Traummänner & Traumziele: Mallorca

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EIN TRAUMMANN AUF MALLORCA

Ein einziger Anruf - und alle Probleme sind vorbei: Die hübsche Charlene wird Nanny auf der Sonneninsel Mallorca, für ein super Gehalt! Eine strahlende Zukunft scheint vor ihr zu liegen. Bis sie erfährt, wer der Vater ihres Schützlings ist: der vermögende Javier Santiago, der die Werft ihres Vaters an den Rand des Ruins gebracht hat. Unerklärlich, warum ausgerechnet sie sich um Javiers kleine Tochter kümmern soll! Und noch unerklärlicher, warum ihr Herz bei jeder Begegnung auf seiner Segeljacht wie verrückt schlägt - obwohl sie Javier doch hassen müsste …

STÜRMISCH VERLIEBT AUF MALLORCA

Die junge Verkäuferin Lilian kann ihr Glück kaum fassen: Sie hat eine Reise nach Mallorca geschenkt bekommen. Einmal ein anderes, besseres Leben führen - Lilian erfüllt sich diesen kühnen Wunsch und checkt unter falschem Namen ein. Plötzlich ist sie die schöne Lilith Carpenter aus reichem Haus … in die sich der attraktive Hotelmanager Ramiro Cantellano stürmisch verliebt! Es sind ja nur zwei Wochen unter falschem Namen, versucht sie ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Doch nach einer berauschenden Liebesnacht mit Ramiro droht diese Lüge ihr Glück zu zerstören …

MALLORCA- SÜßE KÜSSE UND EIN BRISANTES GEHEIMNIS

Bei einem Überfall hat sie alles verloren: Geld, Papiere - und ihr Gedächtnis. Nur ein Stift mit eingraviertem Namen lässt die hübsche junge Frau vermuten, dass sie Samantha heißt. Was hat sie hier auf die Sonneninsel Mallorca geführt, zu Miguel Valdéz, vor dessen schlossähnlichem Anwesen das Unglück geschah? Der gut aussehende Geschäftsmann kümmert sich rührend um Samantha und deren Suche nach ihrer Identität, lädt sie ein in seine Luxusvilla mit dem atemberaubenden Blick aufs Meer. Aber sie verspürt in Miguels Nähe nicht nur Verlangen, sondern auch einen Hauch von Gefahr ...

SEHNSUCHT ERWACHT AUF MALLORCA

Auf der Trauminsel Mallorca begegnen sie sich: die heißblütige Brynne Sullivan und der eiskalte Millionär Alejandro Santiago. Schon bald explodiert ein Feuerwerk der Gefühle in der luxuriösen Villa des attraktiven Spaniers. Heftige Wortgefechte bei Tag weichen sehnsüchtigen Blicken, sobald die Sonne im Meer versinkt. Und wenn der Mond aufgeht, erwacht süßes Verlangen. Kaum hat Alejandro mit verführerischen Küssen Brynnes Leidenschaft geweckt, da droht die hinterlistige Antonia aus Eifersucht das junge Glück der beiden zu zerstören …

EINE LIEBE AUF MALLORCA

Glück im Unglück? Als Lucy auf Mallorca mit ihrem Wagen liegen bleibt, stoppt kurz darauf ein schwarzer Range Rover. Heraus steigt ihr Traumprinz: groß, dunkelhaarig, ein umwerfendes Lächeln auf den Lippen ... Zwar sucht Lucy auf der Insel nicht die große Liebe, sondern ihren Vater. Aber eine Romanze mit dem Fremden, der sich ihr als Rico de Guardo vorstellt, ist einfach zu verlockend. Doch nach einer zärtlichen Nacht auf einer Finca zerplatzt Lucys Traum vom Glück wie eine Seifenblase: Ricos Cousine verrät ihr, wer der Mann ist, dem sie rückhaltlos ihr Herz geschenkt hat …

FEURIGE BEGEGNUNG AUF MALLORCA

Beim ersten Blick in Tomás‘ dunkle Augen weiß Jenna: Diesen stolzen Mann von ihrer Mission zu überzeugen, wird nicht leicht! Doch überraschend wird die Zeit mit dem attraktiven Spanier auf Mallorca einfach wunderbar. Süß weht der Duft der Mandelblüten, als Tomás sie zum ersten Mal küsst, sie beim Sonnenuntergang am Meer in seine Arme zieht, ihr leise zuflüstert, wie sehr er sie nach ihr sehnt … Bis ein Zufall Jennas Hoffnungen zerstört. Entsetzt muss sie glauben: Nicht aus Liebe umwirbt Tomás sie - sondern weil er einen dunklen Racheplan verfolgt!


  • Erscheinungstag 22.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788292
  • Seitenanzahl 896
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Roberts, Jane Waters, Danielle Stevens, Carole Mortimer, Marian Mitchell

Traummänner & Traumziele: Mallorca

Penny Roberts

Ein Traummann auf Mallorca

IMPRESSUM

ROMANA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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© 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1972 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg

Fotos: RJB Photo Library, shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-451-7

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

 

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PROLOG

Zielstrebig bahnte sich der Chauffeur der schwarzen Limousine seinen Weg durch schmale Sträßchen, die zum Teil kaum breiter waren als das Fahrzeug selbst. Dann endlich eröffnete sich am Ende einer Gasse der Blick aufs Meer, das glatt wie ein Spiegel dalag und den tiefblauen Sommerhimmel reflektierte.

Maria Velasquez, die auf dem Rücksitz des Wagens saß, hatte kein Auge für die Schönheit ihrer mallorquinischen Umgebung.

„Also wirklich, die Santiago-Männer sind die schlimmsten Dickköpfe, mit denen ich es je zu tun hatte!“, sagte sie scherzend ins Handy, doch es war nur ein schwacher Versuch, ihre Schwester Gabriela am anderen Ende der Leitung ein wenig aufzumuntern.

Um das zu schaffen, wäre schon ein kleines Wunder vonnöten gewesen – nach all den Katastrophen, mit denen die Mutter von vier Kindern in der Vergangenheit hatte klarkommen müssen. Zuerst der Verlust ihrer einzigen Tochter Laura vor vielen Jahren: Das sechsjährige Mädchen war während eines Familienausflugs ins Grüne spurlos verschwunden und nie gefunden worden. Dann die Schwierigkeiten mit ihrem Mann Miguel … Und schließlich, als hätte sie nicht schon genug durchgemacht, war es auch noch zum Bruch zwischen ihrem Mann und seinen drei Söhnen gekommen.

Javier, Luís und Alejandro.

Miguel bereute inzwischen längst, sich damals mit seinen Jungs überworfen zu haben. Sie zu verlieren hatte ihn viel tiefer getroffen, als sein männlicher Stolz es ihn sich eingestehen ließ.

Stolz! Maria verdrehte die Augen. Was hatten die Männer bloß immer damit? Als ob es so wichtig wäre, aller Welt seinen Dickkopf zu beweisen!

Zu ihrem Leidwesen besaßen auch ihre drei Neffen, so wohlgeraten sie ansonsten sein mochten, diese lästige Eigenschaft. Und genau das machte es so schwierig – um nicht zu sagen unmöglich –, zwischen ihnen und ihrem Vater zu vermitteln. Doch nun glaubte Maria, einen geeigneten Weg gefunden zu haben: Die Jungs mussten selbst darauf kommen, wie wichtig es war, über den eigenen Schatten zu springen.

„Und da ich annehme, dass du deinen Miguel nicht dazu überreden kannst, sich wie ein erwachsener Mann zu benehmen, ist es wohl an mir, eine andere Taktik aus dem Hut zu zaubern“, sprach sie weiter.

„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, fragte ihre Schwester zweifelnd. „Du erinnerst dich doch sicher noch, was beim letzten Mal passiert ist, oder?“

„Natürlich, wie könnte ich das vergessen!“ Maria verscheuchte den Gedanken an das Fiasko, das sie mit ihrem wohlmeinenden Versuch, die Familie auszusöhnen, vor ein paar Jahren verursacht hatte. „Aber dieses Mal werde ich geschickter vorgehen – und mich der Hilfe einer geeigneten Person bedienen, um deinem Ältesten den Spiegel vorzuhalten.“

Maria hatte ihren Fahrer angewiesen, gegenüber dem Café am Jachthafen zu parken. Dort war sie mit Charlene Graham verabredet – der Frau, die es hoffentlich schaffen würde, ihren Neffen zum Nachdenken zu bringen. Und das, obwohl Javier und Charlene sich, soweit Maria wusste, noch nie begegnet waren.

Die junge Engländerin, die sie durch die getönten Scheiben der Limousine auf der Terrasse des Cafés sitzen sah, schien genau die richtige Person zu sein, Javier den Spiegel vorzuhalten. Doch dazu musste es Maria erst einmal gelingen, die beiden zusammenzubringen.

„Und wen?“, erklang es aus dem Hörer. Täuschte Maria sich, oder schwang nun ein Fünkchen Hoffnung in Gabrielas Stimme mit?

„Später“, vertröstete sie ihre Schwester. „Ein wenig Geduld, hermanita, sobald ich mehr weiß, werde ich mich wieder bei dir melden.“

Maria beendete das Gespräch und warf einen Blick auf ihre Uhr.

Es war Zeit.

Sie atmete noch einmal tief durch, dann stieg sie aus.

1. KAPITEL

Wenn man Pech und Glück in eine Waagschale werfen könnte, würde bei ihr immer das Pech schwerer wiegen, davon war Charlene Beckett überzeugt. Und zwar nicht etwa, weil man ihr einen besonders ausgeprägten Hang zum Pessimismus nachsagen konnte, sondern ganz einfach, weil ihre Vergangenheit dies nur allzu deutlich zeigte.

Schon früh hatten sie ausgerechnet die beiden wichtigsten Menschen in ihrer Umgebung spüren lassen, dass es ihr anscheinend nicht vergönnt war, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Sie musste an ihre Mutter denken, der sie offenbar nur eine unerwünschte Last gewesen war. Und an ihren Vater, der zwar alles für sie getan, bei seinen vielen Verpflichtungen als Besitzer einer Werft aber immer wieder vergessen hatte, dass seine Tochter überhaupt existierte.

Später, als Teenager, waren ihr schmerzliche Enttäuschungen in der Liebe nicht erspart geblieben, und mit zwanzig hatte sie beschlossen, Mallorca für immer zu verlassen. Sie war nach London gegangen, um dort ein neues Leben anzufangen und vielleicht endlich ihr Glück zu finden – eine Hoffnung, die sich allerdings nur sehr bedingt erfüllt hatte. Und dann, vor zwei Wochen, war sie unfreiwillig und ziemlich überstürzt auf die Baleareninsel zurückgekehrt. Kurz gesagt: Ihr bisheriges Leben bestand aus nichts weiter als einer einzigen Aneinanderreihung von Misserfolgen.

Und genau aus diesem Grund war Charlene jetzt auch so furchtbar aufgeregt. Denn das bevorstehende Gespräch würde für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein, und zwar nicht nur für ihre eigene.

Ihre Finger zitterten leicht, als sie zur Cappuccinotasse vor sich auf dem Bistrotisch griff. Kurz verharrte sie, dann atmete sie tief durch, hob die Tasse an und führte sie zu den Lippen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals – das war schon auf dem Weg hierher, zum Cafe Marítima in Port Pollença, der Fall gewesen, hatte sich in den letzten Minuten aber noch verstärkt. Kein Wunder, schließlich wartete sie auf eine Frau, die ihr die Lösung für all ihre Probleme in Aussicht gestellt hatte.

Und vor allem für die meines Vaters.

Sie trank einen Schluck und kam nicht umhin, anerkennend zu nicken. Der Cappuccino war einfach köstlich – die geschäumte Milch so hauchzart, dass sie auf der Zunge zerging, zudem nahm Charlene auch einen Hauch Zimt wahr. Also genau so, wie sie ihren Cappuccino mochte. Durchaus keine Selbstverständlichkeit auf Mallorca, denn während mediterrane Köstlichkeiten in kaum gekannter Qualität beinahe überall zu bekommen waren, hatte man in Bezug auf Kaffeespezialitäten nicht unbedingt die Nase vorn.

Sie wollte die Tasse gerade wieder abstellen, als ihre Finger erneut zu zittern begannen. Charlene sah das Unglück kommen und konnte nichts weiter tun, als hilflos mit anzusehen, wie ein Teil der braunweißen Flüssigkeit über den Rand schwappte und geradewegs auf dem cremefarbenen Seidentop landete, den sie sich von einer Freundin geliehen hatte.

Auch das noch! Leise fluchend stellte sie die Tasse ab und besah sich die Bescherung: Obwohl nur ein kleines bisschen hinuntergetropft war, prangte auf dem Top nun ein unübersehbarer Kaffeefleck, etwa so groß wie eine Münze, und zwar genau unterhalb des Dekolletés, wo man ihn einfach nicht übersehen konnte.

Kurz schloss Charlene die Augen und zählte im Stillen bis drei – eine Art kleines Ritual, das sie sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte und das ihr dabei half, sich zumindest einigermaßen zu beruhigen. Trotzdem spürte sie, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sicher bildeten sich gerade wieder die für sie so typischen hektischen Flecke auf ihren Wangen. Als sie die Lider öffnete, musste sie in einem Anflug von Galgenhumor kurz über sich selbst schmunzeln. Eigentlich hätte sie dieses Missgeschick nicht überraschen sollen, immerhin passierte ihr dergleichen nicht zum ersten Mal, im Gegenteil: Immer dann, wenn irgendetwas Wichtiges bevorstand, sei es ein Termin bei einer Bank oder ein Vorstellungsgespräch, bekleckerte sie sich. Das war noch nie anders gewesen und schien bei ihr beinahe so eine Art unausweichliches Schicksal zu sein.

Suchend blickte sie sich in alle Richtungen um. Noch herrschte auf der Terrasse des Cafés alles andere als rege Betriebsamkeit, was der frühen Mittagszeit geschuldet war, in der sich die Einheimischen von einem arbeitsreichen Vormittag erholten und die Touristen an den Stränden lagen. Etwas abseits von ihr saß ein älterer Herr, der in die Lektüre seiner Zeitung vertieft war, und auf einer niedrigen Mauer aus Naturstein rekelte sich genüsslich eine Katze und ließ sich die Sonne aufs Fell scheinen.

Einen Moment lang gestattete Charlene sich, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

Das Cafe Marítima lag direkt am Jachthafen von Port de Pollença, in dem Motorboote und Segeljachten aller Größen und Preisklassen ankerten. Das Wasser glitzerte in fast demselben tiefen Blau wie der Himmel, den kein Wölkchen trübte. Palmen säumten die Promenade, auf der trotz der noch recht frühen Stunde viele Spaziergänger unterwegs waren, die die Sonne genießen wollten.

Charlene schüttelte den Kopf. War sie noch ganz bei Sinnen? Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Maria Velásquez endlich eintraf. Mit ihrer Zulieferfirma, die die meisten größeren Werften an der Mittelmeerküste mit Bootsbauteilen und Zubehör versorgte, gehörte diese Frau zu den Reichsten der Reichen auf Mallorca, und was tat sie? Saß hier und genoss den Ausblick? Stattdessen sollte sie sich besser darum kümmern, ihr kleines Malheur zu beseitigen!

Entschlossen nickte sie und besah sich die Bescherung auf ihrem Top noch einmal genauer. Nun, beseitigen lassen würde sich der Fleck auf die Schnelle sicher nicht, aber wenn einem so etwas beinahe ständig passierte, eignete man sich im Laufe der Zeit die passenden Tricks und Kniffe an.

Rasch holte sie ihre Tasche unter dem Tisch hervor und zog den Reißverschluss des Innenfachs auf, in dem sie für den Fall der Fälle immer mindestens drei Broschen in drei verschiedenen Größen aufbewahrte. Die mittelgroße überdeckte den Kaffeefleck genau und passte auch farblich am besten, also steckte Charlene sie sich an. Sie war dabei, ihr Werk kritisch zu begutachten, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie eines der Segelboote ablegte. Sie hob den Blick und sah der Jacht sehnsüchtig hinterher, wie sie den Hafen verließ. Der Wind blähte das weiße Vorsegel, und Gischt spritzte hoch, als das Schiff Fahrt aufnahm. Fast glaubte Charlene, die frische Brise in den Haaren zu spüren und das Salz auf den Lippen zu schmecken. Sie hatte das Segeln immer geliebt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie Verständnis für ihren Vater aufbrachte, dem seine Arbeit und die Werft stets über alles gegangen waren. Doch inzwischen konnte sie damit umgehen, immer nur die zweite Rolle im Leben von Graham Beckett gespielt zu haben. Und sie wollte auch nicht, dass er seine Existenz verlor.

Was sich von einer anderen Person ganz und gar nicht behaupten ließ …

Ihre Stirn legte sich in Falten, als Charlene an den Mann dachte, der für die Misere der Firma ihres Vaters verantwortlich war. An den skrupellosen Menschen, der kein Gewissen zu haben schien und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war und …

Das Geräusch sich rasch nähernder Schritte riss sie aus ihren Gedanken. Als sie aufschaute, erblickte sie eine ältere Spanierin, die ihr grau meliertes Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst trug. Ihr Kleid, dessen Rock bis übers Knie reichte, war zeitlos und elegant zugleich. Feine Fältchen zogen sich über ihr Gesicht, was sie erstaunlicherweise nicht alt, sondern vielmehr weise, aber auch streng erscheinen ließ. Die Frau sagte nichts, musterte sie jedoch so durchdringend, dass Charlene sich einen Moment lang unbehaglich fühlte.

Angestrengt schluckte sie. „Sind … sind Sie Señora Velásquez?“, fragte sie, um das unangenehme Schweigen zu durchbrechen. Es ärgerte sie, dass es ihr nicht gelang, das leichte Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie hatte sich vorgenommen, selbstbewusst aufzutreten. Doch das war ihr schon immer schwergefallen, und wie es aussah, sollten ihre Bemühungen auch diesmal nicht von Erfolg gekrönt sein.

, die bin ich“, erwiderte die Spanierin, und das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, verscheuchte prompt Charlenes Anspannung und Skepsis. Maria Velásquez’ Gesicht wirkte gleich viel freundlicher und aufgeschlossener. „Dann müssen Sie Miss Beckett sein.“

Charlene stand auf und reichte der Frau die Hand. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Señora. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mich frage, was Sie eigentlich genau von mir wollen.“

„Nun, zuallererst einmal, dass Sie einen Kaffee mit mir trinken“, erwiderte die ältere Dame scherzhaft.

Sie mussten beide lachen, und als sie Platz nahmen, hatte sich Charlenes Nervosität bereits spürbar gelegt. Sobald sie saßen, kam die Bedienung herbeigeeilt.

„Espresso, por favor“, gab Maria Velásquez ihre Bestellung auf. Die Kellnerin entfernte sich, und die ältere Spanierin wandte sich wieder Charlene zu. „Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten“, sagte sie. „Sie wissen ja bereits in groben Zügen, worum es geht.“

Charlene räusperte sich. „Nun, so würde ich es nicht ausdrücken“, erwiderte sie lächelnd. „Im Grunde weiß ich nur, dass es um einen gut bezahlten Job geht, mehr nicht.“

Das stimmte in der Tat: Vor gerade einmal zwei Tagen war Charlene von einer Mitarbeiterin aus Maria Velásquez’ Büro angerufen worden. Die junge Frau hatte sie gefragt, ob sie an einer lukrativen Stelle interessiert sei. Mehr Details würde sie bei einem Gespräch mit der Firmeninhaberin persönlich erfahren. Natürlich hatte Charlene sofort zugesagt, zu dem Treffen zu erscheinen. Schließlich war eine gut dotierte Anstellung genau das, was sie im Augenblick am dringendsten benötigte.

„Job, Job, was ist schon ein Job?“ Maria Velásquez machte eine wegwerfende Geste und schüttelte den Kopf. „Hier geht es um viel mehr als einen einfachen Job, Miss Beckett. Was ich Ihnen biete, ist eine feste Anstellung. Und zwar zu Konditionen, die all Ihre Sorgen in Luft auflösen werden.“ Sie hob die Hand und schnippte mit den Fingern. „Por la jeta.“

„Sorgen?“ Irritiert sah Charlene sie an. „Woher wissen Sie … Ich meine …“

„Nun, das ist ganz einfach.“ Maria hob die Espressotasse, die die Bedienung soeben serviert hatte, hielt sie mit abgespreiztem kleinem Finger, nippte und stellte sie wieder ab. „Sehen Sie, Miss Beckett, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: Ich habe Erkundigungen über Sie eingeholt.“ Sie lächelte besänftigend, als Charlene eine abwehrende Körperhaltung einnahm. „Bitte erschrecken Sie nicht. Sie müssen wissen, dass ich mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Werft Ihres Vaters sehr gut bekannt bin. Durch einen Zufall kam mir Ihre Geschichte zu Ohren, und ich fing an, mich für Sie zu interessieren. Für die Frau, die ihr Leben in England, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgegeben hat, weil ihr Vater ihre Hilfe benötigt. Das hat mir imponiert.“

Imponiert? Charlene hätte am liebsten bitter aufgelacht. Señora Velásquez konnte ja nicht ahnen, wie es in Wahrheit um das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater bestellt war. Es stimmte, sie war, ohne zu zögern, nach Mallorca zurückgekommen, als sie erfahren hatte, dass ihr Vater alles verlieren würde, wenn sie ihm nicht half. Zwar bedeutete das, dass sie nun eine ganze Weile auf der Insel bleiben musste, aber was machte das schon? Schließlich hatte sie in den Jahren in London nichts erreicht …

Trotzdem – ihr Verhalten zeugte keineswegs von einem unerschütterlichen, harmonischen Vater-Tochter-Verhältnis, wie die ältere Spanierin offenbar annahm. Es hatte schlicht und einfach mit Charlenes ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Und damit, dass sie tief im Innern schon lange Zweifel hegte, ob sie ihrem Vater vielleicht doch das eine oder andere Mal unrecht getan hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Das alles irritierte sie. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand Erkundigungen über sie einzog. Sicher, irgendwie konnte sie Maria Velásquez’ Beweggründe nachvollziehen, schließlich wollte jeder Arbeitgeber gern etwas über einen zukünftigen Angestellten wissen, aber dennoch … so ganz gefiel Charlene die Entwicklung dieses Treffens nicht.

„Nun“, riss die ältere Spanierin sie aus ihren Gedanken, „ich hoffe, Sie sind trotzdem daran interessiert zu erfahren, was ich Ihnen zu bieten habe?“

Charlene zögerte kurz. Im Grunde war es vollkommen egal, was die Frau über sie wusste oder nicht – jedenfalls angesichts der Tatsache, dass das Lebenswerk ihres Vaters vor dem Aus stand und dass sie alles dafür tun musste, das Unheil doch noch abzuwenden. Viel zu lange hatte sie sich vorgemacht, dass sie die einzige Person war, der das Recht zustand, sich zu beklagen. Dabei hatte Graham Beckett sich die Rolle des alleinerziehenden Vaters auch nicht ausgesucht, und man musste ihm zugutehalten, dass er sich all die Jahre über bemüht hatte, es seiner Tochter finanziell an nichts mangeln zu lassen. Nun war es an ihr, sich dafür zu revanchieren. Und genau deshalb brauchte sie als Erstes diesen gut bezahlten Job, von dem die ganze Zeit die Rede war.

Entschlossen straffte Charlene die Schultern und sah Maria Velásquez fest an. „Natürlich“, antwortete sie. „Ich bin ganz Ohr.“

Die Spanierin lächelte zufrieden. „Das ist schön. Erfreulicherweise bedarf es auch nicht einmal großer Worte, denn alles ist ganz einfach: Ich biete Ihnen neben einem festen monatlichen Gehalt eine einmalige Zahlung, die hoch genug ist, die Behandlungskosten Ihres Vaters zu decken. Außerdem erhält Ihr Vater, wenn wir beide uns einig werden, einen Einkaufsrabatt in Höhe von vierzig Prozent – das ist mehr, als wir unseren eigenen Mitarbeitern zugestehen.“

„Sie bieten – was?“ Charlene kniff die Augen zusammen und musterte die ältere Frau eine Weile lang sprachlos. Mit einem guten Gehalt hatte sie gerechnet, das ja. Aber der Rest klang einfach zu schön, um wahr zu sein. „Ich … verstehe nicht. Warum tun Sie das? Ich meine, Sie kennen mich doch gar nicht. Wieso bieten Sie mir so etwas an?“

„Wie ich schon sagte: Sie gefallen mir, und Ihr Verhalten Ihrem Vater gegenüber imponiert mir. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.“

Charlene schluckte. „Und … was muss ich dafür tun?“ Skepsis machte sich in ihr breit. „Von welcher Art Anstellung ist hier überhaupt die Rede?“

„Keine Angst, keine Angst.“ Wieder lächelte Maria Velásquez milde. „Es ist selbstverständlich alles ganz und gar seriös. Ich möchte, dass Sie wieder in Ihren alten Beruf zurückkehren, Señorita Beckett. Das tun, was Sie ursprünglich gelernt und einige Jahre praktiziert haben.“

„Sie wollen, dass ich als Kindermädchen arbeite?“, fragte Charlene überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet – aber es war keine unangenehme Überraschung. Die Arbeit mit Kindern machte ihr Spaß. Ehe sie damals nach England gegangen war, hatte sie sich über das Internet einen Job bei einer Familie in London gesucht. Leider war der Familienvater recht bald ins Ausland versetzt worden, sodass Charlene hatte umdisponieren müssen. Ein Job in einem der zahllosen Callcenter der Metropole war das Einzige gewesen, was sie auf die Schnelle hatte finden können. Und seitdem hatte sich an ihrer Situation nichts geändert.

„Allerdings“, antwortete Señora Velásquez, und ihre Augen fingen an zu strahlen. „Und zwar geht es um meine Großnichte Aurora.“

„Aurora“, wiederholte Charlene lächelnd. „Die Morgenröte – was für ein wunderschöner Name.“

„Nicht wahr? Das Mädchen ist sechs Jahre alt und hat vor einiger Zeit seine Mutter verloren. Ich fürchte, Auroras Vater ist mit der Erziehung ein wenig überfordert. Das Problem ist, dass die Kleine bisher jedes Kindermädchen vergrault hat.“

Charlene nickte. „Viele Kinder haben Angst, dass man versuchen könnte, ihnen die Mutter oder den Vater zu ersetzen. In solchen Fällen muss man sehr behutsam vorgehen, um die fragile Kinderseele nicht zu verletzen.“ Kurz musste sie an ihre eigene Kindheit denken. Auch sie war ohne Mutter aufgewachsen, und die ständigen Zurückweisungen durch den Vater, der seine Gefühle nicht zeigen konnte, hatten sie wahrscheinlich bis an ihr Lebensende geprägt …

„Ich sehe schon, wir verstehen uns“, unterbrach Maria ihren Gedankengang. „Sie werden Aurora bestimmt ein wunderbares Kindermädchen sein. Allerdings – eine weitere Bedingung gibt es dann doch noch.“

Aha! Charlene horchte auf. Jetzt kam also der Haken an der Sache! „Und die wäre?“, fragte sie skeptisch.

„Nun, Auroras Vater, Javier, darf nie erfahren, dass ich etwas mit Ihrer Vermittlung zu tun habe. Offiziell läuft alles über eine Agentur, an der ich über Umwege beteiligt bin. Dadurch kann ich … nun, sagen wir einfach, es ist mir möglich, einen gewissen Einfluss zu nehmen.“

Den letzten Satz bekam Charlene nur noch beiläufig mit. „Javier?“ Sie runzelte die Stirn. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Konnte es möglich sein, dass … Aber nein, sicher handelte es sich nur um eine zufällige Namensgleichheit!

„Sí.“ Maria Velásquez nickte. „Javier Santiago. Mein Neffe.“

„Javier Santiago?“ Also doch! Entsetzt riss Charlene die Augen auf. Javier Santiago war der Mann, durch den ihr Vater alles zu verlieren drohte. Er betrieb seine Werft für Sportjachten auf der anderen Seite der Insel, doch das hielt ihn nicht davon ab, Beckett’s Dockyard mit aller Macht aus dem Geschäft zu drängen. Santiago bot seine Segeljachten zu Preisen an, bei denen Graham Beckett einfach nicht mithalten konnte. Charlene zweifelte nicht daran, dass er damit eine Taktik verfolgte. Sicherlich ging es ihm nur darum, ihren Vater in den Bankrott zu treiben – danach würde er garantiert mit den Preisen wieder anziehen. „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht.“ Sie machte Anstalten, aufzustehen, doch Maria Velásquez legte ihr die Hand auf den Arm.

„Warten Sie, Miss Beckett“, sagte die Spanierin, und zu ihrer Verwunderung glaubte Charlene kurz, einen flehentlichen Klang aus ihrer Stimme herauszuhören. „Hören Sie mir einen Moment zu, por favor!“

Charlene zögerte, doch schließlich nickte sie. „Also schön, reden Sie.“

„Sehen Sie, ich weiß natürlich, in welcher Verbindung mein Neffe zu Ihrem Vater steht. Die beiden sind Konkurrenten, und …“

„Konkurrenten?“ Charlene lachte bitter auf. „Nein, so kann man das wahrlich nicht bezeichnen!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Konkurrenz ist im Grunde keine schlechte Sache, im Gegenteil: Sie belebt das Geschäft. Aber Ihr Neffe – Señor Santiago – ist nicht einfach ein Konkurrent. Er nutzt die Tatsache, dass er über die größeren finanziellen Rücklagen verfügt, skrupellos aus. Aus den Unterlagen meines Vaters geht hervor, dass er seine Jachten zu Dumpingpreisen anbietet; Preisen, mit denen er unmöglich Gewinn machen kann. Ich habe die Bücher von Beckett’s Dockyard überprüft. Wissen Sie eigentlich, wie viele Boote mein Vater in den vergangenen Monaten verkauft hat? Ein einziges! Und das alles nur, weil Javier Santiago uns aus dem Geschäft drängen will!“

„Nun, ich muss zugeben, dass ich Ihnen dazu nichts weiter sagen kann, denn mit dem Unternehmen meines Neffen habe ich nichts zu tun. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er in irgendeiner Weise unlautere Methoden einsetzt.“

„Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache!“, entgegnete Charlene gereizter als beabsichtigt.

„Wenn das so ist, wäre es doch gut, mein Angebot anzunehmen und sich einen Teil von dem, was er Ihrem Vater genommen hat, zurückzuholen“, erwiderte Maria Velásquez lächelnd. Dann winkte sie seufzend ab. „Hören Sie, Charlene, es ist Aurora, um die Sie sich kümmern sollen, nicht Javier. Und finden Sie nicht auch, es wäre nur fair, dem Kind eine Chance zu geben, ohne es für die Sünden seines Vaters zu verurteilen?“

Charlene zögerte, doch im Grunde ihres Herzens war sie mit der Unternehmerin einer Meinung. Ein einsames kleines Mädchen, das in der Obhut eines Mannes wie Javier Santiago aufwuchs, brauchte einfach jemanden, dem es sein Herz öffnen konnte. Und vielleicht konnte ja tatsächlich sie dieser Jemand sein.

„Nun, was sagen Sie?“ Maria Velásquez beobachtete sie gespannt. „Geben Sie Aurora trotz Ihrer Abneigung gegen ihren Vater eine Chance? Ich kann Ihnen natürlich nicht garantieren, dass Javier Sie auf Dauer behalten wird, aber er hat kaum eine andere Wahl, als es zumindest mit Ihnen zu versuchen. Die meisten geeigneten Kindermädchen auf der Insel hat seine Tochter nämlich bereits in die Flucht geschlagen. Ich bin mir also recht sicher, dass Sie nach einem Vorstellungsgespräch die Anstellung bekommen.“

„Vorstellungsgespräch?“, fragte Charlene unsicher.

Maria Velásquez nickte. „Wie schon gesagt, kann ich nur bei der Vermittlungsagentur Einfluss nehmen. Die wird Sie meinem Neffen zwar wärmstens empfehlen, doch er wird Sie natürlich kennenlernen wollen. Aber da sehe ich keine Probleme. Seien Sie einfach Sie selbst. Wenn Sie die Anstellung haben, werden Sie Ihr Gehalt von Javier erhalten. Die Extravereinbarungen, von denen ich sprach, erfülle ich.“

Charlene atmete noch einmal tief durch und nickte. „Also gut, versuchen wir es. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Wenn das Kind mich nicht mag oder wir nicht miteinander zurechtkommen, kann ich nichts machen.“

„Das versteht sich von selbst“, entgegnete Maria Velásquez sichtlich zufrieden. „Glauben Sie mir, Auroras Wohl steht für mich an allererster Stelle.“ Die Unternehmerin erhob sich und reichte Charlene die Hand. „Die zuständige Dame von der Arbeitsvermittlung wird sich noch heute mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich bin zuversichtlich, dass dann alles schnell über die Bühne gehen wird.“

Die zwei Frauen verabschiedeten sich voneinander, und als Charlene wieder allein war, starrte sie einen Moment lang gedankenversunken aufs Meer hinaus. So groß ihre Erleichterung über die Chance, doch noch alles zu einem guten Ende zu führen, auch sein mochte – ebenso groß waren ihre Zweifel. Warum tat Señora Velásquez das alles, warum war sie so großzügig? Was steckte dahinter? In erster Linie aber fragte Charlene sich, was für ein Mensch Javier Santiago sein mochte.

Nun, zumindest Letzteres würde sie schon sehr bald erfahren.

Über die Frage, was für ein Mensch Javier Santiago war, dachte Charlene noch nach, als sie sich zwei Tage später auf dem Weg zu seinem Anwesen befand. Die Straße führte direkt an der Küste entlang, und so hatte sie einen herrlichen Ausblick auf das glitzernde tiefblaue Meer. Felsige Abschnitte mit schroffen Klippen wechselten sich ab mit geschützten Buchten, die von feinsandigen, blütenweißen Stränden gesäumt waren.

Charlene seufzte. Auch wenn Mallorca nicht immer das Paradies für sie gewesen sein mochte, das es für die meisten Touristen darstellte – die unverwechselbare und wundervolle Landschaft hatte sie bereits als Kind geliebt. Nie würde sie vergessen, wie sie Muscheln am Strand gesammelt und daraus eine Kette gebastelt hatte. Sie war barfuß durch das seichte Wasser gelaufen, mal allein, mal mit ihrem Hund Buster, den sie sehr geliebt hatte. Doch leider war ihre Kindheit nicht immer so sorglos gewesen. Wie viel schöner hätte alles sein können, wenn ihre Mutter nicht …

Sie schüttelte den Kopf. Dies war nicht die richtige Gelegenheit, um über Vergangenes nachzudenken, und auch nicht, um die Natur zu genießen. Jetzt gab es anderes, um das es sich zu kümmern galt.

Nach dem Treffen mit Maria Velásquez war alles ganz schnell gegangen – viel zu schnell für Charlenes Begriffe. Ehe sie sich an den Gedanken hatte gewöhnen können, künftig für den größten Konkurrenten ihres Vaters zu arbeiten, war auch schon der Termin für das Vorstellungsgespräch vereinbart worden.

Die folgende Nacht hatte sie mehr oder weniger schlaflos verbracht. In ihrem Kopf waren die Gedanken durcheinandergewirbelt. Tat sie wirklich das Richtige? Durfte sie sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einlassen?

Doch immer wieder waren ihr Maria Velásquez’ Worte in den Sinn gekommen. Stimmte es nicht, was die ältere Frau gesagt hatte? Bei genauerem Betrachten war Charlene klar geworden, dass die Situation mehr Vor- als Nachteile barg. Sicher, Javier Santiago mochte ein skrupelloser Geschäftsmann sein, aber wenn es ihr durch das Arrangement mit seiner Tante möglich war, ihrem Vater zu helfen, so stellte das im Grunde doch nur ausgleichende Gerechtigkeit dar. Graham Beckett würde sich wieder um die Werft kümmern und sie aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Ruin retten können.

Und ich kann endlich wieder dem Beruf nachgehen, den ich einmal so geliebt habe …

„So, Señorita, da wären wir.“ Der Taxifahrer lenkte seinen Wagen an den Straßenrand.

Charlene bezahlte und warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie unterdrückte ein Seufzen. Viel zu früh – wie immer. Ihr blieben noch mehr als anderthalb Stunden bis zu ihrem Termin mit Javier Santiago. Und die Gegend, in der der Schiffbauer lebte – ein Villenviertel bei Port d’Andratx, etwa dreißig Autominuten von Palma de Mallorca entfernt –, gehörte zwar zu den gehobenen Adressen der Insel, aber gewiss nicht zu den sonderlich belebten. Charlene seufzte unhörbar. So war es immer bei ihr, wenn derartige Termine bevorstanden: Vor lauter Nervosität hielt sie es einfach nicht länger zu Hause aus und machte sich dann viel zu zeitig auf den Weg.

Sie stieg aus, schlug die Wagentür hinter sich zu und sah sich um. Die meisten Grundstücke waren riesig, und die Häuser standen entsprechend weit voneinander entfernt. Manche Zufahrt lag so versteckt zwischen dichten Sträuchern und Bäumen, dass man sie erst entdeckte, wenn man gezielt danach Ausschau hielt. Wer hier wohnte, war eindeutig vermögend und legte großen Wert auf die Wahrung seiner Privatsphäre. Sicher waren die Häuser luxuriös und verfügten über jeden nur erdenklichen Komfort. Trotzdem vermochte Charlene sich nicht vorzustellen, dass man hier draußen wirklich glücklich sein konnte. Sie für ihren Teil brauchte Menschen um sich, pulsierendes Leben. Wie sollte ein kleines Mädchen wie Aurora Santiago hier Freunde finden?

Das Taxi fuhr davon, und Charlene blieb allein zurück. Resigniert ließ sie die Schultern hängen. Und nun? Zum Spazierengehen war sie viel zu aufgeregt. Einfach herumstehen und warten ging ebenso wenig. Also begann sie unruhig vor der Zufahrt des Anwesens auf und ab zu laufen. Dabei entdeckte sie ein kleines Tor in der von Efeu überwachsenen Mauer, das ein Stück weit offen stand. Neugierig trat sie näher. Sie wollte nur einen kurzen Blick auf das Grundstück werfen, nichts weiter. Sehen, wie ein Mann wie Javier Santiago wohnte.

Doch als das leise Schluchzen eines Kindes an ihr Ohr drang, vergaß sie alles andere und trat in den Garten.

Charlenes Augen weiteten sich, und ihre Lippen formten einen stummen Laut der Begeisterung. Nein, das hier war kein Garten – es war ein regelrechter Park, riesengroß, mit in allen Farben blühenden Blumenrabatten, einem künstlich angelegten Teich, in dem Zierkarpfen ihre Runden drehten, und einem schattigen Wäldchen.

Von dort her kam das Weinen.

„Hallo?“, rief sie. „Ist da jemand?“

Das Schluchzen verstummte. „Wer bist du?“ Ein kleines dunkelhaariges Mädchen trat aus dem schattigen Unterholz des Wäldchens hervor. Seine Augen waren gerötet, doch es musterte Charlene mit abschätzender Vorsicht. „Ich habe dich noch nie hier gesehen!“

„Du hast geweint“, entgegnete Charlene, ohne auf die Frage des Mädchens einzugehen. „Warum?“

Schweigend blickte die Kleine in die Richtung, aus der sie gekommen war, drehte sich um und lief los. Charlene beeilte sich, ihr zu folgen. Schon nach ein paar Schritten erreichten sie eine Lichtung. Als Charlene stehen blieb und sich umblickte, entdeckte sie ein Vogelnest, das auf dem Boden lag. Es musste vom Baum gefallen sein.

„Zwei der Vogelbabys waren schon tot, als ich es fand“, erklärte das Mädchen ernst und deutete auf ein flaumiges Etwas, das zitternd in dem Nest hockte. „Dieses hier lebt noch, aber es will einfach nichts fressen, ganz egal, womit ich es auch versuche.“ Die Augen der Kleinen füllten sich mit Tränen. „Es wird doch wieder gesund, oder?“

Charlene holte tief Luft. Sie kannte solche Situationen und wusste, wie schwer es für ein Kind war, mit so etwas umzugehen. Sie schaute sich das Vogeljunge genauer an. Es wirkte geschwächt, reagierte aber auf Berührungen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

„Wir sollten das Vögelchen zu einem Tierarzt bringen, Kleines, ich …“

„Aurora“, sagte sie. „Ich heiße Aurora Santiago.“

Charlene nickte. Sie hatte sich bereits gedacht, dass sie es mit dem Kind zu tun hatte, auf das sie zukünftig aufpassen sollte. Für eine Sechsjährige war Aurora sehr beherrscht und gefasst. Von ein paar Tränen abgesehen, ließ sie sich kaum anmerken, wie sehr der Zustand des Vogelkükens sie traf. Unwillkürlich fragte Charlene sich, warum das Mädchen ihr gegenüber die Tapfere spielte. Sie hatte sein Weinen doch gehört. Ob Javier Santiago von seiner Tochter verlangte, dass sie ihre Gefühle unterdrückte? Passen würde es zu ihm, dachte Charlene bitter.

„Aurora, hast du vielleicht einen kleinen Karton oder ein Kästchen? Wir könnten das Vogeljunge hineinsetzen, um es zum Tierarzt zu bringen.“

„Würdest du mir dabei helfen?“, fragte das Mädchen hoffnungsvoll.

„Natürlich“, erklärte Charlene feierlich. „Aber wir sollten uns beeilen.“

Hastig nickte das Mädchen und verschwand im Haus. Charlene sah ihm nach, wie es durch die offen stehende Terrassentür eilte. Dann blickte sie an dem Gebäude hoch.

Die Villa war riesig. Allein die Dachterrasse im zweiten Obergeschoss musste ungefähr doppelt so groß sein wie das Apartment, das sie in London bewohnt hatte. Die strahlend weiße Fassade schimmerte wie eine Perle im Sonnenlicht, und in den unzähligen Fenstern spiegelte sich der makellos blaue Sommerhimmel.

Und nun? Charlene seufzte. Wie so oft hatte sie nicht zu Ende gedacht. Ihr Vorstellungsgespräch begann in etwas weniger als einer Stunde. Ihr blieb keine Zeit, das Vögelchen zum Tierarzt zu bringen – ganz davon abgesehen, dass sie auch nicht wusste, wie sie dorthin gelangen sollte.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn in dem Moment erklang eine aufgebrachte männliche Stimme hinter ihr:

„Was, zum Teufel, machen Sie hier?“

Mit einem erstickten Aufschrei wirbelte Charlene herum. Doch als sie den Mann erblickte, der sie so rüde angefahren hatte, wandelte sich ihr Schreck in Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Zugegeben, er sah recht gut aus in seinen abgeschnittenen kakifarbenen Cargohosen und dem flaschengrünen Poloshirt, das erstaunlich gut mit seinem olivfarbenen Teint harmonierte. An den Füßen trug er derbe, mit Erde und Dreck verkrustete Arbeitsboots. Und auch der Rest seiner Kleidung war mit Schmutzflecken bedeckt. Er hatte ganz offensichtlich im Garten gearbeitet, vermutlich war er für die Instandhaltung der Parkanlage verantwortlich. Aber auch wenn er hier arbeitete, gab ihm das noch lange nicht das Recht, in diesem Ton mit ihr zu reden!

„Ich …“ Sie atmete tief durch. „Mein Name ist Charlene Beckett. Ich bin hier wegen eines Vorstellungsgesprächs … Señor Santiago erwartet mich.“ Wenn auch noch nicht jetzt, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie den Mann unverwandt ansah.

Der Gärtner zeigte keinerlei Regung. „Und warum gehen Sie dann nicht ins Haus, sondern schnüffeln im Garten herum?“, fragte er unfreundlich.

„Herumschnüffeln? Aber ich …“ Sie kniff die Augen zusammen. Was für ein arroganter … Hielt er sie etwa für eine Einbrecherin? Sie holte tief Luft. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu“, begann sie, und die Festigkeit ihrer Stimme wunderte sie selbst wohl am meisten. „Ich schnüffele nicht. Ich habe lediglich einem kleinen Mädchen geholfen, das dies hier gefunden hat.“ Sie deutete mit dem Kinn auf das am Boden liegende Vogelnest. „Eines der Jungen lebt noch, ist aber verletzt.“ Sie blickte den Unbekannten wieder an. „Also, was stehen Sie tatenlos herum? Holen Sie lieber einen Wagen und bringen mich und das Mädchen zum Tierarzt!“

„Sie haben doch wohl hoffentlich nicht zugelassen, dass Aurora das Tier anfasst, oder?“ Erschrecken malte sich in den Zügen des Mannes. „Wer weiß, was für Krankheiten so ein Vogel überträgt!“

Charlene war fassungslos. Wie grob und gefühllos konnte man sein? „Zu Ihrer Information: Ich kam erst dazu, als die Kleine das Nest bereits gefunden hatte. Und überhaupt – was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ihr erklärt, dass sie das Tier sterben lassen soll, weil es womöglich irgendwelche Krankheiten überträgt?“

„Das wäre jedenfalls vernünftig gewesen“, entgegnete der Mann unbeeindruckt.

Entsetzt schaute Charlene ihn an. „Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein! Ich …“

In diesem Moment trat das Mädchen, eine Pappschachtel unter dem Arm, aus dem Haus und eilte auf sie zu. Als es den Gärtner erblickte, verlangsamte es seine Schritte und überreichte Charlene schüchtern die Schachtel, ehe es sich dem Mann zuwandte. „Das Vögelchen ist krank, Papá. Wir müssen es zum Tierarzt bringen …“

Charlene brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, was sie da gerade gehört hatte. Dann riss sie erschrocken die Augen auf. „Papá?“, stieß sie entgeistert hervor. „Soll das heißen, Sie sind …“

„Javier Santiago, Ihr neuer Arbeitgeber.“ Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. „Das heißt, falls ich es nach Ihrem Auftritt eben überhaupt noch in Erwägung ziehen kann, Sie einzustellen.“

2. KAPITEL

Javier konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Größer hätte der Schock für diese Frau – Charlene Beckett – nicht sein können. Ihr Gesichtsausdruck sprach jedenfalls eine deutliche Sprache. Der offen stehende Mund, die weit aufgerissenen Augen, in denen sich Fassungslosigkeit widerspiegelte, die nun langsam durch Verzweiflung abgelöst wurde … Außerdem – was war das? Bildeten sich da etwa hektische rote Flecken auf ihrem Gesicht?

Zu seinem eigenen Erstaunen machte sie das nicht minder attraktiv. Und attraktiv war sie wirklich, daran konnte kein Zweifel bestehen: Seidiges rotblondes Haar umschmeichelte ein exquisit geformtes Gesicht mit hohen Wangenknochen, fein geschwungenen Lippen und einer schmalen Nase. Lange Wimpern beschatteten die aufregendsten blauvioletten Augen, die er je gesehen hatte. Trotz des wenig schmeichelhaften schwarzen Hosenanzugs, den sie trug, konnte er erkennen, dass sich darunter eine schlanke, wohlgeformte Figur verbarg. Kurz blickte Javier an sich selbst hinunter. Im Gegensatz zu ihr war er eher unpassend gekleidet, wobei dies die Übertreibung des Jahrhunderts darstellte. Aber Jeans, derbe Stiefel und Poloshirt waren auch nicht seine normale Kleidung. Dieses Outfit trug er nur, wenn er draußen im Garten arbeitete.

In Catalinas Garten …

Seufzend dachte er zurück. Als seine Frau und er vor vier Jahren zusammen mit dem Kind in die Villa eingezogen waren, hatte es hier nichts gegeben außer einer ausgedehnten Rasenfläche. Allein Catalinas „grünem Daumen“ war es zu verdanken, dass sich daraus ein kleines Paradies entwickelt hatte, mit blühenden Blumenrabatten, einem schattigen Wäldchen und einem kleinen Kräutergarten, in dem sich Jolanda, die Köchin, gern bediente. Nach Catalinas Tod hatte Javier wie selbstverständlich ihr Werk fortgeführt. Vielleicht war es eine Art von Buße, weil er …

Nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Die Arbeit im Garten war für ihn zu einer Art Ausgleichssport geworden. Andere spielten Tennis oder Golf, Javier beschnitt Rosenstauden oder pflanzte Setzlinge – Tätigkeiten, die ihm wie keine anderen dabei halfen, abzuschalten und einen klaren Kopf zu bekommen.

Und einen klaren Kopf brauchte er im Moment so dringend wie selten zuvor. Denn irgendjemand brachte neuerdings Jachten zu Schleuderpreisen, bei denen ein ehrlicher Unternehmer nicht mithalten konnte, auf den Markt. Und wie es aussah, bediente sich dieser Konkurrent auch noch aus dem Ersatzteillager der Santiago-Werft. Javier fand jedenfalls keine andere Erklärung dafür, dass Bauteile mit Seriennummern, die eigentlich bei ihm auf Lager liegen sollten, in eine Jacht gelangt sein konnten, die er sich über einen Strohmann beschafft hatte.

Seine Recherchen nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass er es nicht schaffte, sich in dem Maß um Aurora zu kümmern, wie es nötig gewesen wäre. Unwillkürlich kam ihm sein Vater in den Sinn. Javier unterdrückte einen Kraftausdruck. Wie oft hatte er sich geschworen, niemals so zu werden wie sein alter Herr. Und? Was war aus dem guten Vorsatz geworden?

Unwirsch verscheuchte Javier die unwillkommenen Gedanken an seinen Vater, den er seit mehr als acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Beziehung zwischen ihnen war vollkommen zerrüttet, ebenso wie die zwischen Miguel Santiago und Javiers jüngeren Brüdern Luís und Alejandro. Sie alle drei wollten nichts mehr mit dem Mann zu tun haben, der ihnen eine Unterschlagung unterstellt hatte. Da machte es auch keinen Unterschied, dass ihm dieser Unsinn von der falschen Schlange eingetrichtert worden war, die vorgegeben hatte, ihre als junges Mädchen verschwundene Schwester Laura zu sein. Miguel Santiago hatte ihr mehr geglaubt als seinen drei Söhnen – und zahlte nun den Preis dafür.

Javier atmete tief durch. Nun, zumindest hatte Charlene Beckett ihn in seinem Aufzug zunächst für einen Gartenarbeiter gehalten. Und die Erkenntnis, dass sie in Wahrheit mit dem Mann redete, der sie zu einem Vorstellungsgespräch erwartete, schien ihr nachhaltig die Sprache verschlagen zu haben.

Jetzt räusperte sie sich angestrengt und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich …“, stammelte sie unbeholfen. „Es tut mir leid, Señor Santiago, ich …“

„Was ist denn jetzt mit dem Vogeljungen?“, fiel Aurora ihr ins Wort. Seine Tochter blickte zu ihm hoch, und Javier stellte fest, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Wir müssen es zum Tierarzt bringen, Papá – schnell!“

Javier runzelte die Stirn. Dann ging er in die Hocke und sah sich das verletzte Tier an. Es zuckte schwach, und allem Anschein nach war der rechte Flügel gebrochen. „Ob man da überhaupt noch etwas tun kann …?“, murmelte er halb zu sich selbst.

Kaum dass ihm die Worte über die Lippen gekommen waren, schalt er sich einen Narren. Wie konnte er nur! Im Grunde hatte er laut gedacht und dabei völlig vergessen, dass das Kind es hörte. Er wollte gerade noch etwas Tröstliches hinzufügen, doch da war es auch schon zu spät.

Seine Tochter brach in Tränen aus, und wie immer, wenn sie weinte, fühlte Javier sich hilflos und überfordert. Er konnte einfach nicht mit Kindern umgehen, dazu fehlten ihm Geduld und Einfühlungsvermögen – eben die Eigenschaften, die Auroras Mutter besessen hatte.

„Aurora, mi corazón, ich …“ Er wollte sie in den Arm nehmen, doch sie schüttelte ihn ab und schmiegte sich stattdessen an Charlene Beckett.

Die ging neben dem Mädchen in die Knie, strich ihm über den dunklen Lockenschopf und lächelte aufmunternd. „Ich bin sicher, dass dein Papá es nicht so gemeint hat, Aurora.“ Sie lächelte mitfühlend. „Du wirst sehen, der Tierarzt findet einen Weg, das Vögelchen wieder gesund zu machen.“

Erstaunt musterte Javier die schöne Engländerin. Für einen Moment war es ihm vorgekommen, als habe er Catalina sprechen hören. Sie hätte sicher etwas ganz Ähnliches zu Aurora gesagt.

Doch als Charlene Beckett sich zu ihm umdrehte, kehrte er wieder in die Realität zurück. „Worauf warten Sie noch?“, fragte sie und bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Widerspruch zuließ. „Holen Sie einen Wagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Die schroff-romantische Küstenlandschaft flog förmlich an ihnen vorüber, als sie sich kurz darauf auf dem Weg zum Tierarzt befanden. Charlene saß neben Javier Santiago auf dem Beifahrersitz seines Sportcabrios, die Schachtel mit dem verletzten Vögelchen auf dem Schoß, und Aurora rutschte unruhig auf der Rückbank des Wagens hin und her.

„Kannst du nicht schneller fahren, Papá?“, fragte die Kleine und versuchte, einen Blick auf ihren Schützling zu erhaschen, doch der Sicherheitsgurt hinderte sie daran.

„Es ist nicht mehr weit“, entgegnete Javier beruhigend. „Und wir wollen doch, dass wir und das Vogelbaby heil ankommen, nicht wahr, mi corazón? Selbst in einer Situation wie dieser darf man keine unnötigen Risiken eingehen und sich selbst und andere damit gefährden, verstehst du?“

Aurora nickte, doch als Charlene sich zu ihr umdrehte, sah sie dem Kind deutlich an, dass die Worte seines Vaters gar nicht zu ihm durchgedrungen waren. Und das war in Charlenes Augen auch kein Wunder. Generell hatte sie zwar nichts dagegen einzuwenden, wenn Eltern ihren Kindern Ratschläge fürs Leben gaben. In diesem speziellen Fall jedoch konnte der Zeitpunkt kaum ungünstiger sein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Sie einen Tierarzt in der Nähe kennen würden“, sagte sie nun an Javier gewandt, um das Thema zu wechseln.

Es war das zweite Mal im Verlauf der letzten halben Stunde, dass sie ihr loses Mundwerk verfluchte. Nicht genug damit, dass sie ihren künftigen Arbeitgeber zuerst für den Gärtner gehalten hatte, nein! Selbst später, als ihr längst aufgegangen war, wen sie vor sich hatte, war sie mit ihm umgesprungen wie mit einem Dienstboten. Was ist bloß in mich gefahren? schoss es ihr durch den Kopf.

Nun, zumindest hatte er sie nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt, sondern auf ihre Anweisung hin tatsächlich umgehend den Wagen geholt. Aber vielleicht hielt er sich auch nur in Gegenwart seiner Tochter zurück, wer konnte das schon sagen?

Charlene musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er trug noch dieselbe Kleidung wie vorhin im Park. Trotzdem fragte sie sich mittlerweile, wie sie ausgerechnet ihn für den Gärtner hatte halten können. Die Aura von Dominanz und Überlegenheit, die er ausstrahlte, passte definitiv nicht zu einem einfachen Arbeiter. Nur im Umgang mit seiner Tochter wirkte er überraschend gehemmt und unbeholfen. So, als sei er nicht daran gewöhnt, das Kind um sich zu haben.

Sie holte tief Luft und schob die seltsamen Gedanken von sich, ehe sie sich in ihrem Kopf einnisten konnten. Wenigstens schien er nicht wütend über ihren Auftritt, doch das mochte täuschen. Manchen Menschen sah man nicht an, ob sie innerlich brodelten. Und nach allem, was sie über Javier Santiago wusste, gehörte er nicht gerade zu den Menschen, die sich eine respektlose Behandlung von einer Angestellten bieten ließen.

Verflixt, Charlene, was hast du nur wieder angerichtet? Wenn du den Job nicht bekommst, gibt es nichts, was du noch für deinen Vater tun kannst …

Sie stieß den Atem aus. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen paar Tagen wunderte sie sich über sich selbst. Die Beziehung zu ihrem Vater war nie sonderlich eng gewesen, im Gegenteil. Ich habe nie auf ihn zählen können, wenn ich ihn brauchte, erinnerte sie sich bitter. Fast immer blieb er bis spät in die Nacht in der Werft und nahm sich dann oft noch Büroarbeit mit nach Hause. Anders als für andere Väter waren für ihn Sonn- und Feiertage kein Anlass gewesen, etwas mit seiner Tochter zu unternehmen. Wie viele Weihnachtsfeste hatte sie allein unter dem Weihnachtsbaum verbracht? Oder schlimmer noch: im Kreise der Familie einer Freundin, wo ihr der enge Zusammenhalt von Eltern und Kindern nur noch deutlicher vor Augen führte, was sie selbst so schmerzlich vermisste.

Sie konnte sich noch an eine Zeit erinnern, bevor ihre Mutter sie verlassen hatte. Eine Zeit, als sie Nachmittage am Strand verbracht und Ausflüge nach Palma unternommen hatten oder auf den Puig Mayor, den höchsten Berg Mallorcas, gewandert waren. Heute erschien ihr diese Zeit manchmal wie ein schöner Traum, denn danach hatte sich ihr Leben radikal verändert …

Zu Anfang, Charlene war gerade fünf geworden, machte es sie furchtbar traurig, dass ihr Vater anscheinend nichts von ihr wissen wollte. Mit allen Mitteln, die einem Kind zur Verfügung standen, versuchte sie, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – vergeblich. Graham Beckett schien in seiner eigenen Welt zu leben, in der er von den Nöten seiner Tochter vollkommen unberührt blieb.

Mit den Jahren schlug ihre Traurigkeit in Wut um. Anstatt ihn für sich interessieren zu wollen, brach sie immer häufiger Streit vom Zaun. Doch auch das rüttelte ihren Vater nicht wach. Schon während ihrer Ausbildung zur Erzieherin, die sie in einem privaten Haushalt absolvierte, wurden die Spannungen zwischen ihnen unerträglich. Kurz nach ihrer Abschlussprüfung kam es dann zum Krach, und Charlene packte ihre Koffer und ging nach England, um sich ein neues Leben aufzubauen. Von Mallorca, wohin ihre Eltern einst ausgewandert waren, um ihren Traum von einer glücklichen Zukunft unter der Sonne Spaniens zu verwirklichen, hatte sie endgültig genug.

Doch in London angekommen, wurde ihr rasch klar, dass auch hier nicht alles Gold war, was glänzte.

Schon ein paar Wochen nach ihrer Ankunft verlor sie ihren Job und musste sich, da sie bei ihren Arbeitgebern auch gewohnt hatte, eine neue Unterkunft suchen. Weil sie auf die Schnelle keine neue Anstellung fand, war sie gezwungen, sich mit Jobs in wechselnden Callcentern über Wasser zu halten. Und leider lief es privat nicht besser als beruflich. Jeder Mann, den sie kennenlernte, stellte sich bei näherem Hinsehen als Niete heraus. Sie geriet an einen verheirateten Familienvater, der ihr versicherte, dass er seine Frau verlassen würde, sobald die Kinder volljährig waren, als sie die Wahrheit über ihn herausfand. Natürlich beendete sie das Ganze, weil es für sie nicht infrage kam, eine Beziehung, intakt oder nicht, zu zerstören. So oder ähnlich ließ sich die lange Liste ihrer Misserfolge fortsetzen. Dennoch – zurückzukehren nach Mallorca, dorthin, wo sie aufgewachsen war, kam für sie nicht infrage. Denn das würde ihren Vater nur darin bestätigen, dass sie es allein zu nichts brachte.

Dann ereilte sie die Nachricht von seinem Unfall. Sein behandelnder Arzt erklärte ihr, dass Graham einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte, der vermutlich auch der Grund war, weshalb ihr Vater das Gleichgewicht verloren hatte, als er gerade auf eine hohe Leiter geklettert war. Ironischerweise wogen die Folgen des Sturzes sehr viel schwerer als die des Infarkts. Für sein Herz bekam Graham Medikamente, doch die Rückenmarksverletzung, die er sich zugezogen hatte, bereitete große Probleme. Hinzu kam, dass er immer wieder unter starken Krampfanfällen litt, die ihm die Rückkehr in sein geregeltes Leben erschwerten.

Als Charlene die schreckliche Nachricht erhielt, gab es für sie kein Überlegen oder Zögern. Sie ließ sich von ihrem Job in England beurlauben und flog Hals über Kopf in ihre Heimat zurück, um ihrem Vater in der Stunde der Not beizustehen. Aber seitdem fühlte sie sich mehr und mehr wie Don Quijote, der gegen Windmühlen ankämpft.

Von allen Seiten drangen neue Probleme und Komplikationen auf sie ein. Da war zum einen die nur sehr schleppend voranschreitende Genesung ihres Vaters, der mit jedem Tag in der Klinik niedergeschlagener und apathischer zu werden schien. Dann stellte sich beim Durcharbeiten der Geschäftsbücher der Werft heraus, dass die Firma, wenn die Dinge sich so weiterentwickelten wie bisher, schon bald vor dem Aus stehen würde. Und zu allem Überfluss weigerte sich schließlich auch noch die Krankenversicherung, für die einzige Therapie aufzukommen, die Graham wirklich helfen konnte – und das nur, weil ein paar Bürokraten der Meinung waren, dass zunächst eine klinische Studie die Wirksamkeit des Verfahrens belegen musste.

Ihr war nicht klar gewesen, auf was sie sich mit ihrer Rückkehr nach Mallorca einließ. Aber eines stand fest: Wenn sie ihrem Vater wirklich helfen wollte, musste sie nicht nur auf der Insel bleiben, nein, sie brauchte auch die Anstellung bei seinem größten Konkurrenten. Denn nur auf diesem Wege gab es für sie überhaupt eine Chance, sowohl Graham zu helfen als auch die Werft zu retten. Aber ob Javier Santiago sie überhaupt noch einstellen würde?

„Träumen Sie?“

Charlene blinzelte irritiert. Sie hatte beinahe vergessen, wo sie war – und vor allem, in wessen Gesellschaft sie sich befand.

Ihr – hoffentlich – zukünftiger Arbeitgeber schien sie von seinem Platz am Steuer des Wagens aus zu mustern, ohne dabei die Straße aus den Augen zu lassen.

„Ich … Es tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken woanders. Ist es noch weit?“

Javier setzte den Blinker und bog von der Küstenstraße in einen schmalen, staubigen Feldweg ein. Er fuhr langsam, damit Aurora auf dem Rücksitz nicht bei jedem Schlagloch hochgeschleudert wurde. Nach wenigen Minuten tauchte ein hübsches, weiß getünchtes Haus vor ihnen auf. Die angrenzenden niedrigen Gebäude deuteten darauf hin, dass es sich um eine kleine Finca handelte, die modernisiert worden war. Den Hof zierte eine große Steineiche, deren dichtes Blattwerk Schatten vor der gleißenden Sonne spendete. Unter dem Baum stand eine Holzbank, auf der es sich eine schwarz-weiße Katze bequem gemacht hatte. Das Tier blickte nicht einmal auf, als Javier mit dem Wagen vorfuhr.

Überhaupt entdeckte Charlene überall Tiere. An eine der ehemaligen Stallungen grenzte ein kleines, von einem Zaun umgebenes Stück Land, auf dem drei prachtvolle Pferde weideten. Mehrere Katzen streunten über den Hof, und ein dreibeiniger Hund brachte sich im Eingang des Gebäudes, das früher einmal der Lagerschuppen gewesen sein mochte, in Sicherheit und betrachtete die Neuankömmlinge mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

Javier parkte das Auto vor der Tür des Haupthauses, dessen Fassade teilweise von wildem Wein überwuchert war. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. „Kommen Sie, ich nehme Ihnen das ab“, sagte er und griff nach der Schachtel mit dem verletzten Vögelchen.

Erstaunt blickte Charlene zu ihm auf. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Jedenfalls nicht, dass er so vorsichtig und behutsam mit dem Tier umgehen würde. Möglich, dass er es nur seiner Tochter zuliebe tat – aber was machte das für einen Unterschied? Dass er überhaupt so sanft und einfühlsam sein konnte, überraschte sie, ganz gleich, was seine Beweggründe sein mochten.

Hastig wandte sie den Blick von ihm ab. Es erschreckte sie, wie rasch es ihm gelang, sie in seinen Bann zu ziehen. Dabei mochte sie ihn doch nicht einmal. Er trug die Schuld daran, dass es ihrem Vater so schlecht ging. Der Herzinfarkt, der Unfall – in ihren Augen alles Folgen von zu viel Stress, verursacht durch den unbarmherzigen Druck, den Javier Santiago permanent auf seinen Konkurrenten ausübte.

Dieser Mann ist kein guter Mensch, rief sie sich in Erinnerung. Vergiss das nie!

Sie stieg aus und wollte ihm die Schachtel wieder abnehmen. Dabei streifte Javiers Hand leicht ihre. Es war kaum mehr als die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Hauchzart. So gut wie gar nicht spürbar. Und doch hatte Charlene ein Gefühl, als ob ein Beben sie durchliefe. Sie sah ihm in die Augen. Es geschah ganz von allein, ohne dass sie es wollte. Sein Blick nahm sie einfach gefangen, und sie spürte, wie ihr die Knie schwach wurden.

Seine Augen waren nicht einfach nur braun, wie sie zuerst angenommen hatte. Nein, sie waren von einem so tiefen, dunklen Grün, dass es fast schwarz wirkte, und sie bemerkte einige goldene Sprenkel darin, von denen im hellen Sonnenschein ein regelrechtes Leuchten auszugehen schien. Unwillkürlich musste Charlene an einen tiefen Wald denken. Grüngoldenes Licht, das durch das Blattwerk flimmerte, erschien vor ihrem inneren Auge, und sie spürte die Magie, die von diesem Ort ihrer Fantasie ausging. Gleichzeitig war da eine Ahnung in ihr, dass irgendwo zwischen den Bäumen Gefahr lauerte.

Gefahr für ihr Herz?

Unsinn!

Trotzdem schaffte sie es nicht, sich von Javier abzuwenden. Einen Moment lang vergaß sie alles um sich her. Die Luft zwischen ihnen schien elektrisch aufgeladen, wie kurz vor einem Gewitter. Charlenes Atem ging schneller. Dieser Mann war Javier Santiago. Der Mann, der ihren Vater zu ruinieren drohte! Wieso sehnte sie sich plötzlich danach, in seinen starken Armen zu liegen und von ihm geküsst zu werden?

„Bitte, können wir jetzt endlich los? Das Vögelchen …“

Auroras ungeduldige Worte holten Charlene abrupt wieder in die Realität zurück. Sie blinzelte heftig. Was war da bloß gerade geschehen? Vermutlich wollte sie die Antwort gar nicht wissen. Nur gut, dass die Kleine sie davon abgehalten hatte, etwas zu tun, was sie später nur bereuen konnte.

„Komm“, sagte sie und nahm das Mädchen bei der Hand. „Gehen wir.“

3. KAPITEL

Die Tierärztin, eine resolute junge Frau in Jeans und Poloshirt, kümmerte sich rührend um das verletzte kleine Vögelchen, obwohl es sich für sie um einen eher ungewöhnlichen Patienten handeln musste.

„So“, sagte sie, als sie knapp eine Stunde später wieder ins Wartezimmer trat. „Das Schlimmste wäre überstanden. Ich habe den verletzten Flügel gerichtet und geschient, den Rest wird die Zeit zeigen. Aber ich denke, unser kleiner Freund hat gute Chancen. Allerdings muss er hierbleiben, damit ich ihn mit der Flasche großziehen kann. Seine Eltern werden ihn, wie ich fürchte, nach allem, was vorgefallen ist, nicht mehr akzeptieren.“

Aurora, die nichts davon hatte abbringen können, auf Nachrichten über das Schicksal ihres Schützlings zu warten, wirkte erschrocken. „Aber … Was hat das Vögelchen denn getan? Warum lässt der liebe Gott so etwas zu?“

Instinktiv spürte Charlene, dass die Kleine nicht allein von dem verletzten Vogeljungen sprach. Das Kind hatte vor Kurzem seine Mutter verloren – und vermutlich quälte es sich mit der Frage, ob ihr Tod eine Strafe für etwas war, das es getan hatte. Da Javier Santiago die Zusammenhänge nicht so schnell zu begreifen schien, übernahm Charlene es, Aurora Trost zuzusprechen.

„Manche Dinge im Leben geschehen ganz einfach, mi corazón. Niemand trägt die Schuld daran – ganz gewiss nicht das Vogelbaby.“ Sie nahm die Hand des Mädchens und drückte sie sanft. „Und was den lieben Gott angeht: Oft fällt es uns schwer zu begreifen, warum er etwas tut oder zulässt. Aber ich glaube fest daran, dass er am Ende immer einen guten Grund für alles hat – ob wir es nun verstehen oder nicht. Also, warum freuen wir uns nicht einfach darüber, dass das Vögelchen bald wieder gesund sein wird? Wer weiß, vielleicht trifft es seine Eltern ja eines Tages wieder, und dann gibt es gewiss eine große Vogelfreudenfeier!“

Offenbar hatte sie genau die richtigen Worte gefunden, denn über das Gesicht der Kleinen ging ein Leuchten, und schließlich lächelte sie. Charlene quoll das Herz über vor lauter Zuneigung zu dem Mädchen. Wie konnte man einem solchen Lächeln widerstehen? Nein, sie konnte partout nicht nachvollziehen, wieso Javier Santiago solche Schwierigkeiten hatte, mit seiner Tochter umzugehen.

Charlene beschloss, ihn später, wenn sie allein waren, darauf anzusprechen. Und zwar ganz gleich, ob sie den Job nach dem Einstellungsgespräch nun bekam oder nicht.

Sicher war sie sich dessen nämlich keineswegs, denn das Verhalten Javier Santiagos ließ leider keine Rückschlüsse zu. Der Mann kam ihr vor wie ein wandelnder Eisklotz. Er sah gut aus, keine Frage, und die Frauen lagen ihm vermutlich zu Füßen. Doch nach allem, was sie bisher über ihn wusste, schien er charakterlich ein echter Schuft zu sein. Wäre der Job bei ihm nicht die einzige Möglichkeit für sie, die Probleme ihres Vaters auf einen Schlag zu lösen …

Den Rückweg zu Santiagos Villa legten sie größtenteils schweigend zurück. Selbst Aurora verhielt sich still, was Charlene für eine Sechsjährige eher ungewöhnlich fand. Aber wer konnte es ihr bei so einem Vater schon verdenken? Er schien die meiste Zeit über vollkommen zu vergessen, dass seine Tochter überhaupt anwesend war!

Unwillkürlich musste sie an ihren eigenen Vater denken. Und an ihre Kindheit.

Graham Beckett hatte sich, nachdem seine Frau gegangen war, vollkommen von der Welt zurückgezogen. Er lebte nur noch für seine Arbeit. Dass auch seine Tochter seelischen Beistand benötigte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Und so hatte Charlene still gelitten, ohne einen Menschen, an den sie sich wenden konnte.

Es machte sie traurig, dass Aurora offenbar dasselbe Schicksal erleiden musste. Und sie schwor sich, dass sie stets ein offenes Ohr für die Kleine haben würde – falls sie eingestellt würde.

Als sie schließlich vor Javier Santiagos Haus vorfuhren, wurden sie bereits erwartet. Es war Auroras leises Seufzen, das Charlene auf die attraktive junge Frau aufmerksam machte, die mit verschränkten Armen in der Auffahrt stand und den sich nähernden Wagen finster musterte.

„Darf ich fragen, wo du gesteckt hast?“, wandte sie sich, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, an Javier, sobald dieser ausstieg. „Du hast mich für drei Uhr zu dir bestellt, damit wir die Verträge für den Goméz-Auftrag noch einmal zusammen durchgehen. Jetzt ist es gleich vier! Und was ist das überhaupt für ein Aufzug?“

Der Ton der Unbekannten war alles andere als freundlich. Zudem schien sie außer Javier niemanden wahrzunehmen. Als ob Aurora und ich gar nicht da wären, dachte Charlene irritiert. Wir könnten uns ebenso gut in Luft auflösen …

Unwillkürlich fragte sie sich, wer die Frau sein mochte. Eine gewöhnliche Sekretärin sicher nicht, denn eine Angestellte würde ihren Chef niemals so maßregeln – schon gar nicht vor einer dritten Person. Charlene hatte aber auch nicht den Eindruck, dass zwischen Javier und der Unbekannten ein besonders enges emotionales Verhältnis bestand. Seine Schwester oder gar seine Freundin war sie demnach ebenfalls nicht. Aber was dann?

Sofern Javier sich am Verhalten der jungen Frau störte, ließ er es sich nicht anmerken. Er schenkte ihr ein süffisantes Lächeln. „Ja, vielen Dank, ich hatte einen sehr angenehmen Nachmittag, Dolores. Zumindest, wenn man voraussetzt, dass ich meine Zeit gerne im Wartezimmer einer Provinztierärztin vertue.“ Der liebenswürdige Klang seiner Stimme passte nicht ganz zu seinem eisigen Blick. „Und wie ist es dir ergangen?“

Die junge Frau – Dolores – begriff offenbar, dass sie zu weit gegangen war, und versuchte, von sich abzulenken. „Und wer sind Sie?“, fragte sie Charlene und fixierte sie kühl.

„Darf ich vorstellen?“, antwortete Javier an Charlenes Stelle. „Das ist Charlene Beckett. Sie kommt von der Agentur, um sich als neues Kindermädchen für Aurora vorzustellen.“

„Dann ist das also dein neues Outfit für Bewerbungsgespräche?“, konnte Dolores sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen, während sie Javier kopfschüttelnd musterte. Doch sein Stirnrunzeln brachte sie rasch wieder zur Räson.

„Treib es nicht zu weit, Dolores“, warnte er sie. „Du weißt, dass ich mich dir um Carlos’ willen verpflichtet fühle – aber halt dich in Gottes Namen ein wenig zurück, haben wir uns verstanden?“ Als Dolores mit gesenktem Blick nickte, wandte er sich Charlene zu. „Und nun zu Ihnen … Was soll ich mit Ihnen anfangen?“

Charlene spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte und gleich darauf anfing, gegen ihre Rippen zu trommeln. Sie hatte die ganze Zeit nicht mehr daran gedacht, warum sie eigentlich hier war. Nun holte die Realität sie ein – und zwar mit der Wucht eines Vorschlaghammers.

„Ich … Wir haben uns noch gar nicht unterhalten. Wollen wir nicht …?“

Er winkte ab. „Das wird nicht nötig sein, Señorita Beckett. Was ich gesehen habe, reicht mir eigentlich schon. Ich glaube nicht, dass wir zusammenkommen werden. Es tut mir leid, ich …“

„Papá, no!“

Auroras empörter Aufschrei kam für alle so überraschend, dass sich unwillkürlich alle Blicke auf sie richteten.

„Was hast du, mi corazón?“, fragte Javier irritiert.

„Ich will nicht, dass die Señorita geht!“, flüsterte das Kind mit gesenktem Blick. „Bitte, Papá, kann sie nicht bleiben?“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es war Dolores, die die Stille durchbrach. „Willst du dir wirklich von einer Sechsjährigen sagen lassen, wen du einstellst und wen nicht? Ich bitte dich, Javier!“

Er bedachte sie mit einem kühlen Blick. „Und auf wen sollte ich dann hören? Auf dich vielleicht?“

Säuerlich verzog Dolores das Gesicht und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Javier ging neben seiner Tochter in die Hocke. „Du möchtest also, dass die Señorita dein neues Kindermädchen wird?“ Als Aurora eifrig nickte, lächelte er. „Herzlichen Glückwunsch.“ Er blickte über die Schulter zu Charlene hoch. „Sie haben soeben den Zuschlag für die Stelle erhalten. Wann können Sie anfangen?“

„Findest du wirklich, dass es eine gute Idee war, diese Frau einzustellen?“ Dolores sah Javier kopfschüttelnd an.

Verständnislos erwiderte Javier ihren Blick. Seit Stunden saß er nun in seinem Arbeitszimmer und brütete über komplizierten Geschäftsunterlagen. „Sonst hätte ich es nicht getan, oder?“, erwiderte er. „Zu deiner Information: Die Arbeitsagentur hat mir Charlene Beckett nicht nur empfohlen, sondern mir wärmstens ans Herz gelegt. Ihre Referenzen sind ausgezeichnet, und das Wichtigste ist, dass sie mit Kindern umgehen kann. Und vor allem scheint sie das erste Kindermädchen zu sein, mit dem Aurora auskommen könnte.“

„Trotzdem war ich überrascht zu sehen, wie du dich von dieser Engländerin hast einwickeln lassen. So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich habe mich nicht einwickeln lassen!“, protestierte Javier aufgebracht, obwohl ihm selbst klar war, dass dies keineswegs der Wahrheit entsprach. Im Grunde hatte Dolores durchaus recht. Er wunderte sich selbst immer noch darüber, welch starke Wirkung Charlene auf ihn ausübte. Ein Blick aus diesen erstaunlichen veilchenfarbenen Augen, und er verspürte das drängende Verlangen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Das war auch der Grund, warum er sie erst gar nicht hatte einstellen wollen. Er konnte keine Frau in seiner Nähe brauchen, die sein Leben noch komplizierter machte, als es bereits war – erst recht nicht, wenn diese Frau zusammen mit Aurora und ihm unter einem Dach leben würde. „Aber ich brauche dir sicher nicht zu sagen, welche Probleme ich seit Catalinas Tod mit meiner Tochter habe. Kein Kindermädchen hat es seither geschafft, Auroras Vertrauen zu gewinnen, und Charlene … Señorita Beckett ist wirklich meine letzte Hoffnung. Sollte auch das nicht funktionieren“, er machte eine resignierte Handbewegung und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, „wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als Aurora nach den Sommerferien auf ein Internat zu schicken.“

„Was, wie ich anmerken möchte, gar nicht mal so verkehrt wäre. Ein Internat hat enorme Vorteile. Dort lernt man viele Dinge, die fürs Leben wichtig sind, wie Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen. Ich muss es schließlich wissen, immerhin habe ich selbst die Vorzüge einer solchen Einrichtung genießen dürfen.“

Javier runzelte die Stirn. Er für seinen Teil war kein großer Freund von Internaten, und er befürchtete, dass es Aurora schwerfallen würde, sich in einer fremden Umgebung einzugewöhnen. Doch was sollte er tun? Er hatte eine Firma zu leiten. Es war schlichtweg unmöglich, dass er sich den ganzen Tag persönlich um seine Tochter kümmerte.

„Wie dem auch sei“, erwiderte er ausweichend. „Ich habe das Gefühl, dass Aurora Vertrauen zu Señorita Beckett gefasst hat, und wie es weitergeht, wird die Zeit zeigen. Jedenfalls bleibt es dabei, dass Señorita Beckett morgen bei uns anfangen wird. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe noch zu tun. Du kannst selbstverständlich Feierabend machen, schließlich ist es schon spät.“

„Ich werde im Gästezimmer übernachten, wenn du nichts dagegen hast“, entgegnete Dolores, während sie ihre Unterlagen zusammenpackte. „Dann können wir morgen in aller Frühe mit der Arbeit fortfahren.“

„Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass du nicht nach Hause fährst. Was sagt Felipe eigentlich dazu?“

„Nichts“, entgegnete Dolores scheinbar ungerührt. „Er hat auch nichts dazu zu sagen, Javier. Wir … Wir haben uns getrennt.“

„Es tut mir leid, das zu hören.“

„Muss es nicht.“ Dolores’ Lächeln wirkte aufgesetzt. „Das mit Felipe und mir hat einfach nicht mehr funktioniert, und ich hielt es für besser, einen Schlussstrich zu ziehen. Auf diese Weise kann ich mich auch endlich wieder ganz auf unsere gemeinsame Arbeit konzentrieren.“

Sie klemmte sich eine Aktenmappe unter den Arm und nickte Javier noch einmal zu. „Ich lasse dich dann jetzt allein. Die Unterlagen nehme ich mit, in Ordnung? Eine kleine Bettlektüre, du verstehst schon.“

Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, widmete Javier sich wieder seinen Geschäftspapieren, über denen er nun schon seit Stunden brütete. Doch sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm einfach nicht, sich auf das zu konzentrieren, das für gewöhnlich den größten Raum in seinem Leben einnahm: seine Arbeit. Und dabei war absolute Konzentration gerade in der momentanen Lage so dringend gefragt. Es erschien ihm nach wie vor unglaublich, dass es tatsächlich jemand wagte, ihm das Wasser abgraben zu wollen. In den vergangenen Jahren hatte er eine Menge Geld und Arbeit in die Vergrößerung und Modernisierung der Werft gesteckt, die er nach dem Bruch mit seinem Vater gekauft hatte. Der Erfolg gab ihm recht. Nachdem die Geschäfte zunächst schleppend angelaufen waren, hatte er es geschafft, sich in der Branche einen Namen zu machen. Santiago Barco y Yate de Yard stand für Qualität und ein ausgewogenes Verhältnis von Preis und Leistung. Inzwischen gab es auf der Insel eigentlich keine andere Werft mehr, die ihm ernsthaft Konkurrenz machen konnte.

Und ausgerechnet jetzt, wo alles so gut lief, kamen die Schwierigkeiten. Es gab einen neuen Konkurrenten, der offenbar gestohlene Bauteile aus Javiers Lager verwendete, um Boote zu Dumpingpreisen zu fertigen. Bisher war es ihm nicht gelungen, den Drahtzieher ausfindig zu machen, doch er würde nicht aufgeben. Und wenn er den Verantwortlichen erst einmal identifiziert hatte, dann würde der Betreffende sein blaues Wunder erleben.

Es gab also eigentlich genug, über das Javier Anlass hatte, sich den Kopf zu zerbrechen. Aber er konnte machen, was er wollte, immer wieder schweiften seine Gedanken in eine andere Richtung ab.

Zu einer bestimmten Person, um genau zu sein.

Charlene Beckett.

Auch jetzt wieder. Es war wie verhext. Sobald er versuchte, sich mit seiner Arbeit zu beschäftigen, tauchte ihr Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Sie konnte zwar nicht als klassische Schönheit gelten, was jedoch nicht bedeutete, dass sie nicht trotzdem unglaublich attraktiv war. Vor allem das ungewöhnliche Blauviolett ihrer Augen hatte es ihm angetan. Ihr Blick war sanft und klar – ehrlich und voller Unschuld. Auf ihn wirkte sie wie eine Wassernymphe, bezaubernd und ätherisch. Er konnte sie förmlich vor sich sehen: auf dem gemauerten Rand eines Brunnens sitzend und ihr herrliches rotblondes Haar kämmend …

Das Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Es handelte sich um einen internen Anruf aus einem der Gästezimmer. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren, dann nahm er den Hörer ab.

„Sí?“

„Ich bin es noch mal“, erklang Dolores’ Stimme am anderen Ende der Leitung. „Mir ist da eben etwas eingefallen.“

„Und was?“

„Nun, mir kam der Name Beckett die ganze Zeit irgendwie bekannt vor. Dann fiel der Groschen. Und ein paar kurze Anrufe haben es mir bestätigt.“

Javier begriff nicht, worauf sie hinauswollte. „Was bestätigt? Wovon redest du?“

„Davon, dass deine neue Angestellte niemand anderes ist als die Tochter von Graham Beckett – du weißt schon, von Beckett’s Dockyard.“

Er runzelte die Stirn. „Und? Das eine muss ja nichts mit dem anderen zu tun haben, oder? Charlene Beckett ist ausgebildete Erzieherin, das ist alles, was mich interessiert.“

„Und was ist, wenn ihr Vater derjenige ist, der dir solche Schwierigkeiten macht? Ich habe mich erkundigt, Javier. Beckett hat in den vergangenen Monaten gerade einmal eine Bestellung erhalten und ausgeführt. Rein wirtschaftlich betrachtet müsste er bei der Auftragslage längst bankrott sein – es sei denn …“

„Du willst andeuten, dass er der kriminelle Geschäftemacher sein könnte?“ Javier runzelte die Stirn. „Aber wie soll er an die Bauteile aus unserem Bestand gekommen sein? Und was hat das alles mit Charlene zu tun?“

„Ich habe keine Ahnung, wer sich im Lager bedient hat. Aber was unsere Señorita Beckett betrifft, so liegen ihre Absichten ja wohl auf der Hand: Sie hat sich bei dir eingeschleust, um für ihren Vater zu spionieren – was sonst?“

„Meinst du nicht, da geht deine Fantasie ein wenig mit dir durch? Ich glaube jedenfalls nicht … Ach, lassen wir das. Ich habe noch zu tun.“ Javier beendete das Gespräch, lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und rieb sich nachdenklich übers Kinn. Es war etwas dran an dem, was Dolores sagte. Bei genauerer Betrachtung erschien es auch ihm verdächtig, dass Charlene Beckett sich ausgerechnet für eine Anstellung bei ihm beworben hatte. War sie also tatsächlich eine Spionin? Und ihr Interesse für Aurora nur vorgetäuscht?

Nun, er würde es herausfinden. Und eines stand fest: Sollte sich bestätigen, dass sich Charlene Beckett mit Hintergedanken in sein Haus geschlichen hatte, würde sie es bitter bereuen, sich mit ihm angelegt zu haben.

Javier Santiago war kein Mann, der sich von einer Frau auf der Nase herumtanzen ließ!

4. KAPITEL

„Nun sitz doch endlich mal still, Kind! Dieses ewige Hin- und Herkippeln macht einen ja ganz verrückt!“ Als sie Dolores’ fauchende Stimme hörte, blieb Charlene wie angewurzelt vor der Tür zum Esszimmer stehen. Sie war am vergangenen Nachmittag kurz nach Hause gefahren, um ihre Sachen zu packen, danach hatte sie ihren Vater im Krankenhaus besucht und ihm berichtet, dass die Finanzierung seiner weiteren Behandlung gesichert war, weil sie eine Anstellung gefunden hatte. Bei wem, hatte sie allerdings lieber verschwiegen. Graham Beckett wäre nicht begeistert gewesen zu erfahren, dass seine Tochter ausgerechnet bei seinem größten Konkurrenten arbeitete. Gegen Abend war sie wieder zur Villa ihres neuen Arbeitgebers gefahren, wo die Hausangestellte Jolanda sie freundlich in Empfang genommen hatte.

Der Gedanke, dass sie für Javier Santiago arbeiten würde, hatte auch Charlene eine unruhige Nacht beschert, und die ungewohnte Umgebung tat ein Übriges. Dabei war das Gästezimmer, in dem sie fürs Erste wohnte, wirklich ein Traum. Es hatte sogar einen Balkon mit Meerblick, und Jolanda las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

Doch das waren im Grunde nur Nebensächlichkeiten, denn vor allen Dingen ging es Charlene darum, Javier Santiagos Tochter zu helfen. Das Mädchen erinnerte sie an sich selbst in diesem Alter. Und wenn es ihr irgendwie möglich war, wollte sie dafür sorgen, dass die Kleine nicht dasselbe traurige Schicksal erleiden musste wie sie selbst.

Die Sechsjährige und Dolores saßen allein am Tisch, als Charlene das Esszimmer betrat. Javier hatte vermutlich bereits gefrühstückt oder er würde später kommen – jedenfalls schien Dolores sich absolut sicher zu fühlen.

Ganz im Gegensatz zu Aurora. Die Kleine war förmlich erstarrt. Stocksteif saß sie an ihrem Platz und starrte auf das mit Marmelade bestrichene Brötchen, das auf ihrem Teller lag. Es war nicht zu übersehen, dass sich Aurora vor der Assistentin ihres Vaters fürchtete. Kein Wunder, bei dem rüden Tonfall, den Dolores dem Mädchen gegenüber an den Tag legte. Doch irgendwie schaffte Aurora es, ihre Furcht zu überwinden. „Du hast mir gar nichts zu sagen“, entgegnete sie – wenn auch so leise, dass man ganz genau hinhören musste, um sie zu verstehen. „Du bist nicht meine Mamá!“

Dolores war sichtlich erstaunt über das kurze Aufflackern von Widerstand – doch von Reue keine Spur. Im Gegenteil. Sie lachte sogar. „Nein, por dio, zum Glück bin ich das nicht! Auf der anderen Seite: Als meine Tochter hättest du wenigstens eine anständige Erziehung genossen!“

Charlene hatte genug gehört. Dolores’ Verhalten war ihr von Anfang an unverschämt vorgekommen. Die letzte Bemerkung aber schlug dem Fass den Boden aus. Es überraschte sie nun nicht mehr, dass Aurora so still und verschlossen war. Und eines stand fest: Sie würde nicht zulassen, dass es auf diese Weise weiterging. Tief durchatmend wappnete sie sich für eine Konfrontation, dann räusperte sie sich vernehmlich.

Dolores wirbelte herum. Im ersten Augenblick wirkte sie wie ertappt, doch nachdem die erste Schrecksekunde vorüber war, reckte sie herausfordernd das Kinn. Du kannst mir nichts, sagte ihre hochmütige Miene. Versuch es ruhig, aber gegen mich kommst du nicht an.

Charlene straffte die Schultern. Das werden wir ja sehen … Sie wandte sich ruhig an Aurora, die nach wie vor mit gesenktem Blick am Tisch saß und auf ihren Teller starrte. „Würdest du bitte einen Moment draußen warten, Süße? Señorita Dolores und ich haben etwas Dringendes zu besprechen.“

Das Mädchen nickte stumm, stand auf und ging zur Tür. Um Dolores machte es einen großen Bogen.

„Weiß Señor Santiago, wie Sie mit seiner Tochter umspringen?“ Charlene sprach leise, aber ihr Ton war entschlossen. „Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er ein solches Verhalten billigen würde.“

„Sie kennen Ihren neuen Boss noch nicht gut genug“, entgegnete Dolores scheinbar gelassen. „Ihm ist sehr bewusst, was er an mir hat. Bemühen Sie sich also gar nicht erst, ihn gegen mich aufzubringen, wenn Ihnen Ihr Job lieb ist. Sie können mir glauben, sollten Sie auch nur erwägen, mich bei ihm anzuschwärzen, werden Sie …“

Sie verstummte abrupt, und als hätte sie es angeknipst, erschien ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Verblüfft beobachtete Charlene die Veränderung, und im nächsten Moment erkannte sie auch den Grund dafür: Javier hatte den Raum betreten.

„Was geht hier vor?“ Javier hielt die noch immer völlig verunsicherte Aurora an der Hand und sah auffordernd zwischen Dolores und Charlene hin und her. „Also? Kann mich vielleicht einmal jemand aufklären?“

„Es ist nichts“, setzte seine Assistentin gerade zu einer Erwiderung an, als Charlene sich einschaltete.

„Könnte ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“

Javier nickte. „, natürlich. Kommen Sie.“

Charlene ignorierte den drohenden Blick, den Dolores ihr zuschoss, und folgte Javier hinaus auf den Korridor. „Also, was ist dort drinnen gerade vorgefallen? Und keine Ausflüchte, bitte. Aurora ist vollkommen durcheinander, das war deutlich zu erkennen.“

„Ist Ihnen bekannt, wie Ihre Angestellte mit Ihrer Tochter umgeht?“

„Dolores?“ Überrascht runzelte Javier die Stirn. „Nun, sie mag manchmal vielleicht ein bisschen übereifrig sein, da ihr die Erfahrung mit Kindern fehlt. Aber ich glaube, dass sie sich sehr um Auroras Zuneigung bemüht.“

„Ich dachte mir bereits, dass Sie etwas in der Art sagen würden“, entgegnete Charlene mit einem wissenden Nicken. „Und wenn Sie in der Nähe sind, verhält sie sich vermutlich auch so. Aber Sie sollten wissen, dass die Dinge etwas anders liegen, wenn Señorita Dolores mit Ihrer Tochter allein ist.“

Eine steile Falte erschien an seiner Nasenwurzel. „Das bedeutet im Klartext?“

Charlene zögerte kurz. Vermutlich machte sie sich, wenn sie Javier die Augen öffnete, gleich an ihrem ersten Arbeitstag eine erbitterte Feindin. Aber sei’s drum, dachte sie bei sich. Ich bin nicht hier, um vor seiner Assistentin zu buckeln, sondern um mich um ein sechsjähriges Mädchen zu kümmern, das jede Hilfe braucht, die es bekommen kann.

„Gerade eben habe ich eine unschöne Szene zwischen ihr und der Kleinen miterlebt“, berichtete sie daher. „Zuerst hat sie Aurora auf eine ziemlich rüde Art zurechtgewiesen, und als Ihre Tochter dann verständlicherweise protestierte, kritisierte Señorita Dolores auf höchst unsensible Art und Weise die Erziehungsmethoden Ihrer verstorbenen Frau.“

Das reichte Javier nicht. „Was genau hat sie gesagt?“, verlangte er zu erfahren. Seine Miene war wie versteinert. Charlene vermochte ihr nicht zu entnehmen, was gerade in ihm vorging.

„Fragen Sie sie selbst, ich …“

„Ich habe Sie gefragt, Señorita.“

Charlene atmete tief durch, ehe sie antwortete: „Also schön, wenn Sie es unbedingt hören wollen: Sie betonte, wie froh sie darüber sei, dass sie nicht Auroras Mutter ist.“

„Und was noch?“

„Sie erwähnte außerdem, dass sie als Mutter für eine bessere Erziehung Ihrer Tochter gesorgt hätte.“

Javier fluchte unterdrückt. „Espere! – Warten Sie.“ Er ging zurück ins Esszimmer und kehrte kurz darauf mit Dolores zurück.

„Ist es wahr, was ich gerade erfahren musste, Dolores?“ Er fasste kurz zusammen, was Charlene gesagt hatte. Als seine Assistentin nicht antwortete, schüttelte er den Kopf. „Dein Schweigen darf ich wohl als Eingeständnis werten. Was ist bloß in dich gefahren? Ich dachte, du magst Aurora, aber offensichtlich wolltest du nur …“

„No!“, fiel Dolores ihm entsetzt ins Wort. Ihre Augen schwammen plötzlich in Tränen, und Charlene fragte sich, ob sie echt waren oder ob die Assistentin Krokodilstränen weinte, um Javier zu besänftigen. „Es tut mir leid, ich weiß, es war ein Fehler, so zu reagieren. Ich empfand Auroras Verhalten als provozierend und habe die Beherrschung verloren. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich dir!“

Javier musterte sie nachdenklich. Er wirkte unentschieden, aber schließlich nickte er. „Also schön, ich will dir glauben. Aber sei gewarnt: Wenn mir jemals wieder Klagen in dieser Richtung zu Ohren kommen … Und nun wünsche ich, dass du dich bei Aurora entschuldigst.“

Er bedeutete Dolores und Charlene, ihm zu folgen, und betrat das Speisezimmer, in dem seine Tochter wartete. Das Kind wirkte noch immer verschüchtert und blickte seinen Vater zaghaft an, als er vor ihm in die Hocke ging. „Dolores möchte dir etwas sagen, mi corazón.“ Auffordernd sah Javier zu seiner Assistentin hin. „So ist es doch, nicht wahr?“

Der attraktiven Spanierin war deutlich anzusehen, wie sehr sie sich überwinden musste. Doch dann senkte sie den Blick und murmelte: „Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Aurora. Das, was ich gesagt habe … Es tut mir leid …“

Aurora starrte ihren Vater aus großen Augen an. Offenbar war sie es nicht gewöhnt, dass er für sie Partei ergriff.

Etwas, das wir definitiv ändern müssen …

„Also? Sind Sie nun zufrieden, Charlene?“ Javier richtete sich auf.

„Noch nicht ganz“, ergriff Charlene die Gelegenheit beim Schopf. „Ich finde nämlich außerdem, dass Sie Ihrer Tochter viel zu wenig Zeit widmen, Señor Santiago. Es ist kein Wunder, dass das Kind es unter diesen Umständen nicht wagt, sich Ihnen anzuvertrauen.“

Völlig perplex starrte Javier sie an. „Was sagen Sie da?“

„Sie haben richtig gehört.“ Charlene wunderte sich über sich selbst. Normalerweise verhielt sie sich Vorgesetzten gegenüber eher kleinlaut, und sobald es einmal eine Situation gab, in der sie eine andere Meinung vertrat als ihr Gegenüber, wurde sie nervös und wagte es nicht, Widerworte zu geben. Und jetzt? Nichts von alledem! Kein nervöser Schweißausbruch, keine Hitze, die ihr in die Wangen stieg, nichts. Wahrscheinlich lag es daran, dass Auroras Situation sie allzu sehr an die zwischen ihr selbst und ihrem Vater erinnerte. Was damals vorgefallen war, ließ sich nicht mehr ändern. Aber für Aurora konnte sie etwas tun. Und wenn Javier Santiago nicht von allein begriff, wie sehr er der Kleinen mit seiner Nichtbeachtung und seiner Ignoranz schadete, dann musste sie in ihrer Eigenschaft als Kindermädchen ihn eben in die richtige Richtung lenken, so einfach war das. Sie reckte das Kinn. „Ich schlage vor, dass Sie heute Vormittag einmal all Ihre Termine verschieben und einen gemeinsamen Ausflug mit uns machen, Señor. Für das Glück Ihrer Tochter ist das doch wohl kaum zu viel verlangt, oder?“

Aurora sprang auf – ihre Augen strahlten hoffnungsvoll. „Oh ja, Papá, bitte!“

Die Miene ihres Vaters blieb einen Augenblick lang unergründlich, und Charlene begann zu fürchten, dass sie es zu weit getrieben hatte.

Doch dann huschte ein feines Lächeln über seine Züge. „Also schön“, sagte er. „Aber nur unter der Bedingung, dass Sie endlich aufhören, mich Señor Santiago zu nennen, verstanden? Mein Name ist Javier.“

„Wo fahren wir denn hin, Papá?“, fragte Aurora nun schon zum fünften Mal, seit sie vor etwas mehr als einer halben Stunde aufgebrochen waren. Javier saß am Steuer seines Wagens, Charlene zusammen mit seiner Tochter auf dem Rücksitz.

„Das soll eine Überraschung werden, mi corazón.“ Javier lächelte nachsichtig. „Ein bisschen Geduld noch – in ein paar Minuten sind wir da.“

Er sah in den Rückspiegel, und sein Blick fiel auf Charlene. Diese Frau irritierte ihn. Aber wie sollte er auch jemanden einschätzen, der sich in einem Moment scheu wie ein Reh und im nächsten wild und kämpferisch wie eine Raubkatze verhielt? So etwas hatte er noch nie erlebt – und er bildete sich ein, über eine recht gute Menschenkenntnis zu verfügen.

Von den Kindermädchen, die nach Catalinas Tod bei ihnen ein und aus gegangen waren, hatte jedenfalls keines seine Meinung so deutlich und undiplomatisch kundgetan wie die junge Engländerin – schon gar nicht am ersten Arbeitstag. Und Javier konnte sich noch immer nicht so recht entscheiden, ob er sie für ihren Mut bewundern oder für ihre Unverschämtheit besser vor die Tür setzen sollte.

Eines allerdings stand fest: Aurora tat die Anwesenheit von Charlene Beckett erstaunlich gut. Er brauchte nur hinzuhören, um das zu erkennen. Die beiden unterhielten sich angeregt, und einmal hörte er seine Tochter sogar entzückt kichern – etwas, das sie seit einiger Zeit kaum noch tat und das er, wenn er ehrlich war, vermisste. Daran, dass Charlene mit Kindern umgehen konnte, bestand also kein Zweifel.

Wie ein typisches Kindermädchen kam sie ihm trotzdem nicht vor.

Ob Dolores vielleicht doch recht hatte mit ihrer Vermutung, dass Charlene von ihrem Vater geschickt worden war, um Geschäftsgeheimnisse der Konkurrenz auszuspionieren?

Er kannte Graham Beckett nicht persönlich, wusste aber, dass der Bootsbauer, dessen Firma ihren Sitz auf der anderen Seite der Insel hatte, nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war. Über die Gründe konnte er nur mutmaßen. Sicher, Beckett hatte einige Kunden an ihn verloren, weil Javier schlicht und einfach dieselbe Qualität zu günstigeren Konditionen anbot. Doch das allein erklärte noch nicht den unversöhnlichen Hass, mit dem der Engländer ihm begegnete. Immer wieder kam Javier zu Ohren, dass Graham Beckett infame Gerüchte über ihn in Umlauf brachte – wohl vor allem in der Hoffnung, seiner eigenen Firma auf dem mallorquinischen Markt einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.

Becketts Pech, dass die meisten Kunden Javiers sehr wohl einschätzen konnten, dass es sich nur um die üble Nachrede eines missgünstigen Konkurrenten handelte. Somit waren Becketts Bemühungen bislang nicht von Erfolg gekrönt worden.

Doch wenn Dolores’ Theorie zutraf, hatte der Mann sich neuerdings auf eine andere Strategie verlegt und versuchte Javier aus dem Geschäft zu drängen, indem er Boote zu Dumpingpreisen anbot; Boote, bei deren Fertigung Teile eingesetzt wurden, die jemand aus dem Warenlager von Santiago Barco y Yate de Yard entwendet hatte.

Javier runzelte die Stirn. Irgendwie erschien es ihm nur schwer vorstellbar, dass eine Frau wie Charlene sich für solche Hinterhältigkeiten einspannen ließ – nicht einmal von ihrem Vater. Auf der anderen Seite musste er einräumen, dass es sich um einen unglaublichen Zufall handelte, wenn ausgerechnet die Tochter von Graham Beckett sich ohne jegliche Hintergedanken um eine Stelle als Kindermädchen in seinem Haus beworben haben sollte. War das überhaupt möglich, oder entsprang jeder Versuch, eine plausible Erklärung für ihr Verhalten zu finden, bloß Javiers Wunschdenken? Denn er wollte nicht, dass Aurora schon wieder einen Menschen verlor, zu dem sie Vertrauen gefasst hatte. Schlimm genug, dass es ihm selbst im Moment nicht möglich zu sein schien, Zugang zu ihr zu finden. Aber nach Catalinas Tod …

„Wie weit ist es denn noch?“ Auroras ungeduldige Frage riss ihn aus seinen Gedanken. „Du hast doch eben gesagt, wir sind gleich da.“

Javier lachte. „Keine Sorge, mi corazón, jetzt ist es wirklich nicht mehr weit. Nur ein paar Minuten noch.“

Er schaltete einen Gang herunter und lenkte den Wagen durch die nächste Kurve. Dabei lächelte er. Zumindest die kommenden paar Stunden wollte er über nichts Berufliches mehr nachdenken.

Dieser Nachmittag sollte Aurora und ihm gehören.

Überrascht blickte Charlene sich um. So weit das Auge reichte, sah sie nur Felder, Wiesen und kleine Steineichenwäldchen. Es war ein hübsches, eher landwirtschaftlich geprägtes Gebiet, wie es sie im Landesinneren von Mallorca häufig gab. War dem großen Javier Santiago wirklich kein besseres Ziel für einen gemeinsamen Ausflug mit seiner Tochter eingefallen? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er so fantasielos sein sollte.

Als sie wenige Minuten später Auroras begeisterten Jubelschrei vernahm, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Kurz drauf entdeckte auch sie den Wegweiser am Straßenrand, auf dem stand: Zoo Natura Parc.

Charlene lächelte zufrieden. Wenn das kein guter Anfang war … Sie selbst hatte ihre gesamte Kindheit auf Mallorca verbracht, ohne je einen der Zoos auf der Insel zu besuchen. Ihr Vater war immer viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass seine kleine Tochter sich womöglich über einen solchen Ausflug gefreut hätte. Vielleicht waren ihm ihre Gefühle aber auch gleichgültig gewesen.

Wenn sie an all die verpassten Gelegenheiten dachte, wurde ihr jedes Mal aufs Neue schwer ums Herz. Schulfeiern, zu denen Graham Beckett nicht erschienen war, obwohl er es ihr versprochen hatte. Sportveranstaltungen, Kindergeburtstage, Weihnachtsfeste … Die Liste ließ sich endlos fortsetzen, aber am schlimmsten hatte sie darunter gelitten, dass ihr Vater gar nicht zu realisieren schien, wie weh er ihr damit tat. Heute, mit ein wenig Abstand, verstand sie seine Beweggründe besser, was aber nicht bedeutete, dass sie sie gutheißen konnte. Er hatte einfach nie verwunden, dass er von seiner Frau, Charlenes Mutter, verlassen worden war. Um sich abzulenken, hatte er sich in seine Arbeit gestürzt und nichts anderes mehr an sich herankommen lassen. Auch nicht seine Tochter, die ihn nur zusätzlich an all das erinnerte, was er verloren hatte.

Charlene wollte nicht, dass Aurora dasselbe durchmachen musste. Das Kind sollte den Schmerz und die Zurückweisung nicht erfahren, die im schlimmsten Fall dazu führten, dass Liebe in Hass umschlug. Denn genau das hatte Charlene erlebt. Und sie wusste heute, dass ihr Weggang aus Mallorca die einzige Chance für Graham und sie gewesen war. Nur so hatte sie den erforderlichen Abstand gewonnen, um die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können.

Papá, Papá, schauen wir uns die Zebras an? Und auch die Affen?“

Javier brachte den Wagen auf einem kleinen, staubigen Parkplatz zum Stehen und lächelte. Charlene sah es nur im Rückspiegel, doch es reichte aus, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen.

Sie atmete tief durch. Gib acht, dass du dich nicht immer wieder so von ihm aus dem Konzept bringen lässt, mahnte sie sich. Er war ihr Boss, und außerdem der Mann, der ihren Vater in den Ruin zu treiben drohte. Sie beide verband auf dieser Welt nur eine Gemeinsamkeit: die Sorge um das Wohl der kleinen Aurora. Und das war auch das Einzige, was sie interessieren sollte. Nicht sein Lächeln, nicht die kleinen Grübchen, die sich dabei auf seinen Wangen bildeten. Und schon gar nicht das Spiel seiner Oberarmmuskeln, die sich unter seinem eng anliegenden Poloshirt abzeichneten, als er aus dem Wagen stieg.

Hör auf damit, Charlene Beckett! Sofort!

„… ist augenblicklich nicht zu erreichen – bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt wie…“

Fluchend schob Dolores ihr Mobiltelefon zurück in die Tasche. Sie hatte versucht, Javier anzurufen, doch anscheinend war sein Handy abgeschaltet. Das tat er sonst nie, da er in dringenden Firmenangelegenheiten immer erreichbar sein wollte.

Vermutlich war auch dies dem schlechten Einfluss der Engländerin zu verdanken, die Javier als Kindermädchen für Aurora eingestellt hatte. Sie war Dolores vom ersten Moment an ein Dorn im Auge gewesen. Nicht nur, dass sie ein unverschämtes Auftreten hatte und es an Respekt fehlen ließ – es war vor allem die Art und Weise, wie Javier sie anschaute, die Dolores Sorge bereitete.

Seit Catalinas Tod vor anderthalb Jahren hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Doch auch davor war Javier im Grunde genommen vorrangig mit seiner Firma verheiratet gewesen. Seine Tochter hatte er oft wochenlang nicht gesehen, da er bis spät in die Nacht hinein arbeitete und früh am Morgen bereits wieder in der Werft war. Über die Jahre war Catalina immer blasser und unglücklicher geworden. Sie hatte Dolores an eine Pflanze erinnert, der das Sonnenlicht fehlte. Die Nachricht von der schweren Erkrankung der Frau ihres Chefs war nicht sonderlich überraschend für sie gekommen. Ein Mensch, der immerzu traurig war, konnte nur krank werden.

Schon damals hatte Dolores beschlossen, dass sie Catalinas Nachfolgerin sein würde. Ihre Gründe dafür lagen klar auf der Hand: Javier war reich – und großzügig. Wenn sie erst mit ihm verheiratet war, lag ein Leben im Luxus vor ihr. Mehr wollte sie nicht. An so etwas wie der viel beschworenen großen Liebe hatte sie kein Interesse. Man sah ja an der armen Catalina, wohin das führte.

Der einzige Störfaktor, der ihren Plan bisher noch behinderte, hieß Aurora. Javiers Tochter machte keinen Hehl daraus, dass sie Dolores nicht mochte. Ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Dolores hatte nie Kinder haben wollen. Ganz davon abgesehen, dass man sich damit nur die Figur ruinierte, waren Kinder in ihren Augen vor allem eines: unerträgliche Nervensägen. Genau deshalb beabsichtigte sie auch, Aurora in einem Internat unterzubringen, sobald sich die Möglichkeit ergab. Dafür musste sie allerdings erst einmal Javier davon überzeugen, dass sie, Dolores, die Richtige für ihn war.

Nun, diesem Ziel hatte sie sich in den vergangenen Monaten durchaus zufriedenstellend genähert und sich praktisch unersetzlich für Javier gemacht. Dazu gehörte auch, dass sie sich immer dann, wenn er gerade in der Nähe war, mit rührender Hingabe um seine kleine Tochter kümmerte.

Aurora hatte natürlich schnell durchschaut, dass Dolores sich nicht wirklich ernsthaft um ihre Zuneigung bemühte. Seitdem verhielt sich die Kleine ihr gegenüber bockig und aufsässig. Doch das fiel nicht weiter auf, denn so wie ihr war es bisher jedem einzelnen Kindermädchen ergangen, das Javier eingestellt hatte.

Bis jetzt.

Diese Charlene Beckett schien nun plötzlich das Vertrauen der Sechsjährigen gewonnen zu haben. Womit, darüber konnte Dolores nur Mutmaßungen anstellen. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Engländerin so gar nicht dem typischen Kindermädchenklischee entsprach. Sie wirkte weder besonders kompetent noch streng – alles Eigenschaften, die Dolores von einer Erzieherin erwartete. Dafür besaß sie andere Qualitäten, mit denen sie ganz offensichtlich nicht nur Aurora für sich einnahm, sondern zu Dolores’ Leidwesen auch Javier.

Wie sonst ließ sich erklären, dass er sich von Señorita Beckett dazu hatte überreden lassen, einen Ausflug mit seiner Tochter zu unternehmen? Noch dazu, wo die jüngsten Ereignisse in der Firma eigentlich seine volle Aufmerksamkeit beanspruchen sollten! Wenn das so weiterging … Dolores schüttelte den Kopf. Nicht auszudenken, wenn er sich plötzlich in einen Familienmenschen verwandelte!

Nein, das durfte sie nicht zulassen. Sie musste etwas unternehmen. Etwas, um Charlene Beckett loszuwerden, ehe sie sich hier richtig einnistete.

Und Dolores hatte auch schon eine Idee, wie sich das bewerkstelligen ließ …

5. KAPITEL

„Sieh mal dort, Papá!“ Aurora stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die hohe Sicherheitsabgrenzung blicken zu können, und deutete in das weitläufige Lemurengehege. „Die Äffchen – sind die nicht süß?“

Ihr Vater stellte den Picknickkorb ab, den Jolanda ihnen gepackt hatte, und trat hinter seine Tochter. Dann legte er ihr die Hände um die Taille und hob das Kind mit einer lässigen Bewegung auf seine Schultern, als wöge es nicht mehr als ein Schmetterling. Aurora quietschte vor Vergnügen. Es war unübersehbar, wie sehr sie es genoss, Zeit mit ihrem viel beschäftigten Vater zu verbringen.

Charlene freute sich für ihren Schützling. In den vergangenen anderthalb Stunden hatte sie Aurora zum ersten Mal richtig ausgelassen und fröhlich erlebt. So lange hielten sie sich nun schon im Zoo von Santa Eugenia auf, und Charlene nahm sich vor, Javier am Abend um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Sie musste ihm begreiflich machen, wie sehr seine Tochter ihn brauchte. Natürlich verstand sie, dass er nicht einfach alles stehen und liegen lassen konnte, um mit dem Kind zusammen zu sein. Doch Charlene war fest davon überzeugt, dass sie gemeinsam einen Kompromiss finden würden, mit dem alle Beteiligten zufrieden sein konnten.

Nachdem sie sich die Kattas und die Kängurus angesehen hatten, steuerten sie das Picknickareal an, neben dem der Spielplatz lag. Als Charlene die sehnsüchtigen Blicke bemerkte, die Aurora in Richtung der anderen Kinder warf, nickte sie dem Mädchen aufmunternd zu. „Na los, lauf schon!“

Glücklich strahlend eilte Aurora davon. Charlene schaute ihr lächelnd nach.

„Wollen Sie uns nicht schon mal die Bank dort hinten reservieren und das Essen auspacken?“ Javier reichte ihr den Korb. „Ich besorge uns währenddessen einen Kaffee am Kiosk.“ Er lachte. „Jolanda hat wirklich an alles gedacht. Es gibt Sobrassada, Cocarrois und Ziegenkäse. Nur die große Thermoskanne mit Fencheltee habe ich leider im Wagen liegen lassen.“

„Fencheltee?“ Fragend hob Charlene die Brauen.

Er grinste schief. „Nun, Jolanda findet, dass ich zu viel Kaffee trinke. Sie macht sich Sorgen um meine Gesundheit, daher bekomme ich von ihr neuerdings immer Fencheltee.“ Die Art und Weise, wie er bei dem Wort das Gesicht verzog, machte deutlich, dass Fencheltee nicht gerade zu seinen Lieblingsgetränken gehörte.

Ein paar Minuten später saßen sie, jeder einen dampfenden Pappbecher mit Kaffee in der Hand, in stiller Eintracht auf der Bank und schauten Aurora beim Spielen zu. Doch so recht auf ihren Schützling konzentrieren konnte Charlene sich nicht. Überdeutlich war sie sich der Nähe von Javier bewusst. Und sosehr sie sich auch dagegen sträubte – seine männliche Ausstrahlung verfehlte ihre Wirkung auf sie keineswegs.

Um sich abzulenken, nahm sie sich eine von den halbmondförmigen Teigtaschen, die mit Spinat, Pinienkernen und Rosinen gefüllt waren und Cocarrois genannt wurden, und biss herzhaft hinein, doch auch das half nicht. Die Luft zwischen ihr und Javier schien zu vibrieren – zumindest kam es ihr so vor. Er hingegen wirkte vollkommen gelassen. Und das solltest du besser auch sein, Charlene Beckett! Oder hast du etwa bereits vergessen, wer dieser Mann ist?

Nein, natürlich nicht. Wie sollte sie auch? Bei ihren regelmäßigen Besuchen im Krankenhaus wurde ihr Vater nicht müde zu erzählen, wem er die Schwierigkeiten verdankte, in denen er steckte. An allem, was ihm in der jüngeren Vergangenheit zugestoßen war, gab er Javier Santiago die Schuld. Manchmal ging er damit so weit, dass Charlene sich fragte, ob er es sich nicht womöglich ein wenig zu einfach machte. Der Javier, den sie kennengelernt hatte, schien nämlich nicht gerade der menschenverachtende, skrupel- und rücksichtslose Mensch zu sein, als den Graham ihn beschrieb.

Sicher, perfekt war er ganz bestimmt nicht. Der Umgang mit seiner Tochter ließ zu wünschen übrig, und aus dem Verhältnis zwischen ihm und seiner Assistentin wurde Charlene nicht schlau. Aber deshalb war er noch lange kein Unmensch.

„Sie haben übrigens recht“, sagte er unvermittelt und unterbrach damit ihre merkwürdigen Gedankengänge. „Es wird tatsächlich Zeit, dass ich mich wieder mehr mit meiner Tochter beschäftige. Ich fürchte, ich war nach dem Tod meiner Frau mit der Doppelbelastung Arbeit und Familie ein wenig überfordert. Aurora ist in den vergangenen Monaten wirklich zu kurz gekommen.“

Charlene lächelte sanft. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“, sagte sie. „Aber ich stimme Ihnen zu, dass es nicht so leicht ist, all diese Verpflichtungen unter einen Hut zu bekommen. Darf ich fragen, wer Ihren Terminkalender für Sie führt?“

„Das ist Dolores’ Aufgabe“, erwiderte er bereitwillig. „Sie plant meine geschäftlichen Termine ebenso wie die, die auf privater Ebene organisiert werden müssen.“

Etwas in der Art hatte Charlene sich bereits gedacht. Und genau dort vermutete sie auch den Kern des Problems. Aber wie sollte sie es ansprechen? „Wissen Sie, was ich nicht verstehe?“, sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Ich weiß, es geht mich im Grunde nichts an, aber … Nun, mir ist aufgefallen, dass Señorita Dolores sich Ihnen gegenüber viele Freiheiten herausnimmt, die für eine Assistentin alles andere als üblich sind.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Charlene begann schon zu fürchten, dass sie die Sache falsch angefangen hatte. Doch dann räusperte Javier sich. „Sie haben recht, es geht Sie tatsächlich nichts an – aber ich will es Ihnen trotzdem erklären: Dolores ist die jüngere Schwester meines besten Freundes Carlos. Er sorgte für sie, nachdem die Eltern der beiden ums Leben kamen. Dolores war erst siebzehn, als auch Carlos schwer erkrankte, und so labil, dass sie in Gefahr war, auf die schiefe Bahn zu geraten. Kurz bevor Carlos starb, richtete er eine letzte Bitte an mich, die ich ihm nicht abschlagen konnte. Ich versprach ihm, mich um Dolores zu kümmern, was ich seitdem tue. Vermutlich bin ich oftmals zu nachsichtig mit ihr, aber sie hat viel durchgemacht, und …“ Er zuckte mit den Achseln.

Charlene atmete tief durch. Deshalb also war Dolores sich ihrer Position so sicher! Sie wusste ganz genau, dass sie sich Frechheiten leisten konnte, ohne mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen. Javier fühlte sich an das Versprechen gebunden, das er ihrem verstorbenen Bruder gegeben hatte, und im Grunde genoss sie Narrenfreiheit. Das wäre normalerweise allein Javiers Problem, überlegte Charlene. Aber wenn Dolores sich vorgenommen hat, ausgerechnet Aurora das Leben schwer zu machen, kann ich das nicht hinnehmen.

„Ihre Tochter hat auch viel durchstehen müssen“, entgegnete sie vorsichtig. Ihr war klar, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Und wenn ihr erster Tag als Auroras Kindermädchen nicht zugleich auch ihr letzter sein sollte, musste sie behutsam vorgehen. Nicht nur, weil sie diese Anstellung so dringend brauchte, um ihrem Vater zu helfen. Nein, ihr ging es vor allem um Aurora.

Javier runzelte die Stirn. „Denken Sie, dessen bin ich mir nicht bewusst?“

„Warum lassen Sie sie dann nicht mehr an Ihrem Leben teilhaben, Javier? Sehen Sie, ich kenne Aurora erst seit ganz kurzer Zeit, aber eines kann ich schon jetzt sagen: Sie sehnt sich danach, von Ihnen mit einbezogen zu werden. Deshalb hat sie auch all die Kindermädchen, die Sie für sie eingestellt haben, vergrault: weil sie wollte, dass Sie für sie da sind. Ihr Vater.“

„Dafür, dass Sie Aurora erst seit so kurzer Zeit kennen, lehnen Sie sich in der Tat mächtig weit aus dem Fenster“, murmelte Javier ungnädig. „Ich habe Sie nicht engagiert, um mir Vorhaltungen über meinen Lebensstil und meine Erziehungsmethoden anzuhören.“

„Richtig, Sie haben mich engagiert, damit ich mich um das Wohl Ihrer Tochter kümmere. Aber was Aurora wirklich braucht, das bin nicht ich – das ist familiäre Bindung!“

„Pah!“ Er schnaubte abfällig. „Wenn ich eines im Laufe meines Lebens gelernt habe, dann, dass es zumeist die eigene Familie ist, die einem in den Rücken fällt!“ Als Charlene ihn erschrocken anschaute, runzelte er die Stirn. „Aber das ist meine eigene, ganz persönliche Erfahrung und tut jetzt nichts zur Sache. Mich würde vielmehr interessieren, woraus Sie die Berechtigung ableiten, meine Beziehung zu Aurora zu beurteilen.“

„Das ist nun wieder meine eigene, ganz persönliche Erfahrung“, erwiderte Charlene leise, wobei sie absichtlich dieselben Worte benutzte wie zuvor Javier. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen, allein beim Muschelsammeln am Strand. Weihnachten feiernd mit den Hausangestellten. Einsam schaukelnd im Garten. Ihr Vater war nie für sie da gewesen. Und selbst wenn sie heute deswegen keinen Groll mehr gegen ihn hegte, so hatte sich zwischen ihnen doch nie eine echte Vater-Tochter-Bindung entwickeln können.

Fragend schaute Javier sie an. „Was ist passiert?“

Kurz überlegte sie, ihm von ihrer oft so trostlosen Kindheit zu erzählen. Womöglich würde es ihn aufrütteln und ihm vor Augen führen, dass es allein an ihm lag, seiner Tochter ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Doch schließlich entschied sie sich dagegen. Dies war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit für eine solche Unterredung. Außerdem wollte sie ihren Vater nicht vor seinem größten Konkurrenten schlecht machen.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht darüber sprechen“, sagte sie seufzend. „Nicht jetzt …“ Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. „Großer Gott, schmeckt der grauenvoll! Was ist das? Flüssiger Teer?“

Einen Moment lang sah Javier sie entsetzt an, dann brach er in schallendes Gelächter aus, von dem sich auch Charlene anstecken ließ. Sie lachten so lange, bis ihnen die Luft wegblieb und vorüberschlendernde Zoobesucher ihnen merkwürdige Blicke zuwarfen. Die schlechte Stimmung war wie weggeblasen, und Charlene verspürte beinahe so etwas wie ein Aufflackern von echtem Glück, als Javier sie anschaute und ihre Hand ergriff.

In diesem Augenblick änderte sich alles. Charlene hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Die Geräusche um sie herum traten in den Hintergrund, alles, was sie hörte, war das laute Pochen ihres eigenen Herzens. Javiers Blick, der bis auf den Grund ihrer Seele zu reichen schien, hielt sie gefangen. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren und …

„Schau, Papá, was ich gefunden habe!“

Auroras Erscheinen beendete den seltsamen Augenblick der Vertrautheit zwischen ihnen. Abrupt kehrte Charlene wieder in die Realität zurück – und zwar keinen Moment zu früh, wie ihr schien. Was war bloß in sie gefahren, sich derart von Javier vereinnahmen zu lassen?

Er selbst schien nicht im Geringsten beeindruckt von dem, was gerade zwischen ihnen vorgefallen war. Strahlend wandte er sich an seine Tochter, die ihm einen hübschen, in zartem Rosé schimmernden Kieselstein überreichte. „Der ist aber schön, mi corazón“, sagte er. „Und wie hübsch er in der Sonne glänzt.“

„Ich schenke ihn dir, wenn du möchtest“, erklärte Aurora mit kindlichem Ernst. „Aber du musst gut auf ihn aufpassen und ihn immer bei dir tragen, versprochen?“

„Versprochen“, sagte Javier feierlich und schob den Stein in seine Hosentasche. Dann lächelte er: „Und? Welche der Señoritas hätte gern ein Eis?“

„Ich!“, rief Aurora. „Ich! Ich!“

„Was ist mit Ihnen?“, fragte Javier. „Erdbeere? Vanille? Schokolade?“

Sie schüttelte den Kopf. „Gracias, aber ich möchte nichts. Gehen Sie ruhig mit Aurora, ich warte hier. Es ist Ihr gemeinsamer Tag, ich habe Sie beide nur zur moralischen Unterstützung begleitet.“

Javier nickte. „Bien, dann bis später.“

Charlene atmete erleichtert auf und sah Javier hinterher, wie er mit seiner Tochter an der Hand zum nahe gelegenen Kiosk ging. Es war schön zu sehen, dass die beiden so vertraut miteinander sein konnten, wenn die Situation stimmte und es keinerlei Störungen gab. Jetzt galt es, genau diesen Zustand auch dauerhaft herzustellen. Und das würde noch ein hartes Stück Arbeit werden – für sie alle.

Und für dich ganz besonders, weil du es kaum schaffst, in seiner Nähe zu sein, ohne die Kontrolle über dich zu verlieren. Was ist bloß mit dir los?

Doch da war noch ein anderer Punkt, der Charlene Sorgen machte. Nämlich die Art und Weise, wie Javier von seiner Familie gesprochen hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, was wohl geschehen würde, wenn er herausbekam, dass sie nur auf das Betreiben seiner Tante hin in seinen Haushalt gekommen war? Wie würde er reagieren? Musste sie es ihm nicht eigentlich sagen? Aber Señora Velásquez hatte es eindeutig zur Bedingung gemacht, dass sie genau das nicht tat.

Charlene schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt lieber nicht darüber nachdenken. Früher oder später, das wusste sie, würde sie sich der Frage stellen müssen, doch bis dahin wollte sie erst einmal das tun, was ihr im Moment am wichtigsten erschien: sich um Aurora kümmern.

Vier Tage später hatte Charlene ihre anfänglichen Bedenken schon beinahe vergessen. Alles lief wunderbar. Und bei dem kurzen Telefonat, das sie spät am vergangenen Abend geführt hatten, war es Señora Velásquez gelungen, auch ihre letzten Zweifel zu zerstreuen.

„Bitte, seien Sie unbesorgt“, hatte die ältere Spanierin sie beruhigt. „Ich versichere Ihnen, dass mir das Wohl meines Neffen und meiner Großnichte sehr am Herzen liegt. Nie würde ich etwas tun, das den beiden in irgendeiner Weise schaden könnte.“

Sie hatte sich so offen und aufrichtig angehört, dass es Charlene gar nicht in den Sinn gekommen war, an ihren Worten zu zweifeln. Trotzdem hatte sie noch einmal nachgehakt und gefragt: „Aber warum darf Javier dann nicht erfahren, dass ich durch Ihre Vermittlung zu ihm gekommen bin?“

Maria hatte tief geseufzt. „Das ist die Folge einer langen Aneinanderreihung bedauerlicher Missverständnisse, von denen ich hoffe, dass wir sie in naher Zukunft ausräumen können. Aber sprechen wir über erfreulichere Dinge: Ich habe heute die Zahlungsanweisung für die Übernahme der Behandlungskosten Ihres Vaters unterzeichnet. Nun müssen nur noch die Ärzte im Krankenhaus grünes Licht geben, dann kann er verlegt werden.“

Charlene hatte sich mit Señora Velásquez’ Ausführungen zufriedengegeben. Letztlich, so sagte sie sich, war es egal, aus welchem Grund sie sich um die Stelle als Auroras Kindermädchen beworben hatte. Solange sie ihre Arbeit gut machte, schadete ihr Arrangement mit Maria Velásquez schließlich niemandem.

Allerdings konnte sie die Zeit, die sie mit Aurora verbrachte, kaum als Arbeit betrachten. Die Kleine war neugierig, lernbegierig und besaß eine schnelle Auffassungsgabe. Da sie nach dem Sommer für sechs Jahre die Educacion Primera, die spanische Grundschule, besuchen würde, hatte Charlene angefangen, ihr die ersten Grundbegriffe der englischen Sprache beizubringen. Innerhalb kürzester Zeit war Aurora bereits in der Lage, einfache Sätze auf Englisch zu formulieren. Und wie jedes Kind wollte sie ihren Lernerfolg natürlich unbedingt sofort ihrem Vater präsentieren.

Ehe Charlene sie davon abhalten konnte, war Aurora auch schon ins Haus gelaufen und geradewegs in Javiers Arbeitszimmer geplatzt, wo dieser über einigen Unterlagen brütete.

Papá, Papá, hör nur, was ich von Charlene gelernt habe!“, rief das Kind strahlend, lief um den wuchtigen Schreibtisch herum und kletterte dem Vater unaufgefordert auf den Schoß.

Javier lächelte milde. Das Miteinander zwischen Vater und Tochter war in der kurzen Zeit, die Charlene nun bei ihnen lebte, sehr viel besser geworden. Längst hatte Javier seine Steifheit im Umgang mit Aurora abgelegt, und das Mädchen dankte es ihm mit einer Zuneigung, die fast schon an Heldenverehrung grenzte.

„Na, dann lass mal hören, mi corazón“, forderte er die Sechsjährige auf. „Ich bin schon ganz gespannt.“

Aurora setzte eine so ernsthafte Miene auf, dass Charlene ein Lachen unterdrücken musste. „Hello“, sagte sie dann. „My name is Aurora Santiago.“

„Wunderbar!“, rief Javier aus und strich seiner Tochter übers Haar. „Ich sehe, du bist ein echtes Sprachentalent, hijita mía. Wenn du fleißig bist und brav lernst, wirst du eines Tages vielleicht sogar eine Schule in England besuchen können und …“ Er verstummte, als er Auroras angsterfüllten Gesichtsausdruck bemerkte. „Was ist los? Möchtest du gar nicht nach England?“

Energisch schüttelte Aurora den Kopf. „No!“ Sie schlang die Arme um ihren Vater, so als wolle sie ihn nie wieder loslassen. „Ich will bei dir bleiben, Papá! Bei dir und Charlene!“

In diesem Moment betrat Dolores das Arbeitszimmer.

„Was ist denn hier schon wieder los?“ Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Geht das jetzt schon während der normalen Bürozeiten los? Wozu bezahlt Javier Sie eigentlich, Señorita Charlene, wenn Sie es nicht einmal schaffen, ihm wenigstens ein paar Stunden am Tag das Kind vom Leib zu halten? Es mag Sie überraschen, aber Ihr Chef hat noch ein paar andere Verpflichtungen, als sich immer nur um seine Tochter zu kümmern.“

Aurora rutschte vom Schoß ihres Vaters herunter und verbarg sich halb hinter seinem Stuhl. Es war nicht zu übersehen, wie unbehaglich sie sich in Gegenwart von Javiers Assistentin fühlte. Der Kontrast zwischen der Lebensfreude, die sie noch vor einem kurzen Moment versprüht hatte, und der Ängstlichkeit, die sie nun ausstrahlte, hätte größer kaum sein können.

Und das schien nun endlich auch Javier zu bemerken.

„Würdest du dich freundlicherweise aus meinen Angelegenheiten heraushalten?“, wies er Dolores mit fester Stimme zurecht. „Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben!“

Sein rüder Tonfall schien Dolores zu überraschen – offenbar war sie dergleichen von ihm nicht gewöhnt. Und obwohl Charlene sich insgeheim darüber freute, dass die junge Spanierin endlich einmal den verdienten Dämpfer erhielt, so wollte sie doch nicht, dass Aurora die unschöne Szene miterlebte.

„Komm, Aurora.“ Sie hielt dem Mädchen die Hand hin. „Wir lassen deinen Vater und Señorita Dolores allein. Was meinst du, sollen wir an den Strand gehen? Das Wetter ist eigentlich heute viel zu schön, um den ganzen Tag im Haus zu verbringen, nicht wahr?“

„Oh ja“, jubelte Aurora begeistert. „Lass uns Muscheln suchen. Und die allerschönste von allen schenke ich dir, Papá!“

Es war deutlich zu erkennen, was Dolores von der Ankündigung des Mädchens hielt. Doch dieses Mal verkniff sie sich einen Kommentar. Javiers Zurechtweisung zeigte Wirkung.

„Gehst du schon mal vor in den Garten, mi niña?“ Charlene zog die Tür des Arbeitszimmers hinter sich ins Schloss. „Ich hole noch schnell eine Decke und einen Korb aus meinem Zimmer. Und vielleicht hat Jolanda ja ein paar Leckereien für uns in ihrer Vorratskammer. Dann könnten wir ein richtiges kleines Picknick machen.“

„Ich will schaukeln!“ Aurora hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. „Darf ich? Bitte, bitte!“

Charlene lachte. „Natürlich, geh ruhig. Aber vorsichtig, verstanden? Ich bin in ein paar Minuten bei dir.“

Mit schnellen Schritten eilte sie nach oben zu ihrem Zimmer. Ihr fiel sofort auf, dass die Tür einen Spalt offen stand. Stirnrunzelnd drückte sie sie auf. „Hallo? Jolanda?“

Doch da war niemand. Und es sah auch nicht so aus, als wäre irgendetwas von ihren privaten Dingen angerührt worden. Charlene zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatte sie die Tür heute Morgen einfach nicht richtig zugemacht. Sie öffnete den Kleiderschrank und holte den großen, handgeflochtenen Bastkorb heraus, den Jolanda ihr auf ihre Bitte hin besorgt hatte, und legte eine Wolldecke hinein. Fast jeden Tag machten sie und Aurora lange Ausflüge an den Strand. Das Meer direkt vor der Tür zu haben war einfach zu verlockend. Doch ausgerechnet die Menschen, die sich eine Villa in unmittelbarer Strandnähe leisten konnten, traf man ihrer Erfahrung nach am seltensten dort an. Vermutlich musste man, wenn man sich Luxus leisten wollte, so viel arbeiten, dass am Ende keine Zeit mehr blieb, all die Annehmlichkeiten zu genießen.

Als sie das Zimmer verlassen wollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel einen Gegenstand auf ihrem Bett, der dort nicht hingehörte.

Stirnrunzelnd stellte sie den Korb neben der Tür ab und ging zurück. Mitten auf der hübschen, mit üppigen Stickereien versehenen Tagesdecke lag, zwischen einigen Zeitschriften, die Jolanda ihr aus dem Ort mitgebracht hatte, eine Aktenmappe, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und Charlene konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie sie hierhergekommen war. Es sei denn …

Hatte deshalb die Tür offen gestanden? Weil jemand in ihrem Zimmer gewesen war und den Ordner auf ihr Bett gelegt hatte? Aber warum sollte jemand so etwas tun?

Charlene nahm die Mappe und schlug sie auf. Im ersten Moment erschien ihr das, was sie sah, nur ein wirres Durcheinander von Namen und Zahlen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, was sie da in den Händen hielt. War das etwa …? Ja, das musste die Kundenliste von Javiers Firma sein. Aber warum …?

Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Korridor und klappte den Aktenordner erschrocken zu. Im nächsten Augenblick wurde die Tür zu ihrem Zimmer aufgestoßen, und Javier kam herein.

„Ah, da sind Sie ja noch“, rief er. „Ich wollte Sie noch kurz sprechen, ehe Sie mit Aurora aufbrechen. Dolores sagte, Sie …“ Er stutzte, als er den Ordner in ihrer Hand bemerkte. „Was haben Sie denn da?“

Charlene schluckte, außerstande, ein Wort über die Lippen zu bringen. Würde er ihr glauben, wenn sie ihm die Wahrheit sagte?

Er nahm ihr die Entscheidung ab, indem er vortrat und ihr die Akte aus der Hand nahm. Nachdem er kurz hineingeschaut hatte, runzelte er die Stirn. „Wo haben Sie das her?“, fragte er scharf.

Eingeschüchtert zuckte sie zusammen. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. Was sonst?

„Ich … Mir ist klar, dass das ziemlich unglaubwürdig klingen muss, aber ich habe die Mappe eben selbst zum ersten Mal gesehen. Sie lag zwischen den Zeitschriften auf meinem Bett, als ich ins Zimmer kam. Jemand muss sie dorthin gelegt haben.“

Javier musterte sie stirnrunzelnd. Sein Blick war durchdringend, und Charlene hatte das Gefühl, dass er bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen versuchte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Was würde jetzt geschehen? Eines stand fest: Wenn Javier zu dem Schluss kam, dass sie sich heimlich sensible Daten seiner Firma verschafft hatte, würde er sie auf der Stelle vor die Tür setzen. Und damit verlor sie nicht nur die einzige Chance, ihrem Vater zu helfen – nein! All die Fortschritte, die Aurora und Javier innerhalb weniger Tage gemacht hatten, standen auf dem Spiel. Wie würde die Sechsjährige reagieren, wenn ihre neue Bezugsperson – die einzige, die das Mädchen innerhalb der letzten Monate akzeptiert hatte – plötzlich wieder aus ihrem Leben verschwand?

„Bitte“, flüsterte sie heiser. „Sie müssen mir glauben, Javier. Ich weiß wirklich nicht, wie diese Unterlagen in mein Zimmer gekommen sind. Was sollte ich denn auch damit anfangen?“

6. KAPITEL

Javier musste sich eingestehen, dass er Charlene einfach nicht durchschaute. Die Frau war und blieb ihm ein Rätsel. Mal trat sie selbstsicher und fordernd auf, und im nächsten Moment wirkte sie scheu und ängstlich, so wie jetzt.

Ihre Geschichte war jedenfalls alles andere als glaubwürdig!

„Sie wollen also behaupten, dass diese Dokumente einfach so in Ihrem Zimmer gelegen haben?“

Charlene nickte energisch. „Ja, hier auf dem Bett. Ziemlich seltsam, nicht wahr?“

Dem konnte Javier nur zustimmen. Die Dokumente, mit denen er Charlene in flagranti erwischt hatte, gehörten nämlich definitiv nicht in unbefugte Hände. Es handelte sich um eine Aufstellung aller Kunden von Santiago Barco y Yate de Yard, mitsamt Adressen, Telefonnummern und Einstufung – eine Liste, die, wenn sie Graham Beckett in die Finger geriet, großen Schaden verursachen konnte.

Misstrauisch runzelte Javier die Stirn. Er wusste nicht, was er von der ganzen Geschichte halten sollte. Unwillkürlich musste er an Dolores’ mahnende Worte denken. Durfte er außer Acht lassen, dass Charlene die Tochter seines ärgsten Konkurrenten war? Was, wenn Beckett sie geschickt hatte, um für ihn zu spionieren? War es nicht verrückt, ihr zu vertrauen?

Zu seiner eigenen Überraschung hätte er genau das am liebsten getan. Seit Charlene bei ihnen lebte, herrschte in seinem Haus eine vollkommen andere Atmosphäre – was nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken war, dass sie so wunderbar mit Aurora umgehen konnte.

Die Stimme der Vernunft sagte ihm, dass er auf Dolores hören und vorsichtig sein sollte. Wer außer Charlene kam infrage, die Papiere genommen zu haben? Und warum sollte irgendjemand sie ausgerechnet in ihren Räumlichkeiten deponiert haben?

Auch Dolores hatte natürlich Zugang zu seinem Arbeitszimmer, ebenso wie Jolanda – aber für beide war er bereit, seine Hand ins Feuer zu legen. Konnte es sein, dass die Unterlagen durch ein Versehen hier gelandet waren? Hatte jemand sie vielleicht unabsichtlich zwischen die Zeitschriften gepackt?

Javier machte sich klar, dass die Erklärung ziemlich fadenscheinig klang. Doch schon um Auroras willen wollte er zunächst alle Alternativen in Betracht ziehen. Endlich hatte seine Tochter wieder zu einem Menschen Vertrauen gefasst. Er konnte ihr Charlene jetzt nicht gleich wieder entreißen. Würde ihre zarte Kinderseele diesen erneuten Verlust verkraften? Nein, das wollte er seiner kleinen Tochter nicht zumuten!

Und dir geht es dabei nur um Aurora, ja? Nicht vielleicht auch ein ganz kleines bisschen um dich selbst?

Rasch fegte er den unbequemen Gedanken beiseite und räusperte sich. „Das nächste Mal, wenn Sie irgendetwas in Ihrem Zimmer vorfinden, was dort nicht hingehört, kommen Sie damit bitte gleich zu mir.“

Charlene nickte hastig. „Ja, natürlich, aber … Ach, egal.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was wollten Sie von mir?“

„Ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas dagegen haben, dass ich Aurora und Sie begleite“, erwiderte er spontan. Eigentlich war das ganz und gar nicht seine Absicht gewesen, doch aufgrund der jüngsten Ereignisse hielt er es für besser, ein Auge auf Charlene zu haben. Und sei es nur, um sich selbst zu beweisen, dass an dem Verdacht, den Dolores ihm mit ihrem Gerede in den Kopf gesetzt hatte, nichts dran war, sondern dass Charlene einzig und allein Auroras Vorteil im Sinn hatte und nicht ihren eigenen.

Das ist es, was du willst, nicht wahr? Nun, dann pass bloß auf, dass du dich nicht in irgendetwas verrennst, alter Junge. Die Neigung, nur das zu sehen, was man sehen will, liegt bei den Santiago-Männern in der Familie, schon vergessen?

Unwillkürlich musste er an seinen Vater denken und an den Zwischenfall, der ihn und seine beiden Brüder Luís und Alejandro von den Eltern entzweit hatte.

Ein Zwischenfall, der einen Namen trug.

Laura Santiago.

Zumindest behauptete die Frau, die siebzehn Jahre nach dem spurlosen Verschwinden seiner jüngeren Schwester aufgetaucht war, Laura zu sein. Javier und seine Brüder hatten von Anfang daran gezweifelt. Doch Miguel, ihr Vater, war nie über den Verlust seiner geliebten Tochter hinweggekommen, und so hatte er sich nur allzu bereitwillig an den Strohhalm geklammert, den man ihm hinhielt, und die Hochstaplerin verteidigt – mit einem Starrsinn, der alle anderen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, vor den Kopf stieß, bis sie sich schließlich wütend und enttäuscht von ihm abwandten.

Und genau das war Javiers Problem. Er wollte nicht denselben Fehler begehen wie sein Vater. Denn eine Lehre hatte er aus der Geschichte gezogen. Wer die Augen vor der Realität verschloss und nur das sah, was er sehen wollte, würde am Ende mit leeren Händen dastehen.

So wie Miguel Santiago.

„… sehr freuen, wenn Sie uns begleiten … Javier? Hören Sie mir überhaupt zu?“

Charlenes Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Er blinzelte. „Was sagten Sie? Entschuldigung, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Wo waren wir stehen geblieben?“

Sie lächelte nachsichtig. „Ich sagte, dass Aurora sich sicher sehr freuen wird, wenn Sie uns an den Strand begleiten. Aber sind Sie sicher, dass Sie die Zeit erübrigen können?“

Nein, Zeit erübrigen konnte er nicht. Sein Terminkalender platzte aus allen Nähten, und er hatte immer noch nicht die leiseste Idee, wer die Person sein sollte, die Boote zu Dumpingpreisen anbot und für deren Bau Ersatzteile aus seinem Lager verwendete.

Doch das alles musste warten.

Er schüttelte den Kopf. „Da ist nichts, was sich nicht verschieben ließe. Wozu habe ich schließlich eine Assistentin?“

„Na, dann …“ Lachend ergriff Charlene seine Hand und zog ihn mit sich. „Worauf warten wir noch?“

Javier war froh, dass sie sich nicht zu ihm umblickte – so konnte er wenigstens vor ihr verbergen, wie sehr ihre harmlose kleine Berührung ihn aus dem Konzept brachte. Plötzlich fragte er sich, ob die Idee, Charlene und Aurora zu begleiten, wirklich so gut gewesen war.

Doch jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Mit geschlossenen Augen lag Charlene im warmen Sand und lauschte dem Rauschen der Brandung, das sich mit den Schreien der Möwen vermischte. Sie schmeckte Salz auf den Lippen und spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Und als sie die Lider hob, wölbte sich über ihr der blaue Sommerhimmel, an dem träge ein paar fedrige Wolken entlangzogen.

Momente wie dieser ließen sie an die schönen Zeiten zurückdenken, die sie als Kind auf Mallorca erlebt hatte. Jene Tage, bevor ihre Mutter Graham und sie im Stich gelassen hatte und nie wieder zurückgekehrt war. Eigentlich sind es weniger Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, sondern vielmehr an eine bestimmte Atmosphäre, überlegte sie träge. Das wohlige Gefühl, behütet zu sein und beschützt zu werden – bevor das Leben ihr endgültig klargemacht hatte, dass niemand auf der Welt sie genug liebte, um für sie da zu sein und ihr Geborgenheit zu geben …

Danach war die Insel für sie zu einem Ort der Traurigkeit geworden.

Hastig verscheuchte sie die Gedanken an die Vergangenheit, setzte sich auf und hielt, die Augen mit der Hand gegen die Sonne beschattend, Ausschau nach ihrem kleinen Schützling und seinem Vater.

Die beiden tobten ausgelassen am Strand, der direkt an den Garten der Villa anschloss. Aurora quietschte vor Freude, als Javier sie bei den Händen ergriff und sich so schnell mit ihr um die eigene Achse drehte, dass die Sechsjährige durch die Luft gewirbelt wurde. Anschließend krempelte sich Javier die Beine seiner Jeans hoch, zog seine Schuhe aus und lief mit seiner Tochter durch die seichte Brandung.

Es war ein anrührendes Vater-Tochter-Bild, wie aus einem kitschigen Hollywood-Film. Und Charlene ging das Herz auf vor lauter Freude, ihren kleinen Schützling so glücklich zu sehen.

Aurora und Javier begannen eine Sandburg zu bauen, und nach einer Weile kam das Mädchen, erschöpft, aber strahlend vor Freude, zu ihr gelaufen. Seine Wangen glühten und seine Augen funkelten vor Begeisterung, als es Charlene einen Seestern überreichte.

„Hier, für dich. Er lag unten am Strand, die Brandung muss ihn angespült haben.“

Charlene stand auf und klopfte sich den Sand von ihrer Caprihose. Ihre Schuhe ließ sie auf der Picknickdecke liegen, die sie bei ihrer Ankunft vor etwas mehr als einer Stunde ausgebreitet hatten. „Komm mal mit“, sagte sie und nahm Aurora bei der Hand. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Gemeinsam gingen sie zum Wasser hinunter. Das kühle Nass, das ihre Knöchel umspülte, fühlte sich einfach herrlich an. Charlene konnte spüren, wie die Strömung den Sand unter ihren Füßen wegspülte. Lange hatte sie sich nicht mehr so lebendig, so glücklich gefühlt wie heute.

„Schau“, sagte sie zu Aurora, als sie ein Stück weit ins Wasser hineingegangen waren. Dann legte sie den Seestern ins Wasser.

„Was machst du denn da?“, protestierte die Sechsjährige – bis sie sah, dass das Tier anfing, sich zu bewegen. „Der lebt ja!“, stieß sie erschrocken hervor. Sie war den Tränen nahe. „Das habe ich nicht gewusst …“

Beruhigend streichelte Charlene ihrem Schützling übers Haar. „Das weiß ich doch, mein Schätzchen. Und es ist ihm ja nichts passiert. Im Gegenteil. Hättest du ihn nicht gefunden, dann wäre er in spätestens einer Stunde tatsächlich ausgetrocknet gewesen. Du hast ihm also das Leben gerettet!“

Aurora schaute sie aus großen Augen an. „Wirklich?“

Charlene nickte. „Und jetzt lauf zu deinem Papá. Wenn man Jungs allein eine Sandburg bauen lässt, fehlen am Ende immer die kleinen Extras, die wir Mädchen so mögen. Und das willst du doch sicher nicht riskieren, oder?“

Die Kleine schüttelte so energisch den Kopf, dass ihr dunkelbraunes Haar flog. „Ich möchte, dass du mitkommst“, sagte sie und sah mit großen Augen zu Charlene hoch. „Hilfst du uns beim Bauen?“

Wie hätte sie diesem Blick widerstehen können? Seufzend legte Charlene dem Mädchen die Hand auf die Schulter. „Also gut, dann wollen wir doch mal sehen, ob wir es mit geballter Frauenpower nicht schaffen, diesen Haufen Sand in eine echte Prinzessinnenburg zu verwandeln …“

Die nächsten Stunden vergingen wie im Fluge, und Charlene war ganz überrascht, als sie merkte, wie tief die Sonne bereits stand. „Gnade“, rief sie und ließ sich mit einem theatralischen Stöhnen in den Sand fallen. „Ich kann keinen Handschlag mehr machen, ehe ich etwas gegessen habe! Außerdem wollen wir all die köstlichen Leckereien, die Jolanda für uns eingepackt hat, doch nicht verderben lassen, oder?“

„Wer zuletzt bei der Decke ist, bekommt keine Erdbeeren mehr ab!“, rief Aurora aufgekratzt und rannte los.

Als Javier sie fragend anschaute, zuckte Charlene mit den Schultern und sagte: „Die Erdbeeren sind wirklich gut.“ Dann lief auch sie los.

„Na, wartet!“, rief Javier ihnen nach und nahm sogleich die Verfolgung auf.

Im Laufen rangelten Charlene und er miteinander um die Führung. Dabei landeten sie schließlich beide lachend im Sand.

„Also schön, ich überlasse Ihnen die Erdbeeren“, sagte Javier schließlich.

„Und wenn ich keine Almosen von Ihnen will?“, konterte Charlene und rollte sich zu ihm herum. Dabei begegneten sich ihre Blicke, und es verschlug ihr schier den Atem.

Er hatte schon als vermeintlicher Gartenarbeiter und später als knallharter Geschäftsmann ungemein attraktiv auf sie gewirkt, doch beides war nichts gegen das, was sie in diesem Moment empfand. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Sie konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Seine sinnlichen Lippen, der gepflegte Dreitagebart, das vom Wind zerzauste Haar …

Wenn er mich jetzt küssen würde …

Der Gedanke kam ihr ganz ungewollt. Natürlich würde Javier sie niemals küssen. Er war ihr Boss, sie nur das Kindermädchen. Das einzige Interesse, das ein Mann wie er an jemandem wie ihr haben konnte, war beruflicher Natur. Ihm lagen sämtliche Frauen zu Füßen.

Frauen wie seine verstorbene Ehefrau, deren Bild in einem Silberrahmen auf dem Nachttisch in Auroras Zimmer stand. Hinreißende, wunderschöne Frauen, mit denen ein einfaches englisches Mädchen wie sie nicht mithalten konnte.

Warum sollte er also ausgerechnet sie küssen wollen?

Als es dann tatsächlich geschah, stockte Charlene der Atem. Sie hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Es war, als würde ihr ganzer Körper in Flammen stehen. Wie von selbst öffnete sie die Lippen, und als seine Zunge in ihren Mund glitt und ihre berührte, ergriff pures Verlangen von ihr Besitz. Die Empfindung war so stark, dass Charlene für einen Augenblick die Welt um sich her vergaß – so lange, bis Auroras Stimme sie abrupt wieder in die Realität zurückholte.

Charlene blinzelte erschrocken, als das Kind nach ihr rief. Was war bloß in sie gefahren? Sie musste vollkommen verrückt geworden sein, sich von Javier Santiago küssen zu lassen. Ausgerechnet von ihrem Boss!

Hastig rappelte sie sich auf. Dabei vermied sie es, Javier anzusehen. Was er wohl jetzt von ihr dachte? Vermutlich glaubte er, dass sie leicht zu haben sei, und – verflixt! – sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Sie hatte sich vollkommen unprofessionell aufgeführt!

Und doch vibrierte immer noch ein Nachhall des Verlangens durch ihren Körper und machte es schwer zu bereuen, was vorgefallen war. Dazu hatte es sich einfach zu gut, zu vollkommen angefühlt.

Mühsam schüttelte sie den Gedanken ab, zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und eilte zu Aurora, die auf der Decke saß und in ihrem Lieblingsbilderbuch blätterte. „Was gibt es, Liebes? Brauchst du etwas?“

Die Sechsjährige hielt Charlene ihr Handy hin. „Hier, das hast du auf der Picknickdecke liegen gelassen. Ich habe es vorhin klingeln hören.“

Irritiert runzelte Charlene die Stirn. Sie hatte seit Kurzem ein neues Handy, und abgesehen von Javier kannten eigentlich nur ihr Vater und das Krankenhaus, in dem er behandelt wurde, ihre Nummer. Sie sah auf das Display. Grahams Nummer war es nicht, die dort angezeigt wurde. Also …

Oh Gott, das Krankenhaus!

Sofort wählte sie die Nummer, und während sie wartete, dass jemand abnahm, betete sie, dass es sich um einen Werbeanruf oder eine Verwechslung handelte. So muss es sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Gewiss hat sich nur jemand verwählt. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung.

Doch die Frauenstimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldete, machte all ihre Hoffnungen mit einem Schlag zunichte. „Hospital de Palma, Sie sprechen mit Schwester Valentina – was kann ich für Sie tun?“

Charlene stockte der Atem. Ein paar Sekunden lang war sie nicht fähig, etwas zu erwidern. Sie räusperte sich mühsam. „Ja … Charlene Beckett hier – Sie haben versucht, mich zu erreichen?“

„Señorita Beckett“, rief die Krankenschwester aufgeregt. „Wie gut, dass Sie zurückrufen! Hören Sie, bitte erschrecken Sie nicht, aber ich habe leider keine allzu guten Nachrichten für Sie.“

Das Herz klopfte Charlene plötzlich bis zum Hals. Sie schluckte. „Was ist passiert?“

„Ich wurde beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihren Vater unter Beobachtung stellen mussten.“

„Was?“ Charlene spürte, wie ihr die Knie weich wurden. „Aber … Als ich ihn das letzte Mal sah, ging es ihm doch schon sehr viel besser. Nur das Bein, das er sich bei seinem Sturz verletzt hat, machte ihm noch Schwierigkeiten!“

„Ich weiß“, entgegnete die Schwester sanft. „Er scheint sich eine Infektion zugezogen zu haben, die … Nun, sein Zustand ist nicht kritisch, aber …“

„Ich komme sofort!“, fiel Charlene ihr ins Wort und beendete das Gespräch abrupt. Sie hatte das Gefühl, am Rande einer Klippe zu stehen und in den Abgrund zu blicken. Dabei begriff sie nicht einmal, weshalb die Nachricht von der Verschlechterung des Zustands ihres Vaters eine solch heftige Reaktion bei ihr auslöste. Immerhin war die Beziehung zwischen Graham Beckett und ihr seit Langem zwiespältig, und sie hatten einander in den vergangenen Jahren kaum einmal gesehen. Doch bei dem Gedanken, dass ihm etwas zustoßen könnte, wurde ihr ganz flau zumute.

„Charlene? Ist alles in Ordnung?“

Verwirrt schaute sie Javier an. Der Kuss vorhin – hatte sie sich den nur eingebildet, oder war er wirklich passiert? Die ganze Szene kam ihr auf einmal so unwirklich vor, so als hätte sie sie nur geträumt.

„Ich … Mein Vater …“ Sie holte tief Luft. „Der Anruf kam vom Krankenhaus. Sein Zustand hat sich wegen einer Infektion drastisch verschlechtert.“ Tränen schossen ihr in die Augen, und sie blinzelte heftig. „Es tut mir leid, aber ich muss sofort zu ihm. Ich …“

„Natürlich“, entgegnete Javier energisch. Er bot ihr den Arm, sodass sie sich bei ihm unterhaken konnte. Dann winkte er Aurora heran. „Mi corazón, sei so lieb und lauf voran zum Haus. Sag Jolanda, dass ich mit Señorita … dass ich mit Charlene ins Krankenhaus fahren muss, um nach ihrem Vater zu sehen.“

„Und der Picknickkorb? Nehmen wir ihn nicht wieder mit?“

„Zum Einpacken haben wir jetzt keine Zeit. Wenn Jolanda einverstanden ist, könnt ihr nachher zusammen herkommen und die Sachen holen.“

Charlene war Javier unendlich dankbar, dass er so viel Verständnis für ihre Situation zeigte. Wirklich wohl fühlte sie sich bei der Vorstellung, dass er sie persönlich zum Krankenhaus fahren wollte, allerdings nicht. Was, wenn er darauf bestand, sie bis ins Zimmer ihres Vaters zu begleiten? Sie hatte ihn Graham gegenüber nie erwähnt. Ob Javier längst wusste, dass ihr Vater der Mann war, dem er mit seinen dubiosen Machenschaften das Wasser abgrub?

Sei nicht naiv, rief sie sich zur Ordnung. Natürlich weiß er es! Javier war ein gerissener Geschäftsmann, ihm entging so leicht nichts. Und sie glaubte ja wohl nicht ernsthaft, dass er eine wildfremde Frau zu sich in sein Haus holte, ohne sich zumindest in groben Zügen über ihre Vergangenheit erkundigt zu haben …

Aber was, wenn nicht?

Eine Konfrontation zwischen Javier Santiago und ihrem Vater war jedenfalls das Letzte, wonach ihr im Augenblick der Sinn stand. Zumal Graham in seinem derzeitigen Zustand vermutlich kaum in der Lage sein würde, sich gegen Javier zu behaupten. Außerdem wollte sie nicht, dass ihr Vater erfuhr, dass sie ausgerechnet für seinen Erzrivalen arbeitete. Die beiden Männer mochten einander nicht besonders gut kennen, aber eines wusste Charlene genau: Graham würde furchtbar wütend reagieren, wenn er die Wahrheit herausbekäme.

Er würde die Tatsache, dass sie für Javier Santiago arbeitete, als Verrat bewerten. Was einem Vernichtungsschlag gleichkam – jedenfalls für das zarte Pflänzchen des Zutrauens, das sich in den vergangenen Wochen zwischen ihnen entwickelt hatte.

Trotzdem lehnte sie nicht ab, als sie kurz darauf das Haus erreichten und Javier ihr die Beifahrertür seines Wagens aufhielt. „Steig ein, Charlene“, befahl er sanft. „Und keine Sorge, heute Nachmittag bin ich nur dein Fahrer und deine moralische Unterstützung – nicht dein Chef!“

Während der Fahrt nach Palma erwähnte er das, was am Strand zwischen ihnen vorgefallen war, mit keinem Wort. Dennoch gelang es Charlene nicht, sich einzureden, dass der Kuss ohne Folge bleiben würde. Ein deutliches Zeichen war, dass Javier ganz von selbst zum vertraulichen Du übergegangen war. Noch viel deutlicher aber signalisierte ihr das heftige Hämmern ihres Herzens, das jedes Mal einsetzte, wenn sie ihn ansah, dass sich etwas verändert hatte.

Sie unterdrückte ein Stöhnen. In was für eine Situation hast du dich da bloß wieder hineinmanövriert?

7. KAPITEL

„Ah, Señorita Beckett!“ Die Krankenschwester, die Charlene ansprach, als Javier und sie eine halbe Stunde später die Station betraten, lächelte beruhigend. „Ihr Vater ist gerade bei einer Untersuchung. Aber machen Sie sich keine Sorgen; es geht ihm bereits wieder besser. Die Ärzte sind zuversichtlich, dass die verabreichten Antibiotika die Infektion schnell in den Griff bekommen, auch wenn wir das Ergebnis der Untersuchung abwarten müssen, um Genaues sagen zu können. In etwa zwei Stunden wissen wir mehr.“

Charlene nickte. Sie konnte froh sein über die Nachricht, dass es Grund zu vorsichtigem Optimismus gab. Doch all die Enttäuschungen und Rückschläge in der Vergangenheit hatten sie vorsichtig gemacht. Sie glaubte immer erst dann, dass alles gut werden würde, wenn sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte.

„Wollen wir nach draußen gehen und uns ein wenig die Beine vertreten?“ Javier legte ihr den Arm um die Schultern. „Hinter dem Gebäude gibt es einen hübschen kleinen Park. Dort lässt es sich sehr viel angenehmer warten als hier drinnen.“

Es war ein tröstliches Gefühl, Javier so nah zu sein. Die Wärme seines Körpers vertrieb die eisige Kälte, die von ihr Besitz ergriffen hatte.

Sie fuhren mit einem der Fahrstühle nach unten, doch anstatt zum Haupteingang hinauszugehen, folgten sie einem Korridor, der einmal quer durch das ganze Gebäude führte und mit einer schweren Stahltür abschloss. Als Javier sie ihr aufhielt, stockte Charlene der Atem.

Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Na, habe ich zu viel versprochen?“, fragte Javier lächelnd.

Ungläubig staunend blickte Charlene sich um. Vor ihr erstreckte sich ein bezaubernder Rosengarten. Ein murmelnder kleiner Bach, der im Sonnenlicht glitzerte, wand sich mitten durch die Anlage, und der schwere, süße Duft der zahllosen Blüten erfüllte die Luft. Prachtvoll leuchtende Schmetterlinge flatterten umher. Die Palette ihrer Farben reichte von kräftigem Sonnengelb über zartes Rosé bis hin zu feurigem Rot. Im Hintergrund konnte man die spitzen Türme der Kathedrale von Palma sehen, die sich sandfarben gegen den blauen Sommerhimmel abhoben.

„Das ist … überwältigend“, stieß Charlene ergriffen hervor. Neugierig schaute sie Javier an. „Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?“

Sie merkte sofort, dass ihre Frage ein Fehler gewesen war. Javiers Miene verdüsterte sich. „Sagen wir, ich bin öfter hier gewesen. Zu oft, um ehrlich zu sein …“

Am liebsten hätte Charlene sich für ihre Taktlosigkeit geohrfeigt. Sie wusste doch, dass seine Frau sehr jung gestorben war, auch wenn sie über die Umstände ihres Todes keine Kenntnisse hatte. Deshalb war sie unwillkürlich davon ausgegangen, dass Catalina Santiago bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Vermutlich auch, weil man junge Menschen nicht ohne Weiteres mit Krankheit und Leid in Verbindung brachte. Was dumm und kurzsichtig war. Das Schicksal machte ebenso wenig Unterschied zwischen Alt und Jung wie zwischen Arm und Reich.

Sie senkte den Blick. „Es tut mir leid, Javier. Ich wollte nicht …“

Er hob die Hand und brachte Charlene mit seinem sanften Lächeln zum Schweigen. „Das weiß ich.“ Seine Stimme klang ehrlich. „Und es muss dir auch nicht leidtun. Solche Dinge geschehen. Das Leben ist nun einmal so. Aber dieser Ort ruft mir eben jedes Mal in Erinnerung, dass wir Menschen dazu neigen, erst dann zu erkennen, was wir an jemandem haben, wenn wir im Begriff stehen, ihn zu verlieren.“

Charlene schluckte. Treffender hätte man das, was sie angesichts der gesundheitlichen Krise ihres Vaters empfand, nicht beschreiben können. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, doch sie kämpfte tapfer dagegen an. Seufzend fuhr sie sich durchs Haar. Ihre Finger zitterten leicht. „Ich weiß genau, was du meinst“, sagte sie. „Mein Vater und ich … Nun, lass es mich so sagen: Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, war unsere Beziehung zueinander nicht unbedingt die allerbeste.“ Ein Laut – halb Lachen, halb Schluchzen – entrang sich ihrer Kehle. „Nein, das stimmt nicht. Überhaupt von einer Beziehung zu sprechen wäre schon zu viel. Mein Vater stürzte sich in seine Arbeit, um sich von seiner Wut und seinem Schmerz abzulenken. Manchmal bekam ich ihn eine ganze Woche nicht zu Gesicht, weil er immer erst heimkam, wenn ich längst im Bett lag. Morgens fuhr er dann schon in aller Herrgottsfrühe wieder zur Werft. Ich vermute, für ihn war dies die einzige Möglichkeit, den Verrat seiner Ehefrau zu verarbeiten. Nur leider vergaß er darüber, dass er auch noch eine Tochter hatte. An manchen Tagen fragte ich mich, ob er sich daran erinnerte, dass es mich überhaupt gab.“

Während sie davon erzählte, spürte sie den alten Zorn wieder in sich hochkochen. Die hilflose Wut eines kleinen Mädchens, das sich ungeliebt und zurückgestoßen gefühlt hatte. Und einen kurzen Moment lang war sie wieder fünf Jahre alt, ängstlich und verzweifelt. Im Stich gelassen von den beiden Menschen, die ihr im Leben am allermeisten bedeuteten: Mutter und Vater. Und dem schrecklichen Gefühl, nicht genug geliebt zu werden, um sie halten zu können.

Nun ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Rasch wandte sie sich ab.

Javier stockte der Atem. Der Schmerz, der in Charlenes Augen gestanden hatte, rührte etwas tief in ihm an. Vielleicht, weil er in ihr auch ein wenig sich selbst wiedererkannte. Und sogar jetzt, als sie ihm den Rücken zuwandte, konnte sie ihre Erschütterung nicht verbergen. Er sah, wie ihre Schultern bebten, und verspürte den unwiderstehlichen Drang, sie in die Arme zu schließen, um ihr Trost und Halt zu geben. Doch er wusste auch, dass er genau das nicht tun durfte.

Nicht, nachdem er sie vorhin am Strand geküsst hatte.

Er hätte nicht sagen können, was in dem Moment in ihn gefahren war. Normalerweise verachtete er Männer, die ihre weiblichen Angestellten als Freiwild betrachteten, und trennte strikt zwischen Beruflichem und Privatem. Nicht dass er seit Catalinas Tod ein nennenswertes Privatleben gehabt hätte. Ein oder zwei Mal war er mit Dolores zu Veranstaltungen gegangen, bei denen er seine Teilnahme nicht hatte absagen können. Doch abgesehen davon, dass sie für ihn arbeitete, war Dolores für ihn so etwas wie eine kleine Schwester.

Autor

Raye Morgan

Raye Morgan wuchs in so unterschiedlichen Ländern wie Holland, Guam und Kalifornien auf und verbrachte später einige Jahre in Washington, D.C. Jetzt lebt sie mit ihrem Mann, der Geologe und Informatiker ist, und zwei ihrer vier Söhne in Los Angeles. „Die beiden Jungen zu Hause halten mich immer auf dem...

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