Schicksalstage auf Mallorca

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Süße Unschuld oder Schwindlerin? Der Anwalt Fernando Estevez traut der jungen Frau nicht, die behauptet, die lang vermisste Laura Santiago zu sein. Heimlich will er prüfen, ob sie wirklich der reichen Dynastie entstammt - und lädt sie in seine Villa auf Mallorca ein. Für sieben Tage und Nächte …


  • Erscheinungstag 30.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777012
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Strahlender Sonnenschein empfing Laura, als sie aus der stickigen Flughafenhalle ins Freie trat. Sie atmete tief durch und umfasste das silberne Kreuz, das sie an einer feingliedrigen Kette um den Hals trug, solange sie zurückdenken konnte. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht: Palma de Mallorca. Sie verspürte Erleichterung, als sie sich klarmachte, dass der Stillstand der letzten Zeit nun vorüber war. Doch zugleich überkam sie auch ein Gefühl der Angst. Was würden ihr die nächsten Tage bringen? Wie würden die Menschen, die sie gar nicht kannte und die ihr dennoch so nah waren, sie empfangen?

Sie sah sich um. Überall standen Taxen, deren zumeist ältere spanische Fahrer lautstark um Fahrgäste warben; außerdem zahlreiche Reisebusse mit glücklichen Touristen, die sich darauf freuten, zu ihren Hotels gebracht zu werden. In zwei Wochen würden sie, nach einem wohlverdienten Urlaub, entspannt wieder hier ankommen, um nach Hause zu fliegen und sich schon auf die nächsten Ferien zu freuen. Wie anders erging es da doch Laura selbst – sie wusste weder, was auf sie zukam, noch, wie lange sie bleiben würde.

Und vor allem wusste sie nicht, wie es nach ihrer Reise nach Mallorca weitergehen sollte. Ihre Stelle als Erzieherin in einer Kindertagesstätte in Barcelona hatte sie vor Kurzem verloren, da die Einrichtung aufgrund finanzieller Schwierigkeiten schließen musste.

Angesichts des schönen Wetters schien die hektische Betriebsamkeit des Flughafenalltags niemandem etwas auszumachen. Die strahlende Sonne zauberte jedem Neuankömmling ein Lächeln auf die Lippen, ganz gleich, wie gestresst er auch sein mochte nach seinem Flug. Auch bei Laura verfehlte der herrlich blaue Himmel seine Wirkung nicht. Zumindest nicht gänzlich, wenngleich ihre Sorgen weiterhin die Oberhand behielten.

Bereits vor gut einer Stunde war ihr Flieger, den sie am Vormittag von Barcelona aus genommen hatte, nach einer Flugzeit von gerade einmal fünfzig Minuten gelandet. Anschließend hatte sie ihren großen roten Trolley, der nun neben ihr stand, vom Gepäckband geholt und dann gewartet. Darauf, dass ein Mitglied der Familie Santiago sie in der Ankunftshalle abholte.

So war es abgesprochen gewesen. Doch zu Lauras Bestürzung hatte niemand nach ihr gefragt. Und jetzt blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich ein Taxi zu nehmen. Die Adresse der Firma der Santiagos kannte sie zum Glück.

Sie runzelte die Stirn. Früher, vor den Ereignissen, die ihr Leben von einem Augenblick zum anderen auf den Kopf gestellt hatten, war ihr der Name der reichen mallorquinischen Familie kein Begriff gewesen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass die Santiagos, die zwar auf Mallorca ständig in der Presse Beachtung fanden, auf dem Festland bei Weitem nicht so bekannt waren. Daher hatte Laura zunächst nicht gewusst, von wem ihre Mutter sprach, als sie sie im Krankenhaus zur Rede gestellt hatte …

Laura schüttelte den Kopf. Die unliebsame Szene und die darauffolgenden Ereignisse spukten ihr jetzt schon seit Monaten ununterbrochen im Kopf herum. Wieder und wieder dachte sie über alles nach, zuletzt auf dem Flug hierher. Und was brachte es? Nichts, rein gar nichts. Im Gegenteil, je mehr sie grübelte, umso schlimmer erschien ihr die ganze Geschichte. Aus einer Frage wurden zwei, aus zwei drei. Deshalb tat sie wohl auch besser daran, ihre Aufmerksamkeit ab jetzt in eine andere Richtung zu lenken. Zum Beispiel auf die Frage, wieso die Santiagos ihre Ankündigung, sie vom Flughafen abzuholen, nicht einhielten. Hatten sie ihre Meinung womöglich geändert? Waren sie plötzlich doch nicht mehr daran interessiert, sie kennenzulernen? Nein, der bloße Gedanke erschien ihr absurd. Immerhin ging es nicht um eine x-beliebige Verabredung, sondern um das Wiedersehen mit einem Familienmitglied, das vor fünfundzwanzig Jahren aus ihrem Leben verschwunden war.

Ein Familienmitglied, nach dem sie offenbar lange gesucht hatten.

Ihre Tochter …

Laura wurde aus ihren Gedanken gerissen, als eine hochgewachsene Gestalt vor sie hintrat. Ihr stockte der Atem. Kein Wunder, sah sie sich doch dem mit Abstand attraktivsten Mann gegenüber, dem sie je begegnet war. Er stand einfach da, ohne etwas zu sagen oder zu tun, und trotzdem spielten ihre Gefühle bei seinem Anblick verrückt – so sehr, dass sie Mühe hatte, sich zu sammeln. Der Mund wurde ihr trocken, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte, während sie den Fremden anstarrte, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen.

Seine Gesichtszüge wirkten wie aus Marmor gemeißelt. Seine Haut war tief gebräunt, das Haar schwarz und lockig. Doch am auffälligsten an ihm waren die ungewöhnlich hellen, türkisblauen Augen, mit denen er sie ziemlich herablassend, ja beinahe verärgert musterte.

Laura runzelte die Stirn. Herablassend? Verärgert? Sie musste sich täuschen. Was konnte dieser Mann schon für einen Grund haben, sauer auf sie zu sein?

Hola, sind Sie Señorita Ortega?“, fragte er auf Spanisch.

Im ersten Moment fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Woher kannte der attraktive Unbekannte ihren Namen? Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Natürlich, er musste einer der Santiago-Brüder sein.

Einer meiner Brüder, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie wusste, dass Gabriela und Miguel Santiago – ihre Eltern – drei Söhne hatten. Alejandro, Javier und Luís. Einer von ihnen war offenbar gekommen, um sie vom Flughafen abzuholen.

Unwillkürlich schämte sie sich für die Gefühle, die sein Anblick in ihr ausgelöst hatte, und sie wandte den Blick ab. Dieser Mann war immerhin ihr Bruder!

Sie atmete tief durch. „Ja, die bin ich“, erwiderte sie leise. „Ich …“

„Mein Name ist Fernando Estevez“, fiel der Spanier ihr ins Wort. „In meiner Eigenschaft als Rechtsbeistand der Familie Santiago wurde ich beauftragt, Sie vom Flughafen abzuholen.“ Seine Augen verengten sich. „Dürfte ich wohl erfahren, was Sie hier draußen am Taxistand zu suchen haben?“

„Ich verstehe nicht …“ Für einen Moment verschlug seine Eröffnung Laura die Sprache. Der Mann sollte Jurist sein? Nicht zu fassen! Groß, mit dunklem Teint und im anthrazitfarbenen Maßanzug wirkte er wie ein Modedesigner, aber nicht wie ein Anwalt.

Anwalt! Allein bei dem Wort schüttelte es sie. Sie hegte eine tiefe Abneigung gegen die Mitglieder dieses Berufsstandes, hielt sie alle für Blutsauger und konnte sie nicht ausstehen. Das hatte seine Gründe. Dass der unverschämt attraktive Señor Estevez einer von ihnen sein sollte, erschütterte sie. Noch mehr jedoch erschütterte sie ihre grenzenlose Erleichterung darüber, dass sie es nicht mit einem der Santiago-Brüder – also einem ihrer Brüder – zu tun hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Was war bloß mit ihr los? Sie reagierte doch sonst nicht so intensiv auf den Anblick eines gut aussehenden Mannes.

Was wahrscheinlich daran liegt, dass mir ein so gut aussehender Mann noch nie begegnet ist …

„Sie sollten in der Ankunftshalle warten, nicht hier draußen. Können Sie sich vorstellen, wo ich Sie überall gesucht habe?“

Beim tadelnden Klang seiner Stimme zuckte Laura unwillkürlich zusammen. Verlegen senkte sie den Blick und wollte schon eine Entschuldigung stammeln, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie sich damit keinen Gefallen tun würde. Also reckte sie das Kinn und sah den Anwalt herausfordernd an. „Ich habe in der Ankunftshalle gewartet, und zwar ziemlich lange. Wer nicht kam, waren Sie!“

In seinen hellen Augen blitzte es zornig auf. „Ich habe mich etwas verspätet, . Aber das ist noch lange kein Grund, einfach wegzugehen!“

„Ach, hätte ich warten sollen, bis ich Wurzeln schlage? Und was, wenn überhaupt niemand gekommen wäre?“

„Wie Sie sehen, bin ich da. Und um nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, schlage ich vor, dass wir uns umgehend auf den Weg machen.“

Ohne ihr das Gepäck abzunehmen oder sich davon zu überzeugen, dass sie ihm folgte, ging er zügigen Schrittes zu einem Parkhaus neben dem Flughafengebäude voraus. Laura runzelte die Stirn, während sie ihm, den Trolley hinter sich her ziehend, folgte. Wie ungehobelt der Kerl war! Glaubte er, sich alles erlauben zu können, bloß weil er gut aussah? Oder bildete er sich so viel auf seinen Beruf ein? Könnte schon hinkommen, überlegte sie. Anwälte sind so. Überheblich, eitel und selbstgerecht. Fernando Estevez’ Auftreten stellte im Grunde keine Überraschung dar.

Sie erreichten den Kurzzeitparkplatz, auf dem ein sündhaft teures silberfarbenes Cabriolet stand. Nun nahm der Anwalt Laura den Trolley doch noch ab und verstaute ihn im winzigen Kofferraum des Sportwagens. Anschließend öffnete er ihr die Beifahrertür.

Laura nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. Wenigstens schien er mit ein paar grundlegenden Regeln höflichen Verhaltens, wie es ein Mann einer Frau gegenüber an den Tag legen sollte, vertraut zu sein.

Sie stieg ein, lehnte sich in dem bequemen Ledersitz zurück und versuchte, sich ein wenig zu entspannen. Vergeblich, wie sie rasch feststellen musste. Die Aufregung, die schon die ganze Zeit ihren Puls beschleunigte, ließ sich nicht zurückdrängen. Aber war das ein Wunder? Immerhin befand sie sich auf dem Weg zu den Menschen, die bis zu ihrem sechsten Lebensjahr ihre Familie gewesen waren.

Wie immer, wenn sie an ihre Eltern dachte, versuchte sie sich an so viele Dinge wie möglich zu erinnern. Aber damals war sie ein Kind gewesen, und entsprechend verschwommen waren ihre Erinnerungen. Das verhielt sich bei den meisten Menschen so, doch bei ihr kam erschwerend hinzu, dass sie sich bis vor Kurzem überhaupt nicht an die ersten Jahre ihres Lebens hatte erinnern können …

Laura kniff die Augen zusammen, als grelles Sonnenlicht sie plötzlich blendete. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Fernando losgefahren war. Nun lenkte er seinen Wagen aus dem Parkhaus und gab Gas. Sie fuhren die von Palmen gesäumte Straße entlang, neben der sich in einiger Entfernung das tiefblau schimmernde Mittelmeer erstreckte. Fernando schaltete einen Gang höher, und unwillkürlich umklammerte Laura den Haltegriff der Beifahrertür – krampfhaft bemüht, die Panik zurückzudrängen, die jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie sich in einem schnell fahrenden Auto befand.

Jedes Mal, seit dem schrecklichen Ereignis vor vier Monaten …

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Fernandos Frage riss sie aus ihren Gedanken. Er sah sie von der Seite an und schmunzelte. „Sie sind ja ganz blass um die Nase. Haben Sie etwa Angst?“

„Natürlich nicht!“, erwiderte sie pikiert, doch der zittrige Klang ihrer Stimme strafte ihre Worte Lügen. Natürlich habe ich Angst! hätte die Antwort eigentlich lauten müssen. Und wenn Sie erlebt hätten, was ich erlebt habe, würde es Ihnen ebenso ergehen! Aber Laura hütete sich, die Worte laut auszusprechen. Erstens, um sich vor dem arroganten Anwalt keine Blöße zu geben, und zweitens, weil er sich ohnehin keine Vorstellung von dem machen konnte, was ihr widerfahren war.

Er erwiderte nichts und richtete seinen Blick konzentriert auf die Straße. Laura versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Sie durfte nicht zulassen, dass die Panik ihr ganzes Handeln bestimmte, selbst wenn ihre angstvolle Reaktion vollkommen nachvollziehbar war.

Es lag erst vier Monate zurück, seit sie einen schweren Autounfall nahezu unverletzt überstanden hatte. Ihre Eltern, oder besser gesagt, die beiden Menschen, die sie bis dahin für ihre Eltern gehalten hatte, waren nicht so glimpflich davongekommen. Wahrscheinlich geschah es nicht oft, dass jemand, der wie sie einen Unfall überlebt hatte, schon nach so kurzer Zeit wieder in ein Auto steigen konnte. Manch einer schaffte es nie, seine Ängste zu überwinden, doch sie hatte es getan.

Ein Hupen erklang, und sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Als sie den Kopf hob, erblickte sie einen Pkw, der ihnen auf der falschen Spur entgegenkam.

Sie atmete scharf ein, wollte eine Warnung rufen, wollte schreien, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Im selben Moment riss Fernando das Lenkrad zur Seite und bremste scharf.

Die Augen weit aufgerissen, klammerte Laura sich mit beiden Händen an den Haltegriff der Beifahrertür. Im Geiste spulte sich wieder und wieder die verhängnisvolle Szene von vor vier Monaten ab. Wie in einem Film sah sie das entsetzte Gesicht ihres Vaters, den Abgrund, auf den sie mit rasender Geschwindigkeit zuschossen …

Voller Entsetzen starrte sie Fernando an. „Wollen Sie uns umbringen?“

Fernandos erster Impuls war es, seiner Wut nachzugeben und diese unverschämte Frau einfach aus seinem Wagen zu werfen. Und zwar augenblicklich – hier, mitten auf der Straße! Was bildete sie sich eigentlich ein? Statt ihm dankbar zu sein, dass er in einer brenzligen Situation kühlen Kopf bewahrt und dafür gesorgt hatte, dass sie beide mit heiler Haut davongekommen waren, machte sie ihm Vorwürfe. Dabei war er ebenso erschrocken gewesen wie sie, als er den anderen Wagen plötzlich vor der Kurve gesehen hatte – viel zu weit auf der falschen Spur und um einiges zu schnell!

Er hatte sofort reagiert, war vom Gas gegangen und hatte das Kunststück vollbracht, im letzten Moment auszuweichen. Während der andere Fahrer einfach weitergerast war, hatte Fernando auf dem Seitenstreifen angehalten, um sich zu sammeln – und um sich zu vergewissern, dass mit seiner Begleiterin alles in Ordnung war.

Damit, dass sie ihm Vorwürfe machen würde, hatte er nicht gerechnet.

Andererseits – was erwartete er? Er kannte die Frau nicht. Und wenn seine Vermutungen zutrafen, war sie eine skrupellose Schwindlerin.

Als hätte ich nichts Wichtigeres zu tun, als für sie den Babysitter zu spielen!

Doch als er sie daraufhin musterte, erkannte er, dass er vorschnell geurteilt hatte. In Laura Ortegas Zügen stand Angst. Ja, sie hatte Angst. Große Angst sogar. Das panische Flackern in ihren Augen und das leichte Zittern ihrer Lippen waren dafür Beweis genug, auch wenn beides ihrer Schönheit keinerlei Abbruch tat. Sie war eine der attraktivsten Frauen, denen er je begegnet war. Das dunkle Haar, das ihr fein geschnittenes Gesicht umrahmte, die tiefgründigen braunen Augen …

Plötzlich dämmerte es ihm. Aber natürlich! Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Kein Wunder, dass sie Angst hatte – wenn man bedachte, dass sie den schweren Autounfall vor vier Monaten, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen und ihre Mutter schwer verletzt worden war, nur knapp überlebt hatte …

Fernando atmete tief durch. Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt und Laura beruhigend übers Haar gestrichen. „Hören Sie“, sagte er stattdessen, und der sanfte Klang seiner Stimme kam ihm seltsam fremd vor, „es tut mir leid.“

Sie blinzelte. „Was tut Ihnen leid?“ Ihr Ton klang angriffslustig. „Dass Sie uns um ein Haar umgebracht haben? Wären Sie langsamer gefahren, hätte es gar nicht dazu kommen können!“

Das sah er anders, aber angesichts ihrer augenblicklichen Verfassung verzichtete Fernando darauf, sich zu verteidigen. Dann kam ihm erneut in den Sinn, dass er es mit einer Hochstaplerin zu tun haben könnte, und er kniff die Augen zusammen. Sicher, Lauras Namen und einen Teil ihres Werdegangs kannte er. Auch daran, dass sie einen furchtbaren Unfall überlebt hatte, bestand kein Zweifel, denn diesen Zeitraum ihrer Lebensgeschichte hatte er persönlich überprüft.

Was er jedoch nicht einschätzen konnte, waren ihre Absichten. Und darum musste er aufpassen. Darum war Mitgefühl fehl am Platze.

So die Theorie. Die Praxis sah anders aus. Denn Laura Ortega brachte eine Saite in ihm zum Klingen. In ihrer Gegenwart geriet etwas, von dem er selbst bislang nichts geahnt hatte und das er sich nicht erklären konnte, in Schwingung.

„Wie ich schon sagte“, erwiderte er geduldig. „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass Sie nach allem, was Sie erlebt haben, in diese Situation kommen mussten. Was meinen Sie, können wir weiterfahren? Ich verspreche Ihnen, noch mehr achtzugeben. Haben Sie keine Angst, ich bringe Sie sicher ans Ziel.“

Nach kurzem Zögern nickte sie. „Natürlich, ich …“ Sie runzelte die Stirn. „Moment mal, Sie wissen von meinem Unfall? Woher …?“

Im ersten Moment fühlte Fernando sich ertappt. Doch dann wurde ihm klar, wie unsinnig ihre Frage war. Konnte sie sich nicht denken, dass die Santiagos ihren Rechtsbeistand in alles eingeweiht hatten?

Dass du die Geschichte haarklein überprüft hast, muss sie ja nicht erfahren …

Er gab sich gelassen. „Meine Mandanten haben mich natürlich über alles ins Bild gesetzt.“ Das kurze Aufblitzen in ihren braunen Augen verriet ihm, dass sie verärgert war.

„Selbstverständlich“, sagte sie knapp. „Daran hatte ich nicht gedacht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid. Können wir dann weiterfahren?“

Sie nötigte ihm Bewunderung ab. Nach dem schweren Unfall, bei dem sie nur knapp mit dem Leben davongekommen war, und der brenzligen Situation von vorhin weiterfahren zu wollen – das zeugte von Mut. Unwillkürlich fragte Fernando sich, wie viele Menschen er kannte, die nach einem Trauma, wie Laura es erlebt hatte, überhaupt je wieder in ein Auto gestiegen wären. Zwar wusste er es nicht sicher, doch er glaubte, dass die Zahl nicht besonders hoch ausgefallen wäre.

„Sí“, erwiderte er, bemüht, sich nichts von seinen Gedankengängen anmerken zu lassen, und lenkte das Cabrio auf die Straße.

Laura sah aus dem Autofenster. Draußen zog die mallorquinische Landschaft vorbei, und sie hatte das Gefühl, in einen jener Fernsehfilme geraten zu sein, in denen eine kitschige Liebesgeschichte an einem romantischen Handlungsort abgehandelt wurde. Für gewöhnlich sah sie sich solche Streifen nicht an, aber ab und zu zappte sie doch mal in einen hinein – und blieb dann regelmäßig bei den wunderschönen Landschaftsbildern hängen.

Doch was sie im Augenblick erlebte, war kein Film. Sie befand sie sich tatsächlich auf der zauberhaften Insel Mallorca mit ihren vielen Palmen und Zypressen und den traumhaften Buchten, die tief in die Sandsteinklippen hineingeschnitten waren. Laura sog die Eindrücke in sich auf und war so gebannt, dass sie ihre Sorgen und Probleme völlig vergaß. Aber nur für einige Momente, denn bald schon musste sie wieder daran denken, was kurz zuvor passiert war, und sie schämte sich.

Ihr war klar, dass Fernando keinerlei Schuld an dem Beinahe-Zusammenstoß trug. Im Gegenteil, durch sein ruhiges und besonnenes Handeln hatte er Schlimmeres verhindert. Dieser andere Wagen war schließlich viel zu weit auf der falschen Fahrbahn gefahren!

Immerhin hatte sie sich, wenn auch nur knapp, bei ihm entschuldigt. Damit sollte die Sache erledigt sein. Jetzt war sie einfach nur froh, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie ihr Ziel erreichten und sie Fernandos irritierender Nähe entkam. Es bereitete ihr Unbehagen, dass er so viel über sie wusste. Wie hätte sie auch damit rechnen sollen, dass er über ihren Unfall informiert war? Und selbst wenn sie es im Nachhinein nachvollziehbar fand – aber aus irgendeinem Grund gefiel es ihr nicht, dass er von dem schrecklichsten Moment ihres Lebens erfahren hatte.

Und weshalb? Hast du Angst, ihm gegenüber Schwäche zu zeigen? Ist es das?

Unsinn, beantwortete sie ihre Fragen selbst. Ihr konnte es schließlich vollkommen egal sein, was er von ihr dachte. Dieser Mann war Anwalt, und sie konnte Anwälte nicht ausstehen. Zudem schien Fernando Estevez ein besonders unfreundliches und zugeknöpftes Exemplar seiner Gattung.

Ach ja? Und warum hast du dich, als er anhielt, so danach gesehnt, dass er die Hand ausstreckt und dich berührt?

Laura zuckte kaum merklich zusammen. Es stimmte, sie hatte gehofft, er würde ihr näherkommen. Ihr seine Hand auf den Arm legen oder ihr übers Haar streichen. Aber doch nur, weil sie so furchtbar geschockt und nicht Herrin ihrer Sinne gewesen war! Der Beinahe-Unfall hatte sie in Panik versetzt, und alles, was sie gebraucht hatte, war jemand, der sie beruhigte.

Sie nickte. Genau so war es gewesen. So und nicht anders. Und deshalb gab es auch nichts, worüber sie sich in Bezug auf Fernando Gedanken machen musste.

Zumal sie ihn ohnehin nicht mehr wiedersehen würde. Zumindest nicht allein, sondern höchstens in Gegenwart der Santiago-Familie.

Ihrer Familie.

„Wir sind da.“ Fernandos Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Laura blickte auf, und was sie sah, raubte ihr schier den Atem.

Vor ihr eröffnete sich der Blick auf eine Villa, die sich blendend weiß gegen den kobaltblauen mallorquinischen Sommerhimmel abhob. In den Scheiben der großzügigen Fensterfronten spiegelte sich das Sonnenlicht, und durch die ausladenden Kronen der hohen Korkeichen konnte man das leuchtende Türkis des Mittelmeers erkennen.

Fernando bog in die mit Kies bestreute Einfahrt ein, und unwillkürlich umfasste Laura ihren silbernen Anhänger. Gleich war es so weit. Nun würde sie endlich die Menschen kennenlernen, an die sie zwar kaum eine Erinnerung hatte, die aber dennoch in den letzten Tagen zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden waren.

„Hier wohnen sie also“, wisperte sie andächtig. „Die Santiagos …“

Fernando stoppte den Wagen vor der breiten Vortreppe und sah sie an. „Es tut mir leid, aber da scheint ein Irrtum vorzuliegen.“ Der Klang seiner Stimme irritierte Laura. Schwang darin nicht eine Mischung aus Arroganz und Schadenfreude mit?

Sie runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

Er hob die Schultern. „Hier wohnen nicht die Santiagos, sondern ich.“

2. KAPITEL

Laura fühlte sich wie betäubt. „Sie wohnen hier? Aber wollten wir denn nicht zu meiner Familie fahren? Ich verstehe nicht …“

Autor

Penny Roberts
Penny Roberts verspürte schon als junges Mädchen die Liebe zum Schreiben. Ihre Mutter sah es gar nicht gern, dass sie statt Schule und Hausaufgaben ständig nur ihre Bücher im Kopf hatte. Aber Penny war sich immer sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und ihr Erfolg als Autorin gibt ihr...
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