Stürmische Küsse am Mittelmeer

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Auf den malerischen Klippen von St. Bartholomé schließt Matthieu sie in die Arme - und Jeanne-Marie fühlt sich bei ihm so geborgen wie nie zuvor. Der erfolgreiche Winzer weckt in ihr süße Gefühle, die sie lange verloren glaubte. Wie schön wäre es, Hand in Hand mit ihm durch das Leben zu gehen! Doch Jeanne-Marie weiß, dass es in Zukunft keine leidenschaftlichen Küsse hoch über der wilden Küste des Mittelmeers geben wird. Auch wenn sie sich nach Matthieus Zärtlichkeit sehnt: Die Vergangenheit macht es ihr unmöglich, sich ganz an den charmanten Franzosen zu verlieren …


  • Erscheinungstag 28.01.2012
  • Bandnummer 1933
  • ISBN / Artikelnummer 9783864940408
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Das sanfte Rauschen der Wellen hätte beruhigend auf Jeanne-Marie Rousseau wirken können. Doch das war nicht der Fall. Sie sah hinaus aufs Mittelmeer, das sich vor ihr bis zum Horizont erstreckte. Die Sonne stand hoch, der Himmel war blau und wolkenlos. Im weißen Sand vor ihrer Tür rekelten sich vereinzelt sonnenhungrige Badegäste auf bunten Strandlaken. Das etwas abgelegene Örtchen St. Bartholomé war ein beliebter Rückzugsort für Menschen, die dem hektischen Treiben der Großstadt entkommen wollten. Für viele wäre es ein Traum gewesen, hier zu leben.

Für Jeanne-Marie war es Alltag. Oft empfand sie Freude darüber, doch heute war der Tag von Trauer überschattet.

Genau vor drei Jahren war ihr Mann gestorben. Sie vermisste ihn noch immer schmerzlich und hatte das Gefühl, ihr Kummer würde nie vergehen. Doch in den Schmerz mischte sich manchmal auch Wut darüber, wie leichtsinnig er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte bei seinen Klettertouren in den Bergen. Nun, mit kaum dreißig, war sie Witwe und eine alleinerziehende Mutter, die Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat eine Pension betrieb. Sie schüttelte den Kopf, um die traurigen Gedanken zu verscheuchen. Eigentlich konnte sie doch dankbar sein. Außerdem war es ihre Entscheidung gewesen, in Frankreich zu bleiben, und es war töricht, diesen Entschluss immer wieder infrage zu stellen. Doch manchmal vermisste sie das amerikanische Essen, ihre Familie und Freunde, die sie nur noch selten sah.

Dennoch wollte sie nicht wegziehen von diesem Fleckchen Erde, das so viele Erinnerungen an Phillipe barg. Viele gemeinsame Urlaube hatten sie in dem kleinen Dorf am Meer verbracht, und oft hatten sie einfach nur auf der Terrasse gesessen, die untergehende Sonne betrachtet und nicht geahnt, dass ihr Glück nicht mehr lange währen würde.

Phillipes große Leidenschaft war das Klettern gewesen. Daher reizten ihn die nahen Klippen Les Calanques, genau wie unzählige Sportler aus ganz Europa, die dort jeden Tag zu halsbrecherischen Klettertouren aufbrachen.

Ihr Sohn Alexandre hielt gerade einen Mittagsschlaf. Allein auf der Terrasse sitzend, erinnerte Jeanne-Marie sich an glückliche Zeiten und verspürte leichtes Heimweh. Der größte Trauerschmerz war längst ausgestanden, aber sie vermisste Phillipe noch immer. Dennoch gelang es ihr mittlerweile wieder, ihren normalen Alltag zu meistern.

Nach seinem Tod stellte sich die Frage, ob sie nach Amerika zurückgehen sollte. Doch die Nähe zu den Großeltern in Marseille schien ihr wichtig für Alexandres Entwicklung. Außer Fotos war den Rousseaus von ihrem Sohn nur ein Enkelkind geblieben. Ihre eigenen Eltern, die sie einmal im Jahr besuchen kamen, hatten immerhin sechs. Außerdem war sie über E-Mail und Skype ständig in Kontakt mit ihnen.

Jeanne-Marie liebte Frankreich. Schon als Teenager wollte sie unbedingt dort leben. Als sie dann schließlich zum Studium in Paris war, hatte sie sich prompt in Phillipe verliebt. Eigentlich hatte sie das gar nicht vor, doch am Ende siegte die Liebe, und so kam es, dass sie seit über zehn Jahren in Frankreich lebte. Die ersten Ehejahre waren traumhaft gewesen.

Zum tausendsten Mal fragte sie sich, was Menschen nur dazu brachte, ihr Leben an zerklüfteten Felswänden aufs Spiel zu setzen. War es der Nervenkitzel? „Die große Herausforderung“, hatte Phillipe erklärt, „an einem dünnen Seil mit möglichst wenig Ausrüstung die Klippen sauber zu erklimmen, ohne bleibende Spuren im Gestein zu hinterlassen.“ Als ob die Felsen etwas davon hätten!

Sie teilte Phillipes Leidenschaft nicht, obwohl er oft versuchte, sie dafür zu begeistern. Die Familie war ihr ganzes Glück, sie kam für sie immer zuerst. Während gemeinsamer Reisen durch Europa hatte sie sich zwar ein paar Mal überreden lassen, mitzuklettern, obwohl es ihr nicht geheuer war. Am Ende war Phillipe jedoch immer genervt gewesen. Er hatte keine Geduld, und schließlich ließ sie ihn lieber alleine losziehen.

Ihr Blick wanderte zu den berühmten Kalkfelsen der Calanques, in denen sich auch heute wieder Sportkletterer aus aller Welt tummelten. Besonders reizvoll war, dass man einen freien Blick aufs Meer hatte und den Küstenstreifen bis zum Horizont verfolgen konnte. Ausgerechnet in diesem Paradies der Kletterer war sie nun zu Hause.

Phillipe schätzte die Abgeschiedenheit von St. Bartholomé, denn hier konnte er sich ganz aufs Klettern konzentrieren, ohne sich im Nachtleben des nahegelegenen Marseille die Kondition für die nächste Tour zu ruinieren. Viele Kletterer sahen das ähnlich.

Eigentlich kann ich zufrieden sein, dachte sie, während sie das Wechselspiel des Lichts auf den Klippen betrachtete. Nur wenige alleinerziehende Mütter konnten ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne ihr Kind in Betreuung geben zu müssen. Natürlich wusste sie auch, dass nicht jeder Bergsteiger tödlich verunglückte. Dennoch blieb es ihr ein Rätsel, warum so viele Menschen in den Klippen freiwillig ihr Leben riskierten.

Nun, es gab viele Dinge im Leben, die sie nicht nachvollziehen konnte. Schluss jetzt mit dem Nachtrauern längst vergangener Zeiten, ermahnte sie sich. Die letzten Vorbereitungen für die neuen Gäste waren zu treffen. Sie hatte sieben neue Reservierungen und war restlos ausgebucht. In den Sommermonaten lief die Pension prächtig. Es gab kaum Nächte, in denen ein Zimmer frei blieb. Sie verdiente zwar kein Vermögen, hatte jedoch ein ausreichendes Einkommen, auch weil sie recht bescheiden lebte.

Für die Gästezimmer wollte sie nun noch rasch Blumen besorgen. Die Betten waren bereits frisch bezogen, die Räume gereinigt, es gab nur noch Kleinigkeiten zu erledigen. Ihren trüben Gedanken konnte sie ein andermal nachhängen. Die Gäste gingen vor.

Zwei Stunden später saß Jeanne-Marie hinter der Rezeption und erwartete den letzten Neuankömmling. Im Empfangsraum gab es bequeme Sitzgruppen, die zum gemütlichen Plaudern oder Lesen einluden. Ihr Sohn spielte an der offenen Terrassentür mit seinen Spielzeugautos. Wenn der neue Gast eingecheckt hatte, wollte sie mit Alexandre schwimmen gehen. Die Nachmittagssonne schien herein und heizte das Foyer auf, doch sie hatte die Markise absichtlich nicht heruntergelassen. Der erste Eindruck der Gäste sollte hell und strahlend sein. Wenn das Licht der Sonne hereinfiel, konnte man sich im glatt polierten Marmorboden spiegeln, und das frisch gebohnerte Holz glänzte warm. Auf der Terrasse luden bequeme Korbsessel die Gäste zum Verweilen ein, fantastische Ausblicke aufs Meer inklusive.

Ein Auto fuhr heran. Erwartungsvoll sah Jeanne-Marie zur Tür. Wenn sie den Gast abgefertigt hatte, war sie für den Rest des Tages frei.

Sie sah hinaus und wartete. Durch die weit offenen Türen wehte eine leichte Nachmittagsbrise herein. Eine Wagentür fiel zu. Sie hörte Schritte auf dem Kiesweg.

Er trat auf die Terrasse und hielt inne, um aufs Wasser zu sehen. Dann wandte er den Blick zu den Klippen.

Der Empfangsschalter war von außen nicht einsehbar, doch sie hatte von dort den neuen Gast gut im Blick. Der Mann wirkte überheblich und extrem selbstsicher, was ihr normalerweise gegen den Strich ging. Französische Männer waren oft sehr von sich eingenommen. Allerdings hatte der da draußen wirklich allen Grund dazu. Er war ungefähr eins fünfundachtzig groß, hatte breite Schultern und lange Beine. Seine kurzen dunklen, leicht lockigen Haare schimmerten im Nachmittagslicht. Als kleiner Junge hatte er wahrscheinlich entzückend ausgesehen – und die frühe Aufmerksamkeit war ihm dann zu Kopf gestiegen.

Sie sah sich die Buchungsunterlagen an. Alleinreisend. Ob er wohl verheiratet war? Vermutlich hielt er sich für zu schön, um sich an eine einzige Frau zu binden. Sie konnte ihn ausgiebig und in aller Ruhe betrachten, denn er sah sie im Augenblick garantiert nicht.

Er hatte nur eine kleine Reisetasche dabei, und das Zimmer war für eine Woche gebucht. Sie sah, wie er mit prüfendem Blick die Klippen taxierte, und rasch war ihr klar, dass auch er zum Klettern gekommen war. Sie sah im Geiste schon seinen durchtrainierten Körper an einer Felswand hängen, Muskeln und Sehnen bis an die Grenzen gespannt, während sich seine Finger langsam vorantasteten und die Füße an einem Felsvorsprung nach Halt suchten.

Sie strich über die auszufüllende Gästekarte, legte einen Kugelschreiber bereit und wartete. Immer wieder musste sie ihn ansehen. Er hatte muskulöse Arme und einen athletischen Oberkörper. Muskelkraft war das A und O, wenn man sich den Herausforderungen des Kletterns stellen wollte.

Als er sich nun umwandte und eintrat, fiel ihr Blick sofort auf sein kantiges Kinn und die vollen Lippen. Seine dunkelbraunen Augen musterten den auf dem Boden spielenden Alexandre. Etwas düster blickend, sah er sich im Raum um, bis er sie schließlich an der Rezeption entdeckte.

Sein selbstsicherer Gang erregte ihre Aufmerksamkeit. Er wirkte forsch, selbstbewusst, wie ein Mann, der es gewohnt war, Oberwasser zu haben. Sein markantes, glatt rasiertes Kinn drückte Willensstärke und Entschlossenheit aus. Seine dunklen Augen leuchteten auf, als er sie ansah, und sie fühlte sich unvermittelt als Frau wahrgenommen. Am liebsten hätte sie sich rasch die Haare gekämmt und die Lippen nachgezogen.

Sei nicht albern, schalt sie sich, während er näher kam. Sie wunderte sich, dass ihr Herz plötzlich schneller klopfte. Er war nur ein Gast, nichts Besonderes. Einfach nur recht gut aussehend. Ihre Neugier wuchs. Sie überlegte, was er wohl von Beruf war. Vielleicht Schauspieler oder Model? Allerdings schien er sich seines Aussehens gar nicht bewusst zu sein.

Bonjour, Madame“, sagte er.

„Monsieur Sommer?“, fragte sie und versuchte, seiner dunklen tiefen Stimme zu widerstehen und die anziehende Distanziertheit, die ihn umgab, zu übergehen. Seine braunen Augen wirkten geheimnisvoll, schienen aber auch Schmerzliches widerzuspiegeln. Sie war erstaunt, hätte gern mehr über ihn gewusst.

„Ich habe ein Zimmer reserviert“, sagte er.

Seine schöne, sonore Stimme verleitete sie unwillkürlich dazu, sich vorzustellen, wie er in einer romantischen Nacht Liebesschwüre flüsterte.

„Selbstverständlich.“ Sie reichte ihm die Anmeldung zur Unterschrift. Woher kamen diese Fantasien denn plötzlich? Normalerweise gestattete sie sich das nicht. Sie roch sein Aftershave und spürte auf einmal ein seltsames Verlangen. Ich war einfach zu lange allein, dachte sie. Sie versuchte, ihre Gefühle zu unterdrücken, und sah ihm zu, wie er mit kühnem Schwung unterschrieb. Seine Hände waren kräftig und an manchen Stellen vernarbt. Die Kleidung ließ auf einen Geschäftsmann schließen, doch sein Auftreten eher auf einen Draufgänger. Ihre Neugier wuchs. Für gewöhnlich interessierte sie sich nicht für ihre Gäste. Doch dieser Mann faszinierte sie, sie konnte es nicht verleugnen.

„Können Sie mir ein Lokal vor Ort empfehlen?“, fragte er, noch während er schrieb.

„Le Chat Noir ist echt gut“, rief Alexandre, der mittlerweile dazugekommen war. „Hallo. Ich bin Alexandre. Ich wohne hier.“

Neben ihm sah ihr Sohn klein und schmächtig aus, obwohl er schon fünf Jahre alt und in letzter Zeit ziemlich in die Höhe geschossen war. Doch um die stattlichen Maße von Matthieu Sommer zu erreichen, musste er noch kräftig zulegen.

Dieser schaute den kleinen Jungen überrascht an. Dann fragte er: „Kannst du mir das wirklich empfehlen?“

Alexandre nickte aufgeregt. „Klar, wir gehen da auch immer hin. Es ist Mamas Lieblingslokal.“

„Dann muss es ja gut sein. Frauen kennen sich da aus“, sagte Matthieu ernst.

Alexandre strahlte.

Jeanne-Marie gefiel es, wie dieser Mann mit ihrem Sohn sprach. Dem Jungen fehlte eine männliche Bezugsperson. Sie hätte sich so gewünscht, dass wenigstens ihr Bruder Tom diesen Platz einnehmen könnte. Oder ihr Vater. Oder einer ihrer Cousins. Doch sie alle waren weit weg. Auch für den alten Großvater in Marseille wurde es immer anstrengender, sich um einen quirligen Fünfjährigen zu kümmern.

„Ihr Lieblingslokal also“, sagte Matthieu und sah ihr tief in die Augen.

Oui. Die Küche ist hervorragend, und die Preise sind erschwinglich. Ich kann aber auch Les Trois Filles en Pierre empfehlen. Von dort haben Sie einen tollen Blick auf die gleichnamigen Klippen. Ich nehme an, Sie sind zum Klettern hier?“ Sie spürte, dass ihre Stimme mehr Interesse verriet, als ihr lieb war.

„Ja, Les Calanques sind eine echte Herausforderung, und der Ausblick von dort oben ist unvergleichlich.“ Er neigte den Kopf. „Haben Sie auch da eine Empfehlung?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Passen Sie auf, dass Sie nicht abstürzen.“

„Mein Papa ist von einem Berg gestürzt“, mischte sich Alexandre wieder ins Gespräch. Jeanne-Marie wünschte, sie hätte den Mund gehalten. „Er hätte mir bestimmt das Klettern beigebracht. Wissen Sie, wie das geht?“

„Das ist schon lange her, Alexandre. Ich bin sicher, Monsieur Sommer passt gut auf sich auf. Belästige unseren Gast nicht mit Familiengeschichten“, sagte sie sanft.

Matthieu Sommer sah erst sie an, dann ihren Sohn, dann wieder sie. Sie hätte gern gewusst, was er im Augenblick dachte.

„Zimmer sechs ist für Sie reserviert, Sie haben ein Eckzimmer mit Blick auf Les Calanques.“ Sie übergab ihm den Schlüssel und zeigte auf die Treppen. „Ganz nach oben, dann links.“

Merci.“ Er nahm seine Reisetasche, als würde sie nichts wiegen, und war bald darauf ihrem Blick entschwunden.

Jeanne-Marie seufzte erleichtert. Der neue Gast hatte unvermutet einen kleinen Gefühlssturm in ihr ausgelöst. Ihr waren Familien mit Kleinkindern wirklich lieber als extrem gut aussehende, alleinreisende Männer, die die Welt erobern wollten. Schon sein Anblick brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie war einfach zu lange allein gewesen.

Warum sah er nur so traurig aus? Und warum war er ausgerechnet ins abgelegene St. Bartholomé gekommen? Er hätte sich in Marseille doch sicher ein Luxushotel leisten können.

Grübelnd blickte sie auf die Anmeldekarte, als könnte sie sein Geheimnis preisgeben. Dann heftete sie die Karte ab und versuchte nicht mehr an ihn zu denken.

Sie wartete noch auf René, den Studenten, der die Rezeption ab nachmittags übernahm. Nach der Übergabe konnte sie mit Alexandre schwimmen gehen. Ihre Gedanken schweiften erneut zurück zu Matthieu Sommer. Sie schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig. Alt genug, um verheiratet zu sein. Vielleicht teilte seine Frau die Kletterleidenschaft nicht, was Jeanne-Marie sehr gut verstanden hätte. Allerdings war sie im Urlaub immer dabei gewesen. Während Phillipe klettern war, bummelte sie durch die Städte oder erkundete die Gegend. Sie wollte da sein, wenn er von seinen Touren zurückkam. Warum war der schöne Fremde allein unterwegs? War er Junggeselle, oder machten er und seine Frau getrennt Urlaub?

Matthieu Sommer betrat sein Zimmer, stellte die Reisetasche mit einem Schwung aufs Bett und sah sich um. Es war geräumig, die Fenster reichten bis zum Boden und boten einen weiten Blick. Ein frischer Strauß Blumen auf der Kommode verlieh dem Raum eine freundliche Note. Die Mühe hätte sie sich allerdings sparen können. Für ihn war ein Hotelzimmer einfach zum Schlafen da. Falls er Schlaf finden konnte.

Er trat ans Fenster und sah auf die Klippen. Sein Freund, der selbst oft in den Calanques klettern ging, hatte sie in den höchsten Tönen gepriesen. Doch Paul wollte unbedingt in Marseille übernachten, um abends ausgehen zu können. Das war gewagt. Denn auf den Klippen galt das Gesetz Mensch gegen Natur, und jede noch so kleine Unachtsamkeit konnte tragisch enden. Er hatte sich deshalb lieber in St. Bartholomé einquartiert. Hier konnte er wenigstens für ein paar Tage den Kopf freibekommen und sich ganz aufs Klettern konzentrieren. Er wollte sich nicht leichtfertig in Gefahr bringen. Sollte ihm dennoch etwas zustoßen, war es eben Schicksal. Dann hatte er es nicht anders verdient.

Sollte sich Paul doch allein in Marseille die Nächte um die Ohren schlagen. Er hingegen wollte nur seine Ruhe haben. Im Frühsommer gab es in den Weinbergen nicht viel zu tun, die beste Zeit, sich ein paar Tage freizunehmen. Seiner Assistentin hatte er aufgetragen, ihn nur im Notfall zu benachrichtigen, auch seine Familie wusste nicht genau, wo er sich befand.

Lange betrachtete er die Felswände, dann drehte er sich um und ließ den Blick erneut durch den Raum schweifen. Die Bettlaken waren blütenweiß. Die Nachmittagssonne schien ins Zimmer, und die Vorhänge bewegten sich leicht in der Meeresbrise. Die Pensionsinhaberin hatte den Raum liebevoll mit Kunsthandwerk aus der Region dekoriert. Er ließ sich in einen der beiden Sessel am Fenster sinken und starrte aufs Bett. Er stellte sich vor, was Marabelle zu diesem Zimmer gesagt hätte. Sie hätte es bestimmt entzückend gefunden, so nah am Meer zu wohnen. Doch das war Vergangenheit. Er schob die Gedanken an sie beiseite und stand auf, um auszupacken. Als Nächstes wollte er einen Rundgang durchs Dorf machen und sich nach interessanten Klettertouren erkundigen. Der kleine Ort an einem Meeresarm zwischen den Klippen wirkte sehr malerisch, als er eben durchgefahren war. Einst ein Fischerdorf, war es mittlerweile ein Touristenmagnet. Dennoch hatte es seinen ursprünglichen Charme erhalten. Das Zentrum lag direkt am Hafen an einer stillen Bucht.

Seine Herberge war ein schönes altes Haus. Wie die junge Frau wohl dazu gekommen war, diese Pension zu übernehmen? Sie war hübsch und offenbar sehr freundlich. Ganz zweifellos wichtige Eigenschaften für eine Hotelbesitzerin.

Doch Madame Rousseau erschien ihm zu jung, um Witwe zu sein. Nicht dass es dafür ein vorgeschriebenes Alter gab, aber dennoch. Ihr kleiner Sohn war reizend. Wusste sie, wie glücklich sie sich schätzen konnte? Er hätte alles dafür gegeben, wenn sein Sohn noch am Leben wäre.

Er war bei einem Verkehrsunfall zusammen mit seiner Mutter gestorben.

Marabelle saß am Steuer, obwohl eigentlich er hätte fahren sollen. Matthieu versuchte, gegen die quälenden Erinnerungen und den Kummer anzukämpfen. Doch nichts half. Auch der Beistand seiner Familie machte seine Verzweiflung nicht geringer. Ständig versuchten sie, ihm gut zuzureden, doch sie konnten den furchtbaren Verlust nicht wirklich nachvollziehen. Ein Verlust, den er kaum verkraften konnte und der ihm das Herz gebrochen hatte.

Vielleicht würde ihn die Frau unten an der Rezeption verstehen. Wenigstens annähernd. Wie hatte sie den Verlust bewältigt?

Er fragte sich, ob sie nach dem Tod ihres Mannes auch so viel sinnloses Gerede über sich ergehen lassen musste. War es ihr ein Trost gewesen? Oder hatte sie sich auch nur gewünscht, man möge sie in Ruhe lassen?

Es ging ihn nichts an. Trotzdem. Sie gefiel ihm. Marabelle war auch eine schöne Frau gewesen. Sie hatten sich unendlich geliebt, und er war mit dem jähen Ende dieser Liebe nicht fertig geworden.

Nun war er hier, um sich nur aufs Klettern zu konzentrieren. Alles andere wollte er vergessen, wenigstens für ein paar Stunden am Tag.

„Zeit fürs Abendessen“, rief Jeanne-Marie.

„Keine Lust“, rief Alexandre zurück, während er fröhlich den Strand entlanghüpfte.

Sie holte ihn ein und wuschelte ihm durchs Haar. „Das ist Pech. Dann musst du deinen Nachtisch im Schlafanzug essen.“

Er kicherte und drückte seine Spielzeugautos fester an sich. „Im Schlafanzug kann man nicht essen. Gehen wir ins Le Chat Noir? Darauf hätte ich Lust.“

„Ich dachte eher an Suppe und Salat zu Hause.“ Sie packte die Strandlaken ein und zog sich ein T-Shirt über den Badeanzug.

„Ach bitte, Mama. Heute ist ein guter Tag. Die Pension ist voll, das hast du selbst zu Madeleine gesagt. Ist doch prima, wir können uns was Besonderes leisten.“

Sie musste lachen, weil er versuchte, nachzuäffen, was sie heute Mittag zu ihrer Freundin gesagt hatte. „Ja, wir könnten das wirklich feiern. Aber vorher musst du dir den Sand von den Füßen waschen und dich umziehen.“ Alexandre wusste nicht, dass sich der Todestag seines Vaters heute zum dritten Mal jährte. Einerseits wollte sie es nicht, andererseits war sie traurig, wie wenig er über seinen Vater wusste. Phillipe hatte ihn sehr geliebt.

Mit einem Freudenschrei sauste er los in Richtung Pension. Jeanne-Marie rannte hinterher, ließ ihn jedoch gewinnen. Alexandre flitzte durch den Empfangsraum in den hinteren Teil des Hauses, der ihr Privatbereich war. Wie schön wäre es, wenn er immer so begeistert auf alles, was sie sagte, reagieren würde. Sie nickte René an der Rezeption freundlich zu. Es war gut, dass er sie täglich ein paar Stunden entlasten konnte, um Zeit für ihr Kind zu haben.

„Alles klar?“

„Alles ruhig“, antwortete René. Er war ein Bücherwurm und las die ganze Zeit. Doch im Umgang mit den Gästen war er flink und effizient. Wahrscheinlich, um rasch weiterlesen zu können.

„Wir gehen heute Abend zum Essen aus.“

René nickte und vertiefte sich wieder in sein Buch.

Es war sechs Uhr, als Alexandre endlich umgezogen und auch sie frisch geduscht war. Die meisten Leute gingen erst später essen, doch sie wollte, dass Alexandre um acht im Bett lag. Auf dem Weg zum Restaurant ließ sie sich von der Abendsonne wärmen. Es war zwar erst Anfang Mai, doch tagsüber schon heiß genug, um, wie viele ihrer Gäste, faul am Strand zu liegen. Ende des Monats würde das Dorf sich in eine Touristenhochburg verwandelt haben.

Als sie Le Chat Noir erreicht hatten und Jeanne-Marie eben die Tür öffnen wollte, rief Alexandre: „Schau, Mama, da ist ja unser neuer Gast.“

Sie sah auf und erkannte Matthieu Sommer. Sie hielt den Atem an. Er kam direkt auf sie zu. Sie lächelte zaghaft. Er hatte sich an Alexandres Empfehlung gehalten.

Er griff um sie herum, um ihr die Tür aufzuhalten. Dann deutete er ihr mit einer höflichen Geste an, einzutreten.

„Wie du siehst, bin ich deinem Rat gefolgt und werde das Restaurant heute Abend einmal austesten“, sagte er zu Alexandre, während sich die Tür hinter ihnen schloss.

Zuvor vom hellen Sonnenlicht geblendet, brauchte Jeanne-Marie einen Moment, um ihre Augen an die abgedunkelte Beleuchtung im Lokal zu gewöhnen. „Ich bin sicher, Sie werden es nicht bereuen.“

„Essen Sie mit uns?“, rief Alexandre dazwischen.

„Nein“, sagte sie rasch. Dann wurde ihr klar, wie unfreundlich das klang, und sie lächelte entschuldigend. „Ich glaube nicht, dass Monsieur Sommer den Tisch mit einem Fünfjährigen teilen will.“

Matthieu neigte entschuldigend den Kopf. „Ich fürchte, ich bin kein besonders geselliger Tischgenosse“, sagte er.

Jeanne-Marie nickte und wandte sich dann dem Oberkellner zu, der sie herzlich begrüßte.

„Ein Tisch für Alexandre und Sie?“, fragte er.

Oui.“ Sie sah Matthieu Sommer an. „Lassen Sie es sich gut schmecken.“

Sie war nicht richtig enttäuscht darüber, dass er nicht mit ihnen aß, denn in der Regel vermied sie engeren Kontakt zu ihren Gästen. Doch insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich zu ihnen setzen. Allerdings wäre sie dann bereits vor der Vorspeise ein Nervenbündel gewesen.

Sie wurden an einem schönen Tisch im Innenhof platziert. Nur zwei andere Tische waren schon besetzt.

Obwohl sie längst wusste, was sie nehmen würden, schlug sie die Speisekarte auf. Sie bestellten fast immer dasselbe.

Im nächsten Augenblick wurde Matthieu Sommer an den Tisch neben ihnen geleitet. Seine Nähe machte sie nervös, und sie versuchte krampfhaft, ihre Augen auf die Karte zu richten. Zum Glück setzte er sich mit dem Rücken zu ihr, sie musste beim Aufsehen seinem Blick also nicht ausweichen. Dennoch zog er ihren Blick magisch an, sie musste immer wieder zu ihm hinübersehen. Was hatte er nur Anziehendes? Er war nicht besonders galant, eher auf Distanz bedacht. Er sah gut aus, wirkte aber arrogant. Sie wusste nicht, ob sie ihn sympathisch fand, doch ihr Interesse war definitiv geweckt.

„Ich will Hühnchen“, rief Alexandre, während er auf seinem Stuhl herumrutschte.

„Wie immer. Und ich nehme die Quiche.“

„Wie immer“, ahmte er sie nach und grinste.

Jeanne-Marie schlug die Speisekarte zu. Von der Seite beobachtete sie verstohlen Matthieu Sommer, der noch nicht gewählt hatte. Nun bedauerte sie, dass sie an getrennten Tischen saßen. Während des Essens hätten sie ein wenig plaudern können, um dann hoffentlich festzustellen, dass sie absolut nichts gemeinsam hatten. Das hätte die Angelegenheit enorm vereinfacht.

Doch wenn er mit am Tisch säße, würde sie wahrscheinlich ihren Mund nicht aufbekommen und stumm dasitzen wie ein idiotischer Teenager beim ersten Rendezvous mit seinem großen Schwarm. Andererseits war es sicher traurig, ganz alleine essen zu müssen. Sie war hin- und hergerissen, ob sie ihn nicht doch an ihren Tisch bitten sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Alles war gut, so wie es war.

Nachdem sie bestellt hatten, holte Alexandre seine Spielzeugautos heraus und fing an, mit ihnen zu spielen. Jeanne-Marie war dankbar für die Ablenkung. So musste sie wenigstens nicht dauernd zu Monsieur Sommer hinüberschielen. Nachdem auch er bestellt hatte, studierte er aufmerksam Prospekte. Wahrscheinlich hatte er sie aus der Pension mitgenommen. In einem wurden diverse Einkaufsmöglichkeiten im Dorf beworben, im anderen die Kalkfelsen der Calanques beschrieben. Ein dritter Prospekt war vom örtlichen Sportgeschäft, bei dem sich die Kletterer mit Zubehör eindeckten.

Alexandre sah sie an. „Kann ich die Autos auch mitnehmen, wenn ich im September in die Schule komme?“, fragte er.

„Ich glaube nicht. Du musst im Klassenzimmer aufpassen, was die Lehrerin sagt, damit du ein guter Schüler wirst.“

Und sie musste aufpassen, dass sie nicht schon wieder zu Matthieu Sommer hinübersah.

Als das Essen kam, half sie Alexandre beim Zerkleinern des Hühnchens und konzentrierte sich aufs Verspeisen ihrer Quiche. Trotzdem nahm sie natürlich alles wahr, was am Nebentisch passierte. Sie waren fast gleichzeitig fertig mit dem Essen. Noch immer war außer ihnen kaum jemand im Lokal.

Matthieu aß hastig, um das Restaurant so schnell wie möglich wieder zu verlassen, obwohl er zugeben musste, dass das Essen ausgezeichnet war. Doch er hörte die ganze Zeit die Gespräche am Nebentisch zwischen Mutter und Sohn, und ihr fröhliches Gelächter erinnerte ihn an glückliche Zeiten, als auch er noch im Kreis seiner Liebsten gegessen hatte. Etienne wäre nun sieben Jahre alt. Der Schmerz der Erinnerung schnürte ihm das Herz zu. Er hatte seinen Sohn vergöttert, und nun lag er tot im Familiengrab neben seiner Mutter. Er schaute in die Ferne und versuchte, die Erinnerungen zu verscheuchen. Marabelle hatte immer geschimpft, wenn Etienne in der Öffentlichkeit herumtollte. Nun wünschte er, sie hätten ihn einfach tun lassen, was er wollte. Seine Lebenszeit war so kurz, so kostbar gewesen.

Madame Rousseaus Sohn war genauso alt wie Etienne damals, als ein betrunkener Lkw-Fahrer in ihr Auto gerast war. Seine Frau und sein Sohn waren auf der Stelle tot. Er quälte sich mit dem Gedanken, dass er vielleicht schneller reagiert hätte, dem riesigen Lkw vielleicht noch hätte ausweichen können, wenn er gefahren wäre. Warum war er damals nicht mit ihnen gestorben? Dann säße er heute nicht einsam und allein mit all seinem Schmerz hier.

Er hatte den Kummer stets in sich hineingefressen, um die Fassade aufrechtzuerhalten und über seine tiefe Verzweiflung hinwegzutäuschen. Die Zeit heilt alle Wunden, hieß es. Es war eine Lüge. Diese Wunde würde niemals verheilen.

Autor

Barbara Mc Mahon
<p>Barbara McMahon wuchs in einer Kleinstadt in Virginia auf. Ihr großer Traum war es, zu reisen und die Welt kennenzulernen. Nach ihrem College-Abschluss wurde sie zunächst Stewardess und verbrachte einige Jahre damit, die exotischsten Länder zu erforschen. Um sich später möglichst genau an diese Reisen erinnern zu können, schreib Barbara...
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