die Kellnerin ihnen Tee eingeschenkt hatte und wieder gegangen war, dann fragte er beiläufig: „Ach, Ihr Bruder ist also Vasilii Demidov? Der Präsident von Venturanova International?“

„Ja. Kennen Sie ihn?“

Kiryl schüttelte den Kopf. „Nicht persönlich. Aber natürlich habe ich von ihm und seinen Erfolgen gehört. Ist er zurzeit in London?“ Kiryl wusste, dass dies nicht der Fall war, aber er wollte herausfinden, wie viel die junge Frau bereit war, ihm von sich aus zu erzählen.

„Nein, er ist geschäftlich in China.“

„Und er lässt es zu, dass seine Schwester sich ganz allein in London herumtreibt?“, fragte er lächelnd.

„Himmel, nein“, erwiderte Alena erschrocken. „Das würde er niemals zulassen.“ Sie biss sich auf die Lippen. Hatte sie zu viel gesagt? Warum war sie nur so nervös?

„Es klingt, als würde er sich fürsorglich um Sie kümmern“, bemerkte Kiryl. Offensichtlich bedeutete Vasilii seine Schwester sehr viel. Er musste mehr über diese Beziehung herausfinden.

„Ja, er ist sehr fürsorglich“, bestätigte Alena. „Und manchmal …“

„Ist Ihnen das ein wenig lästig, nicht wahr? Das ist ja auch ganz normal. Sie sind jung, Sie wollen das Leben genießen. Bestimmt fühlen Sie sich ein bisschen einsam, so ganz allein hier in diesem großen Hotel, während Ihr Bruder am anderen Ende der Welt Geschäfte macht.“

„Normalerweise würde er nicht im Traum daran denken, mich allein zu lassen“, vertraute Alena ihm an. „Aber diesmal … diesmal blieb ihm nichts anderes übrig.“

Wieder musste Alena daran denken, dass sie ihren Bruder hinterging, und sie fühlte sich schuldig. Doch zugleich genoss sie ihre Freiheit sehr. Denn obwohl sie Miss Carlisle wirklich mochte, war die schon ziemlich alt und hatte sehr verstaubte Ansichten. Als ihre Eltern noch lebten, war alles anders gewesen. Ihr Vater war ein lebenslustiger Mann gewesen und ihre Mutter der liebevollste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte. Alena vermisste die beiden sehr, besonders ihre Mutter.

Vielleich ist es wirklich das Schicksal, das mir diese Frau geschickt hat, dachte Kiryl. Doch welchen Vorteil er aus dieser Begegnung ziehen würde, konnte wohl nur die Zeit zeigen.

Er zog die Augenbrauen hoch und scherzte: „Um ehrlich zu sein, das klingt mehr nach einem Gefängniswärter als nach einem Bruder.“

Erneut bekam Alena ein schlechtes Gewissen. Was sie gesagt hatte, war sicher nicht fair gegenüber Vasilii gewesen. Andererseits fand sie es sehr erleichternd, sich endlich einmal aussprechen zu können. Dennoch, der Fremde sollte keinen falschen Eindruck bekommen. „Vasilii will mich nur beschützen“, erklärte sie, „weil er mich liebt und weil … weil er unserem Vater vor seinem Tod versprochen hat, dass er sich immer um mich kümmern wird.“ Sie neigte den Kopf. „Manchmal frage ich mich, ob das der Grund ist, warum Vasilii bislang nicht geheiratet hat. Seine Arbeit nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, und außerdem passt er auch noch auf mich auf. Wie soll er sich da in jemanden verlieben?“

In jemanden verlieben? Was dachte diese junge Frau denn – einer der mächtigsten Männer Russlands hatte bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich in irgendwelche amourösen Abenteuer zu stürzen. Aber das würde er natürlich nicht aussprechen. Jedenfalls war er von Minute zu Minute mehr davon überzeugt, dass er durch eine glückliche Fügung des Schicksals die Achillesferse seines Rivalen gefunden hatte.

Aber sein Motto war immer gewesen, den Tatsachen Vorrang vor Gefühlen zu geben. Damit war er bisher gut gefahren, und diese Haltung würde ihm auch jetzt helfen, seinem Konkurrenten ein Bein zu stellen.

Alena fragte sich insgeheim, ob es ein Fehler gewesen war, diesem Fremden gegenüber ihren Bruder zu erwähnen. Schließlich kannte sie ihn ja gar nicht. Kurz entschlossen setzte sie ihre Teetasse auf dem Tisch ab. „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.“

Kiryl nickte und erhob sich.

„Vielen Dank für den Tee.“

„Es war mir ein Vergnügen. Hoffentlich war es nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnet sind, Alena Demidova.“

Noch bevor sie es verhindern konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und zog sie an seine Lippen. Die Berührung war wie ein Schock für sie. Dieser Mann flirtete mit ihr, und sie hatte dem nichts entgegenzusetzen.

Widerstrebend zog sie ihre Hand zurück und stand ebenfalls auf. Dann fiel ihr Blick auf ihre Armbanduhr. Vasilii! Bestimmt warteten inzwischen schon einige seiner Mails auf sie, und er würde sich Sorgen machen, wenn sie nicht sofort darauf antwortete.

„Bitte entschuldigen Sie, aber es ist schon vier Uhr. Mein Bruder …“

„Ah, Sie sind wie Cinderella, die um Punkt Mitternacht wieder in ihrem Schloss sein muss. Aber wir werden uns wiedersehen, da bin ich mir ganz sicher. Und dann werde ich dafür sorgen, dass sich das Versprechen, das ich in Ihrem Blick lese, auch erfüllt.“

2. KAPITEL

In der Abgeschiedenheit seiner eigenen Suite rief Kiryl seinen Agenten an. Sobald der ältere Mann den Hörer abgenommen hatte, verkündete er ohne größere Vorreden: „Alena Demidova, die Schwester von Vasilii Demidov. Ich will alles über sie wissen.“

Aus seinem Fenster blickte er auf einen privaten Garten im benachbarten Block, in dem das Februarlicht langsam zu schwinden begann. Aber Kiryl nahm den Ausblick nur am Rande wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf den Plan gerichtet, der sich in seinem Kopf langsam zu formieren begann.

„Und ich meine alles, Ivan – angefangen von ihren Freunden über ihre Hobbys bis hin zu ihrer Lieblingsspeise. Vor allem aber möchte ich etwas über die Beziehung zu ihrem Bruder erfahren. Ich will wissen, wie er zu ihr steht und was seine Pläne für sie sind. Und zwar bis morgen früh!“

Noch bevor der Agent überhaupt antworten konnte, legte Kiryl den Hörer auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Er spürte eine unglaubliche Spannung in seinem Körper. Eine Mischung aus Aufregung, Herausforderung und dem Wissen, dass er ein Spiel spielte, das er gewinnen würde. Alena war der Schlüssel für seinem Triumph über ihren Bruder. Da war er sich sicher. Er konnte es fühlen, spürte es tief in seinem Inneren. Diese Intuition hatte er von seiner Mutter geerbt – seiner Mutter, einer Zigeunerin, die sein Vater so verachtet hatte.

Plötzlich sah er vor seinem geistigen Auge Alena, wie sie ihm beim Teetrinken gegenübergesessen hatte. Wie eine zarte Blume war sie ihm vorgekommen – eine Blume, die ein Mann pflücken und dann in der Hand zerquetschen konnte. Etwas regte sich bei diesem Gedanken in Kiryls Innerem. Etwas, das aus der kurzen Zeit stammte, die er mit seiner Mutter vor deren Tod verbracht hatte. Es war die einzige Zeit in seinem Leben gewesen, in der er sich wirklich geliebt gefühlt hatte. Einen kurzen Moment lang zögerte er. Nein, er konnte sich keine Schwäche leisten – nicht jetzt. Er durfte nicht so kraftlos sein wie seine Mutter, die seinen Vater so geliebt hatte und ihn, Kiryl, gegen dessen Willen bekommen hatte. Nein, er musste stark sein. Und sei es nur, um das Bild desjenigen Mannes aus seinem Gedächtnis zu streichen, der ihn verhöhnt und in die Gosse gestoßen hatte.

Jetzt war der Moment der Rache gekommen. Und wenn Alena dabei auf der Strecke blieb, ließ sich das nicht ändern. Für Kiryl war es am wichtigsten, das Versprechen zu halten, das er im Gedenken an seine tote Mutter abgeleistet hatte.

Das Versprechen, das ich in Ihrem Blick gesehen habe … Im kühlen grauen Licht dieses Februarmorgens musste Alena noch einmal an seine Worte denken. Sie lag noch im Bett in der Luxussuite ihres Bruders, gehüllt in Laken aus feinster Seide. Dennoch fühlte sie sich so unbehaglich wie die sprichwörtliche Prinzessin auf der Erbse. Das passte, schließlich schien das Ganze wie ein Märchen. Allerdings keines für Kinder. Denn es handelte von einem Prinzen, der nicht nur schön und stark war, sondern auch sinnlich und sexy. Würde er ihr endlich den leidenschaftlichen Sex zeigen, nach dem sie sich schon so lange sehnte?

War sie deshalb so nervös, wenn sie an ihn dachte? Weil die Begegnung mit einem real existierenden Mann ihren Fantasiebildern vielleicht nicht gerecht werden würde? Dennoch, wenn sie an Sex mit Kiryl dachte, lief es ihr unwillkürlich heiß den Rücken hinunter. Wäre es nicht viel besser, ihn zu vergessen? Bestimmt hätte Vasilii das von ihr verlangt.

Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch.

Später am Vormittag hatte sie einen Termin im Büro der Wohltätigkeitsorganisation, die ihre Mutter ins Leben gerufen hatte. Vasilii wäre es zwar lieber gewesen, wenn sie sich erst mit fünfundzwanzig um solche Dinge gekümmert hätte, doch sie war entschlossen, ihrem Halbbruder zu beweisen, dass sie trotz ihrer Jugend in der Lage war, Verantwortung zu übernehmen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich mit allen Aspekten der Stiftung vertraut gemacht, und sie wusste, dass sie in der Lage war, den Vorsitz zu übernehmen.

Natürlich war es eine sehr große Verantwortung. Zum einen, weil es dabei um mehrere Millionen ging, die ihre Eltern und andere Sponsoren gespendet hatten. Aber vor allem wegen des guten Zwecks, der dahinterstand: nämlich unterprivilegierten Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Alena wollte sich dieser Arbeit mit Leib und Seele widmen. Hoffentlich erfuhr ihr Bruder nur nie von ihrer Begegnung mit Kiryl. Er würde sie wohl für unreif und unverantwortlich halten und wäre vielleicht nicht mehr gewillt, ihr eine solche Verantwortung zu übertragen.

Ihre Mutter hatte oft gesagt, dass die Stiftung eine Möglichkeit für sie war, sich dem Leben gegenüber für die Liebe ihres russischen Mannes zu bedanken. Und auch wenn Alena sich manchmal darüber ärgerte, wie sehr ihr Halbbruder ihr Leben beherrschte, so verzieh sie ihm doch vieles, weil sie wusste, dass er ihre Mutter genauso geliebt hatte wie sie selbst.

Wollte sie jetzt wirklich alles, wofür sie bisher so hart gearbeitet hatte, riskieren? Nur weil sie sich in einen Mann verkuckte hatte, der ihr die Sinne verwirrte? Ihre Schwärmerei hatte wahrscheinlich so viel Substanz wie ein Regenbogen über der Newa.

Sie machte sich keine Illusionen darüber, wie Vasilii reagieren würde, wenn er von Kiryl erfuhr. Er würde entsetzt und sehr wütend sein. Aber schließlich musste er es ja nicht erfahren. Denn dieses Problem ließ sich ganz einfach lösen – sie würde Kiryl nicht wiedersehen. Stattdessen würde sie sich auf ihre Arbeit bei der Stiftung konzentrieren und ihrem Bruder beweisen, dass sie reif genug war, die Nachfolge ihrer Mutter anzutreten.

Als Alena zwei Stunden später vor dem großen Bürogebäude aus dem Taxi stieg, strich sie sich den Kaschmirmantel glatt und holte erst einmal tief Luft. Von ihrer Mutter wusste sie, dass die äußere Erscheinung stets wichtig war. Es war zwar ihr gutes Recht, die Position ihrer Mutter zu übernehmen und deren Erbe anzutreten, aber Alena wusste, dass sie auch die Unterstützung der Mitarbeiter brauchte, um Erfolg zu haben. Sie musste ihr Vertrauen gewinnen, um die gute Sache, für die sie alle kämpften, erfolgreich weiterzuführen. Deshalb hatte sie ein seriöses Outfit gewählt, in dem sie sich trotzdem wohlfühlte.

Zu einer schwarzen, blickdichten Strumpfhose trug sie schwarze Halbschuhe. Der Mantel war dunkelgrau, und um für den schneidenden Februarwind gewappnet zu sein, hatte sie sich einen hellgrauen Schal um den Hals geschlungen und eine dunkle Wollmütze aufgesetzt. Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, eilte sie ins Gebäude und bedachte den Pförtner, der ihr die Tür öffnete, mit einem strahlenden Lächeln.

Mayfair, das Stadtviertel, in dem die Stiftung ihr Hauptquartier bezogen hatte, war eines der exklusivsten Viertel Londons. Ursprünglich hatte Alenas Mutter dafür plädiert, sich ein schlichteres Quartier für die Arbeit zu suchen. Aber ihr Mann und ihr Sohn hatten sie davon überzeugt, dass eine prominente Adresse wesentlich geeigneter war, um wohlhabende Spender anzulocken. Außerdem war es für Vasilii auf diese Weise leichter gewesen, für die entsprechende Sicherheit zu sorgen.

Sicherheit war sehr wichtig für ihren Halbbruder. Kein Wunder, schließlich war seine Mutter bei einer Entführung ums Leben gekommen. Kurz darauf hatte sein Vater seine Geschäfte nach London verlegt und dort ein Haus gekauft. Bei einer Reise nach St. Petersburg hatte er dann Alenas Mutter kennengelernt. Die beiden waren sehr glücklich gewesen. Ihr tödlicher Autounfall war ein furchtbarer Schock für Alena und Vasilii gewesen, der ihrem Vater versprochen hatte, sich immer um seine Halbschwester zu kümmern. Und Alena wusste, dass er dieses Versprechen sehr ernst nahm.

Sie war froh, dass Vasilii nichts von dem Zwischenfall mit Kiryl erfahren würde, und nahm sich fest vor, sich von nun an nur noch auf ihre Aufgabe in der Stiftung zu konzentrieren. Mit energischen Schritten eilte sie durch die Halle in Richtung Aufzug und fuhr in den zehnten Stock hinauf.

Ein Teil des Stiftungsprogramms sah vor, sich weltweit um arme Frauen zu kümmern. Dolores Alvarez, die Geschäftsführerin, kam aus Südamerika und hatte als Kind selbst bitterste Armut erfahren. Sie war Mitte fünfzig, eine weltgewandte und äußerst kompetente Kämpferin für Gerechtigkeit.

Dolores hieß Alena mit offenen Armen willkommen. Sie führte sie in ihr Büro und bot ihr einen Kaffee an. „Ich habe tolle Neuigkeiten“, verkündete sie strahlend. „Sie wissen doch, dass wir uns in letzter Zeit verstärkt um neue Sponsoren gekümmert haben, nicht wahr?“

Alena nickte. „Ja, dieser Punkt war meinen Eltern auch immer sehr wichtig.“

„Das ist keine leichte Aufgabe, aber jetzt hat sich tatsächlich jemand gemeldet, der unsere Arbeit tatkräftig unterstützen möchte. Er hat uns eine größere Summe in Aussicht gestellt. Allerdings hat er darum gebeten, zuerst Sie kennenzulernen, bevor er eine Entscheidung trifft.“

„Mich?“ Alena war überrascht. „Will er sich davon überzeugen, dass ich einer solchen Aufgabe gewachsen bin? Oder was ist der Grund?“ Sie lachte. „Das erinnert mich an Vasilii. Genau dasselbe würde er auch tun.“

„Ja, reiche Männer wollen offensichtlich immer alles fest im Griff haben. Aber wahrscheinlich wären sie sonst auch nicht in dieser Position.“

„Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, richtig? Das wollten Sie doch wohl sagen.“

„Genau so ist es. Sie wissen ja selbst, welch ambitionierte Ziele wir uns mit der Stiftung gesteckt haben. Um sie zu erreichen, brauchen wir mehr Mittel, als wir zurzeit zur Verfügung haben.“

„Ich verstehe.“ Alena nickte. „Ich habe ein wenig recherchiert und weiß, dass die Lebenshaltungskosten in vielen Ländern gestiegen sind. Das bedeutet, auch wir müssen mehr Geld investieren, wenn wir in diesen Ländern Schulen bauen und Bildungseinrichtungen fördern wollen.“

Die ältere Frau sah sie überrascht an. In ihrem Blick lag Anerkennung. „Genauso ist es. Deshalb ist jeder neue Geldgeber wichtig für uns. Und dieser Mann macht einen wirklich vielversprechenden Eindruck. Es ist nur, dass …“ Sie stockte.

Alena sah sie fragend an. „Was denn? Nur heraus damit, sagen Sie es mir!“

Dolores fühlte sich sichtlich unwohl. „Also, er war ein bisschen skeptisch, als er erfuhr, wie jung Sie sind und wie wenig Erfahrung Sie haben. Deshalb hat er den Wunsch geäußert, Sie persönlich kennenzulernen.“

„Um sich davon zu überzeugen, dass ich reif genug bin, die Nachfolge meiner Mutter anzutreten?“, fragte Alena mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Um sicherzugehen, dass er die richtige Entscheidung trifft“, korrigierte Dolores. „Wenn Sie das nicht möchten, kann ich das natürlich verstehen. In diesem Fall sollten wir uns eine taktvolle Ausrede überlegen. Vielleicht kann Ihr Bruder Sie ja vertreten.“

Alena dachte angestrengt über den Vorschlag nach. Wenn sie diesen Sponsoren traf und keinen guten Eindruck auf ihn machte, riskierte sie, eine große Summe Geldes zu verlieren. Aber wenn sie Vasilii vorschickte, wie sollte sie ihren Bruder dann jemals davon überzeugen, dass sie die Richtige für diesen Posten war? Und – was noch entscheidender war – wie sollte sie das Selbstvertrauen entwickeln, das für diese Arbeit unabdingbar war?

Sie holte tief Luft. „Nein, wenn dieser Mann mich treffen möchte, ist das sein gutes Recht.“

Dolores fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen. Sie nickte zustimmend.

„Sind Sie dann so nett, einen Termin für mich auszumachen?“

„Das dürfte kein Problem sein, denn zufälligerweise ist er gerade in London. Als ich ihm sagte, dass Sie heute hier sein würden, hat er vorgeschlagen, gleich vorbeizukommen.“

Du liebe Güte, der Mann verlor wirklich keine Zeit! Genau wie Vasilii, dachte Alena. Männer wie er marschierten geradewegs auf ihr Ziel zu und ließen sich durch nichts aufhalten.

„Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind“, fügte Dolores hastig hinzu. „Sonst mache ich gern einen anderen Termin für Sie aus.“

Alenas Gedanken überschlugen sich. Sie war zwar ziemlich nervös, wenn sie an die Verantwortung dachte, die mit diesem wichtigen Treffen verbunden war. Aber wenn sie wollte, dass man sie als Geschäftsfrau ernst nahm, musste sie sich auch so verhalten.

Also straffte sie die Schultern und sagte entschlossen: „Nein, das ist kein Problem. Ich treffe ihn gern.“

„Wunderbar! Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden. Diese Spende wird unsere Arbeit erleichtern, zumal es sich um eine jährliche Zuwendung handeln soll. Ich habe ihn gebeten, im Konferenzzimmer auf Sie zu warten. Natürlich können Sie mich jederzeit rufen, wenn Sie irgendwelche Fragen haben sollten.“

Alena warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Der Konferenzraum der Stiftung war modern eingerichtet. Große Fenster, Stahlmöbel, die Wände in gebrochenem Weiß gestrichen. Das Zentrum des Raums bildete ein großer runder Tisch. An den Wänden hingen Fotos von Kindern. Von Kindern, die langsam zu Jugendlichen wurden und mithilfe einer qualifizierten Ausbildung ihren Platz in der Welt finden würden.

Immer wieder waren es diese Fotos, die zuerst ihre Aufmerksamkeit erregten, wenn sie den Raum betrat. Ihre Mutter hatte die meisten dieser Bilder gemacht, und immer, wenn Alena sie betrachtete, hatte sie das Gefühl, als sei ihre Mutter mit im Raum.

Aber heute waren es nicht die Fotos, die sie gefangen nahmen. Es war der Mann, der am Fenster stand. Sein Gesicht lag im Halbschatten, aber trotzdem erkannte Alena ihn sofort. Ein heißer Schauer ging durch ihren ganzen Körper. Es war Kiryl.

3. KAPITEL

Nach dem ersten Schock blieb Alena wie angewurzelt stehen. Ihr Herz machte einen großen Satz, und sie hätte nicht zu sagen vermocht, was stärker war – ihre Aufregung oder ihre Angst.

War er ihretwegen gekommen? Aber das konnte gar nicht sein. Er war bestimmt nicht der Typ von Mann, der eine Frau auf diese Weise zu beeindrucken versuchte. Das spürte sie. Es war mit Sicherheit purer Zufall, dass er jetzt vor ihr stand.

Fühlte sie sich deswegen nun besser? Wenn sie ehrlich war, wusste sie gar nicht mehr, was sie fühlte oder fühlen sollte. In diesem Moment bewegte er sich, und Licht fiel auf sein Gesicht. Sein Ausdruck war nicht zu deuten, doch seine Augen glänzten. Als er auf Alena zukam, musste sie unwillkürlich an ein anmutiges Raubtier denken. Ein Raubtier kurz vor dem Sprung.

„Alena, das ist Mr Androvonov“, stellte Dolores ihn vor.

„Ich …“

Ich weiß, hatte Alena zuerst sagen wollen, aber Kiryl kam ihr zuvor. „Miss Demidova, vielen Dank, dass Sie Zeit für mich haben“, begrüßte er sie höflich.

Alena war ganz schwindelig. Als Kiryl jetzt die Hand ausstreckte, musste sie den kindischen Impuls unterdrücken, ihre Hände im Rücken zu verschränken. Sie wollte nicht, dass er sie berührte, denn sie konnte nicht abschätzen, was das in ihr auslösen würde. Hatte sie nicht erst heute Morgen beschlossen, diesen Mann nie wiederzusehen?

Dolores beobachtete Alena in der Erwartung, dass sie Kiryls Hand ergreifen und schütteln würde. Alena tat es schließlich, vermied aber, ihn anzuschauen. Sie wollte nicht, dass er die Verletzlichkeit in ihren Augen sah.

Sein Händedruck war fest, seine Haut warm. Sofort musste Alena daran denken, wie es gestern gewesen war, als er ihre Hand gehalten und dabei ihre Handgelenke gestreichelt hatte …

Sie schluckte und versuchte, die sinnlichen Erregung zu unterdrücken, die sie bei der Erinnerung daran erfasste. Mit einem kleinen Räuspern erwiderte sie: „Dolores hat mir gesagt, dass Sie sich mit dem Gedanken tragen, unserer Stiftung eine Spende zukommen zu lassen.“ Sie gab sich größte Mühe, kühl und beherrscht zu klingen, auch wenn sie innerlich bebte. Aber in diesem Moment ging es nicht um sie. Es ging um die Verantwortung gegenüber dem Lebenswerk ihrer Mutter.

„Ja“, erwiderte Kiryl. „Das ist richtig. Ich dachte, wir könnten diese Angelegenheit vielleicht bei einem Mittagessen besprechen.“

„Ich …“, kurz lag es ihr auf der Zunge zu sagen, dass sie schon eine Verabredung habe. Aber dann sah sie Dolores’ hoffnungsvollen Blick und erinnerte sich daran, dass sie der Geschäftsführerin bereits gesagt hatte, dass sie an diesem Tag keinen weiteren Termine mehr hatte.

„Das würde mir die Gelegenheit geben, mehr über Ihre Stiftung zu erfahren“, fuhr Kiryl ungerührt fort. „Außerdem würde ich natürlich auch gern wissen, welche Rolle Ihnen dabei zukommt. Es wäre schade, wenn Sie keine Zeit für mich hätten, denn ich muss England aus geschäftlichen Gründen schon bald wieder verlassen.“

Wollte er Sie herausfordern, indem er andeutete, dass sie sich der Stiftung nicht genügend verpflichtet fühlte?

„Natürlich.“ Alena nickte. „Ich freue mich, mit Ihnen zu Mittag zu essen.“

„Wunderbar. Ich habe mir erlaubt, einen Tisch für uns zu reservieren. Sind sie bereit?“

Bereit wofür? Ein Geschäftsessen oder … Hör sofort auf, befahl sie sich wütend.

Hier ging es einzig und allein um Arbeit – und sie war entschlossen, ihren Job so gut zu machen wie möglich. Sie würde ihrem Bruder beweisen, dass sie sehr wohl in der Lage war, das Erbe ihrer Mutter anzutreten. Und sie durfte sich dabei von Kiryls elektrisierender Wirkung nicht ablenken lassen.

„Ja, ich bin bereit“, erwiderte sie und lächelte Dolores betont zuversichtlich an. Kiryl marschierte zur Tür und hielt sie ihr auf. Aus den Augenwinkeln konnte Alena sehen, dass die Geschäftsführerin mehr als zufrieden war mit dem Verlauf des Gesprächs. Erneut ermahnte Alena sich, in den nächsten Stunden nur noch an die Stiftung zu denken, und Privatleben und Arbeit voneinander zu trennen.

Als sie so dicht an Kiryl vorbeiging, stieg ihr sein herber männlicher Duft in die Nase. Ihr Körper reagierte sofort darauf, und ihr wurde ganz heiß. Einen kurzen Moment lang hielt sie den Atem an und merkte, wie sie rot anlief.

Was war nur los mit ihr? Wieso hatte dieser Mann eine Macht über sie wie noch kein anderer zuvor? Alenas eigenes wildes Verlangen gab ihr die Antwort auf diese Frage. Wie aufs Stichwort meldete sich prompt auch wieder ihre vernünftige Seite zu Wort, die sie erneut davor warnte, irgendwelche Fantasien zu entwickeln.

Sie hatte sich nur bereit erklärt, mit diesem Mann zu Mittag zu essen, nicht mit ihm das Bett zu teilen. Daran musste sie immer wieder denken, während die Geschäftsführerin Kiryl und sie zum Aufzug begleitete. Und fügte sie in Gedanken hinzu, es ist wohl gemerkt ein geschäftliches Mittagessen, das nur einem Zweck dient, nämlich Kiryl zu einer Spende für die Stiftung zu bewegen.

„Warum möchten Sie für die Stiftung meiner Mutter spenden?“, erkundigte sie sich, während der Lift nach unten schoss.

Kiryl war nicht entgangen, dass ihre Wangen sich gerötet hatten und ihre Stimme bebte. Und es gefiel ihm. Aber natürlich würde er ihr das nicht sagen. Denn es bestätigte das, was seine Intuition ihm bereits gesagt hatte – dass sie sich für ihn als Mann interessierte. Auch das gefiel ihm. Es gefiel ihm sogar sehr. Jetzt war es an der Zeit, ein wenig mit ihr zu spielen. Er würde ihr einen Köder hinwerfen und warten, ob sie anbiss.

„Sie gehen also davon aus, dass ich wirklich für Ihre Stiftung spenden werde. Aber noch habe ich mich ja nicht entschieden, wie Ihnen Ihre Geschäftsführerin bestimmt mitgeteilt hat. Macht Sie das nicht nervös?“

Alena errötete. „Nein, ich … ich weiß ja, dass Sie noch darüber nachdenken. Ich war einfach nur neugierig, wie Sie ausgerechnet auf unsere Stiftung gekommen sind.“

„Ach, wirklich? Haben Sie nicht insgeheim gedacht, dass es etwas mit Ihnen zu tun haben könnte? Dass ich Ihnen imponieren will?“

„Nein, natürlich nicht, ich …“

In diesem Moment öffneten sich die Türen des Aufzugs, vor dem bereits andere Menschen warteten. Alena hatte ein hochrotes Gesicht und das unangenehme Gefühl, als könnte Kiryl ihr direkt ins Herz sehen. Aber vielleicht war er es ja gewöhnt, auf Frauen einen starken Eindruck zu machen. Auf sehr viele Frauen, wie sie annahm. Für sie hingegen war das alles ganz neu, und es erschütterte sie bis ins Mark.

Ohne nach rechts oder links zu schauen, eilte sie auf den Ausgang zu. Aber Kiryl nahm sie beim Arm und zwang sie, stehen zu bleiben. Er sah ihr tief in die Augen und sagte unerwartet ernst: „Der Grund, warum ich mich für Ihre Stiftung interessiere, ist meine eigene Mutter.“

Verwirrt sah sie ihn an und hatte einige Sekunden lang Mühe, den Sinn seiner Worte zu verstehen. „Ihre eigene Mutter?“

Es war ihm also gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Doch das war nicht schwer gewesen war. Denn den Informationen, die er bisher über Alena gesammelt hatte, entnahm er, dass das Thema Eltern sie ganz besonders berührte.

Kiryl nickte und fügte hinzu: „Ja, aber darüber würde ich mit Ihnen lieber beim Essen sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn wir ein Taxi nehmen? Wenn ich in London bin, fahre ich lieber mit dem Taxi als mit einem Privatchauffeur. Das gibt mir mehr Freiheit.“

„Ja, natürlich“, versicherte Alena, die froh war, dass sie sich wieder auf ungefährlichem Terrain bewegten. „Ich liebe die Londoner Taxis!“ Sie zog ein Gesicht. „Vasilii versteht das nicht, und er mag es eigentlich gar nicht, dass ich sie benutze.“

Jetzt hatten sie immerhin etwas gemeinsam, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war. Alena fühlte sich sofort viel entspannter.

Ihre Reaktion entging Kiryl nicht. Natürlich wusste er um ihre Vorliebe und hatte die Taxifahrt absichtlich eingefädelt, um ihr Vertrauen zu erringen. Jeder kleine Schritt in diese Richtung führte ihn seinem Ziel näher.

Kaum saßen sie im Taxi, schlug er ihr vor: „Ich würde das Mittagessen gern in Ihrem Hotel einnehmen. Sind Sie damit einverstanden?“

Alena nickte. Sie wusste, dass das Hotelrestaurant einen ausgezeichneten Ruf genoss, vor allem bei Geschäftsleuten. In Alenas Augen war es ein richtiges Männerrestaurant, was sich deutlich in der Speisekarte niederschlug. Die Steakvarianten waren legendär, und die Portionen fielen immer ein wenig zu groß aus. Ihr Fall war es eigentlich nicht. Sie spürte einen Anflug von Enttäuschung, doch sie ermahnte sich sofort zur Sachlichkeit. Schließlich ging es hier um eine geschäftliche Angelegenheit und nicht um ein Rendezvous. Kiryl war sicher ein beschäftigter Mann, genau wie ihr Bruder. Sie wusste, dass Vasilii genauso pragmatisch gehandelt hätte.

Beim Gedanken an den Zweck ihres Treffens richtete sie sich auf und rückte ein wenig von Kiryl ab. Heute musste sie in der Rolle als junge Geschäftsfrau überzeugen.

Während der Fahrt vermied Kiryl, sie anzuschauen. Dafür würde später Zeit sein. Als kleiner Junge war er oft angeln gegangen. Manchmal war der Fisch, den er gefangen hatte, für seine Pflegemutter und die übrigen Pflegekinder die einzige Mahlzeit am Tag gewesen. Er hatte also schon früh gelernt, sich Zeit zu nehmen und auf den Moment zu warten, in dem ihm seine Beute ins Netz ging.

Außerdem merkte er, dass sein Schweigen Alenas Anspannung noch erhöhte, und das konnte ihm nur recht sein. Das Schicksal hatte ihm die beste Karte zugespielt, die er jemals in der Hand halten würde, und er wollte diesen Vorteil nicht ungenutzt lassen.

Der Verkehr wurde dichter, und an einer der vielen Londoner Baustellen musste das Taxi halten. Kiryl warf Alena einen vorsichtigen Blick zu. Sein Agent hatte gute Arbeit geleistet, Kiryl wusste inzwischen fast alles über sie. Er wusste, dass Vasilii im guten Glauben war, Alena befände sich in diesem Moment in der Obhut einer ehemaligen Direktorin eines Mädcheninternats. Er wusste, dass sie mit ziemlicher Sicherheit noch Jungfrau war. Er wusste alles über die Heirat ihrer Eltern und darüber, dass ihre englische Mutter sich für wohltätige Zwecke engagiert hatte. Außerdem war er darüber informiert, wie viele Millionen sich in ihrem Treuhandfonds befanden und wie viele Aktien sie mit fünfundzwanzig aus der Firma ihres Halbbruders erhalten würde.

Kein Zweifel, Alena würde einmal sehr vermögend sein und für ihn eine wertvolle Schachfigur in seinem Spiel. Kein Wunder, dass ihr Halbbruder ein so wachsames Auge auf sie hatte. Doch jetzt war sie Kiryl ins Netz gegangen, und ihm war klar, dass er damit einen unschätzbaren Vorteil über seinen Konkurrenten erlangt hatte. Mit Alena hatte er ein wirkliches Pfund in der Hand. Der Mann, der sie einmal ehelichte, würde damit automatisch in einen der einflussreichsten Konzerne des Landes einheiraten. Eine Allianz mit ihrem Bruder war eine der stärksten Verbindungen, die man sich nur wünschen konnte.

Aber was dachte er da? Er würde gewiss nicht derjenige sein, der sie heiratete. Er würde niemanden heiraten. Doch wenn es seinen Plänen nützte, würde er dafür sorgen, dass Alena eine Heirat für möglich hielt.

Nein, Kiryl wusste genau, was er wollte. Er wollte Alena verführen, wollte, dass sie sich in ihn verliebte. Und das war wahrscheinlich gar nicht so schwierig. Denn natürlich war ihm seine Wirkung auf sie nicht verborgen geblieben. Und wenn sie einmal angebissen hatte, würde er die Beziehung unter einer Bedingung beenden: Ihr Bruder müsste sein Angebot für den Auftrag zurückziehen. Kiryl ging davon aus, dass Vasilii ihn auf keinen Fall zum Schwager haben wollte. Das hing nicht nur mit seiner einfachen Herkunft zusammen, sondern auch damit, wie er aus der Gosse wieder herausgekommen war. Seiner Einschätzung nach würde Alenas Bruder mit Freuden auf ein Geschäft verzichten, wenn er dafür seine Schwester zurückgewinnen und dafür sorgen konnte, dass sie einen Mann heiratete, der besser zu ihr und ihrer Familie passte.

Natürlich würde Vasilii diese Art von Erpressung nicht gefallen, aber er würde es letzten Endes akzeptieren müssen, denn Alenas Schwäche für Kiryl war seine Achillesferse. Und ohne Zweifel war Vasilii seine Schwester sehr wichtig, sonst hätte er sie nicht so eifersüchtig bewacht.

Was nun Alena selbst anging … er würde ihr das sexuelle Vergnügen verschaffen, nach dem sie sich offensichtlich so sehnte. Und wenn ihre Affäre erst einmal vorüber war und ihr Bruder sie mit einem Mann verkuppelte, den sie vielleicht gar nicht liebte, würde sie noch sehr lange an ihn zurückdenken.

Während Kiryl so seinen Gedanken nachhing, tauchte auf einmal das Gesicht seiner Mutter vor seinem geistigen Auge auf. Er erinnerte sich daran, mit welcher Verzweiflung sie ihm damals erzählt hatte, wie sehr sie seinen Vater geliebt habe und wie hart es sie getroffen habe, als er sie und ihren gemeinsamen Sohn zurückstieß. Aber diesen Gedanken verdrängte Kiryl schnell wieder. Hier ging es nur ums Geschäft, das musste er sich immer wieder vor Augen halten.

Das Taxi bog in die Einfahrt zum Hotel ein. Während Kiryl bezahlte, erschien ein Portier in Uniform, der Alena den Wagenschlag aufhielt und ihr heraushalf. Im Vorübergehen steckte Kiryl ihm ein fürstliches Trinkgeld zu. Bestimmt würde der Mann sich an ihn und Alena erinnern, und das konnte für seine Pläne nur gut sein.

„Hier entlang“, sagte er zu Alena. Er ergriff ihren Arm und führte sie in Richtung Lift. Damit hatte sie nicht gerechnet, denn zum Restaurant ging es nach links. Kiryl spürte, wie sie erstarrte.

„Was soll das?“, fragte sie verwirrt. „Ich dachte, wir würden zu Mittag essen.“

„Ja, das machen wir auch“, nickte er. „Aber nicht im Restaurant. Ich habe mir überlegt, dass wir uns in meiner Suite ungestörter unterhalten können.“ Er fasste sie am Arm und stieg mit ihr in den Fahrstuhl.

In seiner Suite? Bei dem Gedanken, allein mit ihm zu sein, wurde Alena ganz heiß. Einerseits hatte sie sich genau das gewünscht. Zugleich wusste sie nicht, ob es ihr gelingen würde, eine so intime Situation heil zu überstehen.

Ihr Herz fing heftig zu pochen an, und sie sagte mit unsicherer Stimme: „Bitte entschuldigen Sie, aber ich bin mir nicht sicher, ob …“

„Haben Sie Angst, mit mir allein zu sein? Glauben Sie, ich würde versuchen, Sie zu verführen? Oder …“, er sah sie eindringlich an, „wünschen Sie sich das vielleicht sogar?“

„Nein!“, protestierte sie laut.

In diesem Moment hielt der Fahrstuhl, und die Tür glitt zur Seite. Kiryls Blick war noch immer auf Alena gerichtet – mit einer Mischung aus Amüsement und etwas, das sie nicht benennen konnte. Aber es entzündete sofort wieder ihr Verlangen nach ihm.

„Dann bin ich ja froh“, erwiderte er ungerührt. „Denn ich kann Ihnen versichern, dass es für mich hier nur ums Geschäft geht.“

Und das war nicht einmal gelogen – auch wenn er nicht die Absicht hatte, ihr zu enthüllen, wie weit seine Pläne gingen.

Alena war einerseits erleichtert, andererseits aber auch peinlich berührt. Erneut hatte sie das Gefühl, als könnte dieser Mann ihre geheimsten Gedanken erraten, und das war nicht gerade angenehm. Aber sie wusste, dass es jetzt keinen Schritt mehr zurückgab. Denn wenn sie das hier ihrem Bruder gegenüber überhaupt rechtfertigen konnte, dann nur durch die Tatsache, dass es um die Stiftung ging. Das musste ihr vordringlichstes Ziel sein. Sie musste Vasilii beweisen, dass sie erwachsen genug war, die Nachfolge ihrer Mutter anzutreten.

Geräuschlos liefen sie über den dicken Teppich den Flur hinunter, bis sie vor Kiryls Suite angelangt waren. Er öffnete die Tür und bedeutete ihr einzutreten.

Das Erste, was Alena auffiel, waren die hohen Fenster, durch die helles Tageslicht drang. Sie ließen das Wohnzimmer noch größer erscheinen, als es war, und hüllten den Raum in ein warmes Licht, das eine beinahe beruhigende Wirkung auf sie hatte. Sie entspannte sich ein wenig.

Die Einrichtung der Suite unterschied sich in nichts von anderen Räumen dieser Art, die sie aus Luxushotels in aller Welt kannte. Es gab einen künstlichen Kamin, einen eleganten Essbereich und einen großen Wandschrank, hinter dem sie das Panorama-TV und die Minibar vermutete. Das ganze Zimmer war in hellen Grautönen gehalten, wirkte modern und zugleich zeitlos.

„Gut, dann werde ich mal das Essen kommen lassen. Ich hoffe, meine Wahl sagt Ihnen zu. Ach, und hier ist das Badezimmer für Gäste, wenn Sie sich vorher noch ein wenig frisch machen wollen“, sagte Kiryl und zeigte auf eine Tür.

Alena nickte dankbar. Sie war froh, dass er ihr den Weg gewiesen hatte. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie sich in sein Schlafzimmer verirrt hätte. Denn bestimmt hätte sie sich nicht versagen können, das Bett zu betrachten … sich vorzustellen, wie Kiryl darin lag … nackt … und wie sie neben ihm lag und seinen athletischen Körper liebkoste.

Doch nichts dergleichen geschah, und als sie im Badezimmer stand, atmete sie erst einmal tief durch. Das Herz schlug ihr noch immer bis zum Hals. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand, zählte bis zehn und war erleichtert, dass sich ihr Herzschlag langsam beruhigte.

Am Waschbecken ließ sie sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Warum war sie hier? Natürlich wegen der Spende, die Kiryl in Aussicht gestellt hatte! Das durfte sie nicht vergessen. Sie griff nach einem der weißen Handtücher und trocknete sich ab. In diesem Moment läutete es an der Tür der Suite. Das mussten die Bediensteten mit dem Mittagessen sein.

Und mit was für einem Mittagessen!

Zwei livrierte Kellner hatten einen perfekt gedeckten Serviertisch hereingeschoben. Einer von ihnen forderte Alena auf, sich zu setzen, während der andere einen Stuhl für Kiryl bereithielt. Dann servierten sie den ersten Gang: einen Salat aus Birne und Ziegenkäse, Alenas Lieblingsvorspeise.

„Vielen Dank, den Rest machen wir selbst“, verkündete Kiryl und steckte den beiden ein Trinkgeld zu. Als sie gegangen waren, sagte er zu Alena: „Zuerst sollten wir anstoßen – mit unserem Nationalgetränk, habe ich mir gedacht.“ Er holte eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit aus einem Eiskübel und goss zwei kleine Gläser voll.

„Wodka?“

Aber Kiryl ließ Alena keine andere Wahl, als das Glas anzunehmen. Ihre Finger berührten sich kurz, und es durchfuhr sie heiß. Was war nur los, warum konnte dieser Mann sie bis ins Mark erschüttern? Der männlich-herbe Duft seines Eau de Colognes wehte ihr in die Nase. Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie sich kaum noch zu atmen traute.

Obwohl sie noch nicht einmal vom Wodka gekostet hatte, fühlte sie sich jetzt schon leicht benebelt. Bestimmt hing es damit zusammen, wie wichtig dieses Treffen war – für die Stiftung und für sie selbst. Ihre Hand fing an zu zittern, ihre Knie wurden ganz schwach. Aber glücklicherweise schien Kiryl nichts davon zu bemerken. Er schüttete sich selbst ein Glas ein und prostete ihr zu.

Za vashe zdorovie – auf Ihre Gesundheit“, sagte er, bevor er es in einem Zug leerte.

Alena wusste, dass er von ihr dasselbe erwartete. Schließlich war es Tradition. Nach kurzem Zögern erwiderte sie seinen Toast, doch am Glas nippte sie nur.

„Es wird allgemein behauptet, dass Wodka nicht so stark wirkt, wenn man ihn in einem Zug herunterschluckt. Aber wie ich sehe, sind Sie eine Frau, die ihr Vergnügen gern etwas in die Länge zieht. Und Wodka zu trinken, ist ja ein ganz besonderes Vergnügen für die, die ihn lieben. Er ist eiskalt wie die Taiga und fängt dann an, im Magen zu brennen und das Herz zu wärmen. Das ist nichts für Zartbesaitete. Aber ich weiß ja schon, dass Sie eine mutige junge Dame sind. Das haben Sie mir bereits bewiesen.“

Er lächelte sie an und hielt den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber tief in seinen grünen Augen verborgen lag ein Funkeln, das ihr Angst machte, sie aber auch erregte.

Wie war das aufzufassen, was er gerade gesagt hatte? Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.

„Ich finde es sehr mutig von Ihnen, dass Sie sich vorgenommen haben, trotz Ihrer Jugend und Unerfahrenheit in die Fußstapfen Ihrer Mutter zu treten.“

Natürlich, das hatte er ihr sagen wollen. Wie kam sie nur dazu, all seinen Worten eine persönliche Bedeutung zu geben? Und warum gelang es ihr eigentlich nicht, seine sinnliche Ausstrahlung zu ignorieren? Er hatte ihr doch deutlich genug zu verstehen gegeben, dass sein Interesse an ihr rein geschäftlicher Natur war. Wollte sie etwa, dass er sich für sie als Frau interessierte? Dass er sie begehrte? Nein! Nein, nein und nochmals nein.

„Ich bin sehr stolz, diese Verantwortung übernehmen zu dürfen“, erwiderte Alena und kippte den Rest des Wodkas hinunter. Ihre Stimme klang unerwartet fest.

Kiryl nickte und zeigte auf die Vorspeise. „Ich hoffe, Sie sind mit meiner Wahl zufrieden?“

„Das ist mein Lieblingssalat!“

Natürlich ist er das, dachte Kiryl voller Befriedigung. Er hatte nichts dem Zufall überlassen und sich im Restaurant nach Alenas Vorlieben erkundigt.

„Als ich Sie gefragt habe, warum Sie sich ausgerechnet für unsere Stiftung interessieren, haben Sie Ihre Mutter erwähnt“, erinnerte ihn Alena, die sich immer wieder ermahnen musste, nicht zu vergessen, dass es sich hier um ein Geschäftsessen handelte, auch wenn ihr das Ganze recht intim vorkam.

„Ja, das ist richtig“, erwiderte er und zog aus dem Eiskübel eine Flasche Wein heraus. „Diesen Wein müssen Sie probieren. Ich habe ihn hier im letzten Jahr entdeckt und finde ihn sensationell gut.“

Jetzt auch noch Wein? Das war bestimmt keine gute Idee. Alena zögerte. Natürlich schmeichelte ihr, dass es ihn interessierte, was sie von einer Flasche Wein dachte. Sie trank nicht viel Alkohol, schon ihre Mutter hatte kaum je ein Glas angerührt. Ihr Halbbruder war natürlich sehr froh, dass sie sich nicht betrank wie andere Teenager.

Schnell legte sie die Hand auf ihr Glas und schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Zu viel Alkohol bekommt mir nicht. Besonders nicht mittags.“

Kiryl setzte die Flasche ab und warf ihr erneut einen jener durchdringenden Blicke zu, die bis auf den Grund ihrer Seele zu gehen schienen. „Ernsthaft, oder tun Sie das nur Ihrem Bruder zuliebe?“

Dann lächelte er, wie um Alena zu beruhigen. Dennoch trafen sie seine Worte sehr. Zweifelte er damit ihre Reife an? Glaubte er wirklich, dass sie Angst vor ihrem Bruder hatte? War sie in seinen Augen nur ein kleines dummes Mädchen und nicht die sinnliche Frau, die sie so gern gewesen wäre?

„Mit meinem Bruder hat das nichts zu tun“, erwiderte sie heftig. „Vasilii mischt sich nicht so sehr in mein Leben ein, wie Sie vielleicht glauben. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.“

„Warum erlauben Sie mir dann nicht, Sie davon zu überzeugen, dass dieser Wein unsere gemeinsame Zeit nur noch schöner machen wird?“

Alenas Herz pochte heftig. Flirtete er jetzt mit ihr oder nicht? Ach, wenn sie doch nur nicht so unerfahren gewesen wäre! Alena konnte nicht sagen, ob Kiryls Verhalten völlig normal war oder ob da noch etwas anderes mitschwang. Vielleicht bildete sie sich das alles ja nur ein.

Sie sog tief die Luft ein und versuchte, sich zu beruhigen. Aber mit der inneren Ruhe war es im nächsten Moment schon wieder vorbei, denn Kiryl trat näher zu ihr, nahm ihre Hand in seine und schenkte ihr ein Glas Wein ein. Erst dann füllte er auch sein eigenes Glas und stellte die Flasche in den Kübel zurück. Immer noch hielt er ihre Hand. Und er begnügte sich nicht damit, sie zu halten. Er streichelte ihre Finger, fast ein wenig abwesend. „Sie zittern ja.“

Natürlich zitterte sie. Er berührte sie – nein, er berührte sie nicht nur, er liebkoste sie, und deshalb schlug ihr das Herz bis zum Halse. Kleine Schauer durchrieselten ihren Körper.

„Ihr Bruder muss wirklich sehr streng sein, wenn Sie so viel Angst vor einem kleinen Glas Wein haben.“

Glaubte er vielleicht, sie würde zittern, weil sie Angst vor Vasilii hatte? Eigentlich hätte Alena ihren Halbbruder jetzt verteidigen und Kiryl erklären müssen, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Grund gehabt hatte, sich vor Vasilii zu fürchten. Im Gegenteil, sie hatte sich an ihn immer mit all ihren Sorgen und Nöten wenden können. Bei ihm fand sie Trost, seiner Liebe konnte sie sich immer sicher sein. Aber wenn sie Kiryl das erklärte, würde er vielleicht den wahren Grund für ihr Zittern erahnen, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Daher konnte sie sich nur innerlich bei ihrem Halbbruder entschuldigen und versuchen, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken, als Kiryl ihre Hand endlich losließ.

„Gut, dann erzählen Sie mir doch etwas über die Stiftung“, forderte er sie auf.

Alena schüttelte den Kopf. „Zuerst wollten Sie mir noch etwas von Ihrer Mutter erzählen“, erinnerte sie ihn.

Einen kurzen Moment lang dachte sie, er habe sie nicht gehört. Mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck schaute er an ihr vorbei.

„Bitte entschuldigen Sie, ich …“

„Wofür entschuldigen Sie sich? Dass Sie mich nach meiner Mutter gefragt haben?“ Er zuckte mit den Achseln, sein Blick wurde kalt. „Das ist nicht nötig. Schließlich handelt es sich nicht um ein Geheimnis. Sie wären nicht die Erste, die skeptisch hinterfragt, wie es möglich ist, dass der Sohn einer heimatlosen Zigeunerin so erfolgreich geworden ist.“

Aus Kiryls Worten klang eine Bitterkeit, die Alena erschreckte. Gleichzeitig verspürte sie tiefes Mitgefühl für ihn und seine Mutter.

„Es stimmt, sie hat als Kind keine besondere Bildung genossen“, fuhr er fort. „Aber das war nicht ihre Schuld. Für meinen Vater war sie vor allem eine Geliebte – er hatte sie in einem Moskauer Café tanzen gesehen, einem Café, in dem nur reiche Leute verkehrten. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander, doch als sie ihm eröffnete, dass sie schwanger war, hat er sie verstoßen und die Vaterschaft verleugnet. Er hat sogar gesagt, dass er mich lieber nach der Geburt töten würde, als zuzulassen, dass eine Zigeunerin sein Kind auf die Welt bringt.“

Alena rang nach Luft. „Das alles hat Ihre Mutter Ihnen erzählt?“, fragte sie ungläubig.

Kiryl schüttelte den Kopf und sah sie finster an. „Nein, sie ist gestorben, als ich acht Jahre alt war. Aber kurz vor ihrem Tod hat sie mir noch gesagt, wie wichtig die Liebe im Leben sei und wie sehr sie mich geliebt habe. Dass die Liebe das größte Glück und den größten Schmerz im Leben bringen könne. Sie wollte, dass ich eines Tages stolz auf mich sein würde – obwohl wir damals in bitterster Armut lebten.“

Bitterkeit stieg in Kiryl auf. Seine Mutter war dumm gewesen, dumm und schwach. Sie hatte nicht den Mut gehabt, ihren Vater zur Rede zu stellen und zu verlangen, dass er sich ehrenhaft verhielt. All ihr Gerede von Liebe und wie stolz er auf sich sein konnte, hatte in der wahren Welt keinerlei Bedeutung gehabt. In einer Welt, die von Männern wie seinem Vater beherrscht wurde – erfolgreichen, wohlhabend Männern. Männern, die ihr eigenes Schicksal fest in der Hand hatten und Regeln aufstellten, nach denen andere sich zu richten hatten. Das war die Realität, das hatte Kiryl schon früh gelernt. Man brauchte sich nur einmal anzuschauen, wie weit es seine Mutter mit ihrem ganzen Gerede von der Liebe gebracht hatte. Nein, in seinem Leben gab es keinen Platz dafür. Liebe schwächte diejenigen, die dumm genug waren, auf sie hereinzufallen.

„Woher wissen Sie dann, was Ihr Vater über Ihre Mutter gedacht hat?“, hakte sie nach.

„Woher ich das weiß? Weil mein Vater es mir selbst gesagt hat, nachdem ich ihn endlich ausfindig gemacht hatte. Mein Vater war ein reicher Mann, mächtig und von allen respektiert. Er hat mir die Wahrheit gesagt, und dann hat er mich aus seinem großen Haus geworfen … wie einen Sack Müll. An diesem Tag habe ich mir geschworen …“

Kiryl brach abrupt ab. Er hatte schon viel zu viel von sich preisgegeben, obwohl er das nie vorgehabt hatte. Bestimmt hatte es damit zu tun, dass er ihr Vertrauen gewinnen wollte. Eine andere Erklärung gab es nicht. Denn damals, nach dieser schrecklichen Begegnung mit seinem Vater, hatte er seinen Schmerz begraben, und niemand würde jemals wieder daran rühren. Das hatte er sich geschworen. Das und dass er eines Tages reicher und mächtiger sein würde, als es sein Vater je gewesen war.

Inzwischen war sein Vater tot, und sein Vermögen war durch den zweiten Mann der jungen Frau, die er geheiratet hatte, damit sie ihm einen Sohn schenkte, bis auf den letzten Penny durchgebracht worden. Dieser Sohn war jedoch nie geboren worden, auch wenn es, wie er zu verstehen gegeben hatte, der einzige Sohn war, den er je als den seinen anerkennen würde. Kiryl hatte seinen Vater nicht wiedergesehen.

Wenn es ihm nun gelingen sollte, diesen alles entscheidenden Auftrag zu bekommen, hätte er endlich das Ziel erreicht, das er sich als Fünfzehnjähriger in Moskau gesteckt hatte.

Er blickte Alena über den Tisch hinweg an. „Als ich von der Stiftung Ihrer Mutter erfuhr, wusste ich sofort, dass ich mich dort engagieren möchte.“

Das war die Wahrheit. Das Wissen um die Stiftung, verbunden mit der Nachricht, dass Alena sie übernehmen wollte, hatte Kiryl eine Waffe in die Hand gegeben, wie sie schärfer nicht sein konnte.

„Mir ist bekannt, wie sehr sich die Stiftung dafür einsetzt, dass Mädchen eine gute Bildung bekommen. Und ich bewundere Sie sehr dafür, dass Sie die Absicht haben, diese schwierige Arbeit zu übernehmen. Nicht viele junge Frauen in Ihrem Alter würden das tun.“

„Danke“, erwiderte sie leise. „Sie müssen wissen, dass meiner Mutter diese Sache sehr am Herzen lag.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Es muss schlimm für Sie gewesen sein, ohne Ihre leibliche Mutter aufzuwachsen und …“

„Mein Vater meinte, ich hätte Glück gehabt, dass ich von einer Pflegemutter aufgezogen worden sei, die man nicht mit Zigeunern in Verbindung bringen könne.“

Alena spürte, wie ihr die Tränen kamen. Wie sehr musste er als Kind unter den Umständen gelitten haben.

„Wenn ich Ihnen zuhöre, weiß ich erst, was für ein Glück ich mit meinen Eltern gehabt habe“, sagte sie mit erstickter Stimme.

„Aber vielleicht nicht mit Ihrem Bruder, der Ihr Leben bis ins Detail zu kontrollieren scheint.“

„Vasilii will nur das Beste für mich.“

„Für Sie, aber auch für sich selbst. Wie wäre es jetzt mit dem Hauptgang? Bevor er kalt wird, meine ich. Ich hoffe, Sie mögen Seezunge?“

„Ja, das ist auch eines meiner Lieblingsgerichte“, erwiderte sie und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: „Aber das wussten Sie ja schon, nicht wahr? Deshalb haben Sie es ja ausgewählt.“

So viel hatte sie also verstanden. Das sprach durchaus für ihre Intelligenz. Kiryl nickte und lächelte: „Also gut, ich gebe zu, dass ich im Restaurant nachgefragt habe, was Sie gern essen. Ich wollte einen guten Eindruck auf Sie machen.“

Alena jubelte innerlich darüber, dass er sie offensichtlich beeindrucken wollte. Gleichzeitig war sie so verlegen, dass sie ihn nicht anschauen konnte. „Eigentlich sollte ich Sie beeindrucken“, sagte sie schließlich. „Denn ich habe von unserer Begegnung mehr zu gewinnen als Sie.“

„Das würde ich nicht sagen“, erwiderte Kiryl und legte ihr den Fisch vor. „Ich hoffe, sehr viel von unserer Begegnung zu profitieren.“

Bei diesen Worten sah er auf ihre Lippen, die sich unwillkürlich teilten.

„Erzählen Sie mir mehr über Ihre Mutter“, forderte er sie auf, während er weiter ihren Teller füllte.

„Meine Mutter war eine besondere Frau“, erzählte Alena mit sanfter Stimme. „Das fanden alle, die mit ihr zu tun hatten.“

„Auch Ihr Halbbruder? Schließlich war sie ja nur seine Stiefmutter.“

„Vasilii hat sie über alles geliebt. Als meine Eltern sich in St. Petersburg kennenlernten, wo meine Mutter als Englischlehrerin arbeitete, war er vierzehn Jahre alt. Seine eigene Mutter starb, als er sieben Jahre war. Von Anfang an hat er sich gewünscht, dass die beiden heirateten.“

Kiryl hörte Alena aufmerksam zu und ließ sie nicht eine Sekunde lang aus den Augen.

„Meine Mutter war in St. Petersburg sehr glücklich“, fuhr sie fort. „Gemeinsam mit meinem Vater waren wir fast jeden Winter dort. Es ist so eine romantische Stadt. Wenn die Newa gefroren ist und die Lichter der Altstadt im Schnee glitzern, ist es wie in einem Märchen. Und im Sommer, wenn die Sonne erst ganz spät untergeht, trifft sich die ganze Bevölkerung auf den kleinen Inseln im Flussdelta. Ich habe immer davon geträumt …“

„Dass Sie sich eines Tages dort verlieben?“

Alena schüttelte den Kopf. „Nein, so romantisch bin ich nun auch wieder nicht. Aber ich habe mir gewünscht, die Stadt einmal mit jemandem zu besuchen, der mir sehr nahe steht.“ Mehr sagte sie nicht, weil sie sich ihm gegenüber nicht verraten wollte.

Kiryl kannte das St. Petersburg, von dem Alena sprach – das St. Petersburg der Reichen und Privilegierten. Denn inzwischen gehörte er ja selbst dazu. Aber er kannte auch ein anderes Gesicht dieser Stadt. Das St. Petersburg seiner Kindheit, in dem er in Armut und verstoßen von seinem Vater gelebt hatte. Mittlerweile hatte Kiryl Russland den Rücken gekehrt, genau, wie sein Vater ihm den Rücken gekehrt hatte. Nunmehr betrachtete Kiryl sich als Weltbürger, der überall zu Hause war.

Natürlich würde er Alena nichts davon erzählen. Er wollte ihr das Gefühl geben, dass er sie verstand und sich in sie einfühlen konnte.

4. KAPITEL

Inzwischen war es drei Uhr nachmittags. Nach dem Essen hatten die beiden in der Sitzecke Platz genommen. Als Alena nun aufstand, um zu gehen, wurde ihr schwindelig, was einerseits auf das Glas Champagner zurückzuführen war, zu dem Kiryl sie überredet hatte, um auf das erfolgreiche Gespräch anzustoßen. Zum anderen aber auch auf die Höhe der Spende, die er der Stiftung machen wollte.

„Das ist wirklich unglaublich großzügig von Ihnen.“ Sie merkte, dass sie nicht ganz sicher auf den Beinen war, und war froh, als er ihren Ellenbogen ergriff, um sie zur Tür zu geleiten.

Kiryl hatte darauf bestanden, die Geschäftsführerin persönlich anzurufen, um ihr seinen Entschluss mitzuteilen. Sodann hatte er seiner Bank den entsprechenden Auftrag erteilt, und sie hatten miteinander angestoßen. Kein Wunder also, dass Alena sich so euphorisch fühlte. Doch das lag nicht nur am geschäftlichen Erfolg. Sie konnte nicht leugnen, dass Kiryls Nähe ihre Gefühlswelt gehörig durcheinanderbrachte.

Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Schließlich war sie nicht einfach nur eine junge Frau, deren Hormone verrückt spielten, sondern zugleich ein seriöse Geschäftsfrau. Und die waren dafür bekannt, dass sie Beruf und Privatleben trennen konnte.

Als sie an der Tür angelangt waren, sah sie Kiryl fragend an, und in diesem Moment beugte er den Kopf zu ihr herunter. Die Zeit schien stillzustehen. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut wie eine zärtliche Berührung. Unwillkürlich musste sie an die eisigen Flüsse Russlands denken, die im Frühling auftauten und die gefrorene Erde zum Leben erweckten.

„Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie vorhin gesagt haben, als wir hier eingetroffen sind?“, fragte er mit leiser Stimme. „Dass Sie keine Angst hätten, mit mir allein zu sein?“

„Ja …“ Alena rang nach Worten. Sie hatte das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, der ebenso gefährlich wie verführerisch war. Wie gebannt blickte sie in seine tiefgrünen Augen, die so vieles zu versprechen schienen, was ihr noch unbekannt war.

„Sie als Jungfrau hätten allen Grund, sich vor mir zu fürchten.“

Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. Er wusste also, dass sie noch Jungfrau war? Wie war das möglich?

Kiryl sah Alena unbewegt an. Unwillkürlich hatte sie die Lippen geöffnet. Ein leichtes Zittern überlief ihre Arme, der Sturm an Gefühlen spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.

Dass sie bisher noch mit keinem Mann geschlafen hatte, war für sein Spiel von Vorteil. Denn ihre Jungfräulichkeit hing bestimmt nicht mit fehlender Sinnlichkeit zusammen, so viel war offenkundig. Nein, es musste mit ihrer Erziehung zu tun haben oder mit dem Einfluss ihres Bruders. Letztlich machte es keinen Unterschied, wichtig war lediglich, dass es Kiryl in die Hände spielte. Denn er plante, sie im Sturm zu erobern. Und das würde ihm gelingen. Es musste ihm gelingen.

Sanft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und umfasste ihren Nacken. In Alenas silbrig-grauen Augen schimmerte es verdächtig. „Du weißt, dass ich dich jetzt küssen werde, nicht wahr?“

Sie war unfähig, etwas zu erwidern. Aber ihr Herz machte einen Sprung, und sie wurde von einer körperlichen Sehnsucht erfasst, die sie zu verzehren drohte.

Wie gebannt hob sie die Hand und zeichnete Kiryls Gesichtszüge nach. Die Gefahr, die in seinen tiefgrünen Augen lauerte, ließ sie erzittern. Er hatte begonnen, sie zärtlich zu streicheln. Wellen der Erregung durchfluteten ihren Körper, ihr wurde ganz heiß. Das Verlangen nach ihm war übermächtig.

Ergeben schloss sie die Augen, drängte sich an ihn und öffnete leicht die Lippen, damit er sie küsste.

„Nein. Bitte mach die Augen auf. Ich möchte dich anschauen, wenn ich dich küsse. Ich möchte, dass du dieses Vergnügen mit mir teilst. Sag mir, dass du es auch willst. Sag mir, dass du mich genauso willst wie ich dich!“

Wie hätte sie diesen Worten und dieser Nähe widerstehen können, die doch genau das ausdrückten, was sie selbst empfand? Doch sie konnte diesen Wunsch nicht aussprechen. Das einzige, was sie wollte, war, ihn zu küssen. Und so presste sie ihre Lippen auf seine und gab sich ihm ganz hin. Es war eine neue Welt, die sie in diesem Moment betrat, und sie war besser als alles, was man sich vorstellen konnte.

Dieses Verlangen, diese Gier, die er in ihr auslöste, war neu für sie und zugleich die natürlichste Sache der Welt. Das spürte sie. Und sie wusste noch etwas – dass es nur einen einzigen Mann im Leben gab, der sie so tief berühren und in ihr die Sehnsucht erwecken würde, ewig ihm zu gehören. Er war ihr Schicksal, das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers.

Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, seine Zunge erforschte ihren Mund, spielte mit der ihren, beherrschte sie und verführte sie erneut, die intime Berührung zu erwidern. Heiß pulsierte die Lust in ihr. Neue, nie gekannte Gefühle durchströmten ihren Körper wie Feuer. Gefühle, von denen sie erst jetzt eine Ahnung bekam, und denen noch Tausende neuer Freuden folgen würden.

Leise seufzend schmiegte sie sich noch enger an ihn.

Kiryl spürte deutlich Alenas Erregung. Er machte sich für einen Augenblick los und sah ihr tief in die Augen. Dann musterte er sie von oben bis unten. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sie zitterte in seiner Umarmung. Unter ihrer Chiffonbluse zeichneten sich die Konturen ihrer Brüste ab. Ohne Vorwarnung beugte er sich hinunter und umschloss die rechte Brustwarze mit seinem Mund. Als er daran zu saugen begann, stieß Alena einen Schrei aus und rief laut seinen Namen. Schauer der Lust liefen durch ihren Körper, sie war Kiryl hilflos ausgeliefert.

Jetzt küsste er sie wieder auf den Mund und umfasste sie mit seinen starken, männlichen Armen.

„Gefällt es dir?“, flüsterte er atemlos. „Ist es das, was du willst? Sag es mir, Alena. Sag mir, dass du dich nach mir verzehrst, dass du meine Liebe willst.“

Alena konnte kaum noch klar denken. Jeder Nerv ihres Körpers schien zu vibrieren.

„Sag mir, dass du dich nach meiner Berührung sehnst. Sag mir, dass du mich willst, Alena.“ Seine Augen glitzerten dunkel.

Alena kapituliert. Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt. „Ja, ich will dich“, stieß sie mit letzter Kraft hervor. „Ich will dich, ich …“

Genau in diesem Moment piepste ihr Handy und verkündete mit den Ton den Eingang einer SMS. Mit einem Schlag kehrte sie in die Realität zurück.

„Lass es“, sagte Kiryl, was fast einem Befehl gleichkam.

„Das kann ich nicht, vielleicht ist es Vasilii.“

Er runzelte die Stirn, aber Alena ließ sich nicht beirren. Sie wusste, dass Vasilii sich Sorgen machen würde, wenn sie nicht auf seine Nachricht reagierte.

Sie machte sich los und eilte zum Sofa, auf dem ihre Handtasche lag. Dabei spürte sie die Veränderung, die in den letzten Minuten in ihr vorgegangen war. Kiryl hatte ihre Sinnlichkeit zum Leben erweckt, ihr ganzer Körper stand unter Hochspannung. Ja, er hatte sie erweckt, und jetzt verzehrte sie sich nach ihm. Es war ein wunderschönes, berauschendes Gefühl.

Ihre Hand zitterte, als sie das Handy aus der Tasche holte und die Nachricht las. Sie nickte bestätigend. „Ja, die ist von Vasilii.“ Schnell überflog sie den Text und legte die Stirn in Falten.

„Stimmt etwas nicht?“

Alena schüttelte den Kopf. „Nein, alles in Ordnung. Er schreibt mir nur, dass seine Geschäfte länger dauern als erwartet und dass er erst in fünf Tagen nach London zurückkommt. Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, ihm persönlich von deiner großzügigen Spende zu erzählen, aber jetzt muss ich ihm wohl schreiben.“

Kiryl erstarrte. Vasilii durfte seinen Plan auf keinen Fall vereiteln. Und er durfte auch nicht wissen, dass er Alena kennengelernt hatte. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er es ihm selbst sagen.

„Warum wartest du nicht ab bis zu seiner Rückkehr?“, schlug er vor. „Dann kannst du ihm gleich den Scheck zeigen.“

Alena zögerte. „Ja, vielleicht ist es besser so“, sagte sie nachdenklich. Plötzlich war sie sehr verlegen. Die SMS hatte das Gefühl der Verbundenheit mit Kiryl, das gerade erst aufgekommen war, abrupt beendet. Mit einem Mal schämte sie sich fast ein wenig für die rückhaltlose Hingabe, mit der sie seine Zärtlichkeiten erwidert hatte. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

„Läufst du vor mir davon?“, neckte er sie.

Er war über die Störung verärgert, bemühte sich aber, dies nicht zu zeigen. Ein wichtiger Teil seines Plans bestand darin, Alena völlig in seinen Bann zu ziehen. Und das bedeutete, sie nicht nur sexuell zu besitzen, sondern auch ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie sollte ganz ihm gehören, niemand sollte ihr mehr bedeuten als er – nicht einmal ihr Halbbruder. Und um dieses Ziel zu erreichen, gab es nur einen Weg. Er musste ihr schmeicheln, sie verwöhnen und ihr den besten Sex bescheren, den sie je in ihrem Leben haben würde.

Natürlich hätte er sie jetzt wieder in die Arme schließen und mit dem Liebesspiel fortfahren können. Aber er wollte, dass sie diejenige war, die zu ihm kam, die um Zärtlichkeiten bettelte. Und er erkannte, dass jetzt nicht der richtige Moment dafür war. Die Nachricht von ihrem Bruder hatte sie zu sehr abgelenkt.

Doch da war noch etwas anderes als die Tatsache, dass die unerwartete Unterbrechung seine Pläne durchkreuzte. Obwohl er es sich nur ungern eingestand, hatte Kiryl die körperlichen Intimität mit Alena sehr genossen. Sein Körper hatte auf ihren Kuss mit einer Heftigkeit reagiert, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Das irritierte ihn. Bestimmt hatte es mit dem Verlangen zu tun, seinen Plan in die Tat umzusetzen, und nicht mit seinem Verlangen nach ihr. Denn bisher hatte ihn noch keine Frau dazu gebracht, sich nach ihr zu verzehren. Und er würde es auch niemals so weit kommen lassen. Vielleicht lag es ja auch daran, dass Alena noch Jungfrau war und dass die Rückhaltlosigkeit, mit der sie seinen Kuss erwidert hatte, ihn überrascht hatte.

Es gehörte jedenfalls nicht zu seinem Plan, dass er selbst Alena wirklich begehrte. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Er hatte alles gegeben, um seine Ziele zu erreichen. Und jetzt, da er dem Erfolg so nahe war, durfte nichts mehr schiefgehen. Daher musste er das wilde Verlangen seines Körpers nach dieser Frau ignorieren, koste es, was es wolle.

Alena wirkte ziemlich angespannt. Sie hatte ihre Tasche in der Hand und schien gehen zu wollen. Plötzlich war Kiryl wütend auf ihren Bruder, der eine solche Macht über sie hatte.

„Ich werde dich zurück in deine Suite bringen“, verkündete er und hob die Hand, als sie protestieren wollte. „Nein, sag jetzt bitte nichts. Du musst mir ein offenes Wort erlauben. Auch wenn es keiner von uns beiden gedacht hätte, hat dieser Nachmittag doch eine überraschende Wendung genommen. Ich hatte nicht vor, dich zu küssen … aber nun, da es geschehen ist, spüre ich dir gegenüber eine gewisse Verantwortung. Gestatte mir daher bitte, dich zu begleiten, es ist ja nur zu deinem eigenen Schutz.“

Was hätte sie einem so charmanten Angebot entgegensetzen können?

Wenige Minuten waren die beiden unterwegs zu Alenas Suite. Im Lift konnten sie nicht miteinander sprechen, da ein Hotelangestellter sie begleitete. Das gab Kiryl die Möglichkeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Wenn er Alena wirklich dazu bringen wollte, sich ihm vollständig hinzugeben, würde er sie entführen müssen, machte er sich klar. An einen Ort, wo er sie nur für sich hatte und an dem ihr Bruder sie nicht stören konnte.

Schließlich waren sie vor der Suite angelangt. Sollte sie ihn jetzt hereinbitten, würde er ablehnen. Erneut verfluchte er die Unterbrechung ihres intimen Moments, auf den er so gezielt hingearbeitet hatte.

Alena drehte sich um und holte tief Luft. Im Aufzug hatte sie sich sehr unwohl gefühlt, denn noch vibrierte ihr Körper von Kiryls Zärtlichkeiten. Sie glühte und hatte das Gefühl, als könnte man ihr ihre Aufgewühltheit deutlich ansehen. „Danke für die großzügige Spende“, sagte sie nun förmlich und fügte mit weicher Stimme hinzu: „Und danke auch dafür, dass du mir von deiner Mutter und St. Petersburg erzählt hast.“

St. Petersburg. Kiryl starrte sie an. Natürlich! Sie hatte ihm erzählt, wie romantisch sie die Stadt fand. Und zu dieser Jahreszeit würde es dort bestimmt besonders schön sein. Er wusste, dass die reichen Bewohner der Stadt im Winter in wärmere Gefilde flüchteten. Die Wahrscheinlichkeit, auf Bekannte zu stoßen, war also sehr gering. Ja, das war die perfekte Lösung!

Kiryl lächelte Alena gewinnend an. „Freut mich, dass dir der Nachmittag gefallen hat.“

Gefallen? Welche Untertreibung! Alenas Herz fing erneut wie wild an zu pochen. Sie hoffte, dass er ihre Aufregung nicht bemerkte.

„Was mich betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich jede Minute genossen habe“, fuhr er fort. „Ich möchte dir keinen Druck machen, Alena, aber ich habe das Gefühl, keiner von uns beiden war darauf vorbereitet, dass die Chemie zwischen uns so stark sein würde. Ich empfinde es als etwas Besonderes. Das ist eigentlich nicht erstaunlich, denn du bist etwas ganz Besonderes. Um ehrlich zu sein, hat noch nie eine Frau solche Gefühle in mir ausgelöst.“

Das stimmte. Aber es hing natürlich mit ihrer Verbindung zu Vasilii zusammen. Das war der einzige Grund, warum sie ihn nicht kalt ließ.

„Ich möchte dich gern wiedersehen“, fügte er hinzu. „Hättest du morgen Zeit?

„Ja.“ Alena hatte das Gefühl, dass sie eine neue, unbekannte Welt betrat, in der Kiryl ihr Führer und einziger Vertrauter war.

„Es fällt mir wirklich schwer, mich von dir zu trennen“, flüsterte er. Das stimmte, er wollte sie am liebsten gar nicht mehr gehen lassen. Aber das hatte natürlich mit seinem Kontrollbedürfnis zu tun.

„Es gibt so viel, was ich dir zeigen und mit dir teilen möchte.“ Er sprach jetzt bewusst mit heiserer, tiefer Stimme, und er spürte, wie das sein Verlangen nach ihr noch verstärkte. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Es klingt vielleicht ein wenig albern“, fuhr er fort. „Aber ich würde mir wünschen, dass unser näheres … Kennenlernen unser kleines Geheimnis bleibt … jedenfalls, solange du …“ Er brach mitten im Satz ab und beobachtete, welche Wirkung seine Worte auf Alena hatten.

Natürlich wusste Alena genau, worauf er anspielte. Auch sie spürte, wie unwiderstehlich die Anziehungskraft zwischen ihnen beiden war. Aber sie wusste auch, dass Vasilii dies möglicherweise ganz anders sehen würde. In dem Moment, da sie Kiryl erwähnte, würde ihr Bruder ihr unzählige Fragen stellen. Fragen, die sie weder beantworten konnte noch wollte. Dazu war ihre Intimität zu neu und zu kostbar.

„Ja, das sehe ich auch so“, versicherte sie ihm. Durch sein Geständnis fühlte sie sich in ihren Gefühlen bestärkt. Er teilte ihr Verlangen, mehr musste sie nicht wissen.

„Gut, dann wird es von heute an unser Geheimnis sein.“

Alena hatte die Tür mithilfe ihrer Codekarte geöffnet. Jetzt drehte sie sich noch einmal zu Kiryl um und legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich danke dir“, sagte sie mit weicher Stimme. „Danke für deine Spende und … vor allem danke … dafür.“ Sie lehnte sich nach vorn und küsste ihn.

Damit hatte Kiryl nicht gerechnet. Und er konnte nicht verhindern, dass die Lust in seinen Körper schoss. Obwohl es alles andere als logisch war, wurde er plötzlich wütend auf Alena. Erkannte sie nicht, dass es falsch war, ihm so blind zu vertrauen? Sah sie nicht, wie verletzlich sie sich damit machte? Andererseits, was scherte es ihn eigentlich, wenn sie verletzt wurde? Wann hatte ihm das jemals etwas ausgemacht? Noch nie, und so sollte es auch bleiben. Denn dies war der schnellste Weg zur eigenen Vernichtung, das hatte ihm seine Mutter deutlich vorgeführt. Er musste auf sein Ziel fokussiert bleiben, denn nur so konnte er erfolgreich sein. Und nur so würde es ihm gelingen, die dunklen Schatten seiner eigenen Vergangenheit zu vertreiben – endlich zu vergessen, dass sein eigener Vater nichts als Verachtung für ihn übriggehabt hatte.

Sanft schob er sie von sich weg und sagte mit Nachdruck: „Wenn du jetzt nicht hineingehst, muss ich mitkommen. Und das Apartment deines Bruder ist nicht der Platz, an dem ich mit dir …“

Alena nickte. Sie wusste genau, was er meinte. Und natürlich hatte er damit vollkommen recht.

„Morgen komme ich, um dich abzuholen. Und du …“

„Ich werde für dich bereit sein“, erwiderte sie tapfer und vertrauensvoll.

5. KAPITEL

Alena war glücklich. Wenn sie bisher geglaubt hatte, jemals glücklich gewesen zu sein, hatte sie sich geirrt. Die bisher erlebten Freuden waren nichts gewesen im Vergleich zu ihren momentanen Gefühlen. Das Glück erfüllte ihr ganzes Sein. Allein der Gedanke an Kiryl löste eine unbeschreibliche Sehnsucht in ihr aus.

Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht und war früh aufgestanden. Voller Energie ging sie im Zimmer auf und ab, das Handy fest in der Hand, und wartete ungeduldig auf seinen Anruf. Und dieser Anruf würde kommen, denn das, was gestern geschehen war, hatte sie sich nicht eingebildet. Kiryl hatte ihr ein Versprechen gegeben. Vielleicht für eine Reise in eine gemeinsame Zukunft?

Trotz ihrer Euphorie hütete sie sich, voreilige Schlüsse zu ziehen. Stattdessen nahm sie sich vor, jeden Moment auszukosten: jede Berührung, jeden Kuss und jede Intimität, die sie teilen würden.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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Lucy Monroe

Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...

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