Texas Fortunes - 6-teilige Serie

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In Red Rock, Texas, gerät die einflussreiche Unternehmerfamilie Fortune in einen heftigen Sturm. Der wirbelt das Leben der Familienmitglieder ganz schön durcheinander - führt sie aber auch auf den Weg zum Glück.

DIE KELLNERIN UND DER MILLIARDÄR
Die Kellnerin und der Milliardär? Eigentlich unmöglich. Doch als ein Tornado Christinas Snackbar verwüstet, zieht der faszinierende Scott Fortune die junge Frau in seine starken Arme. Und was als Trost beginnt, endet in heißer Leidenschaft …

NOCH DREIßIG TAGE BIS ZUM GLÜCK
Noch ein Monat bis zum Valentinstag - viel Zeit bleibt Katie nicht mehr, ihren Boss und heimlichen Traummann Blake Fortune zu erobern! Denn der sexy Texaner hat einen Plan: In genau dreißig Tagen will er einer anderen den Brillantring anstecken …

SANFTE HÄNDE AUF NACKTER HAUT
Verbotene Gefühle! Sich leidenschaftlich in einen Patienten zu verlieben, ist komplett unprofessionell, weiß Schwester Leah. Aber sie kann nicht anders. Javier Mendoza ist einfach ihr Traummann. Und gegen ihr Herzklopfen in seiner Nähe hilft nur eins …

RETTE MICH - VERFÜHRE MICH!
Endlich gefunden: Monatelang hat Victoria den Mann gesucht, der sie bei dem Tornado auf starken Armen in Sicherheit getragen hat. Sie ist überzeugt: Garrett Stone ist der Mann ihres Lebens. Und was die Society-Prinzessin will, bekommt sie auch - meistens …

ZURÜCK IN DEN ARMEN DES PLAYBOYS
Seidige Haut, ein sinnlicher Mund … Tanner Redmond kann die hinreißende Jordana einfach nicht vergessen. Aber warum geht ihm die kühle Schönheit seit ihrem atemberaubenden One-Night-Stand aus dem Weg? Der Playboy ist wild entschlossen, sie zurückzuerobern …

BEGEHREN IN SCHWINDELNDER HÖHE
Sein heißer Kuss verändert alles: Eigentlich wollte Emily dem sexy Piloten Max aus dem Weg gehen. Sie aus bester Familie, er mit einer wilden Vergangenheit … Stattdessen steuert er sie beide in den siebten Himmel der Lust. Aus dem es hoffentlich keine Crash-Landung gibt!


  • Erscheinungstag 02.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776244
  • Seitenanzahl 848
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Karen Templeton, Marie Ferrarella, Judy Duarte, Susan Crosby, Nancy Robards Thompson, Allison Leigh

Texas Fortunes - 6-teilige Serie

IMPRESSUM

Die Kellnerin und der Milliardär erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2012 by by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Fortune’s Cinderella“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 322 - 2012 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Birgit Hannemann

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733776305

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Musste denn ausgerechnet heute ein Sturm über Texas hinwegfegen? Scott Fortune fand das sehr ärgerlich. Er wollte so früh wie möglich in Atlanta sein und noch einiges im Büro erledigen, bevor das Charity Dinner begann, das Fortune South wie üblich zum Ausklang des Jahres veranstaltete.

Dieser heftige Sturm würde entweder zu Verzögerungen führen – oder den Flug in dem kleinen Privatjet sehr ungemütlich werden lassen.

Während Scott unter dem Vordach der Casa Paloma stand, sah er, wie sich die Bäume im Wind bogen. Der Himmel wurde immer dunkler, und der Regen prasselte auf die kiesbedeckte Auffahrt des exklusiven Ferienhotels. Dort hatte die gesamte Familie Fortune einige Tage verbracht, um an der Hochzeit seiner Schwester Wendy mit Marcos Mendoza teilnehmen zu können.

Doch so schön es gewesen war – jetzt wurde es Zeit, aufzubrechen. Und warum trödelten seine Geschwister noch in der Lobby herum? Ihr Gepäck lag bereits in den beiden Geländewagen, mit denen Javier und Miguel – die Brüder des Bräutigams – sie zum Flughafen von Red Rock fahren würden.

„Willst du mich wirklich schon allein lassen, Scotty?“

Er lächelte, als Wendy zu ihm ins Freie trat, und ihre fröhliche Miene ließ ihn für einen Moment alles andere vergessen. Er freute sich sehr über ihr Glück. „Du bist ja nicht allein. Du hast Marcos. Und bald ein Baby. Glaub mir, ich werde der stolzeste Onkel sein.“

„Dann musst du deine Nichte aber auch häufig besuchen.“

„Natürlich. Wir sehen uns bald wieder. Diesmal kann ich aber nicht länger bleiben. Im Büro wartet viel Arbeit auf mich. Und …“

„Ich weiß.“ Wendy boxte ihn gegen den Arm. „Daddy verlangt, dass seine Söhne und Töchter zu dem Dinner erscheinen, das die Firma sponsert.“

Ja, und niemand wagte es, ihm zu widersprechen.

Nur Wendy – das Nesthäkchen der Familie – war immer aus der Reihe getanzt. Mit ihrem Eigensinn hatte sie ihren Vater schier zur Verzweiflung getrieben. Und während ihre fünf Geschwister schon früh Verantwortung in der Firma übernommen hatten, war Wendy der Meinung gewesen, als reiche Erbin müsse sie nicht arbeiten.

Eine Einstellung, die ihre Eltern gar nicht schätzten. Darum hatten sie vor einem Jahr hart durchgegriffen und die kleine Prinzessin nach Red Rock geschickt. Ohne Kreditkarte, allerdings mit einem Jobangebot – als Kellnerin im Red, dem Restaurant der Familie Mendoza, das von Marcos geleitet wurde.

Die Liebe zu ihm schien Wendy völlig verändert zu haben. Sie war nicht mehr das verwöhnte Millionärstöchterchen, sondern sprach mit Begeisterung von ihrer Arbeit im Restaurant. Ja, sie wirkte rundum glücklich und zufrieden.

Als hätte sie ihren Platz im Leben gefunden, dachte Scott und wünschte sich plötzlich, noch ein wenig in ihrer Nähe bleiben zu können. „Willst du nicht mit uns zum Flughafen kommen?“

Wendy legte die Hände auf ihren Bauch, während sie den Kopf schüttelte. „Meine Ärztin möchte, dass ich mich schone. Und ehrlich gesagt …“, sie grinste, „… euch alle hier zu haben, hat mich ziemlich angestrengt.“

„… ausgeschlossen“, beendete ihr Vater gerade einen Satz, als er in diesem Moment – gefolgt von seiner Frau – durch die breite Tür schritt. „Wenn die Leute tausend Dollar pro Gedeck zahlen, erwarten sie auch, dass die Gastgeber anwesend sind.“

„Ach.“ Virginia Alice Fortune seufzte. „Bei dreihundert Gästen fällt das kaum auf. Es ist ja nicht so, als würden wir ihnen den Lachs persönlich servieren. Der Eventmanager hat alles organisiert.“

„Aber ich muss die Begrüßungsrede halten.“

„Ich würde lieber bei dir bleiben, Schatz.“ Ihre Mom umarmte Wendy, dann tippte sie auf die rosa Tüte, die an einer Kordel von ihrem Handgelenk baumelte. „Danke für die Pralinen.“

Ihr Vater hingegen blieb distanziert wie immer. „Das Baby kommt im März?“

„Ja“, bestätigte Wendy.

„Gut. Dann sehen wir uns.“ Nach diesen Worten fasste er seine Frau am Arm und führte sie zum Wagen.

Das war typisch für John Michael Fortune. Er legte keinen Wert darauf, mit seinen Kindern zu plaudern. Auf seine Rede beim Wohltätigkeitsdinner würde er dagegen niemals freiwillig verzichten.

Nein, denn er war durch und durch Geschäftsmann. Für ihn zählte nur die Firma, sein Ansehen in der Gesellschaft. Der finanzielle Erfolg.

Und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Zumindest bei den Fortunes, dachte Scott, als der Rest der Familie aus dem Hotel kam.

Sein älterer Bruder Mike, im dunklen Anzug und mit Krawatte, hielt das Handy ans Ohr und führte ein geschäftliches Gespräch.

Seine Schwester Emily und sein Bruder Blake unterhielten sich lebhaft – über die Umsatzzahlen aus dem Weihnachtsgeschäft.

Nur ihre Cousine Victoria scherzte mit Javier und Miguel. Sie hatte die gleichen braunen Locken, das gleiche Temperament wie Wendy. Und sie umarmte Wendy stürmisch, bevor sie Marcos bat: „Pass gut auf sie auf.“

„Versprochen.“ Er blickte seine Frau zärtlich an. „Darum bringe ich sie jetzt ins Kaminzimmer. Hier draußen ist es zu kalt.“

„Ja, wirklich.“ Scott küsste Wendy zum Abschied auf die Wange. „Geht schnell rein. Wir müssen auch los.“

Doch kaum waren die beiden im Hotel verschwunden, hielt ein Jeep mit der Aufschrift Flugschule Redmond hinter Javiers Explorer, und ein Kerl in Cowboystiefeln und Pilotenjacke stieg aus. Scott lächelte, als er Tanner Redmond sah, und reichte ihm die Hand. Als guter Freund der Mendozas und der Fortunes war Tanner auf der Hochzeit gewesen … und er hatte lange mit Jordana getanzt.

Die nirgendwo zu sehen war, wie ihm erst jetzt auffiel.

„Schön, dass ich euch noch erwische.“ Tanner grinste. „Gestern hatte ich laufend Termine, aber ich wollte mich gern verabschieden, bevor ihr fliegt. Obwohl …“ Der frühere Air-Force-Pilot blickte zum Himmel und schüttelte den Kopf.

Oh bitte! Scott schob die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. „Sag es nicht.“

Wieder grinste Tanner. „Wer ist der Pilot?“

„Ein Jack Sullivan.“

„Den kenne ich gut. Ist ein erfahrener Mann. Geht kein unnötiges Risiko ein. Und das Wetter wird besser … vielleicht.“

„Danke“, erwiderte Scott ironisch.

Tanner schlug ihm lachend auf die Schulter, bevor er zu Blake und Emily hinüberging, die neben dem luxuriösen SUV standen, in dem ihre Mutter saß.

„Weiß jemand, wo Jordana ist?“, fragte Scott in die Runde.

„Ich bleibe hier.“ Seine mittlere Schwester trat aus dem Hoteleingang. Sie trug Jeans und eine Tunika und hatte ihr dunkelblondes Haar wie üblich zum Pferdeschwanz gebunden. Obwohl sie einen fantastischen Job in der Firma machte, war Jordana nicht so modebewusst wie ihre Schwestern. Oder so selbstsicher.

„Unsinn.“ Ihr Vater, der neben Tanner an dem Geländewagen stand, blickte sie streng an. „Natürlich kommst du mit.“

„Nein, ich … hab dir doch schon gesagt, dass ich bei dem Wetter nicht fliege. Erst recht nicht in so einer Blechbüchse.“

„Ein Learjet ist keine Blechbüchse.“

„Tut mir leid, Daddy.“ Ihr Gesicht rötete sich. „Aber ich werde nicht in diese kleine Maschine steigen.“

Scott wusste, wie sehr Jordana unter Flugangst litt. Und bei diesem Sturm … „Sie kann doch morgen nachkommen“, unterstützte er sie. „Mit einem Linienflug. Wenn das Wetter besser ist.“

Tanner sprach leise mit John Michael und bekam ein Nicken zur Antwort. Nun gab auch ihr Vater nach. „Gut, wir erwarten dich morgen, Jordana.“

Scott atmete auf. Konnte die Fahrt jetzt endlich losgehen?

Sobald alle anderen eingestiegen waren, setzte er sich auf den Beifahrersitz des Escalade, des großen Geländewagens, den die Fortunes gemietet hatten. Javier ließ den Motor an und meinte: „Sind nur zehn Meilen bis zum Flughafen. Bei dem Sturm könnten wir jedoch länger brauchen. Falls Bäume umgeknickt sind …“

Na toll! Scott ahnte es – seine Arbeit im Büro würde er wohl morgen erledigen müssen. Er winkte Jordana zu, als sie abfuhren. Tanner sagte etwas zu ihr und deutete auf die offene Tür. Vermutlich hatte er vorgeschlagen, dass sie hineingingen in die angenehm warme Lobby.

„Toller Wagen“, schwärmte Javier. „Anders als meine alte Karre.“

„Ich fürchte, das wird uns bei diesem Wetter nicht viel nützen.“

Es regnete in Strömen, der Wind wirbelte Blätter und Zweige durch die Luft. Und außer dem Geräusch der Scheibenwischer hörte Scott, wie Mike und sein Vater, die hinter ihm saßen, zu telefonieren begannen – geschäftlich.

„Madre mia!“ Javier deutete auf die schwarzen Wolken. „Da braut sich was zusammen. Wie gut, dass es nur regnet und nicht schneit.“

„Allerdings.“

„Machst du dir Sorgen um deine Schwester?“

„Warum sollte ich?“, fragte Scott überrascht. „Sie hätte keinen besseren Mann finden können als deinen Bruder. Davon sind wir alle überzeugt.“

Javier lachte. „Das gilt umgekehrt genauso. Wendy ist ein Schatz. Wir alle lieben sie. Aber ich meinte die andere Schwester, die im Hotel geblieben ist. Jordana.“

„Ach, sie kommt gut klar. Jordana ist eine intelligente junge Frau.“

„Glaube ich. Nur … ein bisschen schüchtern? Im Gegensatz zu Wendy.“

Scott grinste. „Verglichen mit Wendy ist jeder schüchtern. Und wer weiß … noch so ein Wirbelwind in der Familie? Wäre wohl schwer zu ertragen gewesen.“

Sie plauderten über dies und jenes, während der Regen aufs Dach trommelte. Nach einigen Meilen wurde die Sicht jedoch so schlecht, dass Javier sich auf die Straße konzentrieren musste.

Scott nutzte die Gelegenheit, um seine Nachrichten auf dem iPhone abzurufen. Zwischen Weihnachten und Neujahr kam die Geschäftswelt zur Ruhe, aber irgendwer meldete sich garantiert mit einem Problem, sogar an den Feiertagen.

Er hörte, wie seine Mutter etwas fragte und sein Vater schroff antwortete. Wie üblich. Es interessierte John Michael nicht, was seine Frau wollte. Er war in Gedanken in der Firma. Oder er feilte an seiner Rede!

Na ja, Scott kannte es nicht anders. Darum hatte er die Beziehung seiner Eltern immer für normal gehalten. Bis er Wendy und Marcos zusammen erlebt hatte.

Die beiden strahlten vor Glück, respektierten sich gegenseitig und sorgten liebevoll füreinander. Wie man es sich nur wünschen konnte, oder?

Darum überlegte Scott auch – und nicht zum ersten Mal –, warum seine Eltern fünfunddreißig Jahre lang verheiratet geblieben waren. Aus Loyalität? Gewohnheit? Jeder in der Familie spürte, wie angespannt ihr Verhältnis war. Obwohl … sein Vater bemerkte es vermutlich nicht. Der lebte in seiner eigenen Welt.

Und eins ließ sich nicht leugnen – die Söhne schlugen ganz nach ihm. Sie waren ebenso ehrgeizig wie er, dachten schon vor dem Frühstück an Umsatzzahlen und Bilanzen, und auch bei ihnen drehte sich alles nur um die Firma.

Da blieb kaum Zeit für romantische Stunden. Scott genoss die Gesellschaft von Frauen, natürlich. Er hatte Freundinnen gehabt … Dates, aber nie eine ernsthafte Liebesbeziehung. Er hatte dies auch nie gewollt. Sich verlieben, heiraten, eine Familie gründen, das gehörte nicht zu seiner Lebensplanung.

Sein Handy klingelte. „Scott Fortune.“

„Mr Fortune, gut, dass ich Sie erreiche. Hier ist Jack Sullivan. Ihr Pilot.“

„Ja. Was kann ich für Sie tun?“

Er lachte hölzern. „Nichts, leider. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie – der Regen hat hier einige Straßen überflutet. Darum werde ich mich verspäten.“

„Heißt das, Sie sind auf dem Weg zum Flugplatz?“

„Ja. Ich werde bald da sein, machen Sie sich keine Sorgen. Ich brauche nur viel länger, als ich dachte.“

„Und wie lange?“

„Schwer zu sagen. Vielleicht sehen wir uns in einer halben Stunde. Oder in einer. Aber solange es dermaßen stürmt, bleibt der Jet ohnehin am Boden. Also, Sie fahren bitte in aller Ruhe zum Flughafen, setzen sich dort in die Lounge, und falls wir Glück haben, ist der Himmel klar, wenn ich eintreffe. Denn hundert Meilen östlich von hier scheint bereits wieder die Sonne.“

„Okay. Verstanden.“ Scott beendete das Gespräch.

„Gibt’s ein Problem?“, fragte Mike hinter ihm.

„Der Pilot verspätet sich.“ Als Mike verächtlich schnaubte, fügte er hinzu: „Der Mann kann nichts dafür. Die Straßen sind überflutet.“

Wie aufs Stichwort wurde der Wagen von einer Orkanböe erfasst und beinahe von der Straße gefegt – sodass Javier die Fahrt verlangsamen musste.

„Mann“, schimpfte er, „bei dem Wetter möchte ich auch nicht fliegen. Ich glaube, Jordana ist die Klügste von euch. War ’ne gute Idee von ihr, im Hotel zu bleiben.“

Wahrscheinlich. Aber Scott wollte nach Atlanta. Heute. Und genau wie sein Vater oder Mike hasste er es, wenn nicht alles nach seinen Wünschen verlief.

Schließlich war auch er ein Fortune. Und die Fortunes akzeptierten kein Nein.

Niemals.

Aha, da sind die illustren Gäste, dachte Christina Hastings, als einige gut gekleidete Leute in die Wartehalle des kleinen Flughafens traten. Die drei Damen in eleganten Mänteln und mit edlen Handtaschen.

Sei nicht neidisch, ermahnte sie sich. Auch wenn du hinterm Tresen einer Snackbar stehst, und sie first class durch die Welt reisen.

Nein, von so einem Luxus träumte sie gar nicht. Ihre Wünsche und Ziele sahen anders aus. Sie war stolz darauf, alles allein zu schaffen. Und dankbar für das, was sie hatte. Diesen Job, zum Beispiel. Denn wie sollte sie sonst ihre Miete zahlen?

Darum hatte sie ihren freien Tag geopfert und stand hier, falls jemand ein Sandwich wollte oder ein Fläschchen des völlig überteuerten Mineralwassers.

Die Fortunes könnten es sich ja leisten. In Red Rock hatte wohl jeder von der Hochzeit gehört, die im Red gefeiert worden war. Dem Restaurant der Mendozas, das Christina nur von außen kannte.

Und jeder wusste, dass die Familie der Braut einen Learjet gechartert hatte, um zurück nach Atlanta zu fliegen. Ob der Start allerdings möglich sein würde …

Als Christina durch die hohe Glaswand blickte, sah sie nur dunkle Wolken und den Regen, der aufs Rollfeld prasselte. Seit Stunden das gleiche Bild! Gott, war es hier heute langweilig.

Auf diesem privaten Flugplatz ging es oft ruhig zu, aber der heftige Sturm hatte den Betrieb komplett zum Erliegen gebracht. Und bei dem schlechten Wetter kam natürlich kein einziger Besucher. Ja, sogar die Büros auf der Empore des zweistöckigen Gebäudes wirkten verlassen.

„Hi. Was können Sie denn heute empfehlen?“

Christina lächelte die rothaarige Stewardess an. „Ein Truthahnsandwich?“

„Bitte. Und eine Diät-Cola.“

„Begleiten Sie die Gruppe?“

„Ja. Nach Atlanta. Die Fortunes. Der Ältere ist der Vater, die Jüngeren die Söhne.“

Die vier Männer waren hochgewachsen, dunkelhaarig, attraktiv. Sie sahen sich sehr ähnlich. Und alle vier blickten wie gebannt auf ihre iPods, Smartphones oder was auch immer, während sie dort standen.

Die Frauen gingen zur Lounge hinüber, die sich unterhalb der Empore befand.

„Die schlanke silberhaarige Dame ist Mrs Fortune. Die mit dem langen blonden Haar wohl ihre Tochter“, meinte die Stewardess. „Nur bei dem braunen Lockenkopf bin ich mir nicht sicher.“

Christina reichte ihr das Sandwich und die Cola, während sie den Blick zu den Brüdern wandern ließ. Einer von ihnen war gekleidet, als habe er einen Termin beim Präsidenten. Der Nächste trug ein sportliches Sakko und Jeans. Der Dritte eine coole Lederjacke zu einer schwarzen Hose.

„Bis zum nächsten Mal“, verabschiedete sich die Stewardess, sobald sie bezahlt hatte. „Ich setze mich zu Mrs Fortune. Sie ist nervös wegen des Sturms. Vielleicht kann ich sie beruhigen. Bei Orkan starten wir ja nicht.“

Die junge Frau mit den braunen Locken schien ebenfalls nervös zu sein. Sie sprang vom Sessel auf, ging quer durch die Halle und blickte in die Schaukästen mit den Miniaturflugzeugen. Nur, um sogleich in die Lounge zurückzukehren, wo nun auch der ältere Mann und einer der Söhne Platz nahmen.

Zwei weitere junge Männer brachten Gepäck herein, das sie an der Tür zum Vorfeld abluden. Einer von ihnen lächelte Christina zu, bevor er wieder hinausging. Der einzige Lichtblick an diesem trüben Tag!

Was sollte sie eigentlich hier, wenn sie kaum Umsatz machte?

Da wäre es doch schöner gewesen, zu Hause auf dem Sofa zu sitzen, mit Gumbo, ihrem Hund, und sich an ihrem kleinen künstlichen Weihnachtsbaum zu erfreuen – das war ihr Programm für morgen, den Silvesterabend.

Ja, ihr Leben könnte nicht aufregender sein.

Es donnerte laut, der Regen klatschte gegen die Glaswand und …

„Hallo? Ich hätte gern einen Espresso.“

Als Christina herumwirbelte, blickte sie in die braunen Augen eines Mannes. Ah. Der in der Lederjacke. Er wirkte verärgert.

Was nichts daran änderte, dass er umwerfend aussah. Er hatte ein markantes Gesicht, sinnliche Lippen … Und du wirst nicht fürs Träumen bezahlt! „Tut mir leid, wir haben nur einfachen Kaffee. Oder entkoffeinierten.“

„Das ist ja nicht gerade ein guter Service.“

So, so. Er war der attraktivste Kerl, den sie je gesehen hatte – doch reichlich schroff und verdammt anspruchsvoll, oder?

Du bist hier nicht bei Starbucks, Junge. Andererseits … sie gab ihm ja recht. Und sollte sie einem Mann böse sein, der eine süße rosa Tüte mit sich herumtrug, als wäre darin ein Schatz? Sie musste lächeln.

„Glauben Sie mir, seit ich hier arbeite, erzähle ich meinem Chef, dass wir eine Espressomaschine brauchen. Aber er …“ Christina zuckte zusammen, als plötzlich Hagel aufs Stahldach prasselte.

Ihr Gast blickte grimmig nach draußen.

„Ist gleich wieder vorüber“, meinte sie. „Dann kann Ihr Flugzeug starten. Was darf ich Ihnen einschenken? Normalen Kaffee oder entkoffeinierten?“

Er verzog das Gesicht. Und das, bevor er die Köstlichkeit probiert hatte. Es war sinnlos, von Espressomaschinen zu reden. Wenn Jimmy nicht mal bereit war, anständigen Bohnenkaffee zu kaufen.

„Normal. Schwarz.“

Christina füllte einen Becher und stellte ihn auf die Granitplatte des Tresens. „Ein Dollar fünfzig. Die Stewardess sagte, Sie gehören alle zu einer Familie?“

„Ja. Wir waren zur Hochzeit meiner Schwester hier.“

„Wie schön. Sie sind aus Atlanta, richtig?“

Jetzt zog er die Stirn kraus, als würde ihn der Smalltalk nerven. Tja, sein Pech. Sie brauchte die Unterhaltung mit ihren Gästen, um nicht an Einsamkeit zu ersticken. Gumbo war ein lustiger Hund, nur antwortete er selten.

Der Mann blickte auf, als das laute Prasseln über ihnen abrupt stoppte.

„Na, habe ich zu viel versprochen? Es hagelt nicht mehr. Und gleich kommt die Sonne raus.“ Sie könnten wirklich mal lächeln, wenn ich hier Optimismus verbreite.

Er sah ihr in die Augen und – was war das denn? Woher kam denn plötzlich dieses wohlige Prickeln?

Er blieb jedoch völlig unbeeindruckt, wirkte aber beunruhigt, als sein Handy klingelte. Er meldete sich mit „Scott Fortune“, gab ihr einen Zwanzigdollar-Schein und wandte sich zum Gehen.

Muss ja nett sein, wenn man zwanzig Dollar wie zwanzig Cent behandeln kann, dachte Christina. „Warten Sie bitte! Ihr Wechselgeld …“

Ein lautes, unheimliches Heulen ließ sie augenblicklich erstarren. Scott drehte sich zu ihr um, suchte ihren Blick, und sie sah das Erschrecken in seinen Augen – bevor die fünf Meter hohe Glaswand zersprang und die Hölle über sie hereinbrach.

2. KAPITEL

Als Scott wieder zu Bewusstsein kam, hörte er den gellenden Schrei einer Frau. Sein Herz hämmerte, obwohl er reglos dalag. Seine Augen waren noch geschlossen, seine Ohren dröhnten. Und er versuchte, sich zu erinnern – da schrie sie erneut.

Wie sollte er dabei nachdenken können? „Was … was ist los?

Einen Moment lang herrschte eine himmlische Ruhe. Dann hörte er: „Ich dachte, Sie wären tot.“

Diese heisere Stimme … ah. Die Kellnerin. Sie beide waren in der Snackbar … „Nein. Ich …“ Er musste husten, weil ihm Staub in die Kehle drang. Hastig schob er sich den Kragen der Lederjacke über Mund und Nase, öffnete die Augen – und nun erfasste ihn die Panik. Er war unter Trümmern begraben … nur durch einige wenige Spalten drang Licht zu ihm.

Mit bebenden Fingern tastete er nach seinem Telefon, doch vergebens. Er hatte es verloren!

„Äh, sind Sie … okay?“, fragte die Frau. „Ich meine, k…können Sie mir helfen? Ich stecke hier fest.“

Adrenalin schoss ihm ins Blut. „Ja, ich komme.“ Scott setzte sich auf. „Wo sind Sie?“

„In Ihrer Nähe. Ich kann Sie sehen. Als dunklen Schatten jedenfalls.“

Sie hatten wohl Glück im Unglück gehabt, denn sie befanden sich in einer Art Höhle. Die allerdings nicht sehr hoch war. Als Scott sich weiter aufrichten wollte, stieß er sich den Kopf. Also kroch er auf allen vieren in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Wie lange war ich bewusstlos?“

„Vielleicht einige Minuten. Erinnern Sie sich an den Tornado? Der hat das ganze Flughafengebäude zerstört.“

„Oh ja.“ Das grausige Heulen des Windes würde er bestimmt nie vergessen. Oder wie plötzlich die Glaswand zerborsten war.

„Gut so. Noch einen halben Meter.“

Und endlich war er bei ihr. Die junge Frau hatte sich rückwärts auf die Unterarme gestützt und den Kopf gegen – den Sockel des Tresens? – gelehnt, während ihre Beine unter einem Haufen von Trümmern steckten.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte Scott besorgt.

„Nein. Aber ob das ein gutes Zeichen ist? Ich kann die Beine ja nicht bewegen. Und …“ Im schwachen Licht war zu erkennen, wie sie eine Grimasse zog.

Er streichelte ihre Schulter. „Es wird alles gut.“

„Ja. Nur … ich will hier raus.“

„Sofort“, murmelte Scott, während er begann, die leichteren Dinge wie Holzlatten, Schutt und Glasscherben zu entfernen. Das Problem war jedoch ein anderes. Und obwohl er seit Jahren im Fitnessstudio Gewichte stemmte – die Granitplatte, die über den Beinen der jungen Frau lag, konnte er nicht anheben.

Er versuchte es wieder und wieder, seine Schultermuskeln brannten höllisch, aber er hatte keine Chance. „Verflucht noch mal! Warum haben die echten Granit für den Tresen verwendet?“

Sie seufzte. „Aber eine Espressomaschine gab’s nicht. Das muss man sich mal vorstellen.“

„Wie schaffst du es, in dieser Situation ironisch zu sein?“ Aus den Trümmern über ihnen rieselte Staub auf sie beide herab, doch vor allem knarrte es da oben recht bedrohlich.

„Wäre es Ihnen lieber, wenn ich vor Verzweiflung schreie?“

„Oh nein. Ich heiße übrigens Scott. Lassen wir die Förmlichkeiten, okay?“

„Christina. Hastings.“

Er setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und streichelte sie tröstend mit dem Daumen, als sie ihre Finger fest um seine schloss. „Hast du Angst, Christina?“

„Natürlich habe ich Angst, wenn ich dem Tod ins Auge blicke.“

„Wir werden nicht sterben.“

„So?“ Ihre Stimme zitterte. „Heute scheint mein absoluter Pechtag zu sein. Eigentlich hätte ich freigehabt … gemütlich auf dem Sofa sitzen können. Doch jetzt stecke ich in diesem Trümmerhaufen fest.“

Ihr musste ja kalt sein. Scott ließ ihre Hand los, um aus der Lederjacke zu schlüpfen.

„Nein, das ist nicht nötig.“

„Ich habe einen Pullover an. Du nicht. Also keine Widerrede. Kannst du dich etwas aufsetzen?“ Als Christina es tat, half er ihr in die Jacke, dann zupfte er behutsam ihren langen blonden Zopf heraus.

„Danke.“

„Gern.“ Scott ließ den Blick durch die enge düstere Höhle wandern. Von draußen hörte man den Regen. Sonst nichts. „Ist irgendwie … unwirklich.“

„Ja. Vor allem, da es bei uns noch nie einen Tornado gegeben hat. Nur weiter im Norden oder im Westen von Texas. Aber …“

„Ausgerechnet heute.“ Es schien auch sein Pechtag zu sein. „Mein iPhone ist verschwunden. Hast du ein Handy?“

„In meiner Handtasche.“

„Und die ist wo?“

„Keine Ahnung. Sei bitte einen Moment still.“

Scott blickte auf ihr Gesicht. Christina hatte die Augen geschlossen. „Was machst du?“

„Ich bete. Versuche es jedenfalls.“

„Glaubst du wirklich, das könnte uns helfen?“

„Wir werden es nicht herausfinden, wenn du mich weiter störst.“

„Ist dein Kopf in Ordnung?“

„Wieso? Hältst du mich für verrückt, weil ich bete?“

„Nein. Falls dir ein herumfliegendes Teil gegen den Kopf geprallt ist, könntest du eine Gehirnerschütterung haben. Dann solltest du nicht einschlafen.“

„Oh. Danke. Aber der Kopf tut mir nicht weh. Nicht mehr als sonst.“

Ein gedämpftes Geräusch aus der Ferne ließ Scott zusammenzucken. Du lieber Himmel! Wie hatte er vergessen können …?

Hastig kroch er zu der Wand aus Trümmern, die ihn von seiner Familie trennte. „Blake! Mike!“ Er riss ein Brett heraus, und schon rieselten Staub und feiner Schutt auf sie beide herab. „Dad! Kannst du mich hören?“

„Um Gottes willen, lass das!“, fuhr Christina ihn an. „Oder willst du riskieren, dass uns der ganze Schrott auf den Kopf fällt?“

„Nein, aber …“ Er schluckte hart. „Ich habe Angst um meine Familie. Die sind da drüben irgendwo … und vielleicht verletzt.“

„Es wird alles gut.“

Er kroch zu Christina zurück und setzte sich neben sie. „Glaubst du?“

„Natürlich kommt Hilfe. Man wird uns hier finden. Wir müssen nur geduldig warten.“

„Für jemanden, der eben noch meinte, dem Tode ins Auge zu blicken, bist du erstaunlich ruhig.“

„Ich habe mich wieder gefangen. Oder stehe unter Schock. Schwer zu sagen.“

Scott blickte sie an. Es war hier so dunkel, dass er ihr Gesicht nur undeutlich sah. Er konnte sich jedoch bestens an die hübsche Kellnerin erinnern. An ihr Lächeln, ihre nette Art, das humorvolle Funkeln in ihren blauen Augen.

Und an seine schlechte Laune. „Tut mir leid, wenn ich vorhin unfreundlich war. Nur weil es keinen Espresso gab.“

„Vergeben und vergessen.“

„Ich war nur sauer, weil der Sturm immer heftiger wurde. Ich wollte unbedingt nach Atlanta zurück.“

„Ich hatte mir diesen Abend auch anders vorgestellt.“

Also, er bewunderte Christina mit jeder Sekunde mehr. Die meisten Frauen, die er kannte, wären längst hysterisch geworden.

Seine Haut war mit Mörtelstaub bedeckt, sein Mund ausgetrocknet und ihm brannten die Augen. Bei ihr musste es ebenso sein. Dazu steckte sie unter der Granitplatte fest. Sie konnte ihre Füße nicht bewegen, würde nicht mal ausweichen können – falls die Trümmer über ihnen einstürzten. Trotzdem blieb sie ruhig und gefasst.

Ja, diese zierliche Frau ist wirklich bewundernswert, dachte Scott.

Und sollte er jemals wieder in eine so schreckliche Situation geraten, dann bitte nur mit der tapferen Christina Hastings.

„Erzähl mir von deiner Familie“, bat sie. „Es würde mich ein wenig ablenken.“

„Gut.“

Er brachte sie zum Lachen.

Ließ sie die Gefahr vergessen. Na ja, nicht wirklich. Es half Christina jedoch sehr, dass Scott an ihrer Seite blieb. Er hatte einen Arm um sie gelegt und erzählte und erzählte.

Dafür war sie ihm unendlich dankbar.

Er schien ein wunderbarer Mann zu sein. Hilfsbereit und fürsorglich. Humorvoll, obwohl er auf den ersten Blick so ernst gewirkt hatte. Und nur ihr zuliebe plauderte er seit Stunden über seine Familie.

So lebhaft, dass Christina fast meinte, die Fortunes persönlich zu kennen.

Allerdings … wenn Scott von seiner Kindheit erzählte, spürte sie, dass es für ihn nicht immer lustig gewesen sein konnte, mit fünf Geschwistern aufzuwachsen. Doch vor allem mit diesem Vater.

Schon die eine Geschichte sagte ihr das: Scott und sein Bruder Mike hatten jeder einen Limonadenstand errichtet. Als Konkurrenzunternehmen! Früh übt sich, wer ein guter Kaufmann werden will. Und der Vater hatte den elfjährigen Mike dafür gelobt, dass er Scott – der erst neun gewesen war – die Kunden weggeschnappt hatte.

Das musste den kleinen Jungen tief enttäuscht und gekränkt haben.

Mike ließ wohl nie eine Gelegenheit aus – weder damals noch heute –, um zu beweisen, dass er cleverer und erfolgreicher war als sein jüngerer Bruder.

Und der Vater schien nur Sieger zu mögen. Wer auf dem zweiten Platz landete, war in seinen Augen wohl schon ein Loser.

Das hatte Scott nicht gesagt, doch Christina hörte es aus seinen vielen kleinen Geschichten heraus.

Sie nahm auch an, dass Scott sich wahnsinnig bemühte, um die Anerkennung seines Vaters zu bekommen. Da konnte sie mitreden. Niemand wusste besser als sie, wie es war, sich nach der Liebe eines Elternteils zu sehnen.

Aber gütiger Himmel! Mr Fortune schien seine Kinder ja früh auf Erfolg getrimmt und sie auch noch zu Rivalen erzogen zu haben. Wenn er immer nur den Besten lobte. Von Teamgeist hielt der Mann wohl nicht viel.

Umso erstaunlicher, dass Scott über niemanden ein böses Wort verlor, sondern sehr freundlich und liebevoll von seinen Geschwistern sprach.

„Ist es nicht schwierig, wenn ihr alle bei eurem Vater arbeitet?“

„Nein. Fortune South ist ja ein großer Konzern. Jeder von uns hat seinen eigenen Bereich. Nur … Mike und ich kommen uns häufiger in die Quere. Liegt wohl daran, dass wir die beiden ältesten Söhne sind.“

Und um die Gunst des Vaters wetteifern, fügte sie in Gedanken hinzu.

Es wurde immer kälter in dieser dunklen Höhle. Christina spürte Schmerzen in ihrem linken Bein und war froh, als Scott sich noch enger an sie schmiegte. Denn sie brauchte seine Wärme, seinen Trost. Ja, ohne diesen Mann wäre sie hier schon längst vor Angst gestorben.

„Du hast mir alles Mögliche über die Firma erzählt. Was macht ihr denn gern in der Freizeit?“

„Freizeit?“

„Um Spaß zu haben.“

„Wir … gehen oft zu Veranstaltungen.“ Sein Akzent war der eines privilegierten Südstaatlers, seine Stimme betörend, tief und rau. Eine verführerische Kombination. „Wohltätigkeitskonzerte, festliche Abendessen.“

„Klingt langweilig.“

„Ist es.“

„Scott, ich sagte Spaß. Was bereitet dir Freude?“

„Die Arbeit.“

„Okay. Und sonst? Was unternimmst du und fühlst dich wohl dabei? Nicht gelangweilt, sondern glücklich.“

„Hm. Ich weiß nicht. Wann fühlst du dich wohl?“

Sie überlegte. „Wenn … ich auf einem Jahrmarkt bin und jede Menge Schmalzgebäck essen kann. Und Zuckerwatte. Oder im Sommer abends auf der Veranda sitze und Leuchtkäfer beobachte.“

„Klingt auch nicht besonders aufregend.“

„Na, entscheidend ist ja, ob es mir gefällt.“

„Ich war noch nie auf einem Jahrmarkt.“

„Glaube ich dir nicht.“

„Stimmt aber. Und ehrlich gesagt … mein einziges Vergnügen besteht darin, die Umsatzzahlen zu steigern.“

„Oje!“

„Das ist wichtig, Christina. Es geht ja nicht nur um unser Geld. Bei Fortune South arbeiten Tausende von Menschen. Die brauchen ein sicheres Einkommen.“

„Oh, du musst dich nicht verteidigen. Ich finde es nur bedauerlich, wenn du an nichts Freude hast – außer an deiner Arbeit. Gönn dir doch hin und wieder mal einen freien Tag. Genieße dein Leben.“

„Du erinnerst mich an Wendy, meine jüngste Schwester.“

„Die von deinen Eltern nach Red Rock geschickt wurde, weil sie die beiden zur Verzweiflung getrieben hatte?“

„Genau die.“

„Magst du sie von all deinen Geschwistern am liebsten?“

„Ja. Aber wage es nicht, ihr das zu verraten.“

„Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.“ Christina zögerte. „Und ich fühle mich sehr geschmeichelt.“

Scott lachte. „Jetzt erzähl mir von deiner Familie.“

„Da gibt es nicht viel. Mein Vater hat uns verlassen, als ich ein Jahr alt war, ist nie wieder aufgetaucht. Und zu meiner Mutter habe ich kein inniges Verhältnis.“

„Das tut mir leid.“

„Mir auch.“

„Hast du Geschwister?“

„Nein. Aber einen Hund … oh, mein Gott!“ Plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen. „Ich weiß ja gar nicht, wie es ihm geht. Wenn ihm etwas passiert ist …“

Der Tornado könnte überall gewütet haben. Vielleicht war Gumbo verletzt worden, lag jetzt irgendwo … allein und brauchte Hilfe, hatte Schmerzen. Oh, ihr armer Liebling. Christina musste weinen, ob sie wollte oder nicht.

Scott drückte sie tröstend an sich. „Wie heißt er?“

„G…gumbo. Er ist ein Mischling. Sieht lustig aus. Der Hund ist dumm wie Stroh, ich schwöre es.“ Sie lachte zittrig. „Aber er gehört mir, und ich liebe ihn.“

„Ist niemand da, der sich um ihn kümmern könnte?“

„Meine Vermieterin. Doch wenn ihr Haus in Trümmern liegt?“

„Ach, du darfst jetzt nicht den Mut verlieren“, meinte Scott. „Wollen wir hoffen, dass wir bald gerettet werden und es draußen nicht allzu schlimm aussieht.“

Sie horchte. „Es hat aufgehört zu regnen.“

„Ja. Ich schätze, wir haben eine sternenklare Nacht. Und Vollmond.“

Darum war es hier unten etwas heller geworden. „Wir sollten das Licht nutzen. Ich würde so gern einen Schluck Wasser trinken.“

„Ich auch.“

„Gleich neben dem Tresen stand ein Kühlschrank mit Snacks und Getränken. Vielleicht findest du ihn?“

„Bin schon auf dem Weg.“

Scott verschwand. Nach einigen Minuten hörte sie: „Wow! Ich habe mein Telefon wieder. Obwohl … Mist! Keine Verbindung. Aber … es reicht als Taschenlampe. Um in den Kühlschrank zu leuchten. Der lässt sich öffnen … ist noch gut gefüllt. Keine Angst, Christina, ich bin gleich wieder bei dir.“

Sie musste lächeln. Der Mann war ein Schatz.

Er kam mit zwei Flaschen Wasser und einigen Snacks zurück. „Sieh mal, was ich noch gefunden habe. Mein Geschenk.“

„Die rosa Tüte?“

„Ja.“ Er leuchtete mit dem Telefon hinein. „Handgeschöpfte Pralinen und selbst gebackene Kekse. Von Wendy. Sie hat ihr Talent als Patissière entdeckt. Seitdem ist Marcos’ Restaurant für die exquisiten Desserts bekannt, die sie kreiert.“

„Hört sich gut an.“ Christina griff sich ein Sandwich.

„Die Süßigkeiten sind auch für dich. Bitte. Ich nasche nicht gern. Doch eher beiße ich mir die Zunge ab, als Wendy das zu verraten. Sonst glaubt sie noch, ich würde ihre Arbeit nicht schätzen.“

Christina trank durstig von dem Wasser und aß das Sandwich. Dann suchte sie sich eine Praline aus. Hmm … sie ließ die Schokolade auf der Zunge schmelzen. Cremig, sahnig, süß. Himmlisch. Noch nie hatte sie etwas so Köstliches probiert.

Wie auch? Sie liebte Schokolade. Für sie war es jedoch schon purer Luxus, sich hin und wieder echte Oreo-Kekse leisten zu können.

„Wundervoll.“ Sie stellte die Tüte zur Seite.

„Bitte. Nimm dir, so viel du möchtest.“

Und das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. „Danke. Eine Praline reicht.“

Ja, Christina wollte gar nicht erst auf den Geschmack kommen. Sonst träumte sie bald von Dingen, die sie nicht haben konnte, und wäre total frustriert. Ihre Lage war auch so bitter genug. Würde sie neue Arbeit finden? Existierte ihre Wohnung noch? Würde sie ihre Beine bewegen können?

Oder würde sie in diesem Trümmerhaufen sterben, bevor man sie hier fand?

Ihr grauste bei dem Gedanken, die ganze Nacht in dieser feuchten, kalten Höhle ausharren zu müssen.

Scott schien das zu spüren. „Du zitterst ja.“ Er nahm sie sanft in die Arme. „Ich wärme dich. Okay?“

„Ja.“ Christina schmiegte die Wange an seinen weichen Pullover. Sie spürte die harten Muskeln darunter, genoss seine Nähe und fühlte sich getröstet und geborgen in seinen Armen. In diesen Kerl könnte sie sich glatt verlieben.

Nur wäre das sehr dumm von ihr. Oh ja! Noch viel dümmer … und gefährlicher, als von seinen köstlichen Pralinen zu naschen.

Scott konnte sich nicht daran erinnern, schon mal eine wildfremde Frau getröstet zu haben. Doch seltsamerweise war Christina ihm gleich so vertraut gewesen. Er hatte einfach das Bedürfnis, sie zu beschützen. Er hielt sie gern in den Armen und empfand eine unbeschreibliche … Zärtlichkeit für sie.

Besonders, wenn sie sich an ihn kuschelte. „Besser so?“

„Wunderbar.“ Sie rieb über seine Brust – sofort überlief ihn ein warmer Schauer. „Was ist das? Kaschmir?“

„Seide und Lambswool. Ein Weihnachtsgeschenk von Wendy.“

„Das Mädchen hat einen guten Geschmack.“

„Absolut.“ Scott streichelte ihre Schulter. „Erzähl mir von dir … wer ist Christina Hastings, wenn sie nicht am Flughafen steht und lausigen Kaffee ausschenkt?“

Sie lachte. „Du hast ihn probiert?“

„Leider. Also? Was sind deine Wünsche und Ziele?“

„Ach, damit würde ich dich nur langweilen.“

„Nein, es interessiert mich wirklich. Bitte.“

„Gut. Als Erstes … möchte ich meine Ausbildung zu Ende bringen. Nach der Highschool habe ich … etwas anderes gemacht. Ich war schon einundzwanzig, als ich mit dem College anfing. Betriebswirtschaft. Da ich arbeiten muss, kann ich pro Semester nur wenige Kurse belegen. So brauche ich eine Ewigkeit, doch was soll’s?“

„Du hast niemanden, der dich unterstützt?“

„Nein. Aber … ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr meinen Abschluss schaffe. Irgendwann hätte ich gern … ein eigenes Geschäft.“

„Und zwar?“

Sie seufzte. „Es ist … zu albern für jemanden wie dich.“

„Christina. Ich höre dir fasziniert zu.“

„Und wehe, du lachst. Ich würde gern einen Hundesalon eröffnen. Na ja … viel lieber hätte ich eine Tierpension. So eine Art Wellnessfarm, weißt du? Wo ich die Hunde und Katzen verwöhnen kann, während ihre Besitzer im Urlaub sind. Dafür bräuchte ich allerdings ein großes Haus mit Garten. Darum werde ich mir diesen Traum wohl erst in vielen, vielen Jahren erfüllen können.“

„Wieso?“

„Ich habe nicht das nötige Startkapital.“

„Du könntest einen Kredit aufnehmen.“

„Aha. Würdest du mir Geld leihen? Meine Bank tut es nicht, weil ich keine Sicherheiten habe.“

„Zeig mir deinen Businessplan, dann verhandeln wir.“

„Das sagst du nur aus Freundlichkeit, weil du meinst, dass wir hier sterben.“

„Wir überleben diese Nacht, Christina.“

Sie legte ihre Hand an seine Taille. „Weißt du … von meiner Tierpension habe ich noch nie jemandem erzählt.“

„Auch nicht deiner Mutter?“

„Der erst recht nicht.“ Christina schwieg einen Moment. „Weil sie immer alles schlechtgeredet hat, was ich jemals angefangen habe. Oder tun wollte. Sie hat mich nicht ein einziges Mal unterstützt.“

„Das ist hart.“

„Ach. Dadurch bin ich früh selbstständig geworden. Und ’ne Einzelgängerin. Was mich wohl nicht gerade zu einer idealen Freundin macht. Jedenfalls habe ich keine.“

„Du bist viel allein?“

„Meistens.“

„Und Dates?“

„Das letzte ist zwei Jahre her.“

„Zwei Jahre?“

„Ich war das Spiel leid. Ist ja immer die gleiche Enttäuschung. Zuerst freue ich mich, einen netten Mann kennengelernt zu haben – und stelle fest, dass er mir nur ein Essen spendiert hat, um mich ins Bett zu kriegen, doch an mir als Person gar nicht interessiert ist.“ Ihre Stimme klang bitter. „Ich will das nicht mehr.“

„Nicht alle Männer sind so“, verteidigte Scott seine Geschlechtsgenossen.

„Dann bin ich eben immer an die falschen geraten. Was soll’s? Ich komme gut allein klar. Ist ja auch irgendwie nett, wenn ich alles selbst entscheiden kann, ohne jemanden fragen zu müssen.“

„Du bist verdammt jung, um so zynisch zu sein.“

Christina rieb ihre Wange an seiner Brust. „Besser als eine Träumerin.“

Sie seufzte. „Ich mache mir keine Illusionen, Scott. Ich weiß, wer ich bin. Was ich erreichen kann und was nicht. Danach richte ich meine Ziele aus. Wie zum Beispiel … wenn ich nie heiraten sollte, möchte ich irgendwann … ein Kind adoptieren. Hm. Auch das habe ich noch nie jemandem verraten.“

Und je mehr sie von sich erzählte, desto mehr faszinierte sie ihn. „Du hast dein Leben gut im Griff, oder?“

„Ich bemühe mich. Doch so schwer ist das gar nicht. Ich denke, man muss sich nur selbst treu bleiben. Wissen, was man kann … was man möchte. Und versuchen, die beiden Dinge in Einklang zu bringen.“

„Nur ist das nicht immer möglich. Oft ist die Karriere vorbestimmt.“ Wer wusste das besser als er? „Man hat Verpflichtungen. Erwartungen zu erfüllen.“

„Ja, sicher. Und trotzdem darf man sich nicht einfach fügen. Ist jedenfalls meine Meinung. Wenn dir dein Job gefällt, prima. Aber ich finde es traurig, wenn jemand unzufrieden ist und nicht den Mut hat, etwas Neues zu beginnen. Jeder sollte sich einen Platz im Leben suchen, an dem er glücklich ist.“

Worte, die Scott zu denken gaben. Ihn aufwühlten. Sein Herz hämmerte. Es war unglaublich. Noch nie hatte eine Frau es geschafft, ihn so aus der Bahn zu werfen. Ihn dazu gebracht, sein ganzes Leben infrage zu stellen. Mit wenigen Worten.

Noch nie hatte eine Frau diese Fülle von Emotionen in ihm ausgelöst.

Und der Gedanke, Christina nie wiederzusehen, quälte ihn plötzlich viel mehr als die Angst, hier nicht lebend herauszukommen.

Das wollte er ihr gerne sagen, traute sich jedoch nicht.

Nicht mit Worten.

„Christina?“, flüsterte er und wartete, bis sie den Kopf hob, umfasste sanft ihr Gesicht. „Es ist verrückt, aber ich möchte …“ Er schluckte.

„Ja, küss mich.“ Sie lachte rau. „Ich kann einfach nicht widerstehen.“

Zumindest meinte Scott, das gehört zu haben, während sein Herz pochte und er den Mund auf ihren senkte.

3. KAPITEL

„Hey! Ich hab sie gefunden!“

„Sind sie okay?“

„Glaub schon. Obwohl die Frau … scheint festzustecken. Frank! Hernando! Ich brauche euch hier!“

Scott schreckte aus dem Schlaf, ein grelles Licht ließ ihn blinzeln … bis er begriff, dass es die Sonne war, die ihm ins Gesicht schien.

„Na, wie geht’s?“

Er konnte sein Glück kaum fassen. Christina rührte sich in seinen Armen und schrie kurz auf. Vor Überraschung? Oder hatte sie Schmerzen? „Mir fehlt nichts, aber sie …“

„Steckt fest“, ergänzte der ältere Mann vom Rettungstrupp. Er wirkte müde, war sicherlich die ganze Nacht lang im Einsatz gewesen. „Keine Sorge, junge Frau, wir holen Sie da raus.“

Dann lobte er Scott: „Gut gemacht. Sie haben die Kleine gewärmt. Das ist wichtig. Können Sie gehen?“

„Ja. Zumindest …“ Oh, seine Beine waren steif. „… konnte ich es, bevor ich eingeschlafen bin.“

„Gut“, sagte der Mann, als vier weitere Leute auftauchten. „Denn ich muss Sie jetzt bitten, hier Platz zu machen für die Sanitäter.“

„Aber …“

„Geh zu deiner Familie.“ Christinas Stimme klang rau. „Die warten sehnsüchtig auf dich.“ Als er immer noch zögerte, schloss sie die Augen. „Geh!“

„Ich komme zurück. Versprochen.“ Scott wäre lieber bei ihr geblieben, doch nun kroch er in den Tunnel, den die Retter geschaffen hatten. Auf der anderen Seite bot sich ihm ein entsetzliches Bild …

Der Flughafen war komplett verwüstet. Eine einzige Wand stand noch. Tausende von Glasscherben bedeckten den Boden, sie glitzerten im Sonnenlicht. Die Möbel waren Kleinholz, die Sessel der Lounge … unter den Trümmern der eingestürzten Empore begraben.

Oh Gott! Seine Mutter …

Ein Trupp von Soldaten und andere Rettungskräfte suchten in dem Chaos nach weiteren Verschütteten.

„Scott! Bin ich froh, dich zu sehen!“

Er wirbelte herum – Blake kam auf ihn zugelaufen. Auch Mike. Cousine Victoria. Alle drei schmutzig und zerzaust, doch – wie es schien – unverletzt.

Victoria umarmte ihn, dann fingen alle gleichzeitig an zu reden.

„… das Dach ist eingestürzt, wir saßen in der Falle …“

„… Javier wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Miguel ist bei ihm …“

„… Dad liegt draußen in einem Krankenwagen, hat Schmerzen in der Brust …“

„… Mom hat sich das Handgelenk gebrochen …“

„Man hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben“, sagte Victoria mit Tränen in den Augen. „Weil die Stewardess … sie hat es nicht überlebt.“

Scott fluchte. Da legte Mike ihm eine Hand auf den Arm. „Und Emily wurde noch nicht gefunden.“

Einen Moment lang brachte Scott keinen Ton hervor. Emily. Er konnte sich nicht entscheiden. Sollte er nun seine Schwester suchen oder zu Christina zurückgehen? Ein Versprechen halten, das er vor wenigen Minuten gegeben hatte? Oder seiner Familie helfen, die ihn brauchte?

Was gab es da noch zu überlegen? Christina wurde bereits versorgt. Und Emily musste so schnell wie möglich gefunden werden. „Wo war sie zuletzt?“

„Da drüben.“ Victoria zeigte zur früheren Lounge. „Ich stand in ihrer Nähe, wurde durch die Luft gewirbelt und bin in den Trümmern auf der anderen Seite der Halle gelandet.“ Sie begann zu weinen. „Oh Gott! Wenn Emily …“

Blake legte Victoria einen Arm um die Schultern. Im nächsten Moment hörten sie einen Mann rufen: „Wir haben sie! Alles okay!“

Mike lächelte. „Das muss Emily sein. Es wird sonst niemand mehr vermisst.“

Scott lief mit den anderen zu ihr. Voller Sorge beobachtete er, wie die Retter seine Schwester aus den Trümmern bargen und auf eine Trage legten. Die Sanitäter versorgten sie. Auch Emily war schmutzig und sah schrecklich aus – doch bis auf einen Knöchel tat ihr nichts weh.

Scott atmete erleichtert auf. Ihr ging es gut, und er durfte sich jetzt hoffentlich um Christina kümmern.

Nein! Leider nicht. Als er auf den Tunnel zusteuerte, hielt ihn ein Soldat am Arm fest. „Falsche Richtung. Da hinten ist niemand mehr. Sie müssen das Gelände bitte verlassen.“

„Aber Christina Hastings …“

„Ist bereits auf dem Weg ins Krankenhaus.“

„Welches?“

„San Antonio Memorial.“ Der Soldat blickte zu Emily hinüber. „Ihre Schwester und Ihre Eltern werden auch dorthin gebracht. Möchten Sie mitfahren?“

„Ich … weiß nicht. Unsere Wagen …“

„Oh, ich fürchte, die sind Schrott. Kommen Sie.“

Scott folgte ihm, während der Soldat erzählte: „Nur ein Escalade sieht noch aus wie nagelneu. So etwas erstaunt mich immer wieder. Ich habe schon gesehen, wie ein ganzes Stadtviertel in Trümmern lag – und mittendrin stand ein völlig unbeschädigtes Haus.“

Ja. Der schwarze Geländewagen glänzte im Sonnenschein. Doch …

Es schnürte Scott die Kehle zu, als er die Verwüstung sah – wohin er auch blickte. Und die junge Stewardess war tot. Seine Eltern hatten Schmerzen. Er wusste nicht, wie es Christina ging …

Um ihn herum standen Rettungsfahrzeuge. Militär. Feuerwehr. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mike in einen Krankenwagen stieg, der mit Blaulicht losfuhr. Lag sein Vater darin? Hoffentlich hatte er keinen Herzinfarkt.

„Ist wohl ein Leihwagen“, meinte der Soldat. „Dem Nummernschild nach. Gehört er vielleicht zu Ihnen?“

„Ja. Den Escalade haben wir gemietet.“

„Prima.“ Der Mann griff in seine Jackentasche und gab ihm einen Autoschlüssel. „Der steckte im Zündschloss. Und okay … der Wagen hat einige Schrammen. Er lag auf der Seite. Wir mussten ihn aufrichten.“

„Danke. Meine Brüder sagten … Javier Mendoza? Wissen Sie vielleicht …?“

„Mendoza? Das war der junge Kerl, den wir als Ersten gefunden haben. Vorn am Eingang. Er ist wohl schon im Krankenhaus.“

„Scotty!“, hörte er seine Mutter rufen. „Oh Gott sei Dank! Dir ist nichts passiert?“

Er verabschiedete sich von dem Soldaten und eilte zu ihr. In eine silberne Decke gehüllt lag sie auf einer Trage. „Hat man Jordana gefunden?“

Jordana? Das Beruhigungsmittel – oder die traumatische Nacht – schien sie etwas verwirrt zu haben.

Scott küsste seine Mutter auf die Wange. „Du meinst Emily, nicht wahr? Jordana ist doch im Hotel geblieben.“

„Nein, nein. Ich weiß schon, dass man Emily gefunden hat. Und Jordana ist nicht im Hotel. Sie hat mich auf dem Handy angerufen. Zehn Minuten bevor das Gebäude einstürzte. Sie hatte ihre Meinung geändert und wollte sich von diesem … Tanner zum Flughafen fahren lassen.“

Auch das noch! Hätte Jordana nicht auf ihr Bauchgefühl hören können?

„Oh, Scott.“ In den Augen seiner Mutter spiegelte sich die Angst. „Wenn sie auf der Straße …“

„Mom. Ihr ist nichts passiert. Glaub mir.“ Na, sein Magen glaubte ihm nicht.

„So, Mrs Fortune, jetzt müssen wir starten“, sagte ein Sanitäter, als Emily auf einer Fahrtrage gebracht wurde. „Ihre Tochter fährt mit Ihnen.“

„Emily, Schatz …“

Wenige Minuten später fuhr der Krankenwagen mit den beiden Frauen davon.

Scott blickte sich um und freute sich für Tanner Redmond, denn die Flugschule hatte den Tornado überstanden. Gut, den Zustand des Gebäudes konnte er nicht beurteilen. Aber es hatte ein Dach!

Blake fluchte. „Die halbe Region wurde überschwemmt und verwüstet. Hat mir ein Feuerwehrmann erzählt. Auch in Red Rock sind viele Häuser zerstört.“

„Und Jordana ist da irgendwo auf der Straße.“

„Mit Tanner. Das beruhigt mich. Bei uns auf dem Flughafen hätte sie es kaum besser gehabt. Mein Gott! So ein Tornado ist wohl eins der Erlebnisse, von denen man sagen kann, das hat mein ganzes Leben verändert.“

Du ahnst nicht, wie recht du hast. Scott dachte an Christina, er spürte förmlich, wie sie sich an ihn schmiegte … spürte ihren süßen, wundervollen Kuss. Noch immer. Sogar im hellen Tageslicht.

Verrückt.

Aber worauf wartete er noch? Er wollte zu ihr. Er musste wissen, ob es ihr gut ging. Ob sie seine Hilfe brauchte. Vielleicht hatte sie Schmerzen.

Vielleicht waren ihre Beine …

Wie auch immer, er würde Christina nicht mit ihren Problemen allein lassen.

„Kommt!“, forderte er Blake und Victoria auf. „Wir fahren zum Krankenhaus.“

Und als Scott wenige Minuten später auf den Highway einbog, drückte er kräftig aufs Gaspedal.

In der Notaufnahme des San Antonio Memorials herrschte das Chaos. Der Warteraum quoll über, und die Krankenschwestern liefen gestresst hin und her, denn sie mussten sich um Dutzende verletzter Leute kümmern.

„Scott! Hier!“

Sie entdeckten Emily, die in einer Ecke saß, und eilten zu ihr. Ihren verletzten Fuß – umwickelt mit einer kühlenden Bandage – hatte sie auf den Tisch vor sich gestützt.

Blake sah sich um. „Der Tornado hat also auch hier gewütet?“

„Nein“, erwiderte Emily. „San Antonio ist verschont geblieben. Doch Red Rock hat es hart getroffen. Das dortige Krankenhaus ist total überlastet.“ Sie deutete auf einen Fernseher oben an der Wand. „Es laufen die ganze Zeit Berichte.“

„Wo sind Mom und Dad?“, fragte Scott.

„In Untersuchungsräumen. Mike pendelt zwischen beiden hin und her.“

Der Mann neben Emily wurde aufgerufen. Da ließ Victoria sich auf den freien Stuhl sinken und legte den Kopf auf Emilys Schulter. „Cousinchen.“

Emily lächelte. Dann wurde sie jedoch wieder ernst. „Ich mache mir Sorgen um Javier“, flüsterte sie. „Miguel sitzt da hinten. Er wirkt so bedrückt.“

Ja. Als Scott sich umwandte, sah er den Bruder von Marcos und Javier. Miguel, der in New York lebte, war zur Hochzeit hergekommen. Nun hockte er hier in der Notaufnahme, ganz unglücklich, den Kopf in die Hände gestützt.

„Geh du zu ihm“, sagte Blake. „Ich suche Mom und Dad.“

Miguel lächelte gequält, als Scott ihn begrüßte, und erkundigte sich sofort nach der Familie Fortune. „Sind alle gesund?“

„Mehr oder weniger. Doch was ist mit deinem Bruder?“

„Es sieht ernst aus. Sehr ernst.“ Der junge Mann schluckte hart, rang offensichtlich um Fassung. „Javier ist … bewusstlos. Die Ärzte wissen noch gar nicht, was operiert werden muss. Sein Kopf, seine Beine …“

„Verdammt!“ Scott wünschte, er könnte irgendwie helfen. „Soll ich jemanden für dich anrufen?“

„Nein. Marcos ist schon auf dem Weg hierher.“ Miguel kämpfte mit den Tränen. „Ich habe Javier gefunden, gleich nach dem Tornado. Ich wusste, dass er dringend Hilfe braucht, aber ich konnte nichts tun … nicht mal der Notruf funktionierte.“

„Ich schätze, das Handynetz war komplett ausgefallen.“

„Und die Autos waren zerstört, die Straßen blockiert, durch Trümmer … Bäume. Der Escalade war umgekippt, und ich allein …“ Miguel schüttelte den Kopf. „Alles, was ich tun konnte, war … Javier ein bisschen vor dem Regen zu schützen, aber …“ Er blickte zur Seite, während ihm eine Träne über die Wange lief.

„Hey.“ Scott legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Er hat die Nacht überstanden … da draußen. Also gibt’s Hoffnung …“

„Wären die Rettungskräfte nur früher gekommen. Ihr wart alle irgendwo in den Trümmern eingeschlossen. Und ich allein … konnte Javier nicht helfen.“

Oh Gott! Die letzte Nacht musste für Miguel der reinste Albtraum gewesen sein. Er hatte von allen wohl die schlimmsten Stunden hinter sich.

Andererseits … Christina hatte nicht gejammert, doch bestimmt furchtbare Angst gehabt. Schmerzen. Und vielleicht war der Albtraum für sie noch gar nicht vorbei. Vielleicht brauchte sie Trost. Scott wollte zu ihr.

Als er Blake sah, winkte er ihn heran. „Miguel, ich muss jetzt zu meinen Eltern. Doch Blake wird bei dir bleiben, bis deine Familie eintrifft. Und ich verspreche dir: Wir werden euch helfen, wo immer wir können. Wenn Javier irgendetwas braucht – egal was –, bekommt er es. Verstanden?“

Miguel blickte ihn an, seine Augen waren gerötet. „Danke.“

„Es wird alles gut.“ Das hoffte Scott von Herzen. „Wo liegen Mom und Dad?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Blake. „Ich wollte mich gerade erkundigen.“

„Dann mache ich das.“ Scott ging zum Empfangstresen. „Ich möchte zu meinen Eltern. Virginia Alice und John Michael Fortune.“

„1A und 1B.“ Die Schwester deutete den Flur hinunter.

„Und Christina Hastings?“

„Auch eine Verwandte?“

„Nein, aber …“

„Dann dürfen Sie nicht zu ihr.“

„Ach, bitte, ich muss wissen, wie es Christina geht.“

„Und ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu plaudern.“ Die Schwester eilte davon.

Scott seufzte. Jetzt war niemand mehr am Tresen. Gut, dann würde er eben erst mal nach seinen Eltern sehen.

Im Untersuchungsraum 1A lag sein Vater. Er war sehr blass und an medizinische Apparate angeschlossen.

„Dad, wie fühlst du dich?“

„Warum kommst du erst jetzt? Mike war bereits hier.“

Ich freue mich auch, dass du den Tornado überlebt hast. „Mike konnte sich schneller als ich aus den Trümmern befreien“, erwiderte Scott ironisch.

„Ja. Er hat mich im Krankenwagen begleitet. Und erledigt nun ein paar wichtige geschäftliche Telefonate. Auf Mike kann ich mich eben immer verlassen.“

Ach ja, seinen Lieblingssohn, den lobte er bei jeder Gelegenheit. Wie ungerecht und herzlos sein Vater war. Sogar nach diesem Unglück dachte er nur an seine Geschäfte.

„Hast du noch Schmerzen in der Brust?“

„Kaum.“ Er schnaubte. „Trotzdem wollen sie mich über Nacht hierbehalten.“

„Das ist vernünftig.“

„Nein, völlig übertrieben. Aber … morgen fliege ich nach Hause. Du arrangierst alles, ja?“

„Willst du nicht vorher mit den Ärzten sprechen?“

„Der Flug dauert nur zweieinhalb Stunden. Wenn es nötig sein sollte, engagiere ich eine Krankenschwester, die uns begleitet. Wie geht es deiner Mutter?“

Fiel ihm erst jetzt ein, dass sie nebenan lag? „Ich will gleich zu ihr. Wie ich hörte, brauchte Mom ein Beruhigungsmittel.“

„Wundert mich nicht. Virginia hatte immer schwache Nerven.“

„Dad, sie war eine Nacht lang in den Trümmern des Flughafens eingeschlossen. Sie muss schreckliche Angst gehabt haben, oder?“

John Michael schwieg eine Weile. Und er klang viel freundlicher, als er Scott bat: „Geh und sag deiner Mutter, dass wir morgen nach Atlanta fliegen. Sie soll sich hier ausruhen, und morgen Abend ist sie wieder zu Hause.“

„Gut.“

Im Zimmer nebenan begrüßte ihn seine Mutter mit einem verträumten Lächeln. „Oh, Scotty … hi.“

Er küsste sie auf die Wange. „Wie geht’s dir, Mom?“

„Ach, besser. Mir tut nichts mehr weh. Nur … die Schmerzmittel machen mich so müde.“

Scott blickte auf den Verband an ihrem linken Handgelenk. „Ist es gebrochen?“

„Ja. Und ich habe eine dicke Beule am Hinterkopf. Der Arzt sagt, dein Vater und ich werden gleich in den ersten Stock verlegt. Wir sollen über Nacht hierbleiben. Als Vorsichtsmaßnahme.“

„Ich denke, das ist sehr vernünftig. Meinst du nicht?“

„Ich wäre lieber in meinem eigenen Bett. Und dieses Krankenhaushemd … Wo sind meine Sachen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht in Red Rock verstreut. Oder bis nach Atlanta geflogen, und wenn du Glück hast, warten sie zu Hause auf dich.“

Virginia Alice lachte. „In diesem grünen Hemd kann ich nicht reisen.“

„Wir besorgen dir Kleidung und alles, Mom. Ich schicke Victoria zu dir. Dann könnt ihr beide besprechen, was du brauchst.“

„Danke, Schatz.“ Plötzlich wurde sie ernst. „Hast du etwas von Jordana gehört?“

„Nein.“ Er drückte ihre Hand. „Tut mir leid.“

Seine Mutter nickte. „Danke. Dafür, dass du nicht sagst, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich mache mir immer Sorgen um euch.“

„Oh, ich weiß.“

„Und du weißt auch, warum, oder? Weil dein Vater es nicht tut. Da muss ich ja seinen Teil mit übernehmen.“

Das war ihr auch fantastisch gelungen. Virginia Alice hatte nie eine Nanny ins Haus gelassen, sondern ihre sechs Kinder allein erzogen. Geduldig und aufmerksam. Ja, sie war die liebevollste Mom der Welt.

Scott küsste sie auf die Stirn. „Ruh dich aus. Ach … ich soll dir von Dad sagen, dass ihr morgen zurückfliegt. Wenn er seinen Willen bekommt – und wann ist das nicht der Fall? –, bist du bald wieder zu Hause. Jetzt schlaf ein wenig.“

Als er gehen wollte, hielt sie ihn jedoch zurück.

„Dein Vater und ich … Ich weiß, dass unsere Beziehung für euch Kinder …“

„Mom, es ist kaum der richtige Zeitpunkt, um …“

„Ich habe gesehen, wie eine Frau gestorben ist, Scotty. Und ich dachte, wir würden sterben. Das lässt einen über vieles nachdenken. Man fragt sich, was wirklich wichtig ist. Und mir ist jetzt wichtig, dass ihr Kinder wisst … egal, wie sich dein Vater verhält … ich liebe ihn. Und ich weiß, dass er mich liebt. Ja, manchmal könnte ich ihn prügeln. Wenn er mich kaum beachtet. Wenn er mir das Gefühl gibt, ich würde ihm weniger bedeuten als die Firma.“

Virginia Alice setzte sich auf. „Aber ich wusste, wer er war, als ich ihn geheiratet habe. Genau wie er wusste, dass ich ein gutherziges Mädchen bin, das sich vor dem eigenen Schatten erschreckt.“

Sie lächelte. „Und ich kenne eine Seite an ihm, die er seinen Kindern nicht zeigt, warum auch immer. Ja. Euer Vater ist stur und wirkt oft kühl. Aber in seinem Herzen ist er ein guter Mann, der immer nur das Beste für seine Kinder will. Und das darfst du nie vergessen.“

Seine Mutter ließ sich aufs Kissen sinken, ihre Augenlider flatterten. Einen langen Moment lang stand Scott einfach da, verblüfft von ihrer Rede. Bis er an ihren ruhigen Atemzügen merkte – sie war eingeschlafen.

Und Christina? Verdammt! Er wusste noch immer nicht, wie es ihr ging.

Scott eilte zum Empfangstresen, wo die Krankenschwester ihn nur flüchtig ansah.

„Ihre Eltern werden in einer halben Stunde verlegt …“

„Darum bin ich nicht hier.“

„Sondern? Ihre Freundin? Tut mir leid. In der Notaufnahme dürfen nur Angehörige zu den Patienten.“

Eine Kollegin rief herüber: „Dr. Karofsky hat eine Patientin fürs County General. Melde sie bitte an. Orthopädie.“

„Name?“ Sie griff zum Telefonhörer.

„Hastings. Christina.“

Da langte Scott über den Tresen und riss ihr den Hörer aus der Hand.

„Mr Fortune! Soll ich den Sicherheitsdienst rufen?“

„Ich möchte wissen, warum Miss Hastings verlegt wird. Bitte. Ich … habe Angst um sie“, gab er zu. „Ich meine … braucht sie eine Spezialbehandlung?“

„Nein.“ Seine Worte schienen die Krankenschwester zu erweichen. „Sie hat nur einen gebrochenen Fuß, einige Kratzer, blaue Flecken.“

Scott gab ihr das Telefon zurück. „Warum wird sie dann verlegt?“

„Weil sie keine Versicherung hat. Und wir sind ein privates Krankenhaus. Natürlich versorgen wir jeden, der als Notfall hereinkommt. Doch sobald die Patienten stabil sind, überweisen wir sie an öffentliche Einrichtungen. Im County General ist sie …“

„Sie bleibt hier.“ Scott griff nach seiner Brieftasche und zog seine Scheckkarte heraus. „Ich bezahle die Rechnung von Miss Hastings.“

„An der Kasse.“ Die Schwester lächelte. „Neben dem Eingang.“

„Danke.“ Er eilte in die Halle und hatte der Dame hinter der Glasscheibe kaum erzählt, was er wollte, da kreischte jemand: „Scott!“

Er wirbelte herum – Jordana, schmutzig und zerzaust. Und Tanner Redmond, ebenso schmutzig und zerzaust, mit ihrem Gepäck in der Hand.

„Jordy!“ Scott umarmte sie. „Oh, bin ich froh. Was ist passiert?“

„Tanner wollte mich zum Flughafen fahren“, erzählte sie aufgeregt. „Aber wir sind im Graben gelandet. Mussten in einem Schuppen übernachten, weil der Sturm nicht aufhörte. Erst heute Morgen haben uns Soldaten geholfen, den Wagen aus dem Graben zu ziehen, und die Männer waren am Flughafen gewesen und wussten, dass ihr in den Trümmern gefangen wart. Sind alle okay?“

Scott berichtete kurz. „Nur Javier …“

Sie schnappte nach Luft. „Er ist nicht …?“

„Er lebt, ist jedoch bewusstlos. Miguel sagt, es sieht nicht gut aus.“

„Wie schrecklich.“ Jordana stiegen Tränen in die Augen. „Ist seine Familie schon hier?“

„Sind auf dem Weg, schätze ich. Und Mom ist krank vor Sorge um dich.“

„Oh, das kann ich mir vorstellen. Ich gehe zu ihr.“ Lächelnd reichte sie Tanner die Hand. „Danke, für alles. Auf Wiedersehen.“

Tanner zog die Stirn kraus, als er ihren Koffer absetzte. „Äh … gern geschehen. Möchtest du nicht … dass ich auf dich warte?“

„Nein.“ Sie nahm ihm die Tasche aus der Hand und schnappte sich ihren Rollkoffer. „Danke. Nochmals.“

Und schon lief sie davon. Tanner blickte ihr nach.

„Ich muss los“, murmelte er, drehte sich um und ging zur Tür hinaus.

„Sir? Ihre Rechnung.“

„Oh ja!“ Scott nahm seine Kreditkarte an sich. Er konnte es kaum glauben. In der Familie gab es niemanden mehr – im Moment jedenfalls –, der seine Hilfe brauchte. Nach den langen Stunden der Angst waren alle versorgt und in Sicherheit.

Christina hatte sich nur einen Fuß gebrochen! Er durfte zu ihr. Endlich. Und er freute sich so sehr darauf, sie wiederzusehen.

4. KAPITEL

„Nein, das kann nicht sein“, widersprach Christina. „Ich soll hier auf den Sanitäter warten.“ Sie hatte ein Schmerzmittel bekommen. Ihr verletzter Fuß war geschient worden. Und sie machte sich keine Illusionen – zur weiteren Behandlung musste sie ins County General, wo die Ärzte völlig überlastet waren.

„Ihre Kollegin meinte, ich würde gleich …“

„Ja.“ Die Schwester lächelte. „Doch jetzt bleiben Sie bei uns. Auf der orthopädischen Station wird man sich gut um Sie kümmern.“

„Oh, das kann ich mir nicht leisten.“ Christina stiegen Tränen in die Augen. Nicht, weil sie arm war. Sie fand es nur schrecklich, es anderen sagen zu müssen.

„Ein edler Spender übernimmt alle Kosten.“ Die Ärztin mit dem russischen Akzent trat in die schmale Kabine. „Und Sie werden bald wieder laufen können.“

„Bald?“, fragte sie hoffnungsvoll – und verwirrt. Jemand wollte für ihre Behandlung zahlen? „Was heißt das in meinem Fall?“

„Die Brüche sind unkompliziert, also, in einigen Wochen.“

Wochen! Christina stöhnte auf.

„Ich denke, bei Ihnen wird ein Gehgips möglich sein.“ Dr. Karofsky lächelte. „Und Sie sollten sich glücklich schätzen. Ein Sanitäter hat mir erzählt, in welcher Lage Sie waren. Ihre Verletzungen hätten wesentlich schlimmer sein können.“

„Ich weiß, ich hatte sehr viel Glück …“

„Auch wenn Sie noch etliche Male fluchen werden. Denn ja, eine Granitplatte ist keine Steppdecke. Ihre Beine sind zerschunden. Ihnen wird jeder Knochen, jeder Muskel wehtun. Oh, hier kommt Ihr Prinz, nehme ich an.“

Die Ärztin lächelte, gab der Schwester ein Zeichen, und die beiden gingen hinaus. Sie ließen Christina mit Scott allein.

Da stand er. Im hellen Tageslicht. Dieser attraktive Mann, der sie eine Nacht lang in den Armen gehalten, sie gewärmt und getröstet hatte. Prompt starrte sie auf seine Lippen und dachte an den wundervollen Kuss.

Dabei wollte sie ihn vergessen. Den Mann und den Kuss.

Sie musste ihn vergessen.

Ja, viel Glück dabei.

„Wie geht’s dir?“

„Wie geht’s deiner Familie?“, begannen sie gleichzeitig zu sprechen.

„Gut. Mehr oder weniger.“ Scott drehte den Klappstuhl herum, setzte sich rittlings darauf. Lässig, selbstsicher. Und sein Anblick, seine souveräne Art bestätigten ihr nur, was sie ohnehin schon wusste – er gehörte in eine andere Liga.

Ein erfolgreicher Mann wie Scott Fortune würde sich nie für eine arme Kellnerin interessieren, die von einer Hundepension träumte.

Im nächsten Moment lächelte er. Ein breites „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen“-Lächeln, das auch seine Augen strahlen ließ.

Fast meinte sie, die Engel singen zu hören.

„Und du?“, fragte Scott, noch immer lächelnd. Obwohl sie schrecklich aussah. Hatte das Trauma der letzten Nacht sein Augenlicht getrübt?

„Im linken Fuß sind einige Knochen gebrochen.“ Christina strich sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatte. „Ansonsten … bis auf blaue Flecken und ein paar Schrammen fehlt mir eigentlich nichts.“

„Soll ich irgendwo anrufen, damit sich jemand um Gumbo kümmert?“

Ihr Herz machte einen Satz. „Nein, ich meine, danke, aber das hat schon ein Pfleger getan. Er war so nett, meine Vermieterin anzurufen.“

„Dem Hund geht’s gut?“

Christina nickte. „Ja. Und am Haus gibt es kaum Schäden. Wie Enid – meine Vermieterin – sagt, sind nur ein paar Dachziegel heruntergefallen. Vor dem Büro ist ein Baum umgestürzt. Du erinnerst dich an den Namen meines Hundes?“

Scott grinste. „Obwohl du ihn höchstens zwanzigmal erwähnt hast.“

„Tut mir leid. Ich hänge an dem Tier.“

„Ist doch schön. Das Gefühl kenne ich.“

„Hast du auch einen Hund?“

„Nein, ich hatte mal einen schwarzen Hengst. Er hieß Blackie.“

Nun grinste Christina. „Wie originell.“

„Hab Verständnis. Ich war erst acht. Und den fantasievollen Namen, unter dem er registriert war, konnte ich mir nie merken. Mann, habe ich das Pferd geliebt.“

„Du bist geritten?“

„Wir alle hatten Reitunterricht, aber ich war der Einzige, der sich dafür begeistert hat. Ich war ein richtiger Pferdenarr. Bis ich mit dem Studium anfing. In Boston. Und auch keine Zeit mehr hatte. Blackie kam dann zu einer Familie mit einem kleinen Mädchen. Ich vermisse ihn noch immer, vermisse das Reiten.“ Scott wirkte nachdenklich, bevor er Christina wieder anlächelte. „Wie alt ist Gumbo?“

„Weiß ich nicht genau. Aber er war noch ein Hündchen, als er vor fünf Jahren bei mir auftauchte. Während eines Sturms. Es blitzte und donnerte. Und plötzlich hörte ich draußen einen Hund winseln, er kratzte an meine Tür.

Also bin ich hingegangen, hab geöffnet … und er sprang auf mich zu. Als hätte dieser kleine Hund nur darauf gewartet, dass ich ihn hereinlasse. Er schüttelte sich und bespritzte mich von oben bis unten mit Wasser.“ Christina lachte, dann seufzte sie. „Eigenartig. Gumbo kam genau zur richtigen Zeit. Als ich …“

Jemanden brauchte, der mich liebt, hätte sie ihm fast verraten. „Stimmt es? Du willst meine Behandlungskosten übernehmen?“

Scott sah ihr in die Augen und hielt ihren Blick gefangen. „Ja.“

„Ist nicht nötig. Ich kann mich ins County General verlegen lassen.“

„Klar. Aber das wäre zu anstrengend.“

Christina blickte ihn skeptisch an. „Für wen?“

„Für mich. Ich finde es schwierig genug, mich um alle zu kümmern, ohne dass du in einem anderen Krankenhaus liegst.“

Wurde sie etwa rot? „Wieso meinst du, dich um mich kümmern zu müssen?“

Er lächelte. „Ich möchte es.“

Oje! Ihr lief ein Prickeln über die Haut. „Scott …“

„Bitte. Kein falscher Stolz. Du warst nur am Flughafen, weil die Familie Fortune unbedingt nach Atlanta wollte.“

„Du fühlst dich also … verantwortlich?“

Wieder sah Scott ihr in die Augen – sie vergaß zu atmen. „Für den Tornado? Nein. Für dich? Absolut.“

Christina spürte, wie ihr Herz immer schneller pochte.

„Okay.“ Ein Pfleger zog den Vorhang der Kabine zur Seite, und schon war es vorbei mit der trauten Zweisamkeit. „Ich bringe Sie in den ersten Stock.“

Als er ihr in den Rollstuhl half, bekam Scott einen Anruf. „Javiers Familie ist hier“, sagte er dann. „Ich muss zu ihnen.“

„Javier?“

Er nickte ernst. „Der junge Mann, der uns zum Flughafen gefahren hat. Der netteste Kerl, den ich kenne. Er ist leider in einem sehr kritischen Zustand.“

„Oh, Scott.“ Christina nahm seine Hand. Worte brachten jetzt nicht viel, doch manchmal half eine tröstende Geste. „Es tut mir leid.“

Scott drückte ihre Hand, dann ging er.

„Gehören Sie auch zur Familie?“, fragte der Pfleger, während er sie zum Fahrstuhl schob.

„Nein. Uns hat das Schicksal … in dieselbe Ecke gewirbelt.“

Für eine lange, unvergessliche Nacht jedenfalls. Und Christina wusste wirklich nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte.

Als Scott in den Warteraum trat, wurde er dort von Wendy empfangen, die ihn auch angerufen hatte.

„Wie kannst du in deinem Zustand …“ Die anstrengende Fahrt nach San Antonio auf dich nehmen? hatte er fragen wollen, als sie ihn unterbrach: „Dem Baby geht es gut. Ich muss bei Marcos sein. Er braucht mich jetzt.“

„Was ist mit Javier?“

„Er wird operiert. An den Beinen. Am Kopf. Um die Schwellungen zu lindern. Die Ärzte …“ Wendys Augen füllten sich mit Tränen. „… haben der Familie empfohlen, ihren Priester zu informieren. Nur für den Fall. Die Verletzungen am Kopf sind das eigentliche Problem. Niemand weiß, ob Javier überlebt.“

Oh nein! Scott streichelte Wendys Arm. „Ich will kurz mit seinem Vater sprechen.“

Er ging zu Luis. Der Mann sah um zehn Jahre gealtert aus, schien über Nacht grau geworden zu sein. Und auf der Hochzeit waren noch alle so fröhlich gewesen. Was für ein Schicksalsschlag!

Luis stand auf und gab ihm die Hand.

„Wir sind mit einem Neurologen in Atlanta befreundet“, sagte Scott leise. „Er ist der Beste in seinem Fach. Ich bin sicher, dass er unserer Familie den Gefallen tun wird, nach San Antonio zu fliegen, um Javier …“

„Danke, Junge.“ Luis nickte. „Aber wir möchten euch keine Umstände …“

„Umstände? Es geht um deinen Sohn! Und für uns ist es kein Problem, wirklich nicht.“ Scott blickte zu Wendy, die neben ihm stand und die Hand ihres Mannes hielt. „Außerdem sind wir jetzt eine Familie, oder?“

Luis lächelte traurig. „Ist nett von dir. Doch zuerst würde ich gern hören, was die Ärzte sagen.“

„Natürlich.“

Eine Krankenschwester kam und bat die Familie Mendoza, zum Warteraum der Chirurgie zu gehen.

Einen Moment später kam Emily auf Krücken hereingehumpelt. Gefolgt von Blake, der Scott eine weiße Papiertüte überreichte. „Hamburger und Pommes. Wir waren in der Cafeteria.“

„Ich bin nicht hungrig. Aber danke.“

„Iss das!“, befahl sein Bruder. „Sonst kippst du noch um. Wir haben in der Nähe einige Hotelzimmer gebucht. Die Mädchen wollten so schnell wie möglich duschen, und ehrlich gesagt, sind wir alle kurz vor dem Kollaps. Mom und Dad schlafen. Hier können wir also nichts mehr tun. Und Mike hat noch weitere Wagen gemietet, damit jeder mobil ist …“

„Alles klar. Fahrt ihr zum Hotel. Ich bleibe.“

„Scott! Die Welt kommt auch mal ohne dich aus. Wenn du nicht schlafen willst, okay. Aber du solltest duschen. Essen. Dir frische Kleidung kaufen.“ Blake grinste. „Auch wenn’s hier nur T-Shirts gibt. Sogar du wirst darin einen Tag überleben.“

Sicherlich, dachte er. Und Christina wurde behandelt. Mit ihr konnte er jetzt ohnehin nicht sprechen. Also … Er verließ die Notaufnahme und ging über den Parkplatz zu dem Escalade, während er den Hamburger aß.

Statt seine Geschwister ins Hotel zu begleiten oder einzukaufen, damit er endlich seine schmutzigen Klamotten ausziehen konnte, fuhr Scott jedoch in Richtung Flughafen.

Wieso? Er war sich nicht sicher. Um sich davon zu überzeugen, dass nicht alles nur ein böser Traum gewesen war? Um die Erlebnisse zu verarbeiten?

Ja, vielleicht.

Aber nach fünfzehn Meilen, während er geruhsam der Straße folgte, die bis zum Horizont zu reichen schien, das weite Land sah und den blauen Himmel über sich, wurde ihm klar – er wollte über sich nachdenken.

Er war nicht mehr derselbe Mann wie noch vor einer Woche.

Vor vierundzwanzig Stunden.

In den vergangenen Tagen war er oft durch diese schöne Landschaft gefahren, hatte sich so wohlgefühlt. Und sich plötzlich an seine früheren Wünsche erinnert. An seine Träume. Aber sie gleich wieder verdrängt, in die hinterste Ecke.

Irgendwann machst du es. Später mal. Wenn die Zeit richtig ist.

Auf jeder Tour war es ihm so ergangen. Eine innere Stimme hatte ihm zugeflüstert: Sei ehrlich! Hier fühlst du dich zu Hause. Du würdest gern bleiben. Und er hatte sie jedes Mal ignoriert.

Bis eine zierliche Frau ihm deutlich die Meinung gesagt hatte. Ja, man sollte den Mut haben, etwas Neues zu beginnen. Nicht einfach den Wünschen anderer folgen, sondern sich lieber die eigenen erfüllen.

Jeder sollte sich einen Platz im Leben suchen, an dem er glücklich ist.

Christina hatte recht. Und genau das werde ich tun, dachte Scott.

Alles auf später zu verschieben brachte ja nichts. Die letzte Nacht hatte eindrücklich bewiesen, wie schnell es zu spät sein konnte.

Das wurde ihm so richtig bewusst, als er den Trümmerhaufen erneut sah. Vor der Flugschule parkte ein Jeep. Scott stellte seinen Wagen daneben und ging zu Tanner, der das Gebäude begutachtete.

„Hi.“ Tanner lächelte grimmig. „Die Schäden sind größer, als ich anfangs dachte. Und was treibt dich her?“

„Ich musste es einfach noch mal sehen.“

„Sonst glaubt man es kaum, oder? Sherri ist tot.“

„Die Stewardess. Ja. Kanntest du sie gut?“

„Nein. Wir sind uns hier ab und zu über den Weg gelaufen. Trotzdem. Fällt mir schwer, es zu begreifen, weißt du?“

„Ja.“

„Wie geht’s deiner Familie?“

„Dad ist entschlossen, morgen abzureisen.“

„Aha. Ich habe Gepäck von euch in der Ruine gefunden.“

„Wirklich?“

„Ein paar Taschen, einen Koffer. Liegt alles im Jeep. Ich hätte es nachher ins Krankenhaus gebracht, doch jetzt kannst du es gleich mitnehmen.“

Sie gingen zu den Wagen und luden das Gepäck um. Tanner verabschiedete sich darauf mit einem festen Händedruck und wünschte „Alles Gute“.

„Dir auch“, erwiderte Scott. Er mochte die Menschen in dieser Gegend. Er mochte Texas. Und als er über die Landstraße fuhr, hörte er wieder die innere Stimme: Hier fühlst du dich zu Hause.

Und diesmal ignorierte er sie nicht.

Wie konnten Mutter und Tochter sich nur so fremd sein? Sie beide trafen sich nur selten, und wenn, hatten sie einander nichts zu sagen.

Christina wusste auch nicht recht, warum sie Sandra angerufen und ihr von dem Unglück erzählt hatte.

Und was wollte ihre Mutter jetzt hier – wenn sie als Erstes verkündete, gar keine Zeit für einen Krankenbesuch zu haben? Schließlich hatte sie einen Job. Sie war Hostess in einem Restaurant, und ihr Chef sah es nicht gern, wenn sie früher Feierabend machte. Sie konnte auch nicht bleiben. Nein, Sandra musste zurück nach Houston. So schnell wie möglich.

Um für ihren Ehemann zu kochen? Ihm das Abendessen zu servieren?

Ja, das vermutete Christina. „Aber es wäre nett, wenn du mich vorher nach Hause fahren könntest. Wo du schon mal hier bist.“

„Oh.“ Sandra blickte zur Uhr. „Und wenn ich nicht gekommen wäre, was hättest du dann getan?“

Christina schluckte. „Lass nur“, winkte sie ab. Ihre Mutter wollte ihr nicht helfen. Das war immer so gewesen, und es würde wohl immer so bleiben.

Doch ausgerechnet heute hätte sie Sandra gebraucht.

Jetzt wusste Christina nicht, was sie tun sollte. Sie hatte kein Geld für ein Taxi, schon gar nicht für die weite Fahrt nach Red Rock. Ihre Vermieterin setzte sich nicht mehr ans Steuer, um sie abzuholen. Sie war achtundsiebzig.

Gut, sie könnte Jimmy fragen. Ihren Chef. Aber der Mann nutzte jede Gelegenheit, um sie anzubaggern. Mit dem säße sie nicht gern allein im Auto.

„Du findest schon eine Lösung“, meinte Sandra. „Das hast du ja immer. Hier.“ Sie drehte eine Tüte von Walmart um, sodass der Inhalt aufs Bett fiel.

Wow! Pinkfarbene Leggings. Ein schwarz-silberner Pullover, alt und verfilzt. Eine Unterhose – drei Nummern zu groß – und ein ausgeleiertes Top.

„Ich habe dir ein paar Kleidungsstücke mitgebracht, weil du mich darum gebeten hast. Darfst du auch gern behalten. Ist alles von der Heilsarmee.“

Christina starrte die Sachen an. Sie war den Tränen näher als gestern Nacht, als sie gemeint hatte, sterben zu müssen. Was sie im Moment bevorzugen würde – statt diese hässlichen Klamotten zu tragen.

Sie hatte ihre Mutter nie um etwas gebeten. Nie etwas von ihr erwartet. Nur heute, zum ersten Mal. Und da sie dem Tod von der Schippe gesprungen war – hätte Sandra nicht ein paar Dollar ausgeben können, um ein Sweatshirt zu kaufen?

Unterwäsche in Christinas Größe?

„Oh, gut, du bist noch hier! Die Schwestern sagten, du würdest entlassen werden.“

Als sie aufblickte, kam Scott herein. Grinsend hielt er eine große Topfpflanze im Arm, einen riesigen Stoffhund, eine Pralinenschachtel – und ein kunterbunter Luftballon mit der Aufschrift „Gute Besserung“ tanzte über seinem Kopf.

Und ihr Herz pochte wie wild.

„Wer ist das?“, fragte ihre Mutter.

„Scott Fortune. Er und seine Familie waren auch am Flughafen. Scott, das ist meine Mutter. Sandra.“

Er schaffte es irgendwie, alle Geschenke in den linken Arm zu nehmen, um ihrer Mutter die Hand zu geben. „Wohnen Sie auch in Red Rock?“

„Nein. In Houston. Ich muss jetzt auch los. Mach’s gut, Honey.“

Sandra verschwand, ohne sich noch mal umzudrehen.

Und wieder fragte Christina sich, warum sie überhaupt zu Besuch gekommen war.

Wie lieblos, dachte Scott. Diese Mutter hatte ihre Tochter nicht umarmt, geschweige denn, sie zum Abschied geküsst.

Es enttäuschte oder verletzte Christina, das spürte er. Auch wenn sie es mit einem Lächeln überspielte. Er sah die Traurigkeit in ihren Augen.

„Hey.“ Er reichte ihr den Plüschhund. „Dieser süße Kerl wollte unbedingt zu dir“, versuchte er sie aufheitern.

„Oh, danke.“ Lächelnd drückte sie den Hund an ihr Krankenhaushemd. „Für alles. Äh … das hättest du nicht tun sollen.“

„Was?“ Scott stellte die Pflanze auf den Nachtschrank, gab Christina die Pralinen und band den Luftballon an ihr Bett.

„Na ja, du musst mir keine Geschenke bringen, nur weil … wir, äh, uns geküsst haben.“

Ihr melancholischer Ton schnitt ihm ins Herz. Es klang so, als würde sie es gar nicht kennen, ein bisschen verwöhnt zu werden.

Er setzte sich auf die Bettkante. „Wenn ich eine Frau küsse, meine ich auch, dass sie es wert ist, Blumen geschenkt zu bekommen. Oder Pralinen.“

„Oder ein Plüschtier.“

„Dafür muss sie schon eine wirklich besondere Frau sein.“

Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. „So gut war der Kuss?“

„Atemberaubend.“

„Oh, hör auf!“ Christina kicherte. „Du bist süß. Aber du hättest mir wirklich nichts mitbringen müssen. Erst recht nicht den halben Laden. Ich weiß auch gar nicht …“ Sie seufzte. „… wie ich die Sachen nach Hause transportieren soll.“

„Ich fahre dich.“

„Nein, das kann ich nicht annehmen. Deine Familie …“

„Alles unter Kontrolle“, unterbrach er sie. „Meine Eltern sind hier gut versorgt, die anderen schlafen im Hotel. Niemand braucht mich.“

„Meinst du?“

„Ich schwöre es. Du hast einen Gehgips?“

Christina nickte. „Und Krücken. Gut. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich fährst. Denn um ehrlich zu sein, ich wusste gar nicht, wie ich nach Red Rock kommen sollte. Und um dich vorzuwarnen – meine Wohnung ist sehr bescheiden.“

„Als würde mich das stören. Aber warum wusstest du nicht …? Ich meine, hätte deine Mutter dich nicht fahren können?“

„Anscheinend nicht.“ Christina griff nach den rosa Leggings und seufzte. „Gehst du bitte hinaus, damit ich mich anziehen kann?“

In dem Moment bekam Scott eine SMS. Brauch dich. Warteraum OP. Wendy.

Bin auf dem Weg, schrieb er zurück.

Zwanzig Minuten später stand Scott vor dem Krankenhaus und telefonierte mit Dr. Rhodes, dem befreundeten Neurologen aus Atlanta. Er hatte ihm von dem Unglück berichtet. Und von Javier. „Die Ärzte sind nicht mal ‚vorsichtig optimistisch‘.“

„Aus der Ferne kann ich allerdings …“

„Darum rufe ich an. Um zu fragen, ob es Ihnen möglich wäre, herzukommen. Die Kosten übernehmen wir natürlich. Könnten Sie Javier behandeln?“

„Verdammt, Scott. Es tut mir leid. Meine Termine lassen das nicht zu. Aber … der Patient liegt im San Antonio Memorial?“

„Ja.“

„Liz Cuthbert ist dort Chefärztin der Neurologie. Wir waren mal Kollegen. Sie ist exzellent, glauben Sie mir. Bräuchte ich einen Neurologen, würde ich Liz wollen.“

„Das klingt gut.“

„Ich werde Liz anrufen, damit sie sich persönlich um den Fall kümmert. Ja? Sie kann mich auch jederzeit kontaktieren, falls sie meinen Rat braucht. Ihr Freund ist dort in besten Händen.“

„Wenn Sie meinen …“

„Ehrlich. Ich kann keine Wunder versprechen – aber die Ärzte im San Antonio Memorial gehören zu den besten. Mein Gott, was haben Sie für ein Glück gehabt, dass nicht noch mehr passiert ist. Grüßen Sie bitte Ihre Eltern von mir.“

Etwas beruhigt ging Scott zu seiner Mutter. Ihr Schmuck war in einer der Taschen gewesen, die Tanner gefunden hatte. Nun lagen all die glitzernden Stücke vor ihr auf dem Bett, und sie lächelte glücklich.

„Mom, so was lässt sich doch ersetzen.“

„Wenn ich mir den Schmuck selbst gekauft hätte, würde ich dir recht geben. Aber dein Vater hat mir jedes Teil zu einem besonderen Anlass geschenkt. Und so etwas lässt sich nie ersetzen. Und ja, ich weiß, seine Assistentin hat wohl die Hälfte davon ausgesucht.“

Alles, vermutete Scott. Doch was soll’s?

„Aber in seinem Fall zählt der Gedanke.“

Wie aufs Stichwort kam John Michael zur Tür herein. „Ich habe die Schwester gebeten, mir alle Mahlzeiten hier zu servieren, damit wir gemeinsam essen können.“

Virginia Alice strahlte. „Was für eine schöne Idee! Ich habe den Fisch bestellt. Und du?“

„Ich auch.“ Er lächelte, als er den Schmuck sah. „Dieses Armband da … habe ich dir zu Emilys Geburt geschenkt, oder?“

„Ja, das stimmt.“ Sie blickte Scott an. Siehst du?

Tatsächlich. Auch wenn es ihn überraschte. Die beiden schienen glücklicher miteinander zu sein, als ihre Kinder geahnt hatten.

Christina wartete bereits im Wagen, darum beeilte Scott sich. Er musste lächeln, als er aus dem Krankenhaus trat. War es nicht verrückt? Noch vor Tagen hätte er geschworen, dass er sich nie verlieben würde.

Und Liebe auf den ersten Blick hatte er für puren Unsinn gehalten.

Doch jetzt …

5. KAPITEL

In so einem bequemen Wagen hatte Christina noch nie gesessen. Sie war Scott auch sehr dankbar, weil er sie nach Hause fuhr. Und überhaupt. Doch eines ärgerte sie – warum hatte sie sich für ihre Wohnung entschuldigt?

Hey, sie musste sich für nichts schämen! Sie war, wer sie war. Und alles, was sie besaß, hatte sie sich mit ehrlicher Arbeit verdient.

„An der nächsten Ampel links, dann bis zum Ende der Straße.“

„Okay.“

Außerdem war es völlig egal, was dieser Mann von ihr hielt. Die Fortunes würden nach Atlanta zurückkehren. Vielleicht schon in einigen Tagen. Jedenfalls würde er schon bald wieder aus ihrem Leben verschwinden.

Scott blickte sie von der Seite an. „Wie fühlst du dich?“

„Ach.“ Grimmig starrte sie auf ihre hässlichen Leggings. Dazu noch die Krücken. „Hab mich nie besser gefühlt.“

„Falls es dich tröstet. Ich hatte mir auch mal den Fuß gebrochen. Im letzten Jahr auf der Highschool. Na ja, meinen Noten hat’s gutgetan. Ich konnte ja keinen Sport mehr machen, nur noch lernen. Nintendo spielen. Und ich muss zugeben …“ Er grinste. „Es gab einige Vorteile.“

„Hübsche Mädchen, die sich darum rissen, deine Tasche tragen zu dürfen?“

„Sie haben sich fast drum geprügelt.“

Christina lachte, während ihr im selben Moment die Tränen in die Augen stiegen. Denn in ihrem Fall würde niemand da sein, der sie herumfuhr und bediente und für sie einkaufte. Oh, ihre Vermieterin würde ihr natürlich helfen. Enid hatte jedoch ihr eigenes Leben, und vieles schaffte sie ja selbst nicht mehr.

Und ihre Freundinnen von früher, die waren entweder weggezogen oder verheiratet, sie hatten mit ihren Häusern und kleinen Kindern genug zu tun.

Plötzlich wurde Christina die Kehle eng. Wie in aller Welt sollte sie die nächsten Wochen überstehen? Ohne Auto, ohne Job, mit einem Gipsfuß …

Als ihr eine Träne über die Wange lief, griff sie in ihre Handtasche – die ein Soldat in den Trümmern gefunden hatte –, nahm sich ein Taschentuch und schnupfte aus. Sie hoffte, Scott würde ihre Tränen nicht bemerken.

„Hey“, sagte er sanft.

Mist! „Was?“

„Es wird alles gut.“

„Sicher.“

„Ich …“

„Du hast keine Ahnung, welche Probleme mich erwarten. Kannst es dir nicht mal vorstellen. Darum hast du auch nicht das Recht, mir zu erzählen, es würde alles gut werden. Das weißt du doch gar nicht. Also bitte – erspar mir Plattitüden.“

Eine Weile schwiegen beide, bis Scott meinte: „Dir ist gerade die Realität bewusst geworden, oder?“

Sie schnaubte. „Ja. Tut mir leid.“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Aber … glaubst du wirklich, ich würde nicht verstehen, was du durchmachst?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil du meine Krankenhausrechnung bezahlen konntest, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hätte Jahre gebraucht, um sie abzustottern.“

„Vielleicht habe ich sie gerade darum bezahlt.“

„Und dafür danke ich dir. Ehrlich. Aber es zeigt nur, dass wir in verschiedenen Welten leben. Du bist es gewohnt, alles zu haben. Darum kannst du dir nicht mal im Ansatz vorstellen, wie hart das Leben für die einfachen Leute ist. Du hast eine gute Tat getan, jetzt darfst du dich wieder in deine Tausend-Dollar-Bettwäsche schmiegen und mit ruhigem Gewissen schlafen … Was hast du vor?“

Der Kies flog zur Seite, als Scott den Wagen an den Straßenrand lenkte und neben einer Wiese stehen blieb. In der Ferne sah man einige Pferde, die geruhsam grasten. Er stellte den Motor aus, dann wandte er Christina das Gesicht zu. Seine Augen funkelten zornig.

„Ich will dir klarmachen, wie unrecht du mir tust. Ich arbeite hart für mein Geld, Christina. Ich verdiene es mir. Genau wie meine ganze Familie. Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, oder für meine Geschwister. Oder so tun, als wäre ich kein reicher Mann, nur weil es dich kränkt.“

Ihr stieg die Röte ins Gesicht, sie blickte zur Seite, da sagte er: „Ich weiß, du hast Angst, Christina.“

„Nein.“

„Oh, komm. Gerade jetzt bist du wie ein verwundetes Tier, das sich in die Ecke verkrochen hat und mich anfaucht … nicht weil ich Geld habe, sondern weil du Angst hast, ich würde alles nur noch schlimmer machen.

Ich nehme es dir nicht übel. Du kennst mich nicht. Was weißt du schon über mich? Und egal, was ich sage – du wirst das Gefühl haben, ich würde dich gönnerhaft behandeln, quasi von oben herab. Das irritiert mich, Christina, aber ich sehe, dass es so ist.“

Wirklich? dachte Christina.

„Trotzdem“, sagte Scott, als sie ihm wieder in die Augen blickte. „Ich habe deine Rechnung nicht bezahlt oder dir diese Fahrt angeboten, damit ich ein Kreuzchen auf meiner vermeintlichen Gute-Taten-Liste machen kann.“

„Sondern?“

„Weil ich dich mag, verdammt. Ist das so schwer zu glauben?“

Für sie schon. „Warum?“

„Weil du liebenswert bist!“ Als sie ihn ungläubig anschaute, fügte er hinzu: „Aber das Warum spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich nicht bereit bin, dich mit deinen Problemen allein zu lassen. Du wirst Hilfe brauchen, Honey. Und ich werde dafür sorgen, dass du sie bekommst. Das ist einfach meine Art.“

Christina seufzte. Er hatte recht. Sie brauchte jemanden.

Auch wenn es ihr schwerfiel, das zu akzeptieren. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer alles allein geschafft, und sie war stolz darauf gewesen.

Nur … in ihrer momentanen Situation? Mit ihrem Gipsfuß käme sie nicht weit. Sie würde andere Leute bitten müssen, ihr dies und jenes zu besorgen. Ja, nun war sie darauf angewiesen, dass sich jemand um sie kümmerte.

„Lass mich dir helfen“, bat Scott. „Und gib mir die Chance, dir zu beweisen, dass ich kein verwöhntes Bengelchen reicher Eltern bin, sondern einfach nur ein Mensch.“

„Okay.“

„Dann haben wir einen Deal?“

„Ja“, bestätigte Christina.

Ob Scott ihr Schutzengel war, oder ob sie gerade einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, blieb jedoch abzuwarten.

Denn leider wusste sie aus bitterer Erfahrung, wie schnell ein reicher Mann sie ins Unglück stürzen konnte.

Sie gab ihm Rätsel auf, ehrlich. Bei allen anderen Frauen wusste Scott nie, ob sie an ihm interessiert waren oder an seinem Bankkonto – Christina hingegen schien direkt Angst vor seinem Geld zu haben. Sie schien es ihm als schlechte Eigenschaft anzukreiden.

Das sollte ein Mann nun verstehen.

„Da vorn ist es, am Ende der Straße.“

Der Kies knirschte, als Scott auf den Parkplatz fuhr. „Du wohnst in einem Motel?“, fragte er und bereute es im selben Moment.

„Es war früher mal eins“, erwiderte Christina – beinahe fröhlich, als hätten ihr die klärenden Worte geholfen. „Als dies noch eine viel befahrene Landstraße war. Vor zwanzig Jahren haben Enid, meine Vermieterin, und ihr Mann Eddie es in Apartments umgewandelt.“

Dann war die riesige Grube neben dem Gebäude wohl mal … „Ich nehme an, der Pool ist nicht mehr in Betrieb?“

„Nein, leider. Meine Wohnung ist übrigens die letzte in der Reihe. Da hinten muss ich nicht fürs zweite Fenster zahlen.“

„Guter Deal.“

„Fand ich auch.“

Er parkte vor ihrem Apartment. Das flache Gebäude mit den braunen Türen und Schiebefenstern sah nicht gerade einladend aus. Wie ein billiges Motel. Auf der schmalen überdachten „Veranda“ stand hier und da ein Plastikstuhl. Ebenso ein Grill und ein Dreirad.

Man könnte die Szene als trostlos bezeichnen. Ja. Einige Türen waren jedoch mit roten Weihnachtsgirlanden geschmückt. Man hörte das angenehme Klimpern von Windspielen. Und auf Christinas Veranda blühten bunte Stiefmütterchen. Sie hatte dort eine dichte Reihe von Töpfen mit hübschen Blumen stehen.

„Ein Heim ist das, was man daraus macht“, sagte sie.

„Ja. Da gebe ich dir recht.“ Genau das war gerade sein Gedanke gewesen.

Er half Christina aus dem Wagen und sah, wie sie sich auf die Lippe biss, als sie die Krücken unter die Arme nahm. „Du musst dich auf die Hände stützen.“

„Tut auch weh.“

„Ich weiß. Doch weniger. Vertrau mir.“

„Sag es häufig genug …“ Mit grimmiger Miene humpelte sie auf ihre Tür zu. „… und ich werde dir vielleicht irgendwann glauben.“

Es fiel ihr sichtlich schwer, sich auf die Krücken zu stützen und gleichzeitig in ihrer Handtasche zu wühlen. Endlich hatte sie den Schlüssel herausgefummelt und gab ihn Scott.

Von drinnen war ein Jaulen zu hören, das jedoch schnell zu einem hektischen Bellen wurde.

„Muss ich Angst haben?“

„Nur wenn du im Weg bist.“

Kaum war die Tür geöffnet, sprang ein kleiner Hund auf Christina zu. Sie ließ die Krücken fallen, sank zu Boden und schlang die Arme um Gumbo, schmiegte ihr Gesicht an sein goldbraunes Fell.

Seit wann bist du eifersüchtig auf einen Hund, fragte sich Scott. Na ja, vielleicht nicht eifersüchtig. Neidisch?

Schlimm genug.

Nach der freudigen Begrüßung half er Christina wieder auf die Beine und gab ihr die Krücken. Der Hund musterte ihn neugierig, dabei wedelte er aufgeregt mit dem Schwanz.

Und eine ältere rothaarige Dame kam angelaufen. „Oh, meine Süße! Du bist zurück!“ Sie umarmte Christina herzlich. „Ich freu mich so. Aber Kind, wo hast du diese schrecklichen Klamotten her?“

„Von meiner Mutter. Scott, das ist Enid Jackson, meine Vermieterin. Und das ist Scott Fortune. Scott und ich waren zusammen im Flughafen. In den Trümmern. Nach dem Tornado.“

Enid schüttelte seine Hand. „Danke, dass Sie mein Mädchen nach Hause gebracht haben. Ich wäre selbst gefahren, doch meine Augen …“ Sie blickte Christina an. „Ich fürchte, du wirst auch für ’ne Weile drauf verzichten müssen, oder?“

„Ja.“ Christina seufzte. „Und nicht nur, weil ich mir den Fuß gebrochen habe. Ellie Mae … wie ich hörte, hat sie es nicht geschafft.“

Enid stöhnte auf und nahm Christina tröstend in die Arme. Scott fragte sich schon, ob der Sturm wohl ein weiteres Todesopfer gefordert hätte. Da sagte Enid: „Sie war ein gutes altes Auto. Ich werde sie vermissen.“

„Ja. Ich auch. So, jetzt muss ich meinen Fuß hochlegen.“

Scott holte ihre Sachen aus dem Auto und folgte den beiden Frauen ins Apartment. Enid half Christina, es sich auf dem beigefarbenen Sofa bequem zu machen. Er blickte sich um. Dieses Zimmer war hübsch eingerichtet. Genau, wie er es bei ihr vermutet hatte. Die Möbel schienen alt zu sein, okay. Doch alles sah gepflegt und sauber aus. Liebevoll dekoriert und gemütlich.

Eine farbenfrohe Patchworkdecke zierte das helle Sofa. Auf einem kleinen Tisch stand ein künstlicher Weihnachtsbaum, der im Sonnenlicht schimmerte. Und in dem breiten Regal an der Wand stapelten sich Hunderte von Büchern.

Gumbo hatte sich zu Christina aufs Sofa gelegt und leckte ihre Hand, bis sie lachend seinen Kopf kraulte.

„Danke fürs Fahren.“ Sie lächelte Scott an. „Aber du musst nicht bleiben. Deine Familie braucht dich sicherlich.“

„Ja. Da sie morgen früh abreisen …“

Christina zog die Augenbrauen hoch. „Du nicht?“

„Nein. Ich …“ Scott überlegte. Wie sollte er ihr etwas erklären, was er selbst noch nicht so richtig verstand? „Kann ich dich allein lassen?“

„Du kommst wieder?“

„Sobald wie möglich.“ Er sah Enid an. „Würden Sie sie bitte für ein paar Stunden im Auge behalten?“

„Worauf Sie wetten können. Obwohl das Mädchen gleich einschläft.“

„Ja, ja. Redet nur über mich, als wäre ich nicht da.“ Christina gähnte, nahm sich die bunte Decke und kuschelte sich mit ihrem Hund darunter.

Als Scott an der Tür stehen blieb und zurückblickte, schlief Christina bereits. Gumbo starrte ihn jedoch aus großen braunen Augen an, in denen deutlich zu lesen war: Enttäusche sie, und du bist tot. Verstanden?

Ja. Verstanden.

„Sei nicht albern!“ John Michael, der in einem gepolsterten Sessel in seinem Krankenzimmer saß, starrte Scott böse an. „Natürlich kommst du mit uns nach Hause.“

„Nein, werde ich nicht.“ Scott hielt dem Blick seines Vaters stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Jemand muss hierbleiben, schon wegen Javier.“

„Es gibt Telefone. Erkundige dich von Atlanta aus nach ihm.“

„Wir reden hier nicht von Aktien, Dad. Oder einem Geschäft. Sondern von Javier, Wendys Schwager. Seine Familie ist so unglücklich. Auch Wendy … Wenn ich ihnen irgendwie helfen kann, würde ich das gern tun.“

Sein Vater stieß ärgerlich die Luft aus. „Aber deine Arbeit …“

„Die kann Mike für einige Tage übernehmen.“

„Ach ja? Bisher wart ihr beide doch die größten Konkurrenten. Jeder wollte der Beste sein.“

Um ein Lob von dir zu bekommen? dachte Scott. Ja. Vielleicht. Und erstaunlicherweise interessierte ihn das überhaupt nicht mehr. „Nein. Mike wäre die beste Vertretung für mich.“

„Gut.“ Sein Vater seufzte. „Ich schätze, du hast recht. Jemand von uns sollte hierbleiben. Wegen Javier. Und Wendy zuliebe. Und die andere Sache?“

„Andere?“

„Du sagtest ‚schon wegen Javier‘, also nehme ich an, dass du einen weiteren Grund hast, in Texas bleiben zu wollen.“

Scott hatte nicht vorgehabt, seinem Vater von Christina zu erzählen – nicht, bevor er sich über einiges im Klaren war –, doch sollte er sie verleugnen? Nein.

„Die junge Frau, mit der ich in den Trümmern eingeschlossen war – Christina. Sie hat sich einen Fuß gebrochen, darum wird sie für einige Zeit auf Hilfe angewiesen sein. Und ich möchte nicht abreisen, bevor ich sicher bin, dass sie versorgt ist.“

Sein Vater zog die Stirn kraus. „Hat sie keine Familie? Freunde?“

„Wenige. Und häusliche Krankenpflege kann sie sich nicht leisten.“

„Aber sie weiß, dass du ein Fortune bist.“

„Ja. Sie hat mich jedoch um nichts gebeten“, betonte er. „Und da ich ohnehin wegen Javier hierbleibe, kann ich mich auch um Christina kümmern.“

„Eine Woche, Scott.“ Sein Vater deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Du hilfst deiner Schwester. Stellst sicher, dass diese Christina alles hat, was sie braucht. Dann sitzt du wieder in deinem Büro, wo du hingehörst. Ist das klar?“

„Absolut“, erwiderte Scott – obwohl es höchst unwahrscheinlich war, dass er in sein altes Leben zurückkehren würde.

Wie seine Zukunft aussehen sollte, wusste er noch nicht so genau. Aber nun hatte er ja eine Woche Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Um Pläne zu schmieden. Um Christina zu verwöhnen.

Ja, darauf freute er sich besonders.

Kaum hörte man den Geländewagen, spitzte Gumbo die Ohren. „Na, wer ist das?“ Im selben Moment sprang er von Christinas Schoß und raste zur Tür. Jaulte und schnüffelte, bis Scott hereinkam. Zwei Tage, zwei Jahre – für einen Hund machte das keinen Unterschied, die beiden waren jetzt Freunde fürs Leben.

„Hey, Junge … nein, das ist nicht für dich.“ Scott grinste zu ihr herüber, während er eine Papiertüte hochhielt.

Christina spürte, wie sich ihr Herz fast überschlug. Wie immer, wenn ihr dieser Mann in die Augen sah.

„Wie geht’s dir?“

„Besser“, log sie. Die Ärztin hatte wirklich nicht übertrieben. Der Fuß tat ihr gar nicht mehr so weh. Aber jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte.

„Hast du das leichte Stretching gemacht, das dir die Ärztin empfohlen hat?“

Die Folterübungen? „Ja“, grummelte sie. „Was ist in der Tüte?“

„Unser Abendessen. Aus dem Red. Ein neues Hühnchengericht von Enrique. Ich hoffe, du magst es.“ Scott ging in die winzige Küche, nahm Teller und Besteck aus dem Schrank – und plauderte fröhlich mit dem Hund.

Seit seine Familie nach Atlanta zurückgekehrt war, hatte er eigentlich nur noch gute Laune. Er lächelte und schien sich hier wohlzufühlen. Das freute Christina. Und sie genoss es natürlich, von morgens bis abends bedient zu werden. Er kümmerte sich rührend um sie, er sorgte dafür, dass sie nie Langeweile bekam.

Ach, er war ein wunderbarer Mann. Noch viel sympathischer, als sie anfangs gedacht hatte. Und irgendwie … mochte sie ihn mit jeder Minute mehr. Sie fand es herrlich, in seiner Nähe zu sein. Aber genau das war ihr Problem.

Denn sie wollte sich nicht in ihn verlieben! Sich nicht mehr danach sehnen, dass er sie küsste. Oder zärtlich in die Arme nahm. Nein. Sie wollte endlich mal wieder schlafen, statt die ganze Nacht lang von Scott Fortune zu träumen.

Zumal sie den Eindruck hatte, für ihn so eine Art … Wohltätigkeitsprojekt zu sein.

Fröhlich summend brachte er das Essen und stellte ihren Teller auf den kleinen Tisch neben dem Sofa. Christina blickte in sein attraktives Gesicht – und schon verspürte sie ein prickelndes Verlangen.

„Ich hasse das“, murmelte sie.

„Du hast es ja noch gar nicht probiert.“

„Nein, ich meinte das.“ Sie deutete auf ihren Fuß. „Warum soll ich hier sitzen? Ich bin doch kein Invalide. Mit den Krücken kann ich herumlaufen.“

„Eher humpeln, oder? Und du musst den Fuß hochlagern, das beschleunigt den Heilungsprozess.“

„Bist du immer so vernünftig?“

„Ja. Bist du immer so quengelig?“

„Nur, wenn mich der Krankenpfleger ärgert.“ Christina probierte das Hühnchen. „Hmm, lecker. Absolut köstlich.“

„Dachte ich mir.“ Scott setzte sich. Er trug heute eine Khakihose, ein blaues Hemd und einen Pullover. Alles sah schick und edel aus – ein nicht zu übersehender Kontrast zu dem alten, abgewetzten Sessel. „Übrigens, ich habe ein Sanitätshaus angerufen. Sie werden dir in den nächsten Tagen einen Duschstuhl liefern.“

„Na, hoffentlich bin ich nicht gerade unterwegs.“

Scott lachte, wirkte relaxed und zufrieden in ihrem schäbigen Sessel. Unglaublich. Als würde ihn hier überhaupt nichts stören.

Christina seufzte. Wie sollte sie diesem Mann nur widerstehen?

Noch nie hatte sich jemand so lieb um sie gekümmert. Oder sich für ihre Pläne interessiert. Ihre Träume. Doch Scott Fortune tat es.

Als Scott fast aufgegessen hatte, stellte er seinen Teller auf den Boden – zu Gumbos größter Freude, der sofort die Reste verschlang.

Scott grinste. „Gut, Kumpel. Jetzt bringen wir das Geschirr in die Küche und waschen ab, bevor wir unseren Spaziergang machen, okay?“

Er liebte sogar ihren Hund. Es war zum Verzweifeln!

Anfangs hatte Scott noch gedacht, sich vielleicht etwas vorgemacht zu haben, was seine Gefühle für Christina betraf. Die gefährliche Situation unter den Trümmern, die Angst, die Nähe – da bildete man sich schnell etwas ein.

Auch Liebe auf den ersten Blick.

Ja, er hatte damit gerechnet, dass seine Begeisterung verflog und er in Christina nur noch die nette und hübsche junge Frau sehen würde, die Hilfe brauchte.

Doch im Gegenteil … Scott lächelte. Er war mehr denn je von ihr fasziniert.

Und das, obwohl sie sich in den vergangenen vier Tagen auch von ihrer wohl schlechtesten Seite gezeigt hatte. Sie war launisch und verärgert gewesen, ohne jeden Anlass, soweit er wusste. Zweimal hatte sie ihn sogar angeschnauzt.

Aber hatte ihn das gestört? Nein. Er verstand, wie nervig es für sie sein musste, die meiste Zeit auf dem Sofa zu sitzen.

Und dann wiederum … Wenn Christina ihn anlächelte, wurde ihm warm ums Herz. Oder wenn sie seine Kochkünste lobte, mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Verständlich, denn von Kunst konnte keine Rede sein. Und er liebte es, sich mit ihr zu unterhalten. Er hörte ihr so gern zu. Es freute ihn regelrecht, wenn sie alles Mögliche über ihn erfahren wollte.

Und abgesehen davon, dass sie eine sehr begehrenswerte Frau war, machte es ihn schlicht und ergreifend glücklich, in ihrer Nähe zu sein.

Heute war er jedoch einige Stunden unterwegs gewesen, geruhsam durch die Gegend gefahren, um zu überlegen. Er musste ja entscheiden, wie seine Zukunft hier in Texas aussehen sollte. Und bisher hatte er nur eine vage Idee …

Scott parkte vor dem Apartment. Als er mit einem Blumenstrauß in der Hand aus dem Wagen stieg, kam Enid auf ihn zu.

„Guten Abend, Mrs Jackson. Waren Sie bei Christina?“

„Ja.“ Die ältere Dame blickte ihn streng an – und bevor Scott sich versah, packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich hinter den Wagen. „Ich muss mit Ihnen reden. Was wollen Sie von ihr?“

„Wie bitte?“ Er hatte jeden Tag freundlich mit Enid geplaudert, doch heute schien sie ihm eine Standpauke halten zu wollen, oder?

„Mr Fortune, ich bin Ihnen dankbar für alles, was Sie für Chrissie tun. Aber Sie müssen wissen … die Kleine hat viel durchgemacht. Sie wurde zu häufig und von sehr vielen Menschen enttäuscht.“

„Und jetzt haben Sie Angst, ich könnte ihr wehtun?“

„Angst, dass Sie ihr falsche Hoffnungen machen. Ich liebe das Mädchen, als wäre es meine eigene Tochter. Darum werde ich nicht einfach zusehen, wenn Chrissie von irgendwoher Gefahr droht. Und ich weiß, sie braucht keinen reichen Verehrer, der ihr romantische Gefühle vorgaukelt … nur um ihr später das Herz zu brechen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

„Absolut.“

„Und? Mögen Sie Chrissie wirklich?“

„Ja, sehr. Ich schwöre es.“

„Gut.“ Enid lächelte. „Trotzdem behalte ich Sie im Auge. Vergessen Sie das nicht.“

Und er hatte gedacht, der Hund wäre gefährlich. „Ich würde es gar nicht anders wollen.“ Scott salutierte lächelnd.

Christina seufzte. „Gumbo, sei still.“ Der Hund bellte wie verrückt, weil Scott so lange auf sich warten ließ. „Dein Freund ist ja gleich da.“

Einen Moment später kam ein attraktiver Mann herein, lächelte sie an – und schon begann ihr Herz wie wild zu pochen.

Wieder seufzte sie.

„Sitz!“, befahl er, da Gumbo nicht aufhörte, um ihn herumzutanzen.

„Sind die Blumen für mich oder für den Hund?“

„Ihr könnt sie euch teilen.“ Scott reichte ihr den Strauß. „Hat Enid dir heute Nachmittag Gesellschaft geleistet?“

„Ja.“ Christina sog den herrlichen Duft der Blumen ein. „Danke. Die sind wunderschön. Eine Vase findest du hinten im Küchenschrank.“

„Okay.“

„Und was wollte Enid von dir?“

Er kam mit den Blumen zurück, stellte die Vase auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel. „Hören, was meine Absichten sind. In Bezug auf dich.“

„Um Gottes willen.“ Christina schüttelte den Kopf – obwohl sie das ja auch gern gewusst hätte. „Sie scheint einen falschen Eindruck zu haben. Ich meine, du kümmerst dich so rührend um mich, aber …“

„Ich war nicht ganz ehrlich zu dir.“ Scott sah ihr in die Augen. „Heißt, ich habe dir nicht alles erzählt. Die Nacht in den Trümmern … diese Stunden haben etwas in mir ausgelöst. Du hast etwas in mir ausgelöst, und … ich will nicht zu viel sagen, zu früh … um dich nicht zu verscheuchen …“

Als könnte sie weglaufen.

„Ich mochte dich auf den ersten Blick, Christina. Und je mehr Zeit wir miteinander verbracht haben … meine Gefühle für dich sind tiefer und tiefer geworden.“

Oh nein! Er sollte jetzt bloß nicht sagen, er habe sich in sie verliebt. „Scott, das ist albern. Wir kennen uns erst seit vier Tagen. Außerdem bin ich überhaupt nicht dein Typ.“

Er grinste. „Woher willst du das wissen?“

„Ich passe nicht zu dir.“

„Und ob. Du bist die einzige Frau, zu der ich mich so sehr hingezogen fühle.“

Im Moment, dachte Christina wehmütig. Doch was würde nächste Woche sein? Oder in einem Jahr? Sie traute seinen Gefühlen nicht. Und überhaupt … „Darf ich dich daran erinnern, dass ich in Texas zu Hause bin?“

„Ich weiß.“

„Du in Atlanta. Und selbst wenn dem nicht so wäre, ich will keine Beziehung. Überhaupt keine.“ Herrje! Sie wollte schon, natürlich, aber sie hatte panische Angst davor. „Und falls deine Hilfe an Bedingungen geknüpft ist, solltest du lieber gehen.“

„Enid hatte also recht.“ Scott lehnte sich im Sessel zurück. „Irgendein Kerl hat dir das Herz gebrochen.“

„Was hat sie dir erzählt?“

„Nur das. Andeutungsweise.“

„Dann lass mich hinzufügen: Ich war mal verheiratet, als ich noch sehr jung war. Die Ehe hielt nicht lange, sie endete böse. Seitdem hatte ich einige Freunde, und jede Beziehung ist gescheitert.“

„Darum hattest du seit zwei Jahren kein Date?“

„Mir ist der Spaß daran vergangen.“

„Das ist nicht alles, oder?“ Scott blickte sie aufmerksam an. „Ich habe das Gefühl, dass du mir noch etwas Wichtiges verschweigst.“

„Weil es schwer ist, die Vergangenheit abzuhaken, wenn man sich immer wieder daran erinnert.“

„Schlimme Erlebnisse zu verdrängen bringt gar nichts, Christina. Ob es dir gefällt oder nicht. Es ist besser, darüber zu reden.“

„Nein. Die Wunden sind verheilt. Zum größten Teil jedenfalls. Bitte mich nicht, sie wieder aufzureißen.“

Eine Weile starrten sie einander in die Augen. Bis Scott sagte: „Ich gebe nicht so schnell auf.“

„Tja. Ich gebe nicht so schnell nach“, konterte Christina. „Und wie ich schon sagte, mein Zuhause ist hier.“

„Du würdest Texas nicht verlassen?“

„Niemals. Siehst du? Es ist sinnlos.“

„Okay.“ Scott erhob sich und ging zur Tür. „Bis morgen.“

Christina seufzte. Nun durfte sie wieder eine ganze Nacht lang von ihm träumen. Und leider hatte er sie auch an die Vergangenheit erinnert.

6. KAPITEL

„Frisch gebacken.“ Wendy stellte einen Korb voller Muffins auf den Tisch im Wintergarten, wo sie frühstückten. „Kürbis und Orange.“

„Danke.“ Scott blickte vom iPad auf, um seine Schwester anzulächeln.

Seit der Rest der Familie nach Atlanta zurückgekehrt war, wohnte er bei ihr und Marcos. Ihr schlichtes Haus befand sich in der Stadtmitte, es hatte drei Schlafzimmer. Diese herrliche Glasveranda war im Sommer angebaut worden. Und Wendy hatte alle Räume sehr schön eingerichtet, farbenfroh und gemütlich.

„Du verwöhnst mich.“ Scott nahm sich einen der noch warmen Muffins aus dem Korb. „Und solltest du nicht die Füße hochlegen?“

Wendy verdrehte die Augen, zog sich aber brav einen zweiten Stuhl heran. Es war offensichtlich, dass sie hier Langeweile hatte. Und sie fühlte sich wohl auch einsam, wie Scott vermutete. Marcos musste sich ums Restaurant kümmern. Und er fuhr regelmäßig mit seinem Vater nach San Antonio, um bei Javier zu sein.

„Ein kleines Frühstück hat nichts mit Verwöhnen zu tun“, meinte sie. „Und ich sehe dich selten genug. Ich weiß ja, du bist nicht hiergeblieben, um mir Gesellschaft zu leisten. Trotzdem.“ Sie zog einen Schmollmund, nur um sogleich wieder zu grinsen. „Ich habe jedes Recht, dir böse zu sein.“

Scott zog die Stirn kraus. „Warum?“

„Weil du mir die Position als schwarzes Schaf der Familie streitig machst.“

„Du warst nie ein schwarzes Schaf.“ Er lächelte. „Ein verlorenes, vielleicht.“

„Wie auch immer. Ich war diejenige – und die Einzige –, die laufend aus der Reihe getanzt ist, die unserem Vater widersprochen hat.“ Wendy trank einen Schluck Kaffee. „Und jetzt du. Ist dir klar, dass dich alle für verrückt halten?“

Dabei wissen sie nicht mal die Hälfte, dachte Scott. „Das interessiert mich nicht. Ich bleibe hier, so lange ich möchte.“

„Oh, Junge. Dich hat’s böse erwischt, oder?“ Als er nickte, lachte sie. „Und ist Christina ebenso verliebt in dich? Nach fünf Tagen?“

„Ich weiß nicht. Aber wir lernen uns ja auch gerade erst kennen. Es ist viel zu früh, um darüber zu reden.“

Ja, wirklich. Nach fünf Tagen. Es enttäuschte Scott allerdings, dass Christina ihm nicht vertraute. Nicht genug, um von ihrer Vergangenheit zu erzählen.

Andererseits konnte er das sehr gut verstehen. Sie kannte ihn ja kaum. Und sie mit Fragen zu bedrängen wäre unfair. Er sollte lieber geduldig sein und sich um ihr Vertrauen bemühen.

Genau. „Ich muss los.“ Scott stand auf. „Danke fürs Frühstück.“

„Sag mal, hast du mit Blake gesprochen, seit alle abgereist sind?“

Blake und Wendy, die beiden Jüngsten in der Familie, hatten sich schon als Kinder prima verstanden. Und Scott wusste, dass sie auch heute noch fast jeden Tag miteinander telefonierten. „Nein. Warum?“

„Er scheint irgendwie verändert zu sein. Ohne dass ich es näher beschreiben könnte. Darum dachte ich, er hätte dir vielleicht etwas erzählt.“

Scott schüttelte den Kopf. „Nein. Aber der Tornado …“

„Ja?“

„Diese Erfahrung hat wohl jeden von uns auf irgendeine Weise verändert. Bis auf Mike. Der ist aus den Trümmern gestiegen, hat sich den Staub abgeklopft und für Dad die Geschäfte geregelt. Ich glaube, er ist ein Androide.“

Sie lachte. „Das würde einiges erklären. Oh, nimm die restlichen Muffins mit zu Christina. Bitte. Vielleicht freut sie sich.“

„Bestimmt.“ Als Scott nach dem Korb griff, kam ihm eine Idee. „Möchtest du sie vielleicht kennenlernen?“

„Ja, bitte!“ Wendy strahlte, dann klatschte sie in die Hände. „Sie könnte mir helfen, die Sachen fürs Kinderzimmer auszusuchen. Farben. Stoffe. Welche Frau dekoriert nicht gern? Es wird lustig, versprochen.“

Er nickte. „Da ihr beide Langeweile habt, wäre das eine nette Abwechslung.“

Auf ihren Krücken war Christina auf ihre Veranda gehumpelt, um Gumbo im Auge zu behalten. Nun genoss sie den Sonnenschein – und sah, wie der Escalade vor ihrem Apartment hielt. Scott stieg aus.

„Was tust du hier draußen?“, fragte er – so fröhlich, als hätten sie gestern Abend nicht jene – problematische – Unterhaltung gehabt.

„Mein Haar trocknen. Meinen Hund rauslassen.“ Sie blickte zu Gumbo hinüber, der im Zickzack über den Rasen lief. „Er ist immer glücklich, wenn er sich austoben kann. Was hast du in dem Korb?“

„Muffins. Wendy schickt sie dir.“

„Hmm. Lecker. Ein zweites Frühstück. Bringst du den Hund mit?“

„Natürlich.“

Christina humpelte in die Wohnung. Kaum saß sie auf dem Sofa und hatte den verletzten Fuß hochgelagert, kamen auch Gumbo und Scott herein.

„Du hast dir die Haare gewaschen. Wurde der Duschstuhl geliefert?“

„Gestern Nachmittag.“

„Und wie ist er?“

„Hart. Aber endlich wieder duschen zu können ist fantastisch.“

„Freut mich.“ Scott holte zwei Teller. „Wendy fühlt sich ebenso gelangweilt wie du. Sie darf nicht mehr arbeiten. Marcos ist selten da, und ihre Ärztin hat ihr befohlen, die Füße so viel wie möglich hochzulegen, bis das Baby da ist.“

Ein Baby. Nein, nicht eifersüchtig werden, dachte Christina. „Sag ihr schönen Dank für die Muffins.“

„Gern.“ Scott stellte ihren Teller und ein Glas Orangensaft auf den Tisch neben dem Sofa, dann setzte er sich in den Sessel.

„Tun wir jetzt so, als wäre alles bestens zwischen uns?“

„Ich wüsste nicht, dass wir Probleme hätten.“

„Aber du …“

„Ich weiß. Und ich entschuldige mich dafür, dich bedrängt zu haben. Iss deinen Muffin. Du wirst es nicht bereuen.“

Sie biss hinein. „Köstlich.“

„Wendy liebt es zu backen.“

„Wie geht es eigentlich ihrem Schwager? Javier?“

„Unverändert.“

„Ach je.“ Christina stellte ihren Teller beiseite. Plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr. „Wie schrecklich muss es für seine Familie sein. Auch die arme Stewardess … Und ich sitze hier und bemitleide mich, nur weil ich einen Gipsfuß habe.“

Scott grinste. „Ab und zu darfst du ruhig jammern. Dafür bin ich ja da.“

„Schöner Trost. Am schlimmsten ist ja für mich, dass ich mich bedienen lassen muss. Ich fühle mich so hilflos.“

„Du magst nicht bedient werden?“

„Nein. Ich bin es gewohnt, anderen zu helfen. Enid. Oder den Nachbarn, wenn sie einen Babysitter brauchen. Dann fühle ich mich wohl. Dies hier macht mich krank. Nervös.“

„Und wäre es ein Unterschied, wenn dich zum Beispiel Enid bedienen würde? Oder deine Mutter?“

„Oh, Junge – falls meine Mutter mich jemals bedienen sollte, würde ich glauben, auf einem fremden Stern gelandet zu sein. Sie war die Frau, die abends eine Packung Cornflakes und ein Glas Saft auf den Küchentisch gestellt hat, damit sie nicht aufstehen musste, um mir Frühstück zu machen. Da war ich drei.“

„Das ist bitter.“

„Es hat mich stark gemacht.“

„Ich bin nicht der Meinung, dass Dreijährige stark sein sollten.“ Scott blickte sie mitfühlend an.

Und sie wollte nicht über ihre Vergangenheit plaudern. Also wechselte sie das Thema. „Denkst du häufig an die Nacht in den Trümmern?“

Nun blickte er sie … voller Verlangen an. Oh bitte! Es war doch nur ein Kuss.

Ihr erster Kuss seit ewig langer Zeit. Darum verspürte sie wohl dieses heiße Prickeln, wenn sie daran dachte.

„Ja“, meinte Scott. „Obwohl … es kommt mir vor wie ein Traum.“

Nicht wahr? „Mir auch. Am Anfang.“ Christina rutschte ein wenig hin und her – doch egal wie, ihr tat alles weh. „Seit gestern quälen mich die Erinnerungen. Ich glaube, ich hatte viel mehr Angst, als mir klar war. Oder ich zugeben wollte.“

„Weißt du, was dein Problem ist?“

Ja. Du. „Ich leide am Broderien-Syndrom?“

„Möglich. Aber ich tippe auf Langeweile. Du musst hier mal raus.“

„Na toll.“

„Ich meinte es ernst.“ Scott stand auf und lächelte. „Wir machen einen Ausflug. Im Geländewagen kannst du deinen Fuß prima auf den Sitz legen. Und ich fahre dich, wohin du möchtest.“

Christina überlegte. „Nicht zum Schuhekaufen. Aber … wie wäre es mit dem Flughafen?“

„Wirklich?“

Sie nickte. „Ich muss den Dämonen ins Gesicht sehen, richtig? Und mein Auto ist noch da. Oder was davon übrig ist. Ich würde mich gern von ihm verabschieden.“

Mit Gumbo als Kopilot lenkte Scott den Geländewagen über den Highway, vorbei an Wiesen und Feldern, dann durch die Stadt Red Rock und von dort über eine weite Ebene in Richtung Flughafen. Er war diese Strecke erst einige Male gefahren, aber sie kam ihm schon so vertraut vor wie seine zehn Jahre alte Lederjacke.

Genau wie die Blondine auf dem Rücksitz, dachte er grinsend. Sie plapperte und plapperte, meinte zum hundertsten Male, es würde sich so anfühlen, als seien es Monate gewesen, seit sie weiter als bis auf ihre Veranda gekommen war.

„Oh, mein Gott! Ich wusste ja, dass ich diese Landschaft vermissen würde, aber ich hatte keine Ahnung, wie sehr.“

„Kann ich gut verstehen.“

„Das bezweifle ich, Mr City Boy.“

Scott blickte in den Rückspiegel – sah ihr Lächeln und das schelmische Funkeln in ihren blauen Augen. Zehn Punkte für ihn! Weil er sie aus dem engen Apartment herausgeholt hatte. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. „Es ist wahr. Ich mag dieses weite Land. Ich sehe hier Möglichkeiten. Freiheit.“

Christina schwieg. Wenn auch nur für eine Sekunde. „Ja. Vielleicht machen wir noch einen anständigen Texaner aus dir … oh nein!“

„Was ist?“

„Da drüben stand eine alte Scheune, vor den Bäumen.“ Sie seufzte. „Ich schätze, der Tornado hat sie hinweggefegt. Sie wurde seit Jahren nicht mehr benutzt, aber es war ein schöner Anblick. Ich finde es traurig. Sie ist weg und wird nie ersetzt.“

Die Scheune vielleicht nicht. Alle paar Meilen kamen sie jedoch an Bautrupps vorbei oder an Landarbeitern, die Zäune erneuerten. Im Großen und Ganzen waren die Menschen eben optimistisch. Die Texaner jedenfalls, dachte Scott lächelnd.

Als sie an dem Hotel vorbeifuhren, wo Scott mit seiner Familie übernachtet hatte, meinte Christina: „Ich würde ja gern mal einen Blick hineinwerfen.“

„Lohnt sich.“

„Du kennst es?“

„Ja.“

„Beneidenswert“, sagte sie fröhlich.

Wenig später kam der Flughafen in Sicht – die Trümmer, besser gesagt –, da schnappte Christina nach Luft. „Ich weiß, ich war da, aber … oh Schreck!“

Scott fuhr auf den Parkplatz. Hier standen etliche Baufahrzeuge, denn die Räumungsarbeiten waren in vollem Gange. Er half Christina aus dem Wagen. Von überallher hörte man ein Hämmern und Poltern. In der Ferne sah er Tanner Redmond, der ihm zuwinkte.

Und plötzlich stöhnte Christina auf.

Sie humpelte zu einem Schrottgebilde, das wohl mal ihr Auto gewesen war. Auf eine Krücke gestützt, streichelte sie liebevoll eine Delle im Kotflügel.

„Es tut mir so leid“, versicherte Scott.

Christina schniefte. „Sie hatte ein langes, glückliches Leben. Zumindest war sie glücklich, nachdem ich sie einem idiotischen Teenager abgekauft hatte. Die Ärmste war total vernachlässigt. Hatte schon 200 000 Meilen auf dem Tacho, die Zündung funktionierte nicht. Aber ich habe sie gesund gepflegt, und sie hat mir vier Jahre lang gute Dienste geleistet.“ Sie legte ihre Wange ans Dach. „Was für ein schrecklicher Tod. Es tut mir so leid, Ellie Mae.“

Scott legte ihr einen Arm um die Schultern. „Falls es dich tröstet, ich glaube nicht, dass sie gelitten hat.“

Christina lachte kurz, dann presste sie ihre bebenden Lippen aufeinander.

„Was willst du jetzt tun? Ich meine, mit dem Auto?“

„Ich weiß es nicht. Es irgendwohin schleppen lassen, nehme ich an.“ Sie schluchzte, als sie sich umdrehte, und drückte ihr Gesicht an seine Brust.

„Hey …“ Scott schlang die Arme um sie. „Es ist okay, wirklich …“

„Ach ja?“, murmelte sie an seiner Jacke. „Ich hatte keine Vollkaskoversicherung. Konnte sie mir nicht leisten. Und man hätte mir ohnehin nur noch fünfzig Dollar für Ellie Mae gezahlt.“ Sie blickte ihn mit tränenfeuchten Augen an. „Doch jetzt habe ich kein Auto, keinen Job. Und kann mir kein Auto kaufen, das ich brauche, um einen neuen Job zu bekommen.“

Christina wich zurück. „Und selbst wenn ich eins hätte, könnte ich gar nicht fahren. Ich bin am Ende.“

Scott umfasste ihre Schultern. „Du hast deinen Hund.“

„Den würde ich nicht für ein Auto eintauschen.“

„Und du hast mich.“

„Oh nein.“ Christina humpelte zum Escalade. „Ich habe dich meine Krankenhausrechnung bezahlen lassen. Aber du wirst mir kein Auto schenken.“

Scott half ihr in den Wagen. „Muss ich ja auch nicht. Dann machen wir es so: Du suchst dir ein Auto aus – und zahlst mir das Geld in Raten zurück, wenn du einen Job hast. Egal wie, wir besorgen dir heute ein Auto. Aber zuerst möchte ich etwas essen. Ich habe Hunger.“

Er setzte sich hinters Steuer und begriff schnell, dass er wohl zu forsch gewesen war. Denn Christina schwieg während der ganzen Fahrt.

Christina ärgerte sich noch immer, als Scott den Geländewagen vor dem Red parkte. Doch mehr über sich als über ihn, und aus widersprüchlichen Gründen.

Weil sie sich so kindisch verhielt, kein bisschen souverän.

Weil sie in Versuchung geriet, an Märchen zu glauben. Sie verliebte sich in diesen Mann, obwohl sie wusste, wie dumm und falsch es war – denn er gönnte sich nur einen Urlaub im Märchenland, oder? Spielte den Prinzen für sein Aschenputtel.

Andererseits … vielleicht sollte sie ihr Glück einfach mit beiden Händen greifen und den Mund halten. Diesen Tag genießen, das Auto nehmen und dankbar sein. Sich freuen, solange sie es durfte.

Scott öffnete ihr die Wagentür und bot ihr seine Hand an. Als sie sie nicht gleich nahm, schüttelte er den Kopf. „Christina …“

„Ja, es tut mir leid. Ich bin mal wieder launisch und … ach, was immer. Aber … plötzlich tauchst du auf, spielst den Märchenonkel … bringst mich völlig durcheinander. Ich fühle mich, als hätte der Tornado in meinem Kopf getobt. Also, bitte, hab Geduld mit mir, bis ich meine Gedanken sortiert habe. Okay?“

„Okay.“ Er nickte. „Nur die Bezeichnung ‚Märchenonkel‘ gefällt mir nicht.“

„Oh, ich bin nicht richtig gekleidet.“ Christina blickte auf das Hazienda-Restaurant. „Ich dachte, wir würden irgendwo einen Hamburger essen.“

Scott half ihr aus dem Wagen und legte eine Hand auf ihren Rücken, um sie zu stützen, und betrachtete ihren langen Jeansrock. Mit einem Blick, als trüge sie ein Seidenkleid aus Dancing with the Stars.

„Du bist gut gekleidet.“ Seine Stimme klang etwas rau. „Und ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als so einen Schund zu essen.“

„Snob.“

„Überhaupt nicht. Aber ich möchte älter als fünfzig werden.“ Er ließ das Fenster für Gumbo einen Spalt offen, dann führte er Christina zum Eingang. „Und ich hoffe, dass auch du älter als fünfzig wirst.“

Es war nur nett gemeint. Klar. Hatte nichts zu bedeuten. Trotzdem … ihr stiegen vor Rührung Tränen in die Augen. Verdammt. Dieser Kerl brachte sie wirklich aus dem Gleichgewicht.

Im Restaurant blickte Christina sich um. Das Red war so edel eingerichtet, wie sie befürchtet hatte – und schon fühlte sie sich wie ein Bauerntölpel.

„Zwei Personen?“, fragte die schick gekleidete Hostess.

„Ja. Und meine Freundin müsste den Fuß hochlegen. Könnten wir eine Nische haben? Oder einen Tisch mit einem Extrastuhl?“

„Kein Problem. Bitte folgen Sie mir.“

Die Hostess brachte sie zu einem Tisch für vier Personen. Durch ein Fenster blickte man auf den schönen Innenhof mit Pinientischen und bunten Sonnenschirmen. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen.

Scott half Christina, den Fuß auf einen Stuhl zu betten, dann setzte er sich neben sie. Das Licht fiel auf sein dunkles Haar und auf sein markantes Kinn, während er die Speisekarte studierte.

Der Mann sah umwerfend aus.

„Es gefällt mir.“ Christina zwang sich, auf ihre Speisekarte zu blicken. Oh Gott! Die Preise. Fast hätte sie nach Luft geschnappt. Genieß den Moment, genieß …

„Warst du noch nie hier?“

Sie schüttelte den Kopf. Und jetzt entdeckte sie zum Glück weitere Gäste, die … leger gekleidet waren. Plötzlich musste sie kichern. „Tut mir leid. Das ist albern. Aber ich fühle mich, als würde ich erwachsen sein spielen.“

Scott betrachtete sie mit einem Blick, der sie wohlig erschauern ließ, und lächelte. „Du bist eine erwachsene Frau, Christina. Gewöhn dich dran.“

„Oh … muss ich?“

Seine Mundwinkel zuckten. Er blickte auf die Speisekarte. „Ja.“

Sie seufzte übertrieben – da zuckten seine Mundwinkel erneut. „Was ist deine Lieblingsfarbe? Ich meine, für deine Kleidung.“

„Farbe? Ich weiß nicht. Hab nie darüber nachgedacht. Blau und Türkis, nehme ich an. Wie die Farben in den Fliesen.“ Sie deutete zum Springbrunnen. „Wieso?“

Er lächelte nur. Im nächsten Moment kam die Hostess, um die Bestellung aufzunehmen. Christina wählte ein Gericht mit gegrillten Shrimps, das ihr fantastisch erschien. Dann schaute sie Scott an – und sagte sich:

Genieß den Augenblick. Freu dich einfach mal an deinem Glück.

Scott grinste kaum merklich. Man muss ihr nur etwas Leckeres zu essen geben, und schon taut sie auf, dachte er. Derweil plauderte Christina fröhlich, während sie die Shrimps verspeiste. Über ihre Vergangenheit sprach sie allerdings nicht. Nein, bei jeder Frage, die zu diesem Thema führen könnte, wich sie geschickt aus.

Da müsste er wohl noch ein wenig Geduld haben. Um die hatte sie ihn ja auch gebeten, und er sah es ein. Wenn sie bittere Erfahrungen gemacht hatte, tat es weh, darüber zu sprechen. Sie wollte sich nur schützen.

Über alles andere redete sie völlig unbefangen mit ihm. Über Hobbys und ihre Lieblingsfilme und so weiter. Er hörte ihr gern zu. Er genoss es, sie anzuschauen.

Ja, diese Frau faszinierte ihn wie keine zuvor.

Es ließ sich nicht leugnen – zum ersten Mal hatte er sich verliebt.

Als sein Telefon klingelte, nickte Christina ihm zu. „Geh ruhig ran. Es stört mich nicht.“

„Es wäre unhöflich.“

„Ach wo. Du bist ein viel beschäftigter Mann. Ich frage mich ohnehin schon, wie du das schaffst. Du hast dein Leben verlassen, um hier in Texas …“

Nein, ich habe mein Leben gefunden, hätte Scott am liebsten geantwortet. Doch warum sollte er die gute Stimmung verderben? Er wollte Christina nicht überrumpeln, so wie gestern. Er wollte erst über seine Gefühle sprechen, wenn er den Eindruck hatte, dass sie bereit dazu war.

Also sagte er nur: „Es ist einfacher, als du denkst. Übrigens …“

„Ja?“

„Wendy hat vorgeschlagen, dass du ihr bei der Einrichtung des Kinderzimmers helfen könntest.“

„Oh …“ Christina senkte den Blick, faltete ihre Serviette sorgfältig zusammen und klemmte sie unter den Tellerrand. Dann lächelte sie seltsam. „Was verstehe ich schon von Inneneinrichtung?“

„Ich glaube, Wendy möchte nur Gesellschaft haben. Es könnte euch beiden guttun. Und ich glaube, sie könnte eine Freundin brauchen.“

Genau wie Christina, fügte Scott im Stillen hinzu.

„Vielleicht in einigen Tagen.“ Wieder dieses Lächeln. „Wenn ich mich besser fühle und meine Gedanken sortiert habe.“

„Gut.“ Scott gab der Kellnerin ein Zeichen. „Und wo gibt es hier den besten Autohändler?“

„In San Antonio. Aber ich kann ja noch gar nicht fahren.“

„Egal. Ich bin in der Laune, etwas zu kaufen. Das solltest du ausnutzen.“

Christina verdrehte die Augen.

„Oh, tut mir leid. Ich wollte dich weder bedrängen noch den – wie hast du mich genannt? – Märchenonkel spielen.“

„Doch. Natürlich. Wenn ich jetzt sagen würde: Nein, ich will nicht, dass du mir ein Auto kaufst, würdest du es trotzdem tun. Richtig?“

„Darf ich zugeben, dass ich es in Betracht ziehen würde?“

Christina seufzte. „Was soll ich nur mit dir tun?“

„Mich dir ein Auto kaufen lassen!“

„Du gibst nie auf, oder?“ Sie lachte leise und blickte ihm in die Augen. „Würde es dich wirklich glücklich machen?“

Na ja. Als Scott ihr beim Aufstehen half, nahm er den Duft ihres Shampoos wahr. Und ihren süßen Duft, der ihm sogleich die Sinne verwirrte. Was ihn jetzt wirklich glücklich machen würde, konnten sie nicht im Red tun, so viel war klar.

Und er durfte Christina auch nicht erzählen, dass für ihn einige Tausend Dollar nichts bedeuteten. Sonst hielt sie ihn für einen eingebildeten Großkotz, der annahm, mit seinem Geld jede Frau erobern zu können.

„Ja“, sagte er. „Es würde mich sehr glücklich machen. Reicht dir das, um nachzugeben?“

„Mir bleibt wohl keine andere Wahl.“ Christina humpelte zur Tür.

Nun bekam er seinen Willen. Doch irgendwie, dachte Scott, fühlt sich der Sieg recht schal an. Ein strahlendes Lächeln von Christina, die Freude in ihren Augen zu sehen … das hätte ihn jetzt glücklich gemacht.

7. KAPITEL

Christina saß auf ihrer Veranda in der Morgensonne, den Gipsfuß auf einen Stuhl gebettet, und betrachtete ihren hübschen kleinen VW Jetta. Silberfarben. Drei Jahre alt, kaum zwanzigtausend Meilen gelaufen. Seit einer Woche stand er jetzt dort, und sie konnte noch immer nicht fassen, dass er ihr gehörte.

Und das war nur ein Posten auf der schnell wachsenden Liste der Dinge, die sich in ihrem Leben verändert hatten. Zum Beispiel: Scott war auch nach zwei Wochen noch hier. Und sie konnte sich inzwischen darüber freuen, wenn er sie verwöhnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Oder höchstens ein kleines.

Enid, die in dem neuen Gartenstuhl neben ihr saß, meinte: „Wie konntest du nur? Lässt dir von dem Mann ein Auto schenken.“

Diesen Satz hatte Enid schon eine Million Mal gesagt, seit der Jetta auf dem Parkplatz stand. Und immer wieder im selben verärgerten Ton.

Obwohl sie durchaus nicht dagegen gewesen war, als Scott ihr gestern Christinas Miete für drei Monate im Voraus bezahlt hatte. Und anschließend hatte er Enid zu Walmart gefahren. Die beiden schienen irgendetwas … auszuhecken.

Christina ahnte es, genauer gesagt, sie befürchtete es.

Ehrlich, Christina wusste nie, ob sie den Mann umarmen oder erwürgen sollte, wenn er sich mal wieder etwas einfallen ließ. Ja. Es gefiel ihr, von ihm verwöhnt zu werden. Sie mochte es jedoch gar nicht, wenn er dabei übertrieb.

Oder sie nach ihrer Vergangenheit fragte. Oder andeutete, er könnte sich in sie verliebt haben. Seit diesem bewussten Gespräch hatte er das jedoch nie wieder getan.

Sein Glück, denn sonst hätte sie ihn erwürgt.

„Ja, ich habe mir den Wagen schenken lassen. Und sei ehrlich, du kannst es kaum erwarten, dass ich dich darin zum Friseur fahre.“

„Es ist ein schönes Auto, muss ich zugeben. Wo ist dein Lover heute?“

„Weiß ich nicht. Und bitte, nenn ihn nicht so. Er hat mir erzählt, er müsste etwas erledigen. Und was, geht mich nichts an. Also habe ich nicht gefragt.“

„Kehrt er bald nach Hause zurück?“

Nach Hause … Bei diesem Gedanken machte Christinas Herz einen Satz. Sie blickte zu Gumbo hinüber, der im Gebüsch herumstrolchte. „Ich glaube, ja.“

„Du weißt es nicht?“

„Auch das geht mich nichts an.“

Enid schüttelte unwillig den Kopf.

„Übrigens, habe ich dir schon erzählt, dass ich mich fürs nächste Semester für Online-Kurse eingeschrieben habe? Dann bin ich unabhängiger. Ich muss nicht zu jeder Vorlesung in die Uni.“

„Aha.“

„Und einen neuen Job könnte ich wohl auch bekommen. Nachhilfeunterricht im Internet. Ich habe eine Website gefunden, wo Kindern geholfen wird, die schon mit den Grundkenntnissen Probleme haben. Ich muss also keine ausgebildete Lehrerin sein. Man trifft sich persönlich oder redet über Skype miteinander.“

„Was ist das?“

„Du siehst die Person, mit der du telefonierst, auf dem Computer. Du weißt doch, es gibt einen Werbespot im Fernsehen … wo der Mann in Italien ist und mit seiner Frau in New York spricht. Das ist Skype.“

Autor

Susan Crosby
Susan Crosby fing mit dem Schreiben zeitgenössischer Liebesromane an, um sich selbst und ihre damals noch kleinen Kinder zu unterhalten. Als die Kinder alt genug für die Schule waren ging sie zurück ans College um ihren Bachelor in Englisch zu machen. Anschließend feilte sie an ihrer Karriere als Autorin, ein...
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