Weddings by DeWilde - die komplette Familiensaga um die Hochzeitsplaner (12 Romane)

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Diese zwölfteilige bewegende Familiensaga spielt in der Welt der Schönen und Reichen aber nicht immer Glücklichen …
Das luxuriösen Unternehmen Weddings by DeWilde gestaltet seit der vorletzten Jahrhundertwende Hochzeiten von Töchtern reicher Familien als unvergessliche Feste. Aber nun werden drei Generationen durch die Trennung von Grace und Jeffrey DeWilde auseinandergerissen. Die Mitglieder der Familie müssen sich neuen Herausforderungen stellen. Sie erleben faszinierende Liebesbeziehungen und werden mit einem lange gehüteten Geheimnis konfrontiert …

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DER FAMILIENSKANDAL
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DAS KIND DER LIEBE
MEGAN MUSS SICH ENTSCHEIDEN
DIE GEHEIMEN TAGEBÜCHER
DER AUßENSEITER
FUNKELNDE JUWELEN
AUF DEM WEG INS GLÜCK


  • Erscheinungstag 19.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775759
  • Seitenanzahl 1560
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jasmine Cresswell, Janis Flores, Kate Hoffmann, Daphne Clair, Leandra Logan, Margaret St. George, Judith Arnold

Weddings by DeWilde - die komplette Serie (12 Romane)

IMPRESSUM

Suche nach dem Glück erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 1996 by Harlequin Books, S.A.
Originaltitel: „Shattered Vows“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe Julia Spezial
Band 1 - 1997 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Margret Krätzig

Umschlagsmotive: ThinkstockPhotos / Dmytro Buianskyi

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733774875

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Gabriel DeWilde stürmte in das Büro seines Vaters und schlug die Tür hinter sich zu. „Was, zum Teufel, soll das bedeuten?“ Er warf ihm den Brief des Anwalts auf den Schreibtisch. „Wenn du das für einen Witz hältst … Ich finde es nicht komisch!“

Jeffrey DeWilde schaute weiter aus dem Fenster, offenbar fasziniert vom Anblick der grauen Schieferdächer im Frühlingsregen. „Es ist kein Witz“, sagte er schließlich. „Grace hat mich verlassen.“

Es klang nur gelinde bedauernd, als beschwere er sich lediglich beim Frühstück, dass die Lieblingsmarmelade ausgegangen sei. Gabriel fuhr sich mit der Hand durchs lange, hellbraune Haar und schritt im Zimmer auf und ab. Ihm war, als befände er sich anstatt im vertrauten väterlichen Büro im freien Fall eines fremden Universums.

„Verlassen?“, wiederholte er. Das schlichte Wort war ihm in Verbindung mit seiner Mutter unverständlich. „Sie kann dich doch nicht verlassen haben. Ihr seid schließlich seit zweiunddreißig Jahren verheiratet!“

„Aber sie hat es getan!“ Jeffreys entschiedene Erwiderung hallte durch den stillen, mit Eichenholz getäfelten Raum. „Freitagnacht ist sie in ein Hotel gezogen. Ich weiß nicht, in welches.“

Gabriel versuchte kopfschüttelnd, seinen Realitätssinn zurückzugewinnen. „Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Du und Mutter, ihr schient immer die ideale Ehe zu führen. Keiner von euch hat uns auch nur den kleinsten Hinweis gegeben, dass ihr Probleme habt.“

Jeffrey drehte sich immer noch nicht um. „Einige Dinge sind zu schmerzlich, um sie zu bereden, auch nicht mit den eigenen Kindern. Außerdem hat es vielleicht Hinweise gegeben, wenn du bereit gewesen wärst, auf sie zu achten.“

„Nein, es gab keine. Wir hatten keine Ahnung …“ Gabriel brach ab. Plötzlich erinnerte er sich an einen Sonntagmorgen, letzten Monat. Er war unerwartet nach Kemberly, dem Haus seiner Eltern in Hampshire, gekommen. Seine Mutter war allein gewesen und hatte verweinte Augen gehabt, die sie mit einer Pollenallergie erklärte. Er hatte ihr glauben wollen und nicht weiter nachgeforscht. Rückblickend verwünschte er seine Blindheit. Er ließ den Frust über sich an seinem Vater aus.

„Ihr könnt nicht erwarten, dass eure Kinder Gedanken lesen. Verdammt, Dad, du hättest uns vorwarnen müssen!“

„Was hätte ich sagen sollen? Ich war mir nicht sicher, wie … sich die Situation … klären würde.“

„Du hättest irgendetwas sagen sollen, ehe Mutter wegging und der Familienanwalt uns mitteilt, dass ihr beide euch getrennt habt! Ramsbothams Brief liest sich wie eine Verlautbarung des Buckingham Palace, dass wieder eine königliche Ehe gescheitert sei. Wir sind schließlich eure Kinder und keine Firmenangestellten. Was glaubst du, wie Kate und Megan sich fühlen, wenn sie eine Kopie dieses Briefes erhalten? Sie sind meilenweit weg und können nicht mal eben vorbeikommen und mit dir reden.“

„Tut mir leid“, entschuldigte Jeffrey sich knapp. „Am Ende ging alles sehr rasch. Ich habe gestern Abend noch versucht, dich anzurufen, aber du warst aus, und ich war vielleicht sogar froh darüber. Ich konnte auch Megan in Paris nicht erreichen, aber du weißt, ich war nie gut darin, emotionale Dinge zu erklären. Das war immer Sache deiner Mutter. Sie macht so etwas bedeutend besser als ich. Ich verlasse mich in dieser Hinsicht völlig auf sie …“

Jeffrey stand plötzlich auf, schob die schweren Vorhänge ganz beiseite und dann in ihre ursprüngliche Position zurück. Schließlich setzte er sich wieder mit dem Rücken zu Gabriel und blickte von neuem auf die verregnete Bond Street.

Er räusperte sich, begann zu sprechen, brach ab und begann erneut. „Grace ist nach San Francisco zurückgekehrt. Sie ist gestern Morgen abgereist. Also wird sie inzwischen dort sein und sich eingerichtet haben, wo immer sie zu bleiben gedenkt. Ich bin mir sicher, dass sie bald Kontakt zu dir aufnimmt, Gabriel. Schließlich will sie sich von mir scheiden lassen und nicht von ihren Kindern. Du weißt, wie sehr sie euch alle liebt.“

Scheidung! Grundgütiger Himmel, dachten seine Eltern wirklich an Scheidung und nicht nur an eine vorübergehende Trennung? Je mehr sein Vater erklärte, desto weniger verstand Gabriel. Diese ganze Unterhaltung wäre lächerlich, ja geradezu komisch – wenn sie nicht so traurig wäre.

Gabe wusste, dass seine Eltern einst glücklich miteinander gewesen waren. Kinder spürten so etwas. Sie hatten sich nicht nur gemocht und respektiert, sondern tiefe Liebe füreinander empfunden. All seine Kindheitserinnerungen waren von dieser Gewissheit durchdrungen. Wo war die Liebe geblieben? Wenn Jeffrey und Grace es nicht schafften, ihre Ehe aufrechtzuerhalten, dann fragte Gabe sich, ob es überhaupt ein Paar schaffen konnte.

„Wie kannst du zulassen, dass Mutter sich von dir scheiden lässt? Kannst du nicht dagegen angehen? Sicher könnt ihr eure Probleme irgendwie bereinigen, worin sie auch bestehen mögen. Großer Gott, nach zweiunddreißig Jahren muss es doch noch eine gemeinsame Basis geben. Ihr liebt euch doch!“

Jeffrey blieb stumm und regungslos.

„Dad, sieh mich an, um Himmels willen! Ich möchte verstehen, was passiert ist. Ihr zwei wart doch immer so glücklich.“

„Offenbar nicht glücklich genug, um deine Mutter zu bewegen, hier in England zu bleiben.“

„Aber warum ist sie eigentlich nach San Francisco gereist? Was hat sie dort bloß vor?“

„Ich weiß es nicht. San Francisco ist schließlich ihre Heimatstadt, und Kate lebt dort.“

„Kate wird nur dortbleiben, bis sie ihr Studium abgeschlossen hat. Mutters Heimat ist hier in London, bei dir. Sie hat hier ihre Arbeit, ihre Freunde. Ihr ganzes Leben hat sich hier abgespielt. Warum tut sie dir – uns – nur das an? Wie konnte sie einfach so … abhauen?“

Jeffrey schwang schließlich den Sessel herum und sah seinen Sohn an. Man hätte das schmale, aristokratische Gesicht für ausdruckslos halten können. Gabriel wusste es besser. In den braunen Augen seines Vaters blitzte für gewöhnlich Humor auf, verbunden mit einem wehmütigen Verständnis für die Torheiten der Welt und die, die er selbst beging. Heute war sein Blick kalt und leer, der Mund verkniffen. Was immer auch der Grund für das überraschende plötzliche Zerbrechen der Ehe gewesen war, Gabe fühlte, dass sein Vater es nicht gewollt hatte. Er war erschüttert von Graces plötzlicher Abreise. Jeffrey wirkte vielleicht kühl und gefasst, doch Gabriel vermutete, dass er innerlich aufgewühlt war und sich nur mühsam beherrschte.

„An einer Ehe sind immer zwei Menschen beteiligt“, sagte Jeffrey mit derselben unnatürlichen Ruhe. „Wenn sie zerbricht, kannst du darauf wetten, dass beide Partner dazu beigetragen haben.“

Gabriel fragte sich, ob er die Stimmung seines Vaters vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. „Willst du mir sagen, dass es eine Entscheidung im gegenseitigen Einverständnis war? Wolltet ihr beide die Ehe beenden?“

„Ich bin sicher nicht schuldlos an allem, was geschehen ist. Aber Tatsache ist, dass deine Mutter offenbar meint, unsere Ehe sei von Anfang an ein Irrtum gewesen.“ Jeffrey holte tief Luft und seufzte: „Im Augenblick möchte sie, glaube ich, so weit wie möglich von mir und London entfernt sein.“

Gabriel entging nicht, dass sein Vater der eigentlichen Frage geschickt ausgewichen war. Zweifellos, weil er ein zu ehrenwerter Mann war, alle Schuld seiner Frau anzulasten. „Wenn sie zweiunddreißig Jahre gebraucht hat, zu erkennen, dass eure Verbindung ein Irrtum war, konnte sie dann nicht noch ein paar Monate länger warten, um zu sehen, ob sich euer Verhältnis wieder einrenkt?“

„Offenbar nicht.“

Gabriel wurde zornig auf seine Mutter. Er war ihr stets in tiefer Zuneigung verbunden gewesen. Er hatte ihre grenzenlose Kreativität bewundert und die Leichtigkeit, mit der sie die Dinge des Alltags bewältigte. Ihre plötzliche Abreise kam ihm wie ein persönlicher Verrat vor. Welche Gründe auch zur Trennung von seinem Vater geführt hatten, sie entschuldigten nicht, dass sie das Land verließ, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Warum hatte sie ihn zum Abschied nicht angerufen? Warum hatte sie ihm nicht erklärt, weshalb sie all das verlassen musste, was sie ein Leben lang aufgebaut hatte?

In den letzten drei Jahren hatte Gabriel als einziges der drei DeWilde-Kinder in London gelebt und gearbeitet. Der Respekt für seine Mutter war gewachsen, als er sah, welche Arbeitslast sie auf sich nahm und wie einzigartig und unverzichtbar ihr Beitrag zur DeWilde’s-Organisation war. Durch ihr plötzliches Verschwinden fühlte er sich wie desorientiert. Die verlässlichen Grenzen des täglichen Lebens gerieten ins Wanken, wurden schwammig. Durch das Schweigen seiner Mutter fühlte er sich zurückgestoßen und eigenartig beraubt. Und wenn er sich schon beraubt fühlte, wie musste dann erst seinem Vater zumute sein …?

„Meine Mutter hat Verpflichtungen“, sagte er schroff. „Auch wenn sie sich entschlossen hat, Mann und Familie wegzuwerfen, gibt es ein Geschäft, an das sie denken muss. Sie erinnert sich hoffentlich, dass sie geschäftsführende Vizepräsidentin von DeWilde’s ist.“ Er nahm den Brief des Anwalts und deutete mit dem Finger auf einen der vielen obskuren Sätze. „Was heißt das, um Himmels willen? ‚Diverse finanzielle Angelegenheiten persönlicher und geschäftlicher Natur müssen zwischen Ihren Eltern noch ausgehandelt werden.‘ Erkläre mir das bitte!“

Jeffrey legte die Hände an den Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie, als sei er sich nicht ganz sicher, dass sie ihm gehörten. „Grace sagt, dass sie kein Interesse mehr am zukünftigen Erfolg oder Misserfolg von DeWilde’s hat. Der Brief mit ihrer Rücktrittserklärung lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch. Sie möchte sowohl die Verbindung zu unseren Geschäften wie zu mir abbrechen.“

Jeffreys Stimme klang unbewegt, doch Gabriel merkte, dass sein gelassen höflicher und scheinbar ruhiger Vater mühsam um die Fassung rang. Er war nicht nur persönlich betroffen von der plötzlichen Flucht seiner Frau, sondern war sich auch der möglicherweise ernsten geschäftlichen Konsequenzen bewusst. Aktienmarktanalytiker mochten vielleicht sein kaufmännisches Talent rühmen und seine Fähigkeit, Kosten zu senken bei gleichzeitiger Beibehaltung des hohen Servicestandards in allen DeWilde’s-Filialen. Doch jeder, der eng genug mit der täglichen Führung der fünf internationalen DeWilde’s-Geschäfte vertraut war, wusste, wie lebenswichtig Graces Beitrag zum Erfolg gewesen war. Sie galt im gesamten Unternehmen als kreativer Wirbelwind, der die stabile Säule aus Jeffreys Geschäftssinn umwehte. Sie hauchte den fakten- und zahlenorientierten Entscheidungen ihres Ehemannes Leben ein und gab ihnen Farbe.

Graces Verkaufsinstinkte waren beiderseits des Atlantiks unübertroffen. Sie hatte einen sechsten Sinn, der ihr Monate vor der Konkurrenz verriet, wie die Hochzeiten aussahen, die Bräute im nächsten Jahr planten. Außerdem schien sie mit einem siebenten Sinn gesegnet zu sein, der ihr exakt vorgab, wie Firmenprodukte anzubieten und zu vermarkten waren, um die Wunschvorstellungen jeder Braut für eine perfekte Hochzeit und glamourhafte Flitterwochen zu erfüllen. Mit tiefer Sorge erkannte Gabriel, dass der Fortgang seiner Mutter nicht nur die Ehe, sondern möglicherweise auch den andauernden Erfolg der DeWilde’s-Kette beenden könnte. Bei den derzeit weltweiten Turbulenzen im Einzelhandel wäre es ein denkbar ungünstiger Augenblick, wenn Aktienmarktanalytiker gerade jetzt den zukünftigen Erfolg des Unternehmens als Branchenführer in Frage stellen müssten.

„Wie willst du das mit der Managementgruppe handhaben?“ Gabriel sah auf seine Uhr. „In vier Stunden öffnet das Geschäft in New York. Aber jemand muss auf der Stelle Ryder Blake in Sydney benachrichtigen. Und wir müssen auch mit Paris sprechen. Oder hat Megan die Sache da drüben im Griff? Und Monaco? Mit wem hast du sonst noch hier in London gesprochen? Wie viele Leute wissen schon, dass Mom fort ist?“

„Niemand.“

Gabriel lag eine Verwünschung auf der Zunge. Die Abreise seiner Mutter musste seinen Vater völlig aus der Bahn geworfen haben. Normalerweise hätte der Weggang eines leitenden Angestellten Jeffrey veranlasst, das ganze Wochenende herumzutelefonieren, damit alle Manager über die Situation auf dem Laufenden waren. Er hätte längst Taktiken und Strategien mit ihnen abgesprochen, damit am Montagmorgen alles wie gewohnt weiterliefe. Gabriel erkannte erst allmählich das ganze Ausmaß des Problems, dem sie sich stellen mussten. Grace zu verlieren war schon schlimm genug, aber DeWilde’s konnte es sich keinesfalls leisten, auch noch auf Jeffreys Beitrag zu verzichten, schon gar nicht, da große Expansions- und Renovierungspläne anstanden.

Er atmete tief durch und fuhr fort: „Falls niemand von Mutters Rücktritt weiß, solltest du sofort eine Versammlung der Geschäftsleitung einberufen. Du musst Moms Aufgaben an andere delegieren. Vier Geschäftsleiter erstatteten ihr direkt Bericht hier in London, außerdem war sie für alle fünf Geschäfte Marketingberaterin.“ Es war lächerlich, seinen Vater an diese grundlegenden Dinge zu erinnern, doch im Moment schien Jeffrey jede Hilfe gebrauchen zu können. „Sollen die Geschäftsleiter vorerst dir Bericht erstatten? Falls nicht, wie willst du die Aufgaben verteilen?“

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Wir müssen das doch nicht heute entscheiden, oder? Im Augenblick müssen alle nur wissen, dass Grace das Unternehmen verlassen hat.“

„Dad, entschuldige, aber so einfach ist das nicht, und das weißt du auch.“ Gabriels erster Schreck über die Ereignisse legte sich allmählich, und er kam zu dem Schluss, dass er seinem Vater am ehesten half, indem er dafür sorgte, dass Graces Ausscheiden so wenig negative Auswirkungen wie möglich auf die Geschäfte hatte. „Mutters verrückte Entscheidung beeinträchtigt nicht nur die Familie, sondern auch die Firma. Wenn die Nachricht über ihr Ausscheiden auf dem falschen Weg an die Öffentlichkeit dringt, kann sich das lähmend auf das Unternehmen auswirken, von unserem Aktienkurs ganz zu schweigen. Abgesehen von diesen Problemen müssen wir die interne Ankündigung mit Fingerspitzengefühl machen, oder es gibt eine Menge verunsicherter Angestellter.“

„Grace ist fort“, sagte Jeffrey eisig. „Wie könnten wir diese Tatsache deiner Meinung nach positiv darstellen?“

„Keine Ahnung, aber vielleicht kann jemand aus der Managementgruppe dazu etwas Konstruktives beitragen. Zumindest sollten wir dafür sorgen, dass sich die Neuigkeit nicht gerüchteweise verbreitet. Du musst deine PR-Berater anrufen und so was wie Schadensbegrenzung in die Wege leiten. Sie sollen eine nüchterne Mitteilung über Graces Ausscheiden erarbeiten mit dem sachlichen Hinweis, dass Mitarbeiter bereitständen, um ihre Aufgaben zu übernehmen. Und dann wappne dich vor dem Sturm an Telefonaten, der losbricht, sobald die Pressemitteilung die Finanzmärkte erreicht.“

Nach einer kurzen Pause fügte Gabriel hinzu: „Außerdem musst du entscheiden, wer die internationalen Marketingfunktionen übernehmen soll. Die Londoner Angelegenheiten kann ich erledigen, aber ich habe keine nennenswerte internationale Erfahrung. Adams Fähigkeiten im Marketingbereich sind gut, aber er hat nicht Mutters natürliche …“

„Ich kann es aber nicht!“ Jeffrey stand bleich auf und hielt sich am Schreibtisch fest. „Tut mir leid, Gabe. Ich dachte, ich könnte heute wie immer im Büro arbeiten, aber ich schaffe es nicht. Ich muss eine Weile hier raus. Bitte kümmere dich um alles!“ Er schritt zur Tür hinaus, vorbei am Schreibtisch seiner Sekretärin Monica und ignorierte deren erstaunten Blick und die Bitte, doch einen Augenblick zu warten oder wenigstens einen Schirm mitzunehmen …

„Will er wirklich bei dem Regen nach draußen?“, fragte sie und tippte mit dem Bleistift auf ihre Tastatur, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Hoffentlich hat er nicht vergessen, dass Sir Walter Kenyon in zwanzig Minuten kommt …“

„Hat er vermutlich“, sagte Gabriel. „Es ist vielleicht besser, Sie versuchen, den Termin mit Sir Walter auf nächste Woche zu verschieben.“

Monica tätigte den Anruf, verzog das Gesicht und legte auf. „Tut mir leid, Gabriel, Sir Walter ist bereits vor einer Viertelstunde losgegangen, und man kann ihn nicht mehr erreichen.“

„Verdammt! Wissen Sie, ob sonst noch jemand aus der Firma an dem Treffen teilnehmen sollte?“

Monica blickte auf ihren Tischkalender. „Rupert Finlay.“

„Das ergibt Sinn. Rupert ist unser Hauptbuchhalter und Sir Walter ist Bankier. Dann soll Rupert die Sache allein übernehmen. Er weiß vermutlich, worum es bei dem Treffen gehen sollte. Rufen Sie ihn an und warnen Sie ihn vor, dass er das Ding allein schaukeln muss.“

Gabe wollte gehen, doch Monica rief ihn zurück. Normalerweise das Muster einer umsichtigen, diskreten Chefsekretärin, konnte sie ihre persönliche Besorgnis nicht verhehlen. „Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich mich in Privatangelegenheiten einmische, Gabriel, aber Ihr Vater war in den letzten Wochen sehr verändert. Stimmt etwas nicht?“

Es war demütigend, dass Jeffreys Sekretärin etwas bemerkt hatte, das ihm entgangen war. Er hatte sich die letzten beiden Monate entschieden zu sehr mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt. Während er mit Julia Dutton ausgegangen war und sich zu überzeugen versucht hatte, er habe endlich die ideale Ehefrau gefunden, war unter seinen Augen die Ehe seiner Eltern zerbrochen.

Es hatte keinen Sinn, die Wahrheit vor Monica zu verbergen. „Meine Eltern haben sich getrennt. Grace hat England schon verlassen und ist nach San Francisco zurückgekehrt. Sie hat dort Familie.“ Er sagte das sehr sachlich, als seien Geschwister und etliche Cousins ein ausreichender Grund, einen Ehemann und eine steile Karriere in Englands berühmtestem und erfolgreichstem Warenhaus aufzugeben. „Und natürlich lebt Kate in Stanford und beendet dort ihre Zeit als Assistenzärztin.“

„Ich verstehe nicht.“ Monica errötete vor Bestürzung. „Kommt Grace denn nicht zurück?“

„Nein, im Augenblick plant sie keine Rückkehr.“

„Oh nein! Es tut mir so leid. Ich hätte mir das nie träumen lassen … Armer Jeffrey.“ Sie straffte sich merklich und wappnete sich vor einer unsicheren Zukunft. „Nun, das wird heute ein schwieriger Tag für uns alle werden. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich muss die leitenden Angestellten informieren, dass Grace fort ist. Würden Sie sie benachrichtigen, dass wir uns in einer halben Stunde im Konferenzzimmer treffen?“

Monica blickte auf ihre Schreibtischuhr. „Das wäre um halb zehn. Bis dahin sind alle versammelt. Ich informiere sie sofort und mache ihnen klar, dass die Anwesenheit zwingend ist.“

„Danke.“ Gabe rannte fast in sein Büro zurück. Um acht heute Morgen hatte er noch geglaubt, sein größtes Problem sei es, die Beziehung zu Julia Dutton zu lösen, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Jetzt, eine Stunde später, war das nur noch eine Kleinigkeit, verglichen mit der Trennung seiner Eltern.

Er drückte seine Bürotür auf und überlegte, dass er sich zu Julia vielleicht hingezogen gefühlt hatte, weil sie mit ihrer Ruhe und Häuslichkeit das genaue Gegenteil seiner quirligen, energiegeladenen Mutter war. Aber warum hatte er die Nähe eines ruhigen Menschen gesucht? Hatte er unbewusst die Anspannung seiner Mutter und die wachsende Spannung zwischen den Eltern wahrgenommen?

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und arbeitete emsig daran, die Aufgaben seiner Mutter, zumindest vorläufig, an andere zu delegieren.

Gelinde gesagt, war dies nicht der schönste Montag seines Lebens, und er hoffte inständig, dass der Vorrat an unerfreulichen Überraschungen nun erschöpft war …

2. KAPITEL

Als sie erkannte, dass der Regen nicht nachlassen würde, investierte Lianne Beecham ihr Essensgeld für die Woche in eine Taxifahrt. Schließlich würde sie bald eine erwerbstätige Frau mit einem guten Job und einem regelmäßigen Einkommen sein. Sobald das Gehalt für den ersten Monat auf ihrem Bankkonto lag, wäre sie reich oder zumindest flüssig, was man in den letzten Monaten nicht hatte behaupten können. Für freischaffende Designer war es in London ebenso schwer wie in New York, hatte sie entdeckt, und sie war es herzlich leid, ein hungernder Künstler zu sein.

Nach dem Gewinn des Garnet Award im letzten Dezember hatte sie gehofft, dass Provisionen und ehrliche Arbeit nachfolgen würden. Stattdessen waren ihre Modeschmuckentwürfe in einigen wichtigen Zeitungen gelobt worden. Natürlich freute sie sich darüber, allerdings wäre es ihr lieber gewesen, wenn dem Lob einige Schecks beigelegen hätten. Schließlich musste auch eine angeblich hochtalentierte Designerin wie sie gelegentlich essen und ihren Anteil zur Miete beisteuern. Wenn Julia Dutton, ihre Mitbewohnerin, nicht so eine mitfühlende Freundin gewesen wäre, hätte sie vermutlich nicht lange genug in London bleiben können, einen Job an Land zu ziehen.

Doch ihrem Leben – und erst recht ihrem Konto – standen wunderbare Veränderungen bevor. Lianne zahlte den Taxifahrer und gab ihm ein so großzügiges Trinkgeld, dass er tatsächlich lächelte. Sie nahm ihre Unterlagen aus dem Wagen und blickte ungeachtet des niederprasselnden Regens auf den imposanten Eingang des Brautausstattungsgeschäftes. Ihr Herz schlug schneller, und ihr wurde warm trotz des kühlen Frühlingswindes. Wenn sie daran dachte, dass sie hinter diesen eleganten blauen Türen und Queen-Anne-Fenstern arbeiten würde, hätte sie vor Freude tanzen mögen.

Lianne rannte schließlich zur Tür und trat ein. Sie schob die Kapuze ihres Regenmantels zurück und ließ das Wasser von den Ärmeln in den Metallrost tropfen, der in den Marmorboden eingelassen war. Den Mantel aufknöpfend, trat sie durch die zweite schwere Tür und warf einen kurzen Blick in den Spiegel am Kosmetiktresen im Eingangsbereich. Oje, ihr Haar hatte sich in der feuchten Luft wieder zu Löckchen gekringelt. Zu Ehren ihres neuen Jobs hatte sie es heute Morgen zu einem lockeren Chignon geschlungen. Doch etliche vorwitzige Strähnen rahmten bereits wieder als braune Löckchen ihr Gesicht. Sei’s drum, an ihrem ersten Arbeitstag gab es Wichtigeres zu bedenken als ihre Frisur.

Lianne wollte durch die Verkaufsräume zu den Verwaltungsbüros gehen. Obwohl Grace DeWilde sie bei einem ihrer ersten Treffen ausgiebig herumgeführt hatte, wollte sie die Atmosphäre der Ausstellungsräume schnuppern, um ein Gefühl dafür zu bekommen, mit welchen Kunden sie es hier zu tun hatte und wie deren Wunschvorstellungen aussahen, wenn sie durch die vergoldeten Eingangstüren die edwardianische Pracht des Erdgeschosses betraten. Aus ihrer eigenen kurzen Erfahrung als zukünftige Braut vor fünf Jahren war sich Lianne sicher, dass Bräute mehr als andere Kunden mit ihren Kleidern und Schleiern vor allem Träume einkauften.

Sie blickte sich um und nahm einen feinen Duft nach Lavendel und Sandelholz wahr. Der überwältigende Eindruck von gediegener, traditioneller Eleganz wäre in den meisten Geschäften fehl am Platze gewesen. Doch DeWilde’s hatte bewiesen, dass britische Frauen es sogar an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert genossen, ihre Hochzeit in einer Umgebung zu planen, die Solidität und unaufdringliche Eleganz ausstrahlte. Eine Frau, die in den dreißiger Jahren bei DeWilde’s ihre Brautausstattung gekauft hatte, konnte heute mit ihrer Enkelin wiederkommen und sich auf angenehme Weise bewusst sein, dass sie im selben Geschäft war.

Die Kundinnen von einst kamen tatsächlich zurück und brachten neue Generationen von Bräuten mit. In einer sich ständig wandelnden Welt schien man diese Oase der Tradition zu schätzen.

Lianne verstand jedoch, warum Grace trotz des Erfolges der Firma einige Veränderungen einführen wollte. Im neuen Jahrhundert würde die Zahl der traditionellen Hochzeiten vermutlich abnehmen. Darauf musste man sich einstellen und das Angebot entsprechend ändern. So herrlich die handgearbeiteten Mahagonitresen waren, sie eigneten sich nicht für eine moderne Warenpräsentation. Die Beleuchtung musste dringend auf den neuesten Stand gebracht werden, und der Raum war insgesamt nicht bestmöglich ausgenutzt. Lianne stimmte völlig mit Grace überein, dass das berühmte Erdgeschoss zurückhaltend modernisiert werden sollte, ohne seine Schönheit und den architektonischen Gesamteindruck zu zerstören.

Dennoch, Veränderungen waren nicht leicht durchzusetzen. Lianne lächelte vor sich hin und war froh, dass nicht sie die Kämpfe mit den Erzkonservativen in den höheren Managementrängen austragen musste.

In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg hatte DeWilde’s schrittweise sein Warenangebot vergrößert, bis sie alles anboten, was die Braut für Hochzeit und Flitterwochen brauchte. In den letzten zwanzig Jahren hatten sie ihre Gewinne hauptsächlich mit Hochzeitskleidern, Wäsche und hochmodischer Garderobe für die Flitterwochen gemacht. Gleichgültig, ob man die ersten Tage des Ehelebens an einem tropischen Strand oder auf Eisschollen in Alaska verbrachte, DeWilde’s hatte die benötigte Kleidung. Trotz dieser Hauptausrichtung auf Bekleidung hatte das Geschäft seinen ursprünglichen Ruf als Juwelierladen bewahrt. Generationen junger Frauen hatten Herzklopfen bekommen, wenn ihre Auserwählten das berühmte dunkelblaue Lederkästchen hervorzogen, in dem ein Ring auf blauem Samt steckte und dessen mit pfirsichfarbenem Satin ausgeschlagener Deckel in Goldlettern den Namen DeWilde’s trug.

Heutzutage suchten die Paare den Ring zwar meistens zusammen aus, aber die Tradition des echten Lederkästchens mit Samtauskleidung war geblieben. Es war jener Hauch von Luxus, der DeWilde’s vor seinen Konkurrenten auf einem heiß umkämpften Markt die Führung eingebracht hatte.

Lianne verweilte einen Augenblick vor einer Auslage herrlich gearbeiteter Verlobungs- und Trauringe. Obwohl ihr Interesse mehr im Bereich des Modeschmucks lag, der eher ein Ableger der Modebranche als der Juwelierkunst war, bezog sie ihre Inspirationen häufig von Schmuckstücken der viktorianischen Zeit, besonders von jenen vom Hofe der indischen Maharadschas. Sie entdeckte auch eine Abteilung mit antikem Schmuck für solche Paare, die der Nostalgie den Vorzug gaben. Ein Ring fiel ihr besonders ins Auge. Er hatte ein aufwendiges florales Design mit kleinen Diamanten im Herzen jeder Blüte. Das Gold hatte einen rötlichen Ton, eine intensivere Farbe, als gegenwärtig modern war.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Madam?“

„Nein, danke.“ Lianne lächelte dem förmlich gekleideten Mann hinter dem Tresen freundlich zu. „Ich schaue mich nur um, aber einige dieser alten Verlobungsringe sind so hübsch, dass ich mich frage, ob die Ehe vielleicht doch keine so üble Sache ist. Das florale Muster ist besonders schön.“

Er erwiderte das Lächeln. „Es ist wirklich schön, obwohl die Diamanten kleiner sind, als wir sie gewöhnlich benutzen. Meine Frau sagt immer, dass eine Menge Diamanten nötig sind, um zu kompensieren, dass sie das Bad mit einem Mann teilt.“

„Ich bin mir sicher, sie hat recht. Sie haben eine kluge Frau.“

„Mit vielen Diamanten“, stimmte der Verkäufer mit gespielter Ernsthaftigkeit zu.

Lianne ging lachend davon. Sie bahnte sich einen Weg durch die ersten Kunden des Tages und blieb vor dem Prunkstück und Wahrzeichen des Londoner DeWilde’s-Geschäftes stehen. Auf einem Sockel ausgestellt prangte eine herrliche Tiara aus der berühmten Juwelenkollektion der Familie DeWilde. Geschützt durch ein Oktagon aus kugelsicherem Glas, funkelte die Tiara auf einem Kissen aus mitternachtsblauem Samt. Unter einem kleinen Scheinwerfer – und einem Dutzend elektronischer Sicherungen – schlangen sich opulente Stränge aus Diamanten und Perlen ineinander. Eine Hinweistafel erklärte, dass die Herkunft der Tiara nie eindeutig geklärt worden sei. Angeblich sei sie jedoch von der Kaiserin Eugenie von Frankreich zur Hochzeit mit Louis-Napoleon im Jahre 1853 getragen worden. Die Kaiserin hatte später ihren Gatten um viele Jahre überlebt und war erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in England gestorben. Es war also durchaus glaubwürdig, dass ihre Erben irgendwann aus Geldnot die Tiara verkauft hatten und sie schließlich in die Hände der berühmtesten Juweliersfamilie Englands gelangt war.

Lianne betrachtete das einzigartige Stück eine Weile. Die Verarbeitung war tadellos und die Mischung von Diamanten und Perlen herrlich. Trotzdem war Lianne leicht enttäuscht. Ihr war, als würde dieses wunderbare und unbezahlbare Stück seinem Ruf nicht ganz gerecht.

Lianne wandte sich schließlich ab und blickte auf die Uhr. Viertel vor elf. Zeit, sich nach oben in die Verwaltung zu begeben. Keinesfalls wollte sie an ihrem ersten Tag zu spät kommen. Grace DeWilde hatte vorgeschlagen, sie solle um elf Uhr erscheinen, eine Stunde nach Öffnung des Geschäftes.

„Am Montagmorgen habe ich immer entsetzlich viel zu tun“, hatte Grace mit ihrer rauen Stimme erklärt, die ein interessanter Kontrast zu ihrer eleganten Erscheinung und dem klassisch guten Aussehen darstellte. „Der Mai ist ein hektischer Monat für uns. Im Juni stehen viele Hochzeiten an, und die Bräute sind ständig in Sorge, dass ihre Kleider nicht rechtzeitig fertig werden.

In der Geschäftsleitung werden natürlich bereits die großen Einkaufsentscheidungen für das kommende Jahr getroffen. Für gewöhnlich bin ich schon um halb neun an meinem Schreibtisch, aber lassen Sie mir einige Stunden Zeit, um die übers Wochenende eingegangenen Faxe zu erledigen. Dann stehe ich Ihnen für den Rest des Morgens ganz zur Verfügung!“

„Ich würde Sie gern herumführen und persönlich mit allen bekannt machen“, hatte sie hinzugefügt. „Alle Mitarbeiter haben schon von meinen Renovierungsplänen für das Erdgeschoss und den Brautsalon in der ersten Etage gehört, den ich im Boutiquestil einrichten will. Man wird allgemein begeistert sein, dass ich ein Talent wie Sie als erste hauseigene Designerin eingestellt habe. Nach dem Lunch führe ich Sie zur Personalabteilung, dort wird man sich um den Papierkram kümmern.“

Lianne konnte es kaum erwarten. Sogar das lästige Ausfüllen von Personalpapieren erschien ihr angenehm, erhielt ihr neuer Job doch dadurch Brief und Siegel. In der Damentoilette richtete sie sich vor dem Spiegel kurz das Haar und machte sich auf den Weg zu Grace DeWilde.

Die Lifttüren öffneten sich, und vor ihr lag eine freundliche, in Beige und Moosgrün dekorierte Lobby. Lianne ging auf den langen Empfangstresen zu. Die Sekretärin dahinter lächelte ihr nervös entgegen.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“

Die junge Frau wirkte verunsichert. Lianne erwiderte das Lächeln freundlich. Vielleicht war die Angestellte ja auch neu auf ihrem Posten. „Ich möchte zu Grace DeWilde. Würden Sie ihr mitteilen, dass ich da bin? Mein Name ist Lianne Beecham.“

Wenn Lianne gesagt hätte: Dies ist ein Überfall! hätte die junge Sekretärin nicht erschrockener reagieren können. „Mrs. … Mrs. DeWilde?“, stammelte sie. „Sie wollen zu Mrs. DeWilde?“

„Ja, richtig.“ Lianne versuchte es mit einem erneuten Lächeln, doch die Empfangssekretärin war zu aufgeregt, es zu erwidern. „Wenn Sie zu beschäftigt sind, zeigen Sie mir doch einfach, in welcher Richtung ihr Büro liegt“, schlug sie vor. „Ich meine mich zu erinnern, dass ich am Ende des Flures nach links gehen muss.“

Die Vorstellung, dass Lianne in Grace DeWildes inneres Heiligtum eindringen könnte, riss die junge Sekretärin aus ihrer Lethargie. „Oh nein! Ich muss zuerst anrufen. Jemand muss Sie … begleiten. Wenn Sie sich also bitte setzen würden, Miss …“

„Beecham“, half Lianne ihr geduldig aus. „Lianne Beecham.“

„Ja, danke, Miss Beecham. Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick. Ich teile Mrs. DeWildes Assistentin mit, dass Sie hier sind.“

Bei ihren vorherigen Besuchen hatte Grace DeWilde, dieser menschliche Dynamo, sie persönlich in Empfang genommen. Lianne hatte insgeheim gehofft, Grace werde auch diesmal vor ihr stehen, wenn sich die Lifttür öffnete. Töricht, natürlich. Grace war viel zu beschäftigt, um in der Lobby auf eine relativ unbedeutende neue Angestellte zu warten.

Die Sekretärin schien die richtige Person nicht auftreiben zu können. Lianne wurde ungeduldig. Sie konnte es nicht erwarten, endlich mit ihrer Arbeit zu beginnen. Seit sie sich mit Grace einig geworden war, hatte sie zwölf Stunden täglich gearbeitet. Sie wollte endlich, dass man ihren Ideen zustimmte. Sie wollte wissen, wo ihr Büro war, wer die Boutique entwarf, in der ihre Brautkronen ausgestellt wurden, und wann ihre ersten Entwürfe in Produktion gehen konnten. Neun Tage waren seit ihrem letzten Gespräch mit Grace vergangen, und ihre Geduld ging zu Ende. Trotzdem saß sie sittsam in einem der Sessel, lehnte ihre Mustermappe an den kleinen Tisch und blätterte ein Magazin durch.

Die Empfangssekretärin beendete ihr leises Gespräch, vermutlich mit Grace DeWildes Assistentin, und blickte zu Lianne hinüber. Ihre Verunsicherung wich einer Haltung distanzierter Höflichkeit. „Mrs. DeWildes persönliche Assistentin wird jeden Augenblick bei Ihnen sein, Miss Beecham. Wir entschuldigen uns für die Verzögerung.“

Lianne fand diese Förmlichkeit erstaunlich und beunruhigend. Grace hatte ihr gesagt, dass es in der Firma nach britischen Maßstäben ziemlich zwanglos zugehe. Bei ihrem zweiten Treffen hatte sie bereits darum gebeten, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Die junge Sekretärin hielt sich offenbar an andere Richtlinien. Lianne stand auf und ging nervös hin und her.

Eine hübsche Frau mittleren Alters im grauen Schneiderkostüm erschien am Empfang. „Guten Morgen“, grüßte sie Lianne. Ihr Lächeln war höflich, doch ihre Körpersprache verriet dieselbe sonderbare Wachsamkeit wie die der Sekretärin. „Ich bin Fredda Halston, Mrs. DeWildes Assistentin.“ Ihre Stimme klang rau, und sie musste sich räuspern. Lianne hatte den verrückten Eindruck, sie unterdrücke Tränen. „Tut mir leid, dass wir Sie warten ließen. Mrs. DeWilde hat in ihrem Terminkalender nicht notiert, dass Sie kommen würden.“

„Ist Grace nicht im Büro?“, fragte Lianne. „Ich weiß, sie erwartet mich. Sie hat den Termin selbst festgelegt.“

Freddas Lächeln wirkte zunehmend angestrengt und schwand schließlich ganz. „Hat sie das? Tut mir leid, aber Mrs. DeWilde ist heute nicht erreichbar.“

Seltsam, dachte Lianne und versuchte, den nervösen Druck im Magen zu ignorieren. „Macht nichts! Ich bin da und kann es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Ich kann mich auch heute Nachmittag mit Grace treffen.“

„Arbeit?“, wiederholte Fredda. „An was sollen Sie denn arbeiten?“

„Brautkronen“, erwiderte Lianne und nahm sichtlich ungeduldig ihre Mustermappe auf. „Grace hat mir erklärt, dass sie um diese Jahreszeit viel zu tun hat. Also, wenn Sie mir jetzt bitte mein Büro zeigen, richte ich mich ein, und Grace kann mich später mit allen im Haus bekannt machen. Und vielleicht können Sie mir dann noch den Weg zur Personalabteilung zeigen, damit zwischenzeitlich meine Papiere ausgefertigt werden können, ehe Grace kommt.“

Fredda Halston und die Sekretärin tauschten einen entsetzten Blick. Fredda räusperte sich und sagte: „Miss Beecham, es ist mir sehr peinlich, aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie heute hier bei uns eine Arbeit aufnehmen möchten?“

Bei Lianne schrillten alle Alarmglocken. „Grace DeWilde hat mir vor über einer Woche diesen Job angeboten. Mein Arbeitsvertrag sollte heute unterschriftsbereit im Personalbüro liegen. Ich dachte, Sie als ihre Assistentin wären unterrichtet.“

Fredda Halston errötete leicht. „Tut mir leid. Ich fürchte, da hat es eine Verwechslung gegeben.“

„Soll das heißen, Grace hat ihr Angebot, ich solle als hauseigene Designerin hier arbeiten, zurückgezogen?“

„Hauseigene Designerin?“ Graces Assistentin tat fast, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. „Ach herrjeh, ich wusste nicht …“ Sie brach ab und fuhr fort: „Miss Beecham, dies ist sicher nicht der richtige Ort, etwas zu besprechen. Warum kommen Sie nicht mit in mein Büro. Da kann ich Ihnen wenigstens einen Kaffee anbieten.“

Eine Tasse Kaffee war nur ein kümmerlicher Ersatz für ein eigenes Büro und eine feste Anstellung. Trotzdem folgte Lianne Fredda Halston. Was war geschehen? Wo steckte Grace DeWilde? Sie hatte einen sehr freundlichen, zuverlässigen Eindruck gemacht. Lianne konnte sich nicht vorstellen, dass Grace ihr leichtfertig einen Job anbot, dann einen Rückzieher machte und es schließlich ihrer Assistentin überließ, mit den daraus folgenden Problemen fertig zu werden. Oder sollte sie Grace so falsch eingeschätzt haben?

Fredda Halston führte sie in ein kleines, freundliches Büro. Ein Computer summte auf dem Tisch, die Regale waren vollgestopft mit Musterbüchern, Katalogen und Fotos von Bräuten, zurückreichend bis in die dreißiger Jahre. Offenbar waren alle von DeWilde’s ausgestattet worden. „Wie mögen Sie Ihren Kaffee, Miss Beecham? Milch und Zucker? Schwarz?“

„Verzichten wir auf den Kaffee, ja? Ehrlich gesagt, ich möchte so schnell wie möglich dieses Durcheinander klären und meinen Job aufnehmen.“

„Wir stecken in einer heiklen Situation“, bekannte Fredda und nahm einen Stapel Brautmagazine von einem Stuhl, damit Lianne sich setzen konnte. „Leider habe ich keine Ahnung, wofür Grace Sie angestellt hat. Deshalb weiß ich auch nicht recht, wen ich benachrichtigen soll. Da sie nicht hier ist, erklären Sie mir vielleicht, was Sie machen …“

„Ich bin Modeschmuckdesignerin“, erklärte Lianne. „Ich habe hier in England an der School of Design und in den Staaten in Pittsburgh an der School of Art studiert.“

„Dann sind Sie Amerikanerin?“ Fredda zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Natürlich sind Sie das. Alberne Frage.“

„Ja, ich bin Amerikanerin. Mein Vater war Offizier bei der U.S. Air Force, und ich habe als Teenager vier Jahre in Hertfordshire, in der Nähe der Militärbasis gelebt. England hat mir immer gefallen, und als ich mein Studium an der School of Design beendet hatte, wollte ich versuchen, mich beruflich auf dieser Seite des Atlantiks zu etablieren, solange ich noch jung genug bin, um einen Fall auf die Nase zu verkraften.“

„Und Grace hat sie angestellt, um Modeschmuck für DeWilde’s zu entwerfen?“

„Nein, eigentlich nicht. Eine Freundin trug sich mit Heiratsplänen, und ich machte ein paar Entwürfe für Brautkronen für sie. Ich fand plötzlich Gefallen daran, für eine Braut zu arbeiten und entwarf eine ganze Kollektion an Brautkronen, einige sehr traditionell, andere ganz modern. Ich zeigte meine Entwürfe Grace. Sie gefielen ihr so gut, dass sie mir anbot, als hauseigene Designerin Brautkronen für sie zu entwerfen, die unter einer eigenen Marke – Lianne für DeWilde’s – auf den Markt kommen sollten. Also, hier bin ich und möchte, wie vereinbart, mit der Arbeit beginnen.“

Fredda Halston betrachtete sie forschend. „Die Situation ist für uns beide schwierig, Miss Beecham. Aber um ehrlich zu sein, ich verstehe nicht, wie Sie diese ganzen Unterredungen mit Mrs. DeWilde haben führen konnten, ohne dass wir uns je begegnet sind oder ich von Graces Vorhaben erfuhr.“

Lianne begann sich über Freddas Haltung zu ärgern. „Warum Grace Ihnen von unseren Gesprächen nichts gesagt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Warum wir uns nie begegnet sind, ist leicht zu erklären. Wir hatten unsere Termine am Abend, nach Geschäftsschluss. Grace sagte, das sei die einzige Zeit des Tages, in der wir uns unterhalten könnten, ohne ständig unterbrochen zu werden. Dann war ich auch in ihrer Wohnung in Chelsea, um meine Kollektionsentwürfe zu präsentieren und die letzten Unklarheiten in meinem Vertrag mit ihr zu klären.“

Freddas Telefon läutete. Sie drückte einen Knopf und stellte das Klingeln ab, doch Lianne sah das Licht weiter aufblitzen, was vermutlich bedeutete, dass der Anruf unbeantwortet blieb. „Und wann war das, Miss Beecham?“

Das Telefonlicht blinkte, hörte auf und blinkte weiter. „Entschuldigung, wann war was?“, fragte Lianne. Sie war sehr empfänglich für Stimmungen und Atmosphären. Atmosphärisch stimmte etwas in den Büros der DeWildes nicht. In geschäftigen Büros wurden Anrufe nicht ignoriert.

„Wann haben Sie Grace ihre endgültige Kollektion in ihrer Wohnung präsentiert?“

„Freitag vor einer Woche. In dem Gespräch nannte Grace auch Ihren Namen. Sie sagte, Sie seien ein administratives Wunder, das ihre flüchtenden Füße an den Boden der Realität klebe. Sie machte sich Notizen über meinen Vertrag und wollte alles an Sie weiterleiten, damit Sie im Personalbüro Bescheid geben könnten.“

Fredda trommelte kurz mit den Fingern auf den Schreibtisch. „An dem Wochenende musste ich zum Zahnarzt und war bis Mittwoch krank. Donnerstag und Freitag war Grace in Paris, und wir haben uns nur über das Wichtigste ausgetauscht. Ich denke allerdings, dass sie mir von einer Neueinstellung berichtet hätte.“ Fredda trommelte wieder mit den Fingern.

Lianne begann sich ernsthaft zu fragen, ob eine Arbeit bei DeWilde’s überhaupt erstrebenswert war. Sie kannte nur zwei Arbeitstempi: Ruhe und Abgeschiedenheit, während sie ihre Entwürfe machte, dann hektischer Austausch mit Kollegen, um schnellstmöglich die geeignetste kommerzielle Umsetzung zu realisieren. Falls die übrigen DeWilde’s-Angestellten so langsam und schwer von Begriff waren wie Fredda und die Empfangssekretärin, würde sie vor Ablauf der ersten Woche in einem Wutanfall einen Papierkorb in die Luft jagen. Sie versuchte, die Assistentin zum Handeln zu bewegen, ohne schroff zu wirken.

„Schauen Sie, Miss Halston, ich verstehe Ihr Problem nicht ganz. Natürlich tut es mir leid, dass Grace heute nicht hier ist, aber ich kann sie doch am Nachmittag treffen. Und wenn nicht heute, dann morgen. Sie müssen nur einen Schreibtisch für mich finden und in der Personalabteilung Bescheid sagen, dass ich hier bin. Alles andere wird sich klären, sobald Grace wieder im Büro ist. Wann erwarten Sie sie zurück?“

Fredda Halston machte ein betretenes Gesicht. „Ich rufe unseren Verkaufsmanager. Er kann Ihnen sicher helfen, Miss Beecham. Ich denke, er ist der Richtige um diese Angelegenheit zu regeln.“

„Ja, bitte tun Sie das.“ Liannes Begeisterung, den Verkaufsmanager zu sehen, war echt, wenngleich er nicht ihr direkter Vorgesetzter sein würde. Da ihre Anstellung eine Art Experiment war mit Auswirkungen auf alle fünf DeWilde’s-Geschäfte, war sie, zumindest für das erste halbe Jahr, direkt Grace unterstellt. Folglich hatten sie über die Hierarchie des Londoner Geschäftes noch gar nicht gesprochen. London war jedoch sozusagen das Labor für ihren Test, und die Kooperation des Verkaufsmanagers würde ihr das Leben erheblich erleichtern. Genaugenommen war sie in vieler Hinsicht sogar Voraussetzung für ihren Erfolg. Sie konnte nur hoffen, dass der Verkaufsmanager um einiges dynamischer war als die beiden Angestellten, die sie bisher kennengelernt hatte.

Fredda tippte eine Telefonnummer ein und seufzte erleichtert, als am anderen Ende der Leitung jemand antwortete. „Gott sei Dank habe ich Sie an Ihrem Schreibtisch erwischt“, sagte sie und schwang sich mit ihrem Sessel herum, als wolle sie aus dem Fenster schauen. Zugleich senkte sie jedoch die Stimme, sodass Lianne vermutete, sie sollte nicht mithören, was gesprochen wurde. Du liebe Zeit, was war nur los mit dieser Frau? Wie viel Geheimhaltung war nötig, um die Information weiterzugeben, dass eine neue Angestellte hier war und Grace anderweitig mit Papierkram aufgehalten wurde?

Zwischen Enttäuschung, Verärgerung und Angst schwankend, stand Lianne auf, betrachtete die Brautfotos und arrangierte einige herumliegende Perlen und Federn zu einer provisorischen Brautkrone. Sie hörte Fredda den Hörer auflegen.

„Gabriel DeWilde wird in wenigen Augenblicken bei uns sein“, erklärte Fredda. „Sein Büro liegt nur drei Türen weiter.“

„Gabriel DeWilde?“ Lianne fuhr herum, eine Straußenfeder in der Hand. „Er ist der Verkaufsmanager? Das hat Grace nie erwähnt.“ Ihr blieb keine Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen, da trat Gabriel bereits ein.

Einen Augenblick sahen sie einander schweigend an. Dann schloss Gabriel die Tür, und der Bann war gebrochen. „Miss Beecham?“ Seine Stimme schwankte leicht, als er ihren Namen sagte, doch er fasste sich so rasch wieder, dass Fredda nichts bemerkte. Er kam mit unbewegter Miene auf sie zu. Auch der Blick aus den grünbraunen Augen verriet nichts als normale Höflichkeit. Lianne beneidete ihn um die Fähigkeit, aufwühlende Erinnerungen hinter einer so neutralen Fassade zu verbergen.

Sie fand ihre Stimme wieder. „Hallo, Gabriel.“ Sie wollte keinesfalls so tun, als wären sie sich nie begegnet.

Er antwortete mit einem offenen Lächeln. „Liebe Güte, Lianne, du bist es wirklich. Ich war mir nicht sicher, als Fredda deinen Namen nannte.“

„Ja, ich bin’s wirklich.“ Sie merkte, dass sie die Straußenfeder wedelte und legte sie ins Regal zurück. „Wie geht es dir, Gabe? Ich habe dich etliche Wochen nicht gesehen.“

„Ja, wir scheinen uns immer gerade zu verpassen.“

„Sie beide kennen sich offensichtlich schon.“ Fredda klang erleichtert. „Was für ein Zufall!“

„Ja, Lianne teilt die Wohnung mit einer guten Freundin von mir, Julia Dutton. Aber sie ist immer weg, wenn ich Julia abhole.“ Falls er seine Stimme noch sanfter klingen ließ, würde es peinlich werden. „Komm mit in mein Büro, Lianne, dann versuchen wir, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen! Entschuldige, dass wir dich haben warten lassen.“

Sie hatte natürlich gewusst, dass Gabe in der Londoner Niederlassung arbeitete. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, ihm gleich am ersten Arbeitstag über den Weg zu laufen. Es wäre ihr lieber gewesen, Grace neben sich zu haben, wenn sie ihm wieder begegnete. Aber natürlich war ihr der angebotene Job weitaus wichtiger als die Erinnerung an ein sexuelles Abenteuer, das nie hätte stattfinden dürfen. Sie würde in ihm ausschließlich den Verkaufsmanager von DeWilde’s sehen und nicht den Mann, den sie so umwerfend attraktiv fand, dass es bei ihrem ersten und einzigen Zusammentreffen zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht gekommen war.

Dass ich ihm mit Herzklopfen in sein Büro folge, liegt nur an der Angst um meinen Job und nicht etwa an Gabriel DeWildes Ausstrahlung, sagte sie sich. Ich darf mich nicht zu ihm hingezogen fühlen. Julia Dutton liebt ihn innig und will ihn heiraten. Und Julia ist die beste Freundin, die man auf der Welt haben kann. Ende der Geschichte.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und deutete auf den Ledersessel gegenüber. „Du siehst … gut aus“, bemerkte er knapp.

„Danke!“ Von ihm konnte man das nicht behaupten. Er wirkte abgespannt und seltsam erschöpft. Lianne spürte, dass er trotz seiner äußerlichen Gelassenheit innerlich aufgewühlt war. Allerdings bestand für sie kein Grund, sich um seine Befindlichkeit zu sorgen. Schließlich waren sie nichts weiter als flüchtige Bekannte, die in einer Nacht die Selbstbeherrschung verloren und den berauschendsten Sex miteinander gehabt hatten, den man sich vorstellen konnte.

Gabe sah sie offen, ohne Anzeichen von Befangenheit an. Anscheinend war er nicht peinlich berührt durch Erinnerungen an schweißglänzende Körper, die sich ekstatisch vor dem Kamin wälzten. Zweifellos gelang es ihm besser als ihr, sich kühl distanziert zu geben. Bekanntlich konnten Männer über flüchtige Abenteuer viel leichter hinweggehen als Frauen. Wahrscheinlich liebte er Julia und war entschlossen, ihr von nun an treu zu sein. Zumindest hoffte sie das für Julia, die ein wunderbarer Mensch war und nur das Beste verdiente.

„Du denkst vermutlich, du wärst in einem Irrenhaus gelandet“, begann Gabe. „Tatsache ist, wir wurden heute Morgen alle ziemlich aufgescheucht.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Meine Mutter hat soeben ihren Rücktritt aus dem DeWilde’s-Unternehmen verkündet, und wir versuchen noch, uns von dem Schock zu erholen.“

„Grace hat DeWilde’s verlassen?“, wiederholte Lianne begriffsstutzig. „Aber wo ist sie jetzt?“

„Offenbar in San Francisco“, erklärte er müde. „Die Finanzblätter haben die Neuigkeit schon gehört, und jeder Journalist in London scheint eine Erklärung von uns haben zu wollen, die wir noch nicht geben können. Wir kommen an die Hälfte ihrer Computerdaten nicht heran, weil wir ihren Zugangscode nicht kennen, also versuchen wir fieberhaft, ihre Arbeitsplanungen für die nächsten Monate zu rekonstruieren. Zu allem Überfluss ist jetzt auch noch mein Vater verschwunden. Gott weiß, wohin …“ Er schob seinen Sessel zurück, stand auf und ging unruhig hin und her. „Tut mir leid, das hat alles nichts mit dir zu tun, und ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle. Ich entschuldige mich nochmals …“

Es kostete Lianne Mühe, still sitzen zu bleiben. Lieber wäre sie aufgestanden, hätte Gabe umarmt und etwas von der elektrischen Spannung aufgenommen, die von ihm ausging. Da Grace nun fort war, konnte sie sich ausmalen, dass sie ihrem tollen neuen Job ade sagen durfte.

„Ich kann verstehen, welche Sorgen dir das bereitet, Gabe. Ich hoffe nicht, dass ihr Ausscheiden aus gesundheitlichen Problemen erfolgt ist.“

„Nein“, erwiderte Gabe bitter. „Es sei denn, es stellt sich heraus, dass sie unter einem plötzlich Anfall von Wahnsinn leidet.“

Lianne ahnte, dass sie nicht mal andeutungsweise die Folgen von Grace DeWildes Ausscheiden verstand. „Wo genau ist deine Mutter, Gabe? Wenn sie nicht krank ist, warum kannst du sie dann nicht erreichen? Auch wenn sie aus dem Unternehmen ausgeschieden ist, muss sie doch wissen, dass du Zugang zu ihren Daten brauchst. Kannst du sie nicht anrufen und sie nach den Zugangscodes fragen?“

„Leider nein. Man sollte meinen, als meine Mutter und mein Boss wäre sie wenigstens so umsichtig gewesen, mir eine Adresse zu hinterlassen.“

„Soll das heißen, du hast keine Ahnung, wo sie genau steckt?“

„Ich glaube, dass sie in San Francisco ist. Aber ich habe weder Adresse noch Telefonnummer. Gott allein weiß, was sie zu dieser Flucht bewogen hat. Vielleicht weiß es auch mein Vater, aber der ist ebenfalls verschwunden, also kann ich ihn auch nicht fragen.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch das glatte braune Haar. Eine Geste, die Lianne sowohl erotisch wie mitleiderregend fand. Da beides keine angemessenen Empfindungen in dieser Situation waren, konzentrierte sie sich auf ihr eigentliches Problem.

„Gabe, vermutlich ist dies kein geeigneter Augenblick, um sich mit einer neuen Mitarbeiterin zu befassen. Soll ich lieber später in der Woche noch mal vorbeikommen, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat?“

„Nein, ich möchte, dass du bleibst. Reden wir über deine Anstellung, dann kann ich mich wenigstens mit etwas halbwegs Normalem befassen. Ich hatte gehofft, heute Morgen die Leitung zu übernehmen und alles erledigen zu können, was sich ergibt. Aber so einfach ist das nicht. Ich kann zwar meine abwesende Mutter ersetzen oder meinen Vater, aber nicht beide zugleich. Das kann auch nicht meine Aufgabe sein. DeWilde’s ist kein Familienunternehmen mehr, sondern eine Aktiengesellschaft. Wir haben hier weitaus erfahrenere Mitarbeiter, als ich es bin. Ich sollte alle ihre Arbeit machen lassen und mich auf meine konzentrieren. Da wir nichts Schriftliches über deinen Anstellungsvertrag vorliegen haben, müssen wir eine neue Übereinkunft treffen.“

Offenbar von neuem Elan beflügelt, nahm er in seinem Sessel Platz. „Okay, Lianne, zeig mir die Muster, die meine Mutter von deinen Ideen überzeugt haben. Schauen wir mal, ob ich zu demselben Urteil komme wie sie …“

Zweifellos war es nicht die günstigste Situation für eine Präsentation, aber Lianne wollte ihre Chance nicht verspielen. Sie stand auf und stellte ihre Mustermappe in den Sessel, in dem sie gesessen hatte. „Natürlich bin ich nicht auf eine förmliche Präsentation vorbereitet. Das hier sind nur einige Ideen und Skizzen, die ich in letzter Zeit ausgearbeitet habe. Ich zeige sie dir gerne, Gabe. Aber ehe wir uns gegenseitig die Zeit stehlen, sag mir, ob du mit dem Vorschlag deiner Mutter, kleine Boutiquen im Laden einzurichten, einverstanden bist. Falls nicht, gibt es für mich bei DeWilde’s nichts zu tun. Ich bin Designerin, keine Verkäuferin.“

„Ich bin nicht nur damit einverstanden, die Boutiquenidee stammt vielmehr von mir. Grace nahm sie auf und entwickelte das Konzept, unsere eigenen Designer für die Boutiquen anzustellen. Vor einigen Wochen sagte sie mir, dass sie schon einige Einstellungsgespräche geführt habe.“ Stirnrunzelnd fügte er hinzu: „Seltsam, dass sie mich zu den Unterredungen mit dir nicht hinzugezogen hat.“

Grace DeWilde schien in den letzten Wochen einige seltsame Dinge getan zu haben. Doch den Gedanken behielt Lianne für sich. Sie öffnete die Mustermappe, holte die ersten Skizzen heraus und stellte sie gegen die Sessellehne. Gabe kam um seinen Schreibtisch herum, lehnte sich an ihn und betrachtete die Skizzen eingehend. Lianne merkte erleichtert, dass er, genau wie sie, persönliche Probleme beiseiteschieben konnte, wenn er Entscheidungen treffen musste, die seine Arbeit betrafen. Lebhaft begann sie nun bei jedem Blatt, ihre Vorstellungen zu erläutern und kam von den groben Skizzen zu den aufwendig ausgearbeiteten Musterzeichnungen, mit denen sie Grace überzeugt hatte.

Schließlich packte sie fast entspannt das letzte Blatt wieder ein: „Das war’s …“

„Zu welchen Konditionen wollte Grace dich einstellen?“, fragte Gabe geschäftsmäßig.

Sie sagte es ihm.

Er verzog den Mund zu einem ehrlichen Lächeln. „Du bist eingestellt, zu denselben Bedingungen. Ich lasse den Vertrag sofort ausfertigen. Glückwunsch, Lianne. Willkommen bei DeWilde’s!“

3. KAPITEL

Zum sechsten Mal, seit er zu Hause war, versuchte Gabe, seine Schwester in San Francisco anzurufen. „Kate, falls du da bist, würdest du bitte den Hörer abnehmen? Hörst du denn nie deinen verdammten Anrufbeantworter ab?“

Eine verschlafene weibliche Stimme antwortete schließlich: „Hoffentlich ist es dringend, Gabe. Ich komme gerade von einer achtzehnstündigen Doppelschicht, und ich muss in fünf Stunden wieder in der Klinik sein. Falls du nur anrufst, um übers Wetter zu reden, leg sofort wieder auf!“

„Ich rufe wegen Mutter an.“

„Mutter?“ Kate wurde sofort aufmerksam. „Ist was passiert?“

„Offenkundig hat sie dich nicht angerufen. Verdammt! Hast du ihren Brief nicht bekommen?“

„Gabe, in den letzten sechsunddreißig Stunden hatte ich schätzungsweise vier Stunden Schlaf und ungefähr drei Minuten Freizeit, vermutlich weniger. Ich habe keine Ahnung, ob ich einen Brief von Mutter bekommen habe. Ich habe seit Tagen nicht im Briefkasten nachgesehen. Ist was los?“

„Sie ist in San Francisco, glaube ich. Ich bin mir jedoch nicht sicher.“ Er wappnete sich, die schlechte Nachricht zu überbringen. „Sie hat Dad verlassen und ist aus dem Unternehmen ausgeschieden. Sie und Dad reden von Scheidung.“

„Was?“ Kates Fassungslosigkeit kam über fünftausend Meilen Glasfaserkabel deutlich an. „Scheidung? Unsere Eltern? Sei nicht albern, Gabe. Das ist unmöglich!“

Die Reaktion seiner Schwester tröstete ihn ein wenig. Zumindest war er nicht der einzige Ahnungslose gewesen. Als er früher am Abend mit Megan, seiner Zwillingsschwester, gesprochen hatte, hatte die ihn mit der Mitteilung überrascht, sie wisse seit einiger Zeit, dass Grace Kummer habe, und sie habe sich vor einigen Monaten sogar gefragt, ob ihr Vater vielleicht eine Affäre habe. Er wäre nicht erstaunter gewesen, wenn sie den Erzbischof von Canterbury des unzüchtigen Verhaltens bezichtigt hätte. Das hatte er ihr auch gesagt. Und Megan, immer auf Ausgleich bedacht, hatte ihre Vermutung abgeschwächt. Trotzdem war ihm der unangenehme Eindruck geblieben, dass Megan in Paris mehr vom Privatleben seiner Eltern mitbekam als er, der er hier mit ihnen lebte und arbeitete.

„Unglücklicherweise ist das nicht nur möglich, sondern wahr. Ramsbotham hat uns allen einen schrecklich offiziellen Brief geschickt, und Mutter hat einen persönlichen beigefügt, der auch nicht viel erklärt, außer dass sie weggeht. Dad sagte mir, sie hätte am Sonntag eine Maschine nach San Francisco genommen. Ich dachte, sie hätte dich nach der Landung angerufen.“

„Warte mal, ich höre gerade den Anrufbeantworter ab.“ Nach wenigen Minuten kam Kate an den Apparat zurück. „Nein, da war nichts. Wenn sie wirklich hier ist, müsste sie sich doch bei mir melden!“

Es klang gekränkt, was nicht verwunderte. Gabe fand, von den drei Geschwistern hatte Kate am meisten vom hervorragenden analytischen Verstand des Vaters geerbt, dazu seine außergewöhnliche Sensibilität und die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken. Manchmal war er besorgt, weil sie ausgerechnet die Medizin zu ihrem Beruf gemacht hatte. An ihrer fachlichen Kompetenz bestand sicher kein Zweifel, aber sie hatte ein zu mitfühlendes Herz und die Neigung, sich die Probleme anderer aufzuhalsen, ohne um Hilfe zu bitten, wenn sie nötig war. Sie war der Typ Arzt, der sich die Sorgen anderer auflud, bis er unter der Last zusammenbrach.

Keinesfalls wollte er deshalb zu ihrer Last beitragen. So versuchte er, Graces Verhalten zu entschuldigen und ärgerte sich zugleich, dass er dazu genötigt war. „Mutter hat wahrscheinlich angerufen und keine Nachricht hinterlassen, als sie merkte, dass du nicht zu Hause warst. Sie weiß, wie viel du zu tun hast. Und der Brief ist bestimmt in deiner Post. Lass mich rasch erzählen, was sich bisher ereignet hat.“

Kate lauschte schweigend seinem Bericht. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie mit ihrem schlanken Körper angespannt im Schneidersitz auf dem Bett hockte, das kastanienbraune Haar ein strahlender Kontrast zur blassen Haut. Und er sah förmlich, wie sie die Lippen zusammenpresste und die Fäuste ballte, während sie die dramatischen Veränderungen im Leben ihrer Eltern zu begreifen versuchte.

Als Gabe seinen Bericht beendet hatte, entstand ein kurzes Schweigen. „Es ist seltsam, sich die zwei als Paar mit einer intensiven, intimen Beziehung vorzustellen. Bis heute Morgen habe ich sie nur als Mutter und Vater gesehen, die uns umarmten, wenn wir als Kinder zu Bett gingen und uns später strenge Lektionen über die Gefahren von Alkohol, Drogen und Sex erteilten. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass sie eigene Erfahrungen mit Alkohol, Drogen und Sex haben könnten. Ist das nicht erstaunlich infantil von mir?“

„Wir hatten nie Grund, ihre Beziehung zu analysieren, Kate. Jedenfalls bis heute nicht.“

„Trotzdem komme ich mir töricht vor. Deine Situation ist anders. Du arbeitest mit ihnen und hast vermutlich ein weit realistischeres Bild von den beiden als eigenständige Persönlichkeiten. Ich habe immer noch diesen selbstsüchtigen Blick des Kindes. Sie sind nicht Jeffrey und Grace, sondern Mom und Dad, Anhängsel an uns Kinder.“

Kate überschätzte ihn. Er trug sogar zwei Bilder von Jeffrey und Grace in sich, eines als Eltern und ein zweites als machtvolle und erfahrene Lehrer in der Berufswelt. Es war ihm nie gelungen, diese verschiedenen Bilder zu einem einheitlichen Ganzen zu verknüpfen, und über die persönliche Beziehung der beiden hatte er sich schon gar keine Gedanken gemacht. Genau wie bei Kate hatte das Bild von Grace vor allem mit Milch und Keksen am Abend zu tun und weniger damit, dass sie eine strahlende, ungewöhnlich attraktive Frau war. Er fragte sich, ob in San Francisco ein Liebhaber auf sie wartete, und verdrängte die Vorstellung gleich wieder. Er war noch nicht soweit, sich mit der ganzen Tragweite der Trennung seiner Eltern zu befassen.

„Ich weiß, wie beschäftigt du bist, Kate, aber wenn du morgen einige Minuten erübrigen kannst, versuch Mutter ausfindig zu machen, ja? Auch wenn sie über die Gründe für ihre Trennung von Dad nicht sprechen will, es gibt ein Dutzend wichtiger Geschäftsentscheidungen, zu denen ihr Beitrag unerlässlich ist. Versuch es bei Onkel Leland oder Mallory. Sie sind beide in San Francisco. Sie wissen vielleicht etwas.“

„Warum sollte Mutter eher die anrufen als mich?“, fragte sie leicht gekränkt. „Ich bin immerhin ihre Tochter. Ich weiß, dass sie sich oft gefragt hat, wie sie ein Kind in die Welt setzen konnte, das nicht die Spur von künstlerischem Talent …“

„Kate, ich klammere mich an jeden Strohhalm“, versuchte Gabe seiner Bemerkung den Stachel zu nehmen. Er verwünschte sich für seine taktlose Andeutung, Grace würde eher ihren Bruder und die Nichte anrufen als ihre Tochter. Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er diesen Fehler nicht gemacht. Er hätte vor allem daran gedacht, wie empfindlich Kate wegen des manchmal gespannten Verhältnisses zu ihrer Mutter reagierte. „Ich bin mir sicher, sie meldet sich in den nächsten Tagen bei dir. Wenn sie das tut, sag ihr, sie soll mich anrufen. Sie hat Verantwortung gegenüber dem Unternehmen, auch wenn sie in einer Anwandlung von Midlifecrisis davonrennt …“

„Das ist nicht fair, Gabe! Wir wissen nicht, was zwischen Mom und Dad vorgefallen ist. Vielleicht hat er sie sogar gebeten zu gehen.“

„Das hat er sicher nicht. Ich habe ihn erlebt, er war am Boden zerstört …“

„Zieh nur keine voreiligen Schlüsse, Bruderherz! Die Ehe ist eine sonderbare Angelegenheit. Ich glaube nicht, dass Außenstehende jemals wirklich Einblick in die Beziehung eines Paares bekommen.“

„Vielleicht nicht. Trotzdem finde ich keine Entschuldigung für Mutter, dass sie DeWilde’s ohne Rücksicht auf die Konsequenzen verlassen hat. Wir haben weltweit fünftausend Angestellte. Sie kann zornig sein auf Dad, wenn sie möchte, aber sie hat kein Recht, das Unternehmen und die Angestellten als Geiseln zu nehmen.“

„Das stimmt allerdings“, pflichtete Kate ihm müde bei. „Aber du kennst sie. Sie hat diese explosiven Ausbrüche kreativer Energie. Dann meldet sich irgendwann ihr praktischer Verstand wieder zu Wort, und sie arbeitet wie ein Biber, um alles auf die Reihe zu bringen. Sie fängt sich schon wieder.“

„Ich würde das Verlassen des Ehemannes und des Unternehmens nicht als einen Ausbruch kreativer Energie bezeichnen …“

„Ich meine, wenn sie sich beruhigt hat, erinnert sie sich wieder an ihre Verpflichtungen, und bemüht sich, alles wieder ins Lot zu bringen.“ Kate gähnte. „Gabe, ich schlafe gleich im Sitzen. Ich habe morgen einen anstrengenden Tag, und wenn ich nicht wenigstens etwas Schlaf bekomme, überstehe ich ihn nicht. Ich melde mich, sobald ich von Mutter höre. Verlass dich drauf. Okay?“

„Okay und danke. Plane ein paar Sonderstunden zum Schlafen für dich ein. Das ist ein Befehl, Küken!“

„Oh Gott, wie ich diesen Spitznamen gehasst habe. Als wäre es nicht genug, drei Jahre jünger zu sein als Megan und du, bin ich auch noch die kleinste!“ Er war erleichtert, dass sie ihren Humor zurückgewann.

Kate gähnte wieder. „Gute Nacht, Gabe. Ich melde mich bald wieder.“

Er hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon erneut läutete. Er schnappte sich den Hörer. „Hallo?“

„Gabe, hier ist Monica. Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt. Ich sehe gerade, es ist fast Mitternacht.“

„Nein, ich bin noch auf.“ Erst als er die Stimme der Sekretärin seines Vaters erkannte, merkte er, wie sehr er gehofft hatte, es wäre Grace. „Was kann ich für Sie tun, Monica?“

„Nichts, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich etwas von Jeffrey gehört habe. Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er morgen früh um acht Uhr im Büro sein wird. Ich soll Ihnen versichern, dass er wieder voll einsatzfähig und absolut in der Lage ist, geschäftlich die Zügel erneut in die Hand zu nehmen.“

Es versetzte Gabe einen leichten Stich, dass sein Vater lieber seine Sekretärin angerufen hatte als ihn. „Hat er gesagt, von wo aus er anrief?“

„Ich weiß nicht genau, wo er im Augenblick ist, Gabe, aber er klang schon sehr viel gefasster, und ich bin mir sicher, Sie finden ihn morgen, wie versprochen, an seinem Schreibtisch.“

Gabe ermahnte sich, keine Zwischentöne zu hören, wo keine waren. Er war so verärgert über sein Unvermögen, zu bemerken, was sich zwischen seinen Eltern abgespielt hatte, dass er Gefahr lief, nun ins Gegenteil zu verfallen. Doch Monica hielt keine Informationen zurück. Und er brauchte auch nicht beleidigt zu sein, weil sein Vater ihm eine Nachricht über seine Sekretärin zukommen ließ. Das hatte er in der Vergangenheit häufiger getan und würde es auch in der Zukunft tun. Er hatte keinen Grund anzunehmen, dass sein Vater ihm auswich oder dass Monica mehr wusste als er.

Er atmete tief durch und erwiderte: „Danke, dass Sie es mir gesagt haben, Monica! Sicher wird vieles einfacher, wenn Vater wieder im Büro ist.“

„Ja, morgen wird sicher vieles einfacher“, stimmte Monica zu. „Gute Nacht, Gabe. Machen Sie sich keine zu großen Sorgen! Die DeWildes haben schwerere Stürme überstanden als diesen. Am Ende ist noch immer alles gut geworden. Denken Sie an meine Worte.“

Monicas Worte fielen Gabe am Mittwochabend wieder ein, als er in der überfüllten Straße in der Nähe von Julias Wohnung einen Parkplatz suchte. Wahrscheinlich stimmte es, dass am Ende alles gut werden würde. Wenn man das große Ganze betrachtete, waren am Ende alle tot, und die Planeten lösten sich in ihre Bestandteile auf. Doch zwischenzeitlich musste das Leben hier und jetzt bewältigt werden. Die Tatsache, dass er und Julia Dutton in einer fernen Zukunft vielleicht als kleine Partikel durchs All schwebten, half ihm wenig, heute zu entscheiden, wie es mit ihnen weitergehen sollte.

Er mochte Julia sehr. Sie war hübsch, freundlich, und er genoss ihre Gesellschaft. Er war beeindruckt, wie hart sie als Lehrerin arbeitete, und er bewunderte ihre häuslichen Talente. Sie war so lieb, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals mit ihr zu streiten. Aber trotz dieser beeindruckenden Liste von Tugenden war er nicht wirklich in sie verliebt. Das Beste, was man von ihrer sexuellen Beziehung sagen konnte, war, dass er es angenehm empfand, mit Julia zu schlafen, und er hoffte aufrichtig, ihr ginge es ähnlich.

Vor drei Tagen war er sich ziemlich sicher gewesen, dass er Julia nicht heiraten konnte, weil er sie nicht liebte. Heute war er in seinem Urteil schwankend geworden. Seine Eltern hatten ihre Ehe auf Liebe und Leidenschaft gegründet und waren gescheitert. Sie hatten zusammen gelebt und gearbeitet, und ihre gelegentlichen Kräche waren ebenso spektakulär gewesen wie ihre Versöhnungen. Nicht dass sein Vater jemals die Stimme erhoben hätte, die Temperamentsausbrüche überließ er seiner Frau. Trotzdem hatte Gabe immer gewusst, dass sein Vater emotional ebenso engagiert war wie seine Mutter, wenn auch weniger sicht- und hörbar.

Wenn die beiden es bei diesen Voraussetzungen nicht schafften zusammenzubleiben, funktionierte eine Ehe dann vielleicht sogar besser, wenn die Partner mehr Freunde als Liebende waren? Vielleicht war die leidenschaftliche, romantische Liebe ohnehin nur eine Illusion. Falls das zuträfe, wäre Julia die ideale Frau für ihn, eine Partnerin, die mehr Freundin als Geliebte war, eine warmherzige, liebevolle Mutter der Kinder, die er eines Tages zu haben hoffte. Und was den Sex anging – nun ja, er war dreißig Jahre alt und nicht mehr jung genug, zu glauben, es müsse jedes Mal zu vulkanartigen Leidenschaftsausbrüchen kommen, wenn er mit einer Frau schlief.

Er entdeckte eine Parklücke und lenkte den Jaguar hinein. Der Regen hatte nach zwei Tagen endlich aufgehört, und die Rosskastanien, die die Straße säumten, senkten ihre Zweige unter dem Gewicht feuchter Knospen und frischer grüner Blätter. Hinter den Eisengeländern, die die Häuser von der Straße trennten, sorgten Kästen voller Tulpen und blühender Narzissen für Farbtupfer vor dem grauen Sandstein der Vorhöfe. Julias Wohnung lag im zweiten Stock eines Hauses aus der spätviktorianischen Zeit mit dem Charme einer ältlichen Lady. Von außen war es nichts Besonderes, doch die Wohnung drinnen hatte Julia in eine gemütliche Zuflucht vor dem Lärm und Gestank der Stadt verwandelt.

Bei seinem ersten Besuch war er erstaunt gewesen, dass sie alles selbst und ohne professionelle Hilfe eingerichtet hatte. Obwohl sie mit Leidenschaft Lehrerin war, kam ihm der Gedanke, dass sie ihren Beruf vielleicht verfehlt habe, so sicher war ihr Gespür für Farben und Stil.

Er schloss mit dem Schlüssel, den Julia ihm gegeben hatte, die Haustür auf und ging nach oben. Sein Puls schlug ein wenig schneller bei der Vorstellung, Lianne Beecham zu begegnen. Andererseits war ein Treffen unwahrscheinlich. Abgesehen von jenem denkwürdigen Abend vor zwei Monaten war er Lianne nie in der Wohnung begegnet, und Julia hatte erklärt, sie führe ein so geselliges Leben, dass sie abends selten zu Hause sei. Er bezweifelte das nicht. Verglichen mit Julia, die die personifizierte Häuslichkeit war, war Lianne quecksilbrig, ständig in Bewegung, emotions- und energiegeladen.

Trotzdem hatte sie offenbar einen harten, disziplinierten Kern. Es hatte ihn beeindruckt, mit welchem Können sie am Montag die Präsentation der Entwürfe gemacht hatte. Da er seit sieben Jahren mit Künstlern und Kunsthandwerkern arbeitete, erkannte er, dass Lianne als Designerin nicht nur künstlerische Inspiration mitbrachte, sondern ihre Entwürfe auch kommerziell verwertbar umsetzen konnte.

Er betätigte die Klingel und lenkte seine Gedanken wieder auf Julia. Da er nach einem Vierzehnstundentag im Büro spontan vorbeigekommen war, obwohl er und Julia sich während der Woche selten sahen, gab es keine Garantie, dass sie Zeit für ihn hatte oder überhaupt zu Hause war.

Die Tür ging auf, und vor ihm stand Lianne.

„Ich wollte zu Julia …“

„Julia ist noch in der Schule …“

Beide sprachen zugleich und verstummten.

„Tut mir leid, dass ich dich gestört habe, Lianne!“

„Du hast mich nicht gestört, ich hatte nichts Besonderes vor.“ Sie wich seinem Blick aus.

Sie trug Jeans und ein großes Männerhemd, das ihr lose um die Beine flatterte. Ihr Haar war lässig mit einer Spange aufgesteckt, doch etliche Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie wirkte fast unordentlich und unglaublich sexy. Geistesabwesend strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. „Julia hat nicht gesagt, dass du kommst.“

„Sie hat mich nicht erwartet. Ich bin spontan vorbeigekommen, in der Hoffnung, sie anzutreffen.“ Während er sprach, fragte er sich, warum er die Unwahrheit sagte. Er war vorbeigekommen, obwohl er gewusst hatte, dass Julia ihrer sechsten Klasse bei der Kostümprobe für eine Theateraufführung helfen wollte. Er war nicht wegen Julia hier, sondern weil er das – dringende – Bedürfnis gehabt hatte, Lianne zu sehen.

„Julia kommt bestimmt erst in einigen Stunden.“ Lianne bat ihn nicht herein, was nicht überraschen konnte angesichts ihrer letzten Begegnung in dieser Wohnung. Der Klang ihrer Stimme und ihr Verhalten waren eher abweisend. „Es hat wenig Sinn, auf sie zu warten, Gabriel. Sie sagte, es könne Mitternacht werden, ehe sie heimkommt.“

„Dann will ich dich nicht aufhalten. Sag ihr, ich freue mich auf unsere Verabredung am Freitagabend. Sieben Uhr.“

„Ja, natürlich. Gute Nacht, Gabriel.“

Er wandte sich zum Gehen und erwartete, dass Lianne die Tür schloss. Doch das tat sie nicht. Als er den Treppenabsatz erreichte, blickte er zurück, und Lianne stand immer noch in der Tür. „Hast du noch etwas vor heute Abend? Gehst du aus?“

Nach einer langen Pause erwiderte sie: „Nein.“

„Dann komm mit, wir trinken etwas zusammen“. Er machte den Vorschlag rasch, ehe er es sich anders überlegen konnte. „Ein Stück die Straße hinunter habe ich einen freundlich aussehenden Pub entdeckt, und ich bin noch nicht in der Stimmung, heimzufahren.“

„In was für einer Stimmung bist du denn, Gabe?“

Er blickte ihr in die Augen. „Ich bin mir dessen nicht sicher. Du könntest mir helfen, es herauszufinden.“

Leicht verwirrt blickte sie zu Boden, als sei sie erstaunt, nackte Füße und rot lackierte Nägel zu haben. „Also gut, warte eine Minute, ich hole mir nur eine Jacke.“

Gabe lehnte sich an die Flurwand, spielte mit der Goldkette seines Schlüsselrings und merkte, dass sein Puls erwartungsvoll schneller schlug.

Lianne ließ nicht lange auf sich warten. Sie hatte die nackten Füße in ein Paar braune Ledersandalen gesteckt und zu den Jeans eine gesteppte, bestickte Seidenjacke im asiatischen Stil angezogen, ein verblüffend lässiger, eleganter Effekt.

Schweigend gingen sie nach unten, bemüht, sich nicht zu berühren. Gabe suchte fieberhaft nach einer geistreichen Bemerkung, doch seine Gedanken waren geradezu fixiert auf die Erinnerung an nackte Körper und wilden Sex.

Das Licht der Straßenlampen schimmerte auf ihrem kastanienbraunen Haar, die Seidenjacke raschelte leicht beim Gehen, und ein angenehmer Hauch ihres Parfums wehte zu ihm herüber. Gabe fiel immer noch kein Gesprächsthema ein …

„Wie waren deine ersten Tage bei DeWilde’s?“, fragte er schließlich. Arbeit war immer ein konventionelles Gesprächsthema. „Tut mir leid, dass ich heute nicht mehr persönlich nach dir sehen konnte, ehe du gegangen bist.“ Wie immer, wenn er nervös war, sprach er steifer, förmlicher.

„Alle waren sehr kooperativ“, erwiderte Lianne lächelnd und sprang über eine Pfütze. „Mach dir um mich keine Sorgen, Gabe. Glücklicherweise hat Grace die Brautkleidkollektion der übernächsten Saison schon fertig, sodass ich genau weiß, zu welchen Stücken meine Entwürfe passen müssen. Ich spreche mich mit Adam ab, damit ich mit den Produktionskosten im Rahmen bleibe. Sobald die Entwürfe fertig sind, mache ich eine Präsentation für dich. Aber ich erwarte nicht, dass du mir ständig das Händchen hältst, nur weil ich neu bin. Ich bin es gewohnt, allein zu arbeiten. Und ich verstehe natürlich, wie viel Arbeit du jetzt hast, da Grace fort ist.“

„Wirklich?“ Er lächelte freudlos. „In den letzten drei Tagen habe ich mir schier ein Bein ausgerissen, um mit der Arbeit nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten, als ich es ohnehin schon bin.“

„Grace hat ein gewaltiges Arbeitspensum gehabt, es wäre ja merkwürdig, wenn ihr Fehlen nicht auffallen würde. Vermutlich vermisst du sie noch mehr als alle anderen. Sie war deine direkte Vorgesetzte, und sie ist deine Mutter.“

Er war froh, dass Lianne so völlig normal und emotionslos über Grace sprach. Viele Mitarbeiter hatten sich in den letzten Tagen aufgeführt, als wäre sie tot. Bedauerlicherweise hatte Grace sich immer noch nicht bei ihm gemeldet. Sorgen um sie und das Geschäft machten ihn immer zorniger auf ihr unverantwortliches Verhalten.

Er sehnte sich geradezu danach, eine Weile nicht an Grace denken zu müssen. Deshalb war ihm Liannes Gesellschaft sehr recht, sie hatte seine Mutter kaum gekannt. Er öffnete die Tür des Pubs und geleitete Lianne an einen kleinen Ecktisch.

„Was möchtest du trinken?“, fragte er. „Ich hole uns etwas an der Theke, das geht schneller.“

„Ein Brandy wäre nicht schlecht“, erwiderte sie und glitt über die gepolsterte Lederbank. „Mir ist nach etwas Altem, Weichem, Mildem.“

Kurz darauf kehrte Gabe mit den Getränken zurück. Lianne hatte ihre Jacke ausgezogen und über die Lehne gelegt. Sie trug immer noch das große Männerhemd. Als er ihr das Glas reichte, lächelte sie ihn zum ersten Mal an, und es kam ihm vor wie eine Liebkosung. Er glitt auf den Sitz neben sie, hielt aber deutlich Abstand.

„Danke.“ Sie hob das Glas. „Auf meine neue Kollektion und den Erfolg der ersten Boutique.“ Er hätte sich gern hinübergebeugt und sie geküsst. Stattdessen trank er einen Schluck und hob das Glas. „Auf dich“, erwiderte er. „Ich freue mich auf deine ersten Entwürfe, Lianne.“

Als eine Kellnerin am Tisch vorbeiging, nahm Lianne die Beine zur Seite. Dabei stießen ihre Knie unter dem Tisch mit Gabes zusammen. Wie elektrisiert wichen beide zurück. Die Reaktion war so heftig und so verräterisch, dass sie nicht so tun konnten, als wäre nichts geschehen.

Lianne stellte ihr Glas ab und faltete ihre Papierserviette zu einem ordentlichen Dreieck. „Julia ist meine beste Freundin“, erklärte sie scheinbar zusammenhanglos.

Gabe lächelte ironisch. „Meine auch.“

Sie blickte ihn strafend an. „Halte sie nicht zum Narren, Gabe! Julia liebt dich, verdammt!“

Gabe zog sich der Magen zusammen, da sich seine Befürchtungen zu bestätigen schienen. „Du weißt nichts über meine Beziehung zu Julia“, entgegnete er zögernd.

Sie lachte zornig: „Offenbar mehr als du. Sie glaubt, dass du sie bitten wirst, deine Frau zu werden, Gabe. Sie erwartet, dass du bald mit einem dieser schicken DeWilde’s-Ringkästchen bei ihr auftauchst!“

„Woher willst du wissen, dass ich nicht genau das vorhabe?“

„Und was wirst du ihr versprechen, wenn du ihr den Ring gibst? Dass du sie lieben, ehren und ihr treu sein wirst, bis dein gefälliges Auge das nächste Mal auf eine ihrer Freundinnen fällt?“

Verärgert schob er sein Glas beiseite und beugte sich zu ihr hinüber. „Warum bist du so sauer, Lianne? Weil wir gleich bei unserer ersten Begegnung miteinander geschlafen haben? Oder weil du mir geholfen hast, dir die Kleider vom Leib zu reißen, damit es schneller ging?“

Sie sprang auf, warf das Glas um, schnappte sich ihre Jacke und zog sie im Hinausgehen über. Draußen holte Gabe sie ein, packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. „Was ist los, Lianne? Gefällt dir die Wahrheit nicht? Oder hast du gehofft, dass ich dir nach Hause folge, damit es eine Wiederholungsvorstellung gibt?“

Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde ihm einen Kinnhaken versetzen. Erstaunlicherweise verebbte ihr Zorn jedoch so rasch, wie er gekommen war. „Ich wollte, dass du mir nach Hause folgst“, gestand sie mit leiser, rauer Stimme.

Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte ihn geschlagen. Mit Aggressivität wäre er leichter fertig geworden als mit so viel Ehrlichkeit. Er schob die Hände in die Hosentaschen, um sich selbst daran zu hindern, sie zu berühren. „Wir können wohl kaum guten Gewissens behaupten, dass wir einander mögen“, gestand er ebenso ehrlich ein. „Dazu kennen wir uns viel zu wenig. Was uns überkommt, wenn wir uns sehen, ist schiere, animalische Lust!“

Sie schlang die Arme um sich. „Peinlich, was?“

„Julia ist genau der Typ Frau, den ich immer heiraten wollte.“

Sie sah ihn scharf an. „Und was bin ich? Der Typ Frau, den du immer als Geliebte haben wolltest?“

„Ich habe nicht vor, mir als Ehemann eine Geliebte zu halten.“

„Julia wird sich freuen, das zu hören!“

Wie konnte er behaupten, Julia heiraten zu wollen, wenn er sich von Lianne so angezogen fühlte, dass er es nicht einmal wagte, ihr Büro zu betreten, aus Angst, sich nicht zurückhalten zu können? „Geh am Samstag zum Dinner mit mir aus, lass uns einander kennenlernen, als Menschen!“

„Ich kann nicht.“ Sie wandte sich ab und begann, die Straße hinunterzugehen.

Er folgte ihr. „Ich treffe mich Freitagabend mit Julia.“

Sie blieb stehen, ohne ihn anzusehen. „Was hast du vor? Unterhaltung und Freundschaft am Freitag, gefolgt von heißem Sex am Samstag? Ein abgerundetes Wochenende an Unterhaltung?“

„Auch wenn du sauer auf mich bist, ändert das nichts an der Tatsache, dass wir uns wiedersehen wollen. Ich bin ehrlich genug, das zuzugeben. Und ich möchte mehr von dir erfahren, außer dass du hinreißend im Bett bist.“

„Nun ja, ich bin ein wahres Talentbündel“, bemerkte sie ironisch.

„Wie oft muss ich es noch sagen? Ich möchte den Menschen Lianne kennenlernen.“

„Wirst du Julia sagen, dass du mich für Samstagabend zum Dinner eingeladen hast?“, fragte sie streng.

„Wenn du meine Einladung annimmst, sage ich es ihr.“

„Und wenn nicht?“

„Julia sollte es ohnehin als erste erfahren. Ob du meine Einladung nun annimmst oder nicht, ich werde mich in jedem Fall von ihr trennen.“

Lianne blieb am Eisengeländer zu ihrem Vorgarten stehen. „Sie wird sehr verletzt sein, Gabe.“

„Ich hoffe nicht. Aber ich liebe sie nun mal nicht, und falls ich sie heiraten würde, gäbe das früher oder später wahrscheinlich eine Katastrophe.“

Lianne riss ein Blatt von der Ligusterhecke und zerpflückte es. „Ich weiß nicht, Gabe …“

„Doch, du weißt. Wir wissen es beide.“ Er legte einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. Dann neigte er langsam den Kopf. Lianne wich nicht zurück. Sie stand starr, die Hände zu Fäusten geballt, doch im letzten Augenblick, ehe ihre Lippen sich berührten, schlang sie ihm die Arme um den Hals.

Es wurde ein leidenschaftlicher Kuss, und als sie sich voneinander lösten, war Gabe wie benommen. Lianne lehnte sich schweigend ans Tor. Lange sah sie ihm in die Augen, dann wandte sie sich plötzlich ab, lief die Steintreppe hoch und verschwand im Haus.

Gabe sah ihr nach und fragte sich, wie er es aushalten sollte, bis Samstag warten zu müssen, ehe er sie überreden konnte, mit ihm zu schlafen.

4. KAPITEL

Die Erkenntnis, dass sie über kaum mehr moralisches Rückgrat verfügte als ein Regenwurm, deprimierte Lianne zutiefst. Zugleich fragte sie sich, ob sie damit die Integrität von Würmern beleidigte. Sie wollte gern mit Gabe ausgehen, fürchtete sich aber davor, es Julia zu sagen. Und sie wollte nicht miterleben müssen, wie Julia darunter litt, verlassen zu werden. Julia gehörte nicht zu den Menschen, die über ihre tiefsten Gefühle sprachen. Trotzdem war Lianne davon überzeugt, dass sie Gabe liebte. Vermutlich würde sie am Boden zerstört sein, wenn sie erfuhr, dass ihre Gefühle nicht erwidert wurden.

Feigling, der sie war, wollte sie diesen Problemen ausweichen, indem sie am Freitagabend zu einer Party ging und sich vornahm, erst heimzukommen, wenn Julia bereits im Bett wäre.

Bereits Wochen, bevor sie Gabe kennenlernte, hatte sie gewusst, was Julia für ihn empfand. Eines Sonntagnachmittags hatte sie vor dem Kamin sitzend eine komplette Brautausstattung entworfen. Zwar hatte Julia nicht ausdrücklich erwähnt, dass Gabe der dazugehörige Auserwählte war, doch hatten sie es beide gewusst.

Sie hatte Gabriel DeWilde erst an einem Freitagabend kennengelernt, als er bereits seit drei Monaten mit Julia zusammen war. Julia hatte zu ihrer Mutter fahren müssen, die überraschend am Blinddarm operiert werden musste. Als Gabe Julia abholen wollte, hatte Lianne ihn hereingebeten, ihm etwas zu trinken angeboten und sich mit ihm unterhalten, während sie auf Neuigkeiten aus dem Krankenhaus warteten.

Die gegenseitige Anziehung war augenblicklich und überwältigend gewesen. Stundenlang hatten sie miteinander geredet. Auch als Julia anrief und sagte, ihrer Mutter gehe es gut, aber sie wolle über Nacht bei ihrem Vater bleiben, machte Gabe keine Anstalten zu gehen. Schlimmer noch, Lianne hatte nicht versucht, ihn fortzuschicken.

Sie redeten und lachten, doch der Telefonanruf zerstörte die Illusion unbefangener Freundlichkeit, die sie aufrechtzuerhalten versuchten. Das Lachen erstarb, und schließlich verstummten sie, sich des gegenseitigen Verlangens bewusst, das umso heftiger war, da sie es in den letzten fünf Stunden zu leugnen versucht hatten.

Lianne saß auf ihrem Lieblingsplatz in der Sofaecke, die nackten Füße untergeschlagen, und trank ihren Brandy. Gabe beugte sich hinüber, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es ab.

„Ich möchte mit dir schlafen, Lianne“, sagte er mit rauer Stimme. „Du ahnst nicht, wie sehr ich mir das wünsche.“

Er drückte nur die Sehnsucht aus, die sie selbst empfand. Anstatt ihn zurückzuweisen, kam sie bereitwillig in seine Arme, erwiderte jeden hitzigen Kuss und jede Zärtlichkeit. Als er sich an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen machte, riss sie sie herunter, zog seinen Kopf an ihre Brust und drängte sich leidenschaftlich an ihn. Sie waren aufgestanden, entkleideten sich und schafften es irgendwie nicht zurück zum Sofa. In Minutenschnelle war sie auf dem Läufer vor dem Kamin eine willige Gefangene unter ihm geworden und liebte den Freund ihrer Freundin gierig und voller Hingabe.

Es war ein so intensives, ja explosives Erlebnis gewesen, dass sie heute nur mit gemischten Gefühlen daran zurückdachte, vor allem an ihre eigene Rolle dabei. Am nächsten Morgen hatte sie sich entsetzlich ihres Verrates an Julia geschämt. Sie verbannte Gabe aus ihren Gedanken und Träumen, aus ihrem Leben. Er hatte nur einmal versucht, sie anzurufen. Sie hatte sich jedoch geweigert, mit ihm zu sprechen. Danach hatte er nie wieder den Kontakt zu ihr gesucht, traf sich aber weiter regelmäßig mit Julia.

Da er häufiger in die Wohnung kam, um Julia abzuholen, hatte sie es zu einer wahren Kunst entwickelt, ihm aus dem Weg zu gehen. Julia war ein Nestbauer. Sie war bereit für Ehe und Kinder. Sie hingegen hatte Karrierepläne und vorerst nicht vor, sich zu binden. Zweifellos hatte sie nicht das Recht, wegen eines Ausbruchs leidenschaftlicher Gefühle für Gabriel DeWilde, Julias vielversprechende Beziehung zu zerstören. Sie hatte sich sogar eingeredet, sich zu freuen, dass die Beziehung der beiden offenbar gedieh. Das Wiedersehen mit Gabe bei der Arbeit hatte diese Illusion bereits angekratzt, und ihre Begegnung am Mittwochabend hatte sie endgültig zerstört.

Sie verabscheute sich dafür, dass sie Begierde über Freundschaft stellte, doch sie konnte ihre intensiven Gefühle für Gabe nicht ignorieren. Sie war wie gelähmt gewesen, als er Mittwoch vor der Tür gestanden hatte. Sie hatte den Türknauf geradezu umklammert, um nur ja keine einladende Geste zu machen. Sie hätte ihn nicht nur in die Wohnung, sondern auch in ihr Bett gelassen, und sie hatte mit schockierender Gewissheit gefühlt, dass er ihr Angebot angenommen hätte. Keiner von ihnen hätte auch nur einen Gedanken an Julia verschwendet.

Sie konnte nicht sagen, warum sie so heftig auf Gabe reagierte. Sie war jedoch überzeugt, dass bloße Begierde keine Grundlage für eine Beziehung war. Zwei Menschen mussten sich zumindest mögen, um eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, aber sie wusste nicht mal, ob sie Gabe mochte. Sie wusste nur, dass sie sehr gern mit ihm ausgehen wollte. Welch gigantische Untertreibung! Sie wollte schlichtweg mit ihm ins Bett!

Gegen zwei Uhr morgens schlich sie in die Wohnung und wurde für ihren feigen Versuch, Julia aus dem Weg zu gehen, belohnt, indem sie ihre Freundin hellwach, auf dem Sofa sitzend antraf. Warum war sie überrascht? Die liebe, ehrliche Julia ging natürlich nicht eher schlafen, bis das Thema Gabriel DeWilde zwischen ihnen geklärt war. Im Gegensatz zu ihr respektierte sie Freundschaft und alles, wofür sie stand.

„Julia, ich habe nicht erwartet, dass du noch auf bist“, rief sie mit aufgesetzter Munterkeit und stolperte fast ins Wohnzimmer. Das schlechte Gewissen beeinträchtigte offenbar ihre Koordinationsfähigkeit.

„Lustige Party?“, fragte Julia und stützte eine Hand aufs Sofa. „Offenbar gab es reichlich flüssige Erfrischung.“

Lianne schnitt eine Grimasse. „Die Party wurde von ein paar alten Freunden aus der Kunstakademie gegeben. Zuviel Alkohol, zu viel Rauch, nicht nur vom Tabak, und viel zu viele Leute, die sich einbildeten, es sei ein herrlich dekadentes Vergnügen. Du weißt, wie das ist.“

Julia kicherte: „Leider nein. Meine Freunde an der Uni waren ziemlich gesetzt. Wenn es nach meinen Brüdern gegangen wäre, hätte ich zwei schriftliche Referenzen und handgeschriebene Lebensläufe einreichen müssen, ehe man mir gestattet hätte, mit jemand auszugehen.“ Sie sortierte ihr Stickgarn nach Farben in ein eigens dafür vorgesehenes Holzkästchen.

Lianne ließ sich links neben dem Kamin in einen Sessel fallen, knöpfte ihre Jacke auf und warf einen verstohlenen Blick auf ihre Freundin. Julia sah aus wie immer. Allerdings durfte man aus dem Umstand, dass sie keine Gefühle zeigte, nicht schließen, dass sie keine hatte. Die Deckenbeleuchtung brannte nicht, und Julia hatte sich die Stehlampe so gestellt, dass ihr Lichtstrahl direkt auf die Stickarbeit fiel. Ihr Gesicht blieb im Schatten. Absicht? Allerdings entdeckte Lianne beim besten Willen keine Anzeichen dafür, dass ihre Freundin Tränenströme vergossen hatte.

„Wie war deine Verabredung mit Gabe heute Abend?“, fragte sie im Plauderton.

Julia lächelte schwach, als sie ihr Sticktuch zusammenfaltete. „Liebe Lianne, falls das eine beiläufige Frage sein sollte, muss ich dir leider mitteilen, dass du deinen Lebensunterhalt niemals als Schauspielerin verdienen könntest.“

„Okay, also ich bin neugierig. Was ist heute Abend gewesen? Ich muss es wissen.“

„Ja, ich denke, das solltest du.“ Julias Stimme schien einen Augenblick zu schwanken, doch sie fasste sich gleich wieder. „Gabe und ich hatten ein sehr schönes Dinner im Mirabel. Irgendwann zwischen Suppe und Kartoffeln sagte er mir, dass er mich sehr möge, aber er sei nicht in mich verliebt.“

„Oh Julia, es tut mir so leid!“

„Aber es überrascht dich nicht, was? Wir wussten beide seit Wochen, dass meine Beziehung mit Gabe zu nichts führt.“ Julia stand abrupt auf und suchte zwischen den Sofakissen. „So ein Mist, ich habe meine Stickschere verlegt. Ich muss sie finden, bevor sich jemand darauf setzt.“

Lianne ging zum Sofa, nahm Julias Hand und verzichtete auf jeden Anschein, dass dies lediglich eine belanglose Unterhaltung sei. „Hat Gabe dir erzählt, dass er mich eingeladen hat, morgen Abend mit ihm auszugehen?“

„Ja.“ Julia richtete sich auf. Eine kleine silberne Schere baumelte von ihrem Zeigefinger. „Ah, da ist sie ja.“

Lianne ließ sich nicht ablenken. „Wenn du willst, lehne ich Gabes Einladung ab. Ich werde ihm sagen, dass ich nicht mit ihm ausgehen möchte, weder morgen noch zukünftig.“

„Aber das wäre gelogen, oder?“, stellte Julia ruhig fest. „Du und Gabriel, ihr fühlt euch sehr zueinander hingezogen, stimmt’s?“

Zueinander hingezogen war ein lächerlich milder Ausdruck für ihre Gefühle. Aber wie hätte sie Julia sagen können, dass sie nächtelang erotische Träume von ihm hatte? „Ja, du hast recht.“

Julia verstaute die Schere in ihrem Stickkasten. „Das habe ich mir gedacht, und ich will wahrer Liebe nicht im Weg stehen.“

„Aber das ist genau der Punkt, Julia. Es geht nicht um wahre Liebe, sondern um schlichte Lust. Es ist nichts zwischen Gabe und mir, das es lohnen würde, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen.“

„Vielleicht entwickelt sich noch etwas Lohnendes zwischen euch. Außerdem, wie kann man Lust und Liebe trennen?“

Lianne lachte leicht verlegen. „Nun, ich habe immer angenommen, das sei ziemlich leicht.“

„Ich dachte auch, ich würde den Unterschied kennen, aber ich bin mir dessen nicht mehr sicher. Wenn ein Mann und eine Frau kein Begehren füreinander empfinden, sind sie einfach nur Freunde, oder?“

Lianne war sich nicht sicher, was diese Bemerkung sollte, aber es klang nicht gut. „Sag die Wahrheit, Julia, hat Gabe dich verletzt? Du klingst, als würde dir die Trennung nichts ausmachen, aber ich kenne dich zu gut. Du wärst nicht fast ein halbes Jahr mit einem Mann zusammengewesen, wenn du nicht tiefe Gefühle für ihn gehabt hättest.“

„Ja, er hat mich verletzt. Aber du musst nicht so besorgt dreinschauen. Ich habe hier die letzten Stunden gesessen und über alles nachgedacht. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass vor allem mein Stolz verletzt ist. Ich mag Gabriel sehr. Ich bin gern mit ihm zusammen, und ich weiß auch, dass er gern mit mir zusammen ist. Aber mehr ist es nicht. Es fehlt der leidenschaftliche Funke. Wir waren in den letzten Monaten eigentlich nur Freunde, und ich hoffe, dass wir es in der Zukunft wieder sein können.“

Lianne wollte nur zu gern glauben, dass Julia aufrichtig so empfand, doch sie war nicht davon überzeugt. „Julia, noch vor zwei Monaten hast du mich Entwürfe für eine Brautausstattung zeichnen lassen. Da muss doch ein Funke zwischen dir und Gabe übergesprungen sein.“

Julia ging zum Fenster und zupfte die selbstgenähten Chintzvorhänge zurecht. „Ich bin neunundzwanzig, Lianne, und ich habe es satt, den Kindern anderer Leute Französisch beizubringen. Ich möchte heiraten und eigene Kinder haben. Gabe ist ein gutaussehender, intelligenter Mann mit einem faszinierenden Beruf. Als ich ihn kennenlernte, schien er die Erfüllung meiner Träume zu sein. Er ist offenbar ein sehr gefragter Junggeselle und ein netter Mann. Vermutlich hätte ich ihn heiraten und sogar einigermaßen zufrieden mit ihm sein können. Aber er verlangt mehr von einer Ehe als Zufriedenheit, und heute Abend wurde mir klar, dass ich das auch tue.“ Ihre Stimme klang bewegt. „Abgesehen von Kameradschaft und Kindern will ich Leidenschaft und hingebungsvollen, heißen Sex.“

„Heißen Sex? Julia, ich bin schockiert!“ Lianne sagte das nur halb im Scherz.

„Wirklich? Das solltest du nicht sein. Warum glaubst du, dass ich weniger von einer Ehe erwarte als du?“ Julia schob das Schiebefenster zu. „Um auf Gabe zurückzukommen, du brauchst nicht meine Erlaubnis, wenn du mit ihm ausgehen möchtest. Unsere Beziehung ist beendet. Du bist mir keinerlei Rechenschaft schuldig.“

Wenn eine andere Frau so viel freundliche Gelassenheit an den Tag gelegt hätte, nachdem sie soeben den Laufpass bekommen hatte, wäre Lianne sofort argwöhnisch geworden und hätte unterstellt, dass sie ihre Hassgefühle lediglich überspielte. Schließlich war es nicht angenehm, fallengelassen zu werden, weil der Freund es ausgerechnet auf die beste Freundin abgesehen hatte.

Aber natürlich kannte Julia nicht die ganze Wahrheit, und sie würde sie ihr auch auf keinen Fall verraten. „Ich glaube, wir haben genau entgegengesetzte Probleme. Zwischen Gabe und mir knistert es sofort erotisch, wenn wir zusammen sind, aber ich bin mir nicht mal sicher, ob wir uns überhaupt richtig mögen.“

Julia lächelte leicht ironisch. „Ich wünschte, zwischen Gabe und mir hätte sich nur etwas von diesem Knistern entwickelt. Da das nicht der Fall gewesen ist, werde ich ihm vermutlich sehr bald dankbar sein, dass er die Beziehung beendet hat, noch bevor wir uns aus Bequemlichkeit in eine Ehe treiben ließen.“

„Julia, wirklich, du bist zu gut, um wahr zu sein! Warum schimpfst und schreist du nicht und wünschst Gabe und alle Männer zur Hölle?“

„Ich kann nicht.“ Julia atmete rasch ein und aus. „Für dich ist es leicht, Gefühle auszudrücken, für mich nicht. Ich habe Angst davor.“

„Dann ist es an der Zeit, dass du es lernst.“

„Du verstehst nicht, Lianne. Ich habe Angst, wenn ich einmal anfange zu schreien, höre ich nicht mehr auf.“

Lianne zog sich der Magen zusammen. „Verdammt, Julia. Ich wusste es doch. Du bist viel verletzter, als du zugeben willst.“

Julias Stimme klang verdächtig ruhig. „Im Augenblick tue ich mir nur selbst leid. Aber das sagte ich schon.“ Sie warf sich das lange dunkle Haar über die Schulter zurück. „Ich habe mir vorgestellt, eines deiner Brautkrönchen zu tragen. Ich bin noch nicht bereit, den Traum von einer Hochzeit im Herbst mit dir als Brautjungfer aufzugeben. Aber das sollte mir etwas sagen, oder? Mein Traum, in einem langen weißen Kleid den Mittelgang der Kirche entlangzuschweben, ist ein alberner Grund, um zu heiraten. Und noch alberner wäre es, wenn du deshalb nicht mit Gabe ausgehen würdest. Er wird sich nicht in mich verlieben, Lianne. Daran ändert sich nichts, auch wenn ich es mir noch so wünsche.“

„Eines Tages wirst du einen wunderbaren Mann finden, der genau in deine Hochzeitsträume passt.“ Sie wünschte sofort, sie hätte lieber den Mund gehalten. Sie waren beide nicht mehr jung genug, um an den Märchenprinzen zu glauben. Zumal Scheidungsstatistiken bewiesen, dass sich die meisten Frauen mit weit weniger als dem Besten begnügten.

Julia lächelte schwach und versprach: „Falls ich ihm je begegne, wirst du es als erste erfahren. Ich bin müde, Lianne. Ich gehe zu Bett. Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh.“

„Wahrscheinlich nicht. Ich muss mich schon sehr früh ein paar Stunden in die Arbeit stürzen. Da Grace fort ist, sind alle so beschäftigt, dass ich mir die Leute schnappen muss, wenn ich sie kriege.“

Normalerweise hätte Julia viele neugierige Fragen über den neuen Job gestellt. Doch heute nickte sie nur müde. „Dann bis Sonntag. Gute Nacht, Lianne.“

Besorgt blickte Lianne ihr nach. Sie argwöhnte, dass Julia genauso tief gekränkt war, wie sie es befürchtet hatte. Ihre Unterhaltung war eine reine Verstellung gewesen, doch Lianne durchschaute ihre Freundin: Julia hatte so getan, als nähme sie die Trennung leicht, damit sie sich nicht schuldig fühlte.

Dennoch, einiges von dem, was gesagt worden war, stimmte. Sich in eine Ehe mit Gabe treiben zu lassen, wohl wissend, dass er sie nicht liebte, wäre ein schrecklicher Fehler gewesen. So elend Julia sich jetzt auch fühlen mochte, noch schlimmer wäre es gekommen, wenn die Ehe – vielleicht mit Kindern – gescheitert wäre.

Gabe ging bei seiner vierten Tasse schwarzen Kaffee die äußerst eigenwillig organisierten Akten seiner Mutter durch, als er durch ein beharrliches Klingeln aufgeschreckt wurde. Ärgerlich über die Störung, ging er zur Tür und riss sie auf.

Eine große schlanke Frau wollte soeben wieder die Klingel betätigen. „Megan!“, sagte er verblüfft, umarmte seine Zwillingsschwester freudig und führte sie hinein. „Wann bist du angekommen?“

Megan legte ihren Mantel über einen Sessel im Wohnraum und schüttelte sich die Schuhe ab. Sie setzte sich jedoch nicht, sondern ging unruhig zum Kamin und schnupperte in die Luft. „Mm, der Kaffee riecht gut. Hast du noch welchen übrig? Der im Flugzeug schmeckte mal wieder fürchterlich.“

Gabe schüttelte die Kanne. „Nur noch Tropfen. Komm mit in die Küche, ich mache frischen.“ Auf dem Weg hinüber umarmte er seine Schwester noch einmal. Sie wirkte abgespannt und nervös. Seit dieser Bastard Edward Whitney sie letztes Jahr am Altar verlassen hatte, arbeitete sie wie ein Workaholic, was hervorragend war für die Pariser Filiale, aber weniger gut für sie selbst. „Du siehst gut aus, Megan. Braun gefällt mir als Haarfarbe besser an dir als das Blond vom letzten Jahr.“

Sie erklärte grinsend: „Gehört alles zu meinem neuen Business-Outfit. Man beachte auch die dezenten Perlenohrstecker, das adrette Schneiderkostüm und das gelbe Twinset.“

„Schön, dass du immer ans Geschäft denkst, aber vergiss nicht, gelegentlich Freizeit für dich einzuplanen“, riet er, als sie in die Küche kamen.

Sie zog in einer vertrauten Grimasse die Nase kraus. „Freizeit, was ist das?“ Sie öffnete eine Tür der Einbauschränke. „Wo hast du deine Tassen, um Himmels willen? Warum verstauen Männer nie etwas dort, wo es logischerweise hingehört?“

Er öffnete eine andere Tür und deutete auf eine Reihe Becher und Tassen. „Verstaut mit typisch männlicher Unlogik genau über dem Platz, wo ich sie aus dem Geschirrspüler hole.“

Lachend nahm sie einen Becher. „Du hast Glück, dass du so gut aussiehst, Gabe, sonst würde es keine Frau fünf Minuten mit dir aushalten.“

Er bemerkte verärgert, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

„Du meine Güte! Mein kultivierter, jet-settender, weltgewandter Bruder wird tatsächlich rot! Soll das heißen, Julia Dutton hat endlich beschlossen, einen ehrenwerten Mann aus dir zu machen?“

„Nein, natürlich nicht!“ Vor Verlegenheit reagierte er schroff. Weit war es gekommen, wenn eine harmlose Bemerkung seiner Schwester so erotische Bilder von Lianne in seiner Phantasie weckte, dass er rot anlief.

„Tut mir leid, sie schien wirklich nett zu sein.“

„Das ist sie. Aber sie ist nicht die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte.“

„Woher willst du das wissen, Gabe? Es ist sehr schwierig, eine Beziehung zu verstehen, wenn man gerade mittendrin steckt.“

„Sicher. Aber man kann wohl mit Bestimmtheit annehmen, dass Probleme, die man vor der Heirat bereits sieht, danach nicht kleiner werden.“

„Ich habe kürzlich darüber nachgedacht.“ Sie schenkte sich frischen Kaffee ein und schnupperte daran. „Ich war aufgebracht und gedemütigt, als Edward mich am Altar verließ, aber heute weiß ich, es war richtig so.“

„Nicht auf diese Art. Nicht durch eine brutale, öffentliche Blamage.“

„Sicher, die Art und Weise war falsch, aber er hatte immerhin genügend Verstand, zu erkennen, dass wir nicht heiraten sollten. Ich hatte mich einfach vom Lauf der Ereignisse mitreißen lassen. Wenn man mal anfängt, eine Hochzeit zu planen, entwickelt das Geschehen sehr schnell eine Eigendynamik. Vor lauter Vorbereitungen hatte ich ganz vergessen, dass ich nach der Feier mit Edward würde leben müssen.“

„Glaubst du, so ist es Mom und Dad auch gegangen?“, fragte Gabe. „Ihre Hochzeit war 1964 das gesellschaftliche Großereignis. Glaubst du, sie haben sich einfach mitreißen lassen von dem ganzen Tamtam?“

„Und brauchten dann 32 Jahre, um festzustellen, dass sie sich geirrt hatten? Das erscheint mir unwahrscheinlich.“

„Aber ihre Trennung ist für mich einfach unbegreiflich.“

Megan lehnte sich gegen den Tresen und ließ einen Finger über den Becherrand gleiten. „Ich habe gestern einen zweiten Brief von Mom erhalten. Du auch?“

„Ja, habe ich. Aber ich kann nicht behaupten, dass er mir die Vorgänge einleuchtender macht. Sie bedauert die plötzliche Abreise, aber das Leben mit Jeffrey sei ihr unerträglich geworden. Sie liebe mich sehr und hoffe, bald mit mir zu sprechen. Das war ungefähr alles.“

„Meiner klang ganz ähnlich. Ich bin eigentlich hergekommen, weil ich gestern mit Kate telefoniert habe. Sie hatte versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da.“

„Ich war bis nach Mitternacht aus. Was gibt’s denn?“

Megan schenkte sich Kaffee nach. „Mutter hat Kate keinen Brief geschrieben, sondern sich mit ihr verabredet. Kate wollte trotz ihrer vielen Arbeit am Krankenhaus hingehen, aber sie schaffte es nicht bis Mittag. Als sie Mutter anrief, um einen neuen Termin mit ihr auszumachen, nahm sie den Hörer nicht ab …“

„Megan, stopp mal.“ Eine ihrer Stärken als Geschäftsfrau war es, präzise und knapp zu formulieren. „Nur die Kurzfassung bitte. Wie geht es Mutter? Wie sah sie aus? Worüber hat sie mit Kate gesprochen?“

„Sie haben sich nicht persönlich getroffen, aber sie hatten ein langes Telefonat miteinander. Mutter klang ganz okay, erwähnte aber weder Dad noch den Grund für die Trennung. Sie sprach allerdings von ihren Zukunftsplänen.“

„Und die wären?“

Megan stellte ihren Becher ab. „Gabe, es wird dir nicht gefallen, und Dad wird auch sauer sein. Mutter plant, in der Gegend von San Francisco ein Geschäft zu eröffnen.“

„Das kann sie nicht“, erwiderte er stirnrunzelnd. „Das ist ein verrückter Einfall. Abgesehen davon, dass es sehr merkwürdig ist, ein neues Geschäft zu eröffnen, solange sie und Dad kaum miteinander sprechen, DeWilde’s ist eine Aktiengesellschaft, und Expansionspläne müssen vom Aufsichtsrat genehmigt werden.“

„Du verstehst nicht. Mutter will keine Filiale von DeWilde’s eröffnen, sondern ein eigenes Geschäft in Konkurrenz zu DeWilde’s.“

Die Idee war so unglaublich, so verräterisch, dass er für Augenblicke sprachlos war. „Unmöglich! Kate muss da was falsch verstanden haben. Mutter würde uns nie Konkurrenz machen.“

„Kate hat einen IQ von über 160“, spottete Megan. „Sie hat sich drei Stunden lang Mutters Pläne angehört. Grace will in der Bay Region ein Geschäft eröffnen, das auf dem Konzept basiert, das DeWilde’s in fünf Ländern berühmt gemacht hat. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, wollte Mutter sich mit einem Immobilienmakler treffen, um den Nachmittag über nach einem geeigneten Standort für ihr neues Geschäft zu suchen.“

Während der letzten Tage hatte er Befremden und kindliche Kränkung über den Fortgang der Mutter empfunden. Dazu mischte sich Mitgefühl für seinen Vater und ein erwachseneres Bedauern, dass Grace sich nicht rat- und trostsuchend an ihn gewandt hatte. Megans Mitteilung änderte alles. Er konnte akzeptieren, dass die Ehe seiner Eltern in eine Krise geraten war. Er konnte verstehen, dass es seine Mutter für eine Weile zum Nachdenken nach San Francisco zurücktrieb. Doch ihm fiel außer Rache kein Grund für ihre Pläne ein, ein Konkurrenzunternehmen in San Francisco zu gründen.

„Dann müssen wir dafür sorgen, dass es ihr nicht gelingt“, erklärte er zornig. „Es ist kein Platz auf dem Markt für mehr als eine DeWilde’s-Kette, und Grace weiß das besser als jeder andere.“

Megan legte ihm eine Hand auf den Arm. „Sie ist unglücklich, Gabe. Verstehst du das nicht? Sie will ein Geschäft führen, weil es das ist, was sie kann. Pläne zu machen für ein neues Projekt ist für sie die einzige Möglichkeit, den Trennungsschmerz zu überwinden.“

„Sie sollte lieber nach Hause kommen, und sich wie eine Erwachsene mit Dad aussprechen. Falls du mit ihr redest, kannst du ihr bestellen, dass das Anpacken von Problemen ein wirksamerer Weg ist, sie zu beseitigen, als das Weglaufen vor ihnen.“

„Das kannst du ihr selbst sagen. Gabe, ich glaube, sie will von uns hören. Ruf sie an. Die richtigen Worte von dir könnten sie bewegen, ihre Pläne aufzugeben.“

„Wenn sie mit mir hätte sprechen wollen, hätte sie gewusst, wo ich zu finden bin. Was ich umgekehrt nicht behaupten kann. Ich habe immer noch keine Telefonnummer von ihr.“

„Aber ich. Kate hat sie mir gegeben. Mom wohnt vorübergehend in einem Apartmenthotel. Ich hole nur meine Tasche und gebe dir die Nummer.“

„Gib sie Dad. Er ist Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Er muss sich mit der Sache befassen und unsere Anwälte natürlich auch.“

„Aber du bist ihr Sohn.“

„Allerdings. Aber ich frage mich, ob Grace sich irgendwann in naher Zukunft daran erinnert.“

5. KAPITEL

Gabe war schon da, als Lianne das Restaurant betrat. Er begrüßte sie höflich, und sie spürte, dass er unter Anspannung stand, die jedoch offenbar nichts mit ihr zu tun hatte.

Sie wollte schon fragen, was los sei, erkannte jedoch, dass sie kein Recht dazu hatte. Dies war ihre erste richtige Verabredung, und obwohl sie seinen Körper sehr intim kannte, waren sie eigentlich kaum mehr als eine flüchtige Bekannte. Abgesehen von jener Nacht vor etlichen Monaten, als sie stundenlang geredet und schließlich miteinander geschlafen hatten, waren sie sich nie geistig nähergekommen. Und heute Abend wirkte er ausgesprochen distanziert, wozu vielleicht auch die förmliche Kleidung, Maßanzug mit Krawatte, beitrug.

Lianne setzte sich ihm gegenüber, beantwortete seine höflichen Fragen mechanisch und unterdrückte tiefe Enttäuschung über die Situation. Gabe war ein faszinierender und kultivierter Begleiter. Aber auch sie beherrschte die hohe Kunst des belanglosen Small Talk. Wenigstens das lernte man, wenn man sein halbes Leben auf Militärbasen rings um den Globus verbrachte.

Das Restaurant in der Nähe von Piccadilly, das er gewählt hatte, war neu. Der Küchenchef war Belgier, das Essen hervorragend und der Service makellos. All das und ein charmanter Gabriel DeWilde gegenüber am Tisch bei Kerzenschein, jede vernünftige Frau wäre im Himmel gewesen. Lianne war in der Hölle.

Sie redeten und redeten, um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen. Als ihnen nichts mehr einfiel, diskutierten sie über den Wein und das Menü. Lianne lehnte lächelnd ein Dessert ab und mit einem noch größeren Lächeln den Kaffee. Gabe konnte seine Erleichterung, dass das Essen vorüber war, kaum verhehlen, zahlte eine größere Summe und sie gingen. Draußen hatte es zu regnen begonnen.

Auch das noch, dachte Lianne ironisch, der ideale Abschluss eines katastrophalen Abends.

„Ich fahre dich nach Hause“, sagte Gabe. Es klang, als ginge er lieber freiwillig in eine Folterkammer.

Sie war sich nicht sicher, wie lange sie ihr freundliches Lächeln noch beibehalten konnte. „Bitte keine Umstände, Gabe. Ich kann mir schnell ein Taxi nehmen.“

„Das ist doch albern.“ Er nahm sie bei der Hand. „Mein Wagen steht um die Ecke. Und der Regen scheint etwas nachzulassen. Lass uns laufen.“

Hand in Hand liefen sie los und sprangen über Pfützen. Sie erreichten sein Auto leicht durchfeuchtet und ziemlich außer Atem. „Ich mache dir sofort die Tür auf, sobald ich meinen Schlüssel habe.“ Während Gabe in seinem Jackett suchte, fuhr ein Lastwagen vorbei und bespritzte sie mit einer üppigen Wasserfontäne.

Lianne sprang instinktiv zurück und stieß gegen Gabe. Ihr Haar flog gegen seine Wange, mit den Händen stemmte sie sich an seiner Brust ab. Beide erstarrten geradezu, eng aneinandergedrängt.

Ach du meine Güte, dachte Lianne, nicht das auch noch.

Gabe sah ihr tief in die Augen. „Fast hätten wir es geschafft, was?“

Sie konnte nicht antworten. Ihr Herz schlug ihr vor Aufregung schier im Hals. Gabe neigte den Kopf und küsste sie leidenschaftlich, ungeachtet ihrer Umgebung und vorbeifahrender, sie bespritzender Autos. Lianne erwiderte den Kuss hingebungsvoll, auch wenn sie sich ein wenig ihrer Hemmungslosigkeit schämte. Eines hatte dieses Dinner heute Abend bewiesen: Sie und Gabe hatten nichts gemeinsam, außer einer merkwürdigen Körperchemie, die augenblicklich gegenseitige Begierde auslöste.

Sie spürte, wie erregt er war, als er den Kuss abbrach und bat: „Verbring die Nacht mit mir, Lianne.“

Keine beschönigenden Lügen, keine verlockenden Versprechungen, nur das knappe Angebot einer Nacht voller Sex. Sie schloss kurz die Augen. Es fiel ihr schwer, der Versuchung zu widerstehen. „Nein.“

Einen Augenblick umfasste er ihre Arme fester, als würde er die Antwort nicht akzeptieren. Doch dann ließ er sie los und öffnete die Beifahrertür. „Steig ein! Ich fahre dich heim.“

Der Verkehr war dicht, und der Regen hatte sich in ein feines Nieseln verwandelt, das die Sicht nahm und das Fahren erschwerte. Lianne fühlte jedoch, dass das Schweigen während der Fahrt keine Folge der schwierigen äußeren Bedingungen war. Die Atmosphäre knisterte geradezu vor unterdrückten Gefühlen.

Warum sagte Gabe nichts? Vielleicht, weil ihm genauso wie ihr die passenden Worte fehlten. Er war keiner, der das schnelle Abenteuer suchte. Er war fünf Monate mit Julia gegangen und schätzte offenbar das Element der Freundschaft in der Beziehung zu einer Frau. Da Lianne glaubte, dass er sie nicht mal besonders mochte, war ihm vermutlich diese gegenseitige, unerklärlich heftige sexuelle Anziehung genauso peinlich wie ihr.

„Vielleicht sollten wir uns ein Wochenende für wilden, ungestörten Sex reservieren“, dachte sie laut. „Vielleicht bekämen wir dann ein für alle Mal genug voneinander und könnten unbeschwert mit unserem Leben weitermachen.“

Er fragte schwach lächelnd: „Hätte nicht ich das sagen müssen?“

„Warum? Weil du ein Mann bist? Bist du Sexist genug, zu glauben, Frauen hätten keine sexuellen Wünsche? Ich spüre ebenso wie du, was mit uns los ist, Gabe. Soll ich so tun, als merke ich nicht, dass wir praktisch Funken schlagen, sobald wir uns berühren? Und dass uns nichts verbindet außer gegenseitiger Lust – und dem Betrug an einer guten Freundin.“

Er umfasste das Lenkrad fester. „Julia und ich haben uns keine Versprechungen gemacht“, erklärte er ruhig. „Und ich glaube, sie hat verstanden, dass wir ihr nicht weh tun wollten.“

„Sie ist weitaus großzügiger, als ich es bin. Und wir haben ihr sehr wehgetan.“ Lianne verschränkte die Hände im Schoß und ärgerte sich, dass ihr Tränen in den Augen brannten. Warum hatte sie bloß nicht Julias Distanziertheit. Doch in ihr tobte irisch-amerikanisches Temperament mit einer gehörigen Prise tschechischer Leidenschaft. Der englische Name stammte von einem Urgroßvater, der leider nicht seine britische Unterkühltheit vererbt hatte. Ungeduldig rieb sie an den Lehmspritzern, die jetzt auf dem kurzen Rock ihres neuen Abendkostüms trockneten. Ruiniert beim ersten Ausgehen, das passte auch auf ihre Beziehung zu Gabe.

Vor ihrem Haus war ein Parkplatz frei, und Gabe stellte den Wagen rasch ab.

„Du musst mich nicht zur Tür bringen.“ Lianne wandte sich ab, um auszusteigen. „Der Eingang ist hell erleuchtet. Danke für das Essen, Gabe. Das Restaurant war wunderbar …“

Gabe stieg aus und vertrat ihr auf dem Bürgersteig den Weg. „Ich habe mich heute Abend wie ein Hornochse benommen. Tut mir leid, Lianne. Nimmst du meine Entschuldigung an?“

Sie konnte wieder freundlich lächeln. „Natürlich. Nochmals, danke für das schöne Essen. Wir sehen uns Montag im Büro.“

Er hielt sie am Arm zurück. „Es ist zwar keine Entschuldigung für mein Benehmen, aber ich habe heute Nachmittag schlechte Nachrichten erhalten bezüglich meiner Mutter.“

„Oh mein Gott, sie ist doch nicht krank?“

„Nein.“ Er rieb sich den Nacken. Es war eine so müde Geste, dass Lianne ihn gern in den Arm genommen und getröstet hätte. „Offenbar plant sie, in San Francisco ein Geschäft für Brautausstattungen zu eröffnen.“

„Eine Filiale von DeWilde’s? Warum ist das eine schlechte Nachricht?“

Gabe lachte freudlos. „Keine Filiale, sondern ein Konkurrenzunternehmen, basierend auf den Konzepten, die sie in den letzten dreißig Jahren für DeWilde’s perfektioniert hat.“

Lianne war schockiert. „Das kann sie doch nicht machen. Sie bekommt weder Unterstützung noch Startfinanzierung. Es muss doch eine Klausel in ihrem Vertrag geben, dass sie euch keine Konkurrenz machen darf.“

„In welchem Vertrag?“, fragte Gabe bitter. „Als meine Mutter für DeWilde’s zu arbeiten begann, war es ein Familienunternehmen, und sie hatte soeben den Sohn des Firmeninhabers geheiratet. Hoffentlich irre ich mich, aber ich glaube kaum, dass jemand daran gedacht hat, ihr einen regulären Vertrag zu geben.“

Lianne schüttelte ungläubig den Kopf. „Was sagt denn dein Vater dazu?“

„Nichts, er weiß es noch nicht. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, andernfalls hätte ich unsere Verabredung absagen müssen.“

Lianne wusste, dass ihre Verabredung der Vorwand und nicht der Grund dafür war, dass er seinen Vater noch nicht informiert hatte. Sie ergriff seine Hand. „Du musst es ihm sagen. Heute Nacht noch oder gleich morgen früh. Es wird viel schlimmer, wenn er es gerüchteweise oder über die internationale Klatschbörse erfährt.“

„Da hast du recht, aber ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll, dass seine Frau ihm einen Dolchstoß versetzen will.“

„Zunächst mal würde ich empfehlen, dass du dich einer weniger martialischen Ausdrucksweise bedienst“, bemerkte sie trocken.

„Welche Worte ich auch wähle, sie ändern nichts an der Tatsache, dass meine Mutter uns Konkurrenz machen will.“

„Das stimmt nicht ganz, Gabe. Wenn es Grace darum ginge, euch Konkurrenz zu machen, würde sie ihr Geschäft in einer Stadt eröffnen, in der es schon eine DeWilde’s – Filiale gibt. In San Francisco habt ihr kein Geschäft. Die einzige amerikanische Niederlassung ist in New York. Und ich bezweifle, dass die Bräute aus San Francisco dreitausend Meilen reisen, um in New York einzukaufen.“

Gabe atmete tief durch und bekannte: „So habe ich das noch nicht betrachtet, aber du hast recht. Unsere Kundschaft in New York stammt hauptsächlich von der Ostküste.“

„Sag das deinem Vater! Dadurch wird Graces Plänen vielleicht ein wenig der Stachel genommen …“

Er blickte auf seine Hand, die Lianne mit dem Daumen streichelte. „Warum tut sie das, Lianne?“ Es schien, als zögere er, einer Außenstehenden Einblick in seine widersprüchlichen Gefühle zu gewähren. „Meine Eltern waren verdammt lange verheiratet und schienen immer glücklich miteinander. Erstaunlich glücklich eigentlich. Was ist passiert? Was ging schief?“

Lianne dachte an ihre eigenen Eltern, jetzt Mitte Fünfzig, die sich trotz der berufsbedingten häufigen Ortswechsel immer gut verstanden hatten. Ihre Mutter war nie berufstätig gewesen, aber Lianne bezweifelte, dass Graces Berufstätigkeit Grund für das Scheitern der Ehe war. „Ich habe darauf keine Antwort, Gabe. Wenn ich die hätte, würde ich wahrscheinlich den Friedensnobelpreis bekommen oder ein Vermögen mit dem Verkauf dicker Bücher voller Geheimtipps für eine glückliche Ehe verdienen.“

Er lächelte zögerlich. „Einige Dinge scheinen mit den Jahren komplizierter zu werden, was? Als ich acht war, wusste ich genau, was Liebe ist. Das waren mein Vater, der mir am Strand ein Eis kaufte, und meine Mutter, die abends an meinen Bett saß und mir Willy Wonka und die Schokoladenfabrik vorlas.“

„Eine schöne Definition von Liebe.“

„Es war schön. Leider verstehe ich seither jedes Jahr weniger, was es heißt, jemanden zu lieben. Es ist ziemlich deprimierend zu erkennen, dass man mit acht Jahren die tiefschürfendsten Einsichten in menschliche Beziehungen hat.“

Lianne lachte: „Gib die Hoffnung nicht auf, Gabe! Die Einsicht, nichts zu wissen, ist vermutlich das erste Zeichen von Weisheit.“

Er blickte wieder auf ihre immer noch ineinander verschränkten Hände. „Danke, dass du mir zugehört hast, Lianne! Es hat mir geholfen, einiges ins rechte Licht zu rücken. Gleich morgen früh spreche ich mit meinem Vater.“

„Ich bin mir sicher, das ist die richtige Entscheidung.“

Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste ihr zart die Fingerspitzen. „Iss morgen mit mir zu Mittag!“

Sie wollte gern, doch die Vorstellung, wieder bei belangloser Unterhaltung an einem Restauranttisch zu sitzen, ließ sie schaudern. Andererseits brannte sie darauf, ihn besser kennenzulernen, als Mann und möglichen Freund.

„Wo sollen wir uns treffen?“

„Wir könnten aufs Land fahren und am Fluss …“

„Viel Fahrerei für ein bisschen Lunch.“

„Hast du einen anderen Vorschlag?“

Sie sah ihn an und hatte Herzklopfen. „Wie wäre es mit deiner Wohnung?“

Gabe wurde sehr still. „Ich koche nicht.“

„Ich esse mittags kaum etwas. Lunch ist also keine große Sache für mich.“

Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Du isst nicht, und ich koche nicht, das klingt ja geradezu himmlisch. Wann darf ich dich erwarten?“

„Ein Uhr?“

„Ich warte auf dich.“

Er beschrieb ihr den Weg zu seiner Wohnung, und Lianne wandte sich zum Gehen. Gabe hielt sie jedoch zurück, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie lange. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, wiederholte Lianne und verschwand eilig im Haus.

6. KAPITEL

Vor zwei Stunden hatte Gabe ihm von Graces Geschäftsplänen erzählt, doch Jeffrey hatte das Gefühl, sein Zorn sei seither noch heftiger geworden, anstatt sich zu legen. Unruhig trug er sein Whiskeyglas durch den Wohn- und Arbeitsraum, doch weder Sofa noch Ledersessel verlockten ihn zum Hinsetzen. Die Wohnung atmete Leere, betonte Graces Abwesenheit, quälte ihn mit Erinnerungen. Der schwache Duft ihres Parfums hing überall, zu stark, ihn zu ignorieren, zu schwach, ihn voll zu genießen.

Die letzte Nacht hatte er im Gästezimmer geschlafen, weil er die Leere des großen Schlafzimmers nicht ertrug. Als er jetzt die Tür öffnete und den großen makellosen Bettüberwurf sah, erinnerte er sich, wie Grace jeden Tag im Schneidersitz auf dem Bett gehockt hatte. Morgens hatte sie dabei die Zeitung gelesen, die Brille auf der Nasenspitze. Abends hatte sie in T-Shirt oder Satinnachthemd die Nadeln aus dem blonden Haar entfernt, bis es ihr lose auf die Schultern fiel.

Selbst heute, nach all den Jahren, konnte sie ihn noch erregen, indem sie ihr Haar löste und ihn mit diesem neckenden Blitzen in den Augen ansah. Mit bittersüßer Genauigkeit erinnerte er sich, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten: vor einem Monat, zwei Wochen und sechs Tagen. Er würde alles dafür geben, seine Frau wieder bei sich zu haben.

Jeffrey trank noch einen Schluck, schloss die Schlafzimmertür und ging den Flur hinunter. Seltsam, bis vor wenigen Tagen war ihm nicht aufgefallen, wie deprimierend die Walnusstäfelung wirkte. Er ging ins Wohnzimmer zurück und schenkte sich noch einen Whiskey ein. Der dritte heute, und es war noch nicht mal Mittag. Er betrachtete das Glas. Nein, Trinken löste kein Problem. Er stellte es auf den Servierwagen, ging auf den Balkon hinaus und starrte über die Themse. Der Regen hatte in den Morgenstunden aufgehört. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft in diese kleine Anliegerstraße, und von den Salzmarschen der Themsemündung wehte eine würzige Brise herüber.

Grace ist nicht nur jenseits des Atlantiks, dachte er in einem Anfall von Selbstmitleid. Sie ist noch dreitausend Meilen weiter weg, an den Ufern des Pazifiks, näher an Asien als an England. Und die Kluft zwischen ihnen war mindestens ebenso weit wie die räumliche Distanz. Er schloss die Augen, spürte die Sonne auf der Haut, suchte Frieden und versuchte zu akzeptieren, dass Grace fort war. Wahrscheinlich kam sie nicht zurück, er hatte ihre Beziehung zerstört.

„Nein!“, sagte er plötzlich entschieden und schreckte einige Möwen auf. Entschlossen schlug er mit den Händen auf die Eisenbalustrade und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er nahm den Telefonhörer auf und suchte nach seiner Brille, um die Telefonnummer auf seinem Notizblock entziffern zu können. Besonders an Tagen wie heute hasste er die Anzeichen des Älterwerdens. Ah, da war sie: Grace – San Francisco.

Ärgerlich drückte er die Nummerntasten. In San Francisco musste es noch früh sein. Grace antwortete beim dritten Läuten mit schlaftrunkener Stimme. „Hallo?“

Der Klang ihrer Stimme weckte Sehnsucht in ihm, und er fragte sich plötzlich in einem Anflug von Eifersucht, ob sie allein war. Um seine aufgewühlten Gefühle nicht zu verraten, sprach er mit tiefer, beherrschter Stimme. „Hier ist Jeffrey. Wir müssen reden, Grace.“

„Um halb vier Uhr früh? Ich habe dir nichts zu sagen, Jeffrey. Es wurde alles gesagt, mehrfach.“

Sie klang kühl, distanziert, gleichgültig. Das sah ihr nicht ähnlich. Normalerweise schrie und tobte sie, aber offenbar hielt sie ihn eines Gefühlsausbruchs nicht mehr für würdig.

Das schmerzte ihn so sehr, dass er seinem Zorn freien Lauf ließ. „Nun, meine Liebe, ich habe dir eine Menge zu sagen. Laut Megan warst du sehr emsig in der Woche, seit du in San Francisco bist. Wann hast du entschieden, dass ich noch nicht genug gestraft bin? Wann hast du beschlossen, die Daumenschrauben noch fester anzuziehen?“

„Wovon redest du überhaupt?“

Er war zu zornig, die leichte Verunsicherung in ihrer Stimme zu bemerken. „Ich rede von dem Luxusgeschäft für Brautausstattungen, das du in San Francisco eröffnen willst. Wie ich höre, soll es eine heftige Konkurrenz für DeWilde’s werden. Gibt es denn einen anderen Grund für deine Pläne als Rache?“

„Ach so, du meinst das Geschäft. Schließlich muss ich mit dem Rest meines Lebens etwas anfangen, Jeffrey.“

Du könntest heimkommen und wieder meine Frau sein, hätte er am liebsten geschrien, doch er schwieg. „Dann lass mich meine Position klarmachen, Grace, die ebenso die Position der DeWilde’s-Geschäftsleitung ist. Deine Fähigkeiten in Geschäftsleitung, Marketing und Verkauf hast du während deiner Zeit bei DeWilde’s erworben. Sollten sich deine geschäftlichen Aktivitäten auf Fähigkeiten stützen, die du während deiner Arbeit für uns erworben hast, solltest du zum Beispiel unsere Markennamen oder gar das Firmenlogo benutzen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du und deine zukünftigen Geldgeber mit so vielen Gerichtsverfahren überzogen werdet, dass ihr damit die nächsten hundert Jahre beschäftigt seid.“

„Versuch es nur“, entgegnete sie ärgerlich. „Nur zu, Jeffrey, lass einen deiner gewieften Anwälte sich in das kalifornische Gesetz gegen Handelshemmnisse vertiefen. Du wirst feststellen, dass die Position der Firma rechtlich auf sehr schwachen Beinen steht. Dass ihr an der Londoner Börse gehandelt werdet, nützt euch gar nichts. Vom amerikanischen Standpunkt aus ist DeWilde’s ein ausländisches Unternehmen.“

„Ich möchte dich daran erinnern, dass bei der Umwandlung unseres Unternehmens in eine Aktiengesellschaft alle Familienmitglieder einen Vertrag mit sehr deutlichen Konkurrenzklauseln unterschrieben haben, um Aktionäre außerhalb der Familie zu schützen. Du hast diesen Vertrag ebenfalls unterzeichnet, und ich werde darauf pochen, dass du ihn einhältst. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.“

„Sonnenklar, Jeffrey.“ Ihre Stimme klang heiser und angesichts dessen, was sie zueinander sagten, geradezu lächerlich sexy. „Du hast viele Probleme in puncto Kommunikation, aber Mangel an Deutlichkeit gehört nicht dazu. Lass mich ebenso klar und deutlich antworten: Ich werde das Geschäft eröffnen, und du hast nicht den Schimmer einer Hoffnung, mich davon abzuhalten. Wir sehen uns vor Gericht, Jeffrey.“

Als sie den Hörer auflegte, wurde ihm bewusst, dass er die Situation kaum schlechter hätte handhaben können. Er hatte jede Hoffnung auf Verhandlungen, Kompromisse und Erklärungen zerstört. Falls Grace mit ihren Geschäftsplänen vielleicht noch geschwankt hatte, jetzt war sie wild entschlossen, sie durchzuziehen. Er legte den Hörer auf, ging zum Servierwagen, nahm sein Whiskeyglas und trank …

Als Gabe die Tür öffnete und Lianne vor ihm stand, merkte er erst, wie sehr er sich auf das Wiedersehen mit ihr gefreut hatte. In Jeans und Seidenbluse sah sie bezaubernd frisch und lässig aus. Ein Jackett hing über ihren Schultern, und das braune Haar löste sich bereits wieder aus der Spange die es hochhalten sollte. Verlangen durchströmte ihn, verbunden mit einem tieferen, komplexeren Gefühl, das schwer zu beschreiben war. Erstaunlicherweise löste sich jetzt die innere Anspannung, die ihn seit dem morgendlichen Gespräch mit seinem Vater nicht mehr verlassen hatte.

Er lächelte, froh, dass sie da war, und sie den Rest des Tages für sich zu haben. Um was zu tun? Er sehnte sich danach, mit ihr zu schlafen, doch eine rasche Verführung erschien ihm plötzlich wenig erstrebenswert.

Verwirrt über seine Gefühle, merkte er, dass ihn sein Repertoire an witzigen Einzeilern plötzlich im Stich ließ. Deshalb lächelte er nur und sagte wahrheitsgemäß: „Hallo, schön, dich zu sehen.“

„Hallo.“ Sie erwiderte sein Lächeln und hielt eine Papiertüte hoch. „Ich habe uns was Schönes mitgebracht. Zwei Bath Buns, frisch aus dem Ofen.“

„Selbst gebacken?“

Sie lachte fröhlich: „Ich wünschte, meine kulinarischen Talente reichten soweit. Weil so schönes Wetter ist, bin ich zu Fuß gekommen und entdeckte eine wunderbare Bäckerei. Also, wenn du Kaffee oder Tee kochen kannst, können wir uns einen anständigen Lunch genehmigen.“

„Kaffee ist meine Spezialität.“ Er trat beiseite und ließ sie ein. „Und ich liebe Bath Buns. Wenn du zu Fuß gekommen bist, muss du durstig sein.“

„Es sind weniger als fünf Meilen“, sagte sie und folgte ihm in die Küche. „Die Parks und Gärten sind wunderschön um diese Jahreszeit. Es wäre eine Schande gewesen, die U-Bahn zu nehmen.“

Gabe gab Bohnen in die Kaffeemühle und deutete mit dem Kopf zum Schrank. „Teller findest du da drin.“

Sie legte die süßen Brötchen auf zwei Teller und sah ihm zu, während er das Wasser aufsetzte. „Für jemanden, der nicht kocht, hast du eine beeindruckende Küche.“

„Als ich die Wohnung vor drei Jahren kaufte, hoffte ich, die Küche würde mich zum Gourmetkoch machen. Nach einigen Fehlschlägen erkannte ich, dass ein Gourmetkoch mehr können muss, als ein Kochbuch zu lesen. Ich belegte noch ein paar Kochkurse, kam aber nie über die Einführungslektionen hinaus. Zu oft kam irgendeine Krise im Job dazwischen. Und ehrlich gesagt, ich esse so oft in Restaurants, dass mir zu Hause eine Schüssel Cornflakes reicht.“

„Bei DeWilde’s geht es ziemlich hektisch zu hinter den Kulissen. Ich gewöhne mich allmählich an die täglichen Krisen. DeWilde’s ist ein berühmtes Geschäft, fast eine Institution, da hätte ich erwartet, dass das Management ein bisschen konservativer, behäbiger ist.“

„Angeblich war es das bis in die späten Siebziger auch. Dann veränderte sich alles sehr schnell durch den Einfluss meiner Mutter. Nachdem wir 1986 Aktiengesellschaft wurden, gingen viele altgediente Angestellte in Pension. Die neuen Mitarbeiter und diejenigen vom alten Stab, die geblieben waren, begrüßten die lockeren Managementstrukturen und die kreativen Freiheiten, die wir vorgaben, um neue Ideen auszuprobieren. Und wenn man Neues ausprobiert, gerät man unweigerlich immer wieder in Schwierigkeiten. Ich möchte aber die Befriedigung, die mir die Arbeit bei DeWilde’s gibt, nicht gegen die zusätzliche Freizeit in einem anderen Job tauschen. Und meinen Eltern geht es wohl genauso, obwohl sie manchmal bis zum Umfallen arbeiten.“

„Du vermisst deine Mutter sehr, was?“

Für einen Augenblick hatte er vergessen, dass Grace nicht mehr für DeWilde’s arbeitete. Er bedauerte ihr Weggehen auch aus rein beruflicher Sicht. Es war schade, nicht mehr für eine so talentierte und kenntnisreiche Frau arbeiten zu können.

„Ich bin mir sicher, Adam kann sie ganz gut ersetzen“, erwiderte Gabe ohne große Überzeugung.

„Ja, vermutlich. Wie lange arbeitest du schon für DeWilde’s?“, wechselte sie taktvoll das Thema.

„Drei Jahre. Zum Verkaufsmanager für das Londoner Geschäft wurde ich vor fünf Monaten ernannt. Und warum siehst du so erstaunt aus?“

„Ich dachte, als Sohn und Erbe hättest du seit dem Collegeabschluss hier gearbeitet.“

Er verzog das Gesicht. „Du trampelst auf meinem Ego herum. Ich bilde mir ein, dass ich aufgrund meiner Verdienste angeheuert wurde und nicht, weil ich der Sohn vom Boss bin.“ Er seufzte: „Manchmal ist der Name DeWilde eine Bürde.“

„Hast du jemals daran gedacht, in einem Konkurrenzunternehmen zu arbeiten?“

„Ich habe nicht nur daran gedacht, ich habe es getan, bei Bloomingdales und Tiffany in New York. Aber niemand wollte mich in eine wirklich verantwortungsvolle Position befördern, weil man annahm, eines Tages ginge ich doch zu DeWilde’s zurück und würde alle Firmengeheimnisse mitnehmen. Schließlich bezwang ich meinen Stolz und bewarb mich bei DeWilde’s.“

„Warum musstest du deinen Stolz bezwingen?“ Sie nahm ihm die Tasse Kaffee ab, die er ihr reichte, und trank genüsslich.

„Nun, ich bin mit siebzehn Jahren von zu Hause weggegangen und habe dabei allen versichert, ich würde niemals im Familienunternehmen arbeiten. Ich ließ mich schließlich doch überreden, anstatt zu den Marines auf die Universität zu gehen und gestattete meinen Eltern, mich zu unterstützen. Nach dem College bekam ich gleich den nächsten Anfall von Rebellion. Ich wollte mit Menschen zusammensein, die nie etwas von DeWilde’s gehört hatten, die mich als Gabe akzeptierten, einen nützlichen Burschen, den man gern dabeihatte, wenn es eng wurde…“

„Und wie sah die Rebellion aus?“

„Es waren die üblichen, dümmlichen Auswüchse. Bis auf Drogen habe ich so ziemlich alles ausprobiert. Es war so schlimm, dass meine Schwestern fast ein Jahr nicht mit mir gesprochen haben. Ich habe zu viel getrunken, befreundete mich mit gefährlichen Leuten und ließ mich mit den falschen Frauen ein. Ich arbeitete auf einer Ölplattform in Texas und an der Gaspipeline in Alaska. Man könnte sagen, dass ich enorme Energien verpulverte, um zu beweisen, dass meine Eltern mich nicht zwingen konnten, für DeWilde’s zu arbeiten. Was natürlich alle, außer mir, bereits wussten.“

Lianne biss in ihr süßes Brötchen und seufzte mitfühlend: „Also wirklich, ich möchte nicht mehr zwanzig sein. In dem Alter kommt einem die Welt zwar herrlich vor, aber man kann keinem erzählen, wie viel Angst man vor allem hat. Wie haben deine Eltern auf deine Rebellion reagiert?“

Er bekannte schmunzelnd: „Von meinem Standpunkt aus haben sie nicht sonderlich gut kooperiert. Wenn ich gelegentlich mal anrief, um ihnen mitzuteilen, dass ich noch lebe, sagten sie regelmäßig, sie freuten sich sehr, von mir zu hören, aber wenn es mir wirklich gefiele, Gräben durch die arktische Tundra zu ziehen, oder mir auf einer Plattform im Mexikanischen Golf den Hintern zu verbrennen, sollte ich das ruhig tun. Alles Gute für dich, Sohn. Nach neun Monaten in Alaska hatte ich genug davon, mir den Hintern abzufrieren. Also entschied ich, ein Studium der Betriebswirtschaft sei die bessere Wahl.“

Lianne lachte: „Erwachsen zu werden ist wirklich eine schmerzliche Erfahrung, was? Ich bin mit achtzehn in eine Künstlerkolonie nach Maine ausgerückt. Bei Beginn des Winters, was dort ungefähr Anfang September ist, erkannte ich, dass ich mitsamt meinen kreativen Talenten zu erfrieren drohte. Ich rief meine Eltern an und sagte, ich wolle nun doch aufs College gehen. Als ich der Anführerin unserer Kommune mitteilte, ich würde mit dem nächsten Bus heimfahren, schüttelte sie nur traurig den Kopf und prophezeite, ich würde es noch bereuen, mein Künstlertum dem schnöden Kommerzialismus unterzuordnen. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu gestehen, dass mein Fortgehen nichts mit mangelndem Kunstsinn zu tun hatte, sondern mit dem Gedanken an heißes Wasser in der Dusche und an einen Pizzabäcker um die Ecke.“

Während Lianne lebhaft und amüsant erzählte, wurde Gabe bewusst, dass seine Gefühle für sie weit tiefer und komplexer waren, als er bisher hatte wahrhaben wollen. Eine Erkenntnis, die ihn beunruhigte. Die häusliche Intimität der Küche erschien ihm plötzlich bedrohlich, und er wollte ihr entfliehen. „Komm mit ins Wohnzimmer! Mein Balkon ist zwar nur so groß wie eine Badewanne, aber wenn wir die Türen öffnen, bekommen wir gratis frische Luft und Blumenduft.“

„Klingt gut! An einem schönen Tag wie heute weiß ich wieder, warum ich in London leben und arbeiten wollte.“

Ich werde sie nicht küssen, sagte Gabe sich. Ich bin nicht so verknallt, dass ich sie jedes Mal küssen muss, nur weil sie lächelt. „Und warum hast du dich für London entschieden? Warum nicht für Paris, Rom oder Wien?“

„Teilweise sicher, weil man in London meine Sprache spricht. Aber vor allem auch, weil London mit seinen vielen Parks und Grünflächen einfach eine schöne Stadt ist. Und dann die vielen wunderbaren Theater. Da ich nun ein geregeltes Einkommen habe, kann ich mir sogar die Eintrittspreise leisten.“ Sie stellte ihren Kaffeebecher ins Spülbecken und wusch sich die Hände.

Gabe reichte ihr ein Handtuch, bemüht, sie nicht zu berühren. „Ich bin auch Theaterfan; wir sollten irgendwann zusammen in eine Vorstellung gehen.“

„Gern.“ Sie legte das Handtuch beiseite und folgte ihm.

Gabe wünschte, er hätte die letzte Aufführung mit Lianne gesehen anstatt mit der eleganten Journalistin, die ihm anschließend in ihrer Wohnung einen Brandy und zwanzig Minuten langweiligen Sex geboten hatte, ehe sie sich zu einer halbstündigen Analyse der technischen Fehler in der darstellerischen Leistung des männlichen Hauptdarstellers aufschwang. Er hatte sich insgeheim gefragt, ob sie seine Leistung im Bett später einer ebenso kritischen Würdigung unterziehen würde und schließlich dabei festgestellt, dass ihm das eigentlich gleich war.

„Gabe, das ist hübsch“, begeisterte sich Lianne, als sie den Wohnraum betraten. „Hast du ihn selbst eingerichtet?“

„Mit Hilfe einiger Freunde aus der Möbelbranche. Die antiken Stücke sind allesamt restaurierte, ausrangierte Möbel aus Kemberly, dem Haus meiner Eltern in Hampshire. Mein Urgroßvater hat es in den dreißiger Jahren gekauft, bald nachdem er in England angekommen war.“

„Ich dachte, deine Familie sei alteingesessen.“

„Nach britischen Maßstäben sind wir gerade aus dem Boot gekommen. Mein Vater war der erste DeWilde, der hier geboren wurde. Meine Vorfahren waren Diamantenhändler in Amsterdam, und meine Urgroßeltern gründeten nach dem ersten Weltkrieg das erste Geschäft für Brautausstattungen in Paris. Als Hitler in Deutschland an die Macht kam, fanden sie es an der Zeit, das Familienvermögen zu schützen, indem sie das Risiko streuten. Daher gründeten sie eine Filiale in London. Das war 1934.“

„Und das Londoner Geschäft war sofort ein großer Erfolg.“

„Ja, glücklicherweise. Mein Urgroßvater feierte die Gewinne des ersten Jahres, indem er Kemberly einem Baron abkaufte, der daraufhin sofort nach Afrika aufbrach, um wehrlose Tiere abzuschlachten. Es ist eines von diesen riesigen Herrenhäusern mit Geheimtreppen und so viel Stauraum unter dem Dach, dass nie etwas weggeworfen worden ist. Diese Möbel wurden vermutlich schon im letzten Jahrhundert ausgemustert, bis ich sie auf dem Dachboden wiederentdeckt habe.“

Lianne seufzte: „Du machst mich eifersüchtig. Ich habe immer davon geträumt, ein vergessener Onkel würde mir ein solches Haus vererben, das schon seit vielen Generationen im Familienbesitz ist. Vielleicht eine Folge des vielen Herumreisens mit meinen Eltern. Als Kind habe ich nie länger als drei Jahre an einem Ort gelebt.“

„Es muss schwer gewesen sein, ein so unstetes Leben zu führen, zumal du nicht mitentscheiden konntest, wohin ihr umgezogen seid.“

„Nun ja“, erwiderte sie achselzuckend, „Kinder haben ja eigentlich nie ein Mitspracherecht, wenn die Eltern umziehen. Außerdem war ich stolz auf die Tätigkeit meines Vaters, vielleicht war es deshalb einfacher für mich, die Anforderungen, die sein Beruf stellte, zu akzeptieren. Am schlimmsten war eigentlich, dass ich immer wieder meine Freunde verlor. Nach einer Weile schützt man sich vor den ständigen Verlusten, indem man keine Freundschaften mehr schließt. Das ist keine gute Entwicklung.“

Gabe dachte plötzlich an seine Zeit im Internat, die ihm die Sicherheit geboten hatte, fünf Jahre lang mit derselben Gruppe von Menschen zu leben, zu arbeiten und zu spielen. Das Internat mochte manchem als harte Schule erscheinen, doch verglichen mit dem ständigen Umziehen und Herumreisen, das Lianne erlebt hatte, kam ihm das Internat geradezu wie ein Hort der Geborgenheit vor. „Gab es eigentlich Orte, an denen du nicht gern gelebt hast?“, fragte er, während sie mit sichtlichem Vergnügen einen viktorianischen Sekretär begutachtete. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass es dir überall gleich gut gefallen hat.“

„Es gab mehrere Orte, an die ich nicht gern zurückkehren würde. Aber wenn man nur genügend sucht, findet man fast überall etwas, was einem gefällt. Glücklicherweise hat meine Mutter immer dafür gesorgt, dass wir alles nutzten, was ein Ort an Ungewöhnlichem zu bieten hatte, ob nun in Colorado Springs oder in der Arabischen Wüste. Was ich wirklich erstaunlich finde, ist, dass sich meine Eltern heute nach all den exotischen Auslandsreisen sowohl in Michigan fühlen.“

„Leben sie heute in Michigan?“

„Ja, in einem kleinen Cottage, am Ufer des Michigan Sees. Die Kleinstadt heißt Benton’s Inlet.“

Gabe war sich nicht sicher, ob er gern von harmonierenden Elternpaaren in mittleren Jahren hören wollte. Er schob die Gardine beiseite und öffnete die Doppelflügeltür zum Balkon. Da Lianne ihm unbemerkt gefolgt war, um den Ausblick zu genießen, stießen sie zusammen, als Gabe zurücktrat, und so landete sie in seinen Armen.

Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen, dann presste Gabe seinen Mund auf den ihren. Lianne öffnete die Lippen und erwiderte den leidenschaftlichen Kuss mit einer Hingabe, die ihn noch stärker erregte. Er schien ihr nicht nah genug sein zu können. Seine Hände glitten durch ihr seidiges Haar, dabei wickelte er ihre Locken in einer sanften Liebkosung um die Finger.

Sie zu spüren, sie mit allen Sinnen wahrzunehmen, überwältigte ihn geradezu. Der kleine Teil seines Hirns, der noch normal funktionierte, ermahnte ihn, sich zurückzuziehen, bevor sie sich zum zweiten Mal in ihrer kurzen Bekanntschaft auf dem Boden liebten. Doch noch während dieses Gedankens, umschlang er ihre Hüften und presste sie an sich. Weit davon entfernt, es als unangenehm zu empfinden oder sich gar wehren zu wollen, versuchte Lianne, sich im Gegenteil noch enger an ihn zu schmiegen. Ihre Bluse glitt zu Boden. Unter dem Satin und der Spitze kamen die zarte Haut und die verlockende sanfte Wölbung ihrer Brüste zum Vorschein. Gabe senkte den Kopf und strich sanft mit geöffneten Lippen über ihr Dekolleté.

Ihre Erregung schien auch ihn zu durchströmen. Wie benommen nahm er wahr, dass das Sofa nur wenige Schritte entfernt war. Er schob Lianne darauf zu, während er die Hemdknöpfe öffnete, und ließ sich mit ihr in die weichen Kissen sinken.

Ihr Gesicht war erhitzt, die Augen strahlten. Selbst in leidenschaftlichen Augenblicken wie diesen wirkte sie nicht vor Erregung wie benommen, sondern strahlend lebendig und ungemein verführerisch. Sie schüttelte die Träger ihres Tops von den Schultern und entblößte ihre Brüste.

Gabe ließ einen Finger über ihre feuchten Lippen gleiten. „Du bist sehr schön, Lianne“, flüsterte er. „Du ahnst nicht, wie sehr ich dich will.“

Sie zog seinen Kopf mit beiden Händen zu sich herab. „Ich will dich auch, Gabe.“ Ihre Stimme klang heiser und leicht atemlos.

Er küsste sie wieder, und seine Wahrnehmung war plötzlich auf Lianne und ihren Körper konzentriert, der warm, weich und einladend unter ihm lag.

Die Stimme seiner Mutter zu hören, war eine so schockierende Störung, dass Gabe einige Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass er nur dem Telefonanrufbeantworter lauschte. Widerwillig löste er sich aus Liannes Umarmung und richtete sich auf. Er war noch wie benebelt vor Verlangen, und sein Gehirn schien langsamer zu arbeiten als sonst.

Kein zweiter Mensch auf Erden hätte ihn in diesem Augenblick dazu veranlassen können, an den Apparat zu gehen. Aber der Wunsch, mit Grace zu sprechen, war so groß, dass er sogar die Hitze der Leidenschaft kühlte. Langsam griff er nach dem Hörer, ehe sie wieder auflegen konnte.

„Hallo“, brummte er, ohne bewusst aggressiv klingen zu wollen, aber er war frustriert über die Störung, und seine Reflexe funktionierten noch nicht normal. „Was willst du?“

Seine Mutter schien beunruhigt über so viel Grobheit. „Tut mir leid, Gabe, wenn mein Anruf ungelegen kommt! Ich kann mich später wieder melden.“

Er war nicht genug Herr seiner Sinne, um auf ihre Nervosität einzugehen oder zu bedenken, wie sie sich fühlen mochte. „Nein, schon in Ordnung“, sagte er brüsk. „Wer weiß, wenn wir jetzt nicht reden, dampfst du vielleicht in die Karibik ab, und ich höre erst in sechs Monaten wieder von dir!“

Es vergingen einige Sekunden, ehe sie antwortete: „Gabe, es tut mir wirklich sehr leid. Ich hatte nicht vor, London zu verlassen, ohne mit dir darüber zu sprechen. Ich habe am Flughafen versucht, dich anzurufen, aber du warst leider nicht zu Hause.“ Sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten. „Ich hoffe, du warst nicht zu schockiert, als du die Neuigkeit erfahren hast.“

„Schockiert? Warum sollte ich schockiert sein?“ Er gab sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu dämpfen. „Du und Dad, ihr wart zweiunddreißig Jahre lang verheiratet. Also, warum sollte es mich schockieren, dass du eines Morgens aufwachst und beschließt, ihn zu verlassen?“

„Es kam nicht ganz so plötzlich, wie du glaubst. Zwischen uns kriselte es schon eine Weile.“

Dasselbe hatte sein Vater auch gesagt. „Inwiefern kriselte es?“, fragte er erstaunt. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Lianne sich wieder angezogen hatte. Taktvoll ging sie auf den Balkon hinaus und schloss die Türen hinter sich, damit er ungestört reden konnte. „Mutter, was ist zwischen euch vorgefallen?“

Wieder schien sie ihre Worte sorgsam zu wählen. „Ich habe vor einiger Zeit Dinge zu deinem Vater gesagt, die er nicht verstand … die er falsch interpretierte.“

„Was für Dinge?“

„Es ging um Persönliches. Alte Geschichten eigentlich.“ Grace zögerte wieder. „Jeffrey war tief verletzt. Eines kam zum anderen. Die Situation wurde unerträglich. Wir fügten einander gegenseitig so viel Schmerz zu, dass es nicht mehr auszuhalten war. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

„Und ist deine gegenwärtige Situation irgendwie besser?“, fragte Gabe ungläubig. „Bist du glücklich in San Francisco? Hast du eine Ahnung, was du Dad antust? Er sieht grässlich aus, und er trinkt sich jeden Abend in den Schlaf.“

„Wenn Jeffrey trinkt, ist das seine Entscheidung.“

„Aber du treibst ihn dazu!“

„Nein“, widersprach Grace mit harter Stimme. „Ich bin für sein Verhalten nicht verantwortlich!“

„Er liebt dich, Mutter. Er braucht dich.“ Gabe schluckte trocken. „Wir brauchen dich beide. Komm nach Hause.“

„Gabe, bitte mich nicht darum!“

Er wollte den verzweifelten Unterton nicht zur Kenntnis nehmen. „Du musst ja nicht zurückkommen, um mit Dad zu leben, aber du musst hier arbeiten. Du hast Verantwortung gegenüber dem Geschäft und allen Mitarbeitern. Wie schlimm die Dinge zwischen dir und Dad auch gewesen sein mögen, ich kann nicht verstehen, dass du deine beruflichen Verpflichtungen im Stich gelassen hast.“

„Ich kann nicht mit Jeffrey zusammenarbeiten, Gabe. Du weißt nicht, was du verlangst!“

„Dann erkläre es mir. Lass es mich verstehen, um Himmels willen!“

„Ich kann nicht. Versuch die Sache aus meiner Warte zu betrachten. Das ist jetzt eine schwierige Zeit für mich, und ich bitte nur um dein Verständnis. Bitte versteh, dass ich gute Gründe für mein Verhalten hatte, auch wenn ich sie jetzt nicht erklären mag. Ich brauche deine Unterstützung, Gabe. Ich brauche sie wirklich!“

„Für was? Für die verrückte Idee, in San Francisco ein Konkurrenzunternehmen aufzuziehen? Dafür bekommst du meine Unterstützung nicht.“

Er hörte förmlich, wie sie zusammenzuckte. „Manchmal klingst du erschreckend wie dein Vater.“

„Ich nehme das als Kompliment hin.“

Graces Stimme klang rau vor plötzlicher Müdigkeit. „Lass uns nicht streiten, Gabe. Ich habe ein Apartment mit Blick auf die Bay gefunden, und ich möchte dir meine neue Adresse und die Telefonnummer geben. Nächstes Wochenende ziehe ich um.“

Gabe notierte beides. „Danke für die Telefonnummer, obwohl ich nicht weiß, was wir derzeit miteinander besprechen könnten.“

„Du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Ich kann mir viele Gründe denken, warum ich mit dir reden möchte. Und ich hoffe, du findest auch Gründe, mit mir zu reden. Ich bin immer noch deine Mutter, auch wenn ich nicht mehr mit deinem Vater zusammenlebe.“

„Trotzdem scheint mir eine Unterhaltung etwas schwierig“, bemerkte er trocken. „Du willst nicht über Dad reden, und ich rede garantiert nicht über die Firma mit dir, solange du dich mit dem Gedanken trägst, ein Konkurrenzunternehmen aufzumachen.“

„Ein Geschäft in San Francisco dürfte kaum eine Bedrohung für das DeWilde’s-Imperium sein. Sei vernünftig, Gabe! Was soll ich denn die nächsten dreißig Jahre tun? Zu Hause sitzen und Socken stricken?“

Er wollte, dass sie die nächsten dreißig Jahre so verbrachte wie die vorherigen – zusammen mit ihrem Mann. Doch er war zu sehr der Sohn seines Vaters, um ihr zu sagen, dass sie Herz und Seele der Familie war und dass er nicht wusste, ob er je wieder Kemberly besuchen konnte, solange sie ihn dort nicht begrüßte. Sosehr Gabe seinen Vater verehrte und liebte, er hatte immer gewusst, dass Grace die Klammer war, die alle zusammenhielt. Ohne sie würde die Familie auseinanderfallen.

„Du hast dich entschlossen, die DeWildes zu verlassen“, entgegnete er kühl. Am liebsten hätte er gesagt: Du hast dich entschlossen, mich zu verlassen. „Da du sozusagen frühzeitig in Pension gegangen bist, wirst du dir ein Hobby suchen müssen wie andere Frühpensionäre auch. Ich sehe nicht ein, warum dieses Hobby unbedingt ein Geschäft sein muss.“

„Ich weiß nicht, warum du absichtlich grob sein musst, Gabe.“

Er fühlte sich zu gekränkt, um sich zu entschuldigen. „Danke, dass du mir deine neue Adresse gegeben hast, Mutter. Ich melde mich irgendwann.“

Er legte den Hörer auf, kochend vor unbestimmtem Zorn. Seine Mutter als Frühpensionärin zu bezeichnen, war nicht nur beleidigend, sondern lächerlich. Grace war die dynamischste, vitalste 52jährige, die ihm je begegnet war, ständig in Bewegung, schier platzend vor Kreativität und immer gut gelaunt.

Plötzlich sah er Lianne vor sich, wie sie eine Mitarbeiterin anlachte und mit flinken Fingern Veränderungen an ihren Entwürfen vornahm. Er hatte diese Szene in den letzten Tagen etliche Male beobachtet.

Mit einem Mal wurde ihm klar, was sein sonderbares Unbehagen auslöste, sobald er mit Lianne zusammen war. Sie glich Grace auf geradezu unheimliche Weise, nicht im Aussehen, aber im Wesen.

Wenn Grace ihrem Mann noch nach zweiunddreißig Ehejahren das Herz brechen konnte, schien es Gabe, er würde geradezu sein Unglück heraufbeschwören, wenn er sich ernsthaft mit Lianne einließe. Eine dauerhafte Beziehung mit ihr, die mit dem gleichen unglaublichen Charme gesegnet war wie seine Mutter – und vielleicht auch mit der gleichen Unzuverlässigkeit – konnte nur schiefgehen …

7. KAPITEL

Nach dem Debakel ihrer sonntäglichen Verabredung, die wieder damit endete, dass Gabe die Atmosphäre mit höflichem Geplauder erfror, beschloss Lianne, keine Einladung mehr von ihm anzunehmen. Sie konnte in ihrem arbeitsreichen Leben auf diesen Kummer verzichten. Es war schwierig genug, die lebhafte Erinnerung an ihre Liebesnacht zu verdrängen, schier unmöglich war es, mit dem Auf und Ab der Gefühle und dem ständig frustrierten Begehren fertig zu werden, das ihre Verabredungen zu prägen schien.

Ihr dringender Wunsch, mit Gabe zu schlafen, war, gelinde gesagt, beunruhigend. Angesichts ihres bisher eher mäßigen Interesses an Sex wusste sie nicht, ob sie die plötzliche Heftigkeit ihrer Empfindungen begrüßen oder verfluchen sollte. Anstatt ihre eigenen verwirrten Gefühle zu analysieren, war es jedoch einfacher, sauer auf Gabriel DeWilde zu sein, der die Ursache dieser Verwirrung war.

Das einzig Positive, was sie nach wie vor an ihm feststellte, war sein gutes Aussehen und natürlich seine berufliche Kompetenz. Sein gutes Aussehen würde sie irgendwann ignorieren können. Zumindest nahm sie an, eines Tages soweit zu sein, dass sie bei seinem Anblick kein Herzklopfen mehr bekam.

Seine berufliche Kompetenz war schwerer zu übersehen, zumal sie ihm direkt unterstellt war und die endgültige Zustimmung zur Lianne für DeWilde’s-Kollektion von ihm kommen musste. Als sie ihm am Donnerstagmorgen gegenüber am Schreibtisch saß, beobachtete sie, wie er ihre Entwürfe zusammen mit den Kostenaufstellungen durchging. Jede Frage, die er stellte, jede Bemerkung zeugte von Einsicht in die Vorgänge.

Sie wusste nicht recht, ob sie ihn für seine rasche Auffassungsgabe bewundern oder sich lieber ärgern sollte, weil er mit allen Änderungsvorschlägen recht hatte. Unter den gegebenen Umständen war es einfacher, sich zu ärgern, also antwortete sie einsilbig und pflegte ihre schlechte Laune.

„Ich denke, damit wäre alles erledigt.“ Gabe schob seinen Sessel zurück und schenkte ihr jenes höfliche, unpersönliche Lächeln, mit dem er in den letzten Tagen so großzügig gewesen war.

Sie erwiderte das Lächeln knapp und verstaute ihre Entwürfe und Kostenberechnungen finster schweigend in den entsprechenden Ordnern.

„Stimmt etwas nicht, Lianne? Falls du mit einem meiner Vorschläge nicht einverstanden bist, musst du es mir sagen. Du bist die Designerin. Dein Name steht auf dem fertigen Produkt, und du musst mit der Umsetzung deiner Entwürfe einverstanden sein.“

„Deine Vorschläge waren alle ausgezeichnet“, gab sie kurz angebunden zurück. „Du hast die überarbeiteten Kostenberechnungen morgen Nachmittag auf deinem Schreibtisch. Reicht das?“

„Wir haben bis Montag Zeit. Mach wegen dieser Sache bitte keine Überstunden, Lianne! Lass es ein paar Tage langsamer angehen. Du bist immer schon hier, wenn ich morgens komme und gehst abends nicht vor sieben, acht Uhr heim. Das hält auf Dauer keiner aus.“

„Danke für deine Besorgnis“, erwiderte sie hölzern. „Trotzdem hast du die überarbeiteten Kostenberechnungen morgen auf deinem Schreibtisch.“

„Verdammt, Lianne, würdest du bitte aufhören zu beweisen, dass du ein Superweib bist?“ Gabe kam um den Schreibtisch herum. „Die Berechnungen sind am Montag fällig. Geh heute um fünf nach Haus! Das ist ein Befehl, okay?“

„Yes, Sir!“ Sie legte die Hand in einem spöttischen militärischen Gruß an die Stirn. „Du bist der Boss, Sir.“

Im nächsten Moment hatte er sie mit dem Rücken gegen die Wand gedrängt und die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes abgestützt. Ihre Körper waren eng aneinandergeschmiegt. „Du machst mich verrückt“, presste er hervor. „Total verrückt!“

„Überschätze mich nicht.“

Anstatt zu antworten, küsste er sie leidenschaftlich, fast grob. Lianne spürte, wie ihr seine Hände unter die Bluse und über die nackte Haut fuhren. Weit davon entfernt, sich darüber zu empören, schloss sie die Augen und genoss seine Zärtlichkeiten.

Als er schließlich heftig atmend den Kopf hob und etwas zurückwich, fragte sie sich, ob man ihr die sexuelle Erregung ebenso deutlich ansah wie ihm.

„Komm mit in meine Wohnung, Lianne. Jetzt!“

Sie stützte sich mit den Händen an der Wand ab, da ihr die Knie weich wurden. „Nein!“

„Du willst mich doch.“

„Ja, aber ich habe dich auch am Sonntag gewollt, und was hat es mir genützt?“

Ein geradezu grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Glaub mir, Lianne, diesmal werde ich dich nicht wegschicken!“

„Stimmt, Gabe, weil ich nicht zu dir kommen werde. Schon gar nicht in dein Bett. Du hast deine letzte Chance bei mir vertan!“

„Ich war nervös, Lianne. Du weißt nicht, wie leid es mir tut! Ich kann mich nur für mein Verhalten entschuldigen. Ich habe es leider zugelassen, dass die Probleme innerhalb meiner Familie mein Privatleben beeinflussten.“

„Und wie war es mit Mittwoch, entschuldigst du dich auch dafür? Und dann der erfreuliche kleine Ausflug am Samstag. Ich bin kein Masochist, Gabe. Alle unsere Verabredungen waren eine Katastrophe.“

Jeffrey DeWildes Stimme erklang von der Tür. „Gabe, wenn du mir in deinem vollen Terminplan einen Augenblick erübrigen könntest. Ich brauche dich in meinem Büro. Sofort, bitte.“

„Ja, Sir, ich komme sofort.“ Gabe wich langsam zurück und ließ Lianne einige Augenblicke, ihre Kleidung zu richten. Dann drehte er sich zu seinem Vater um. „Ich habe Lianne gerade eingeladen, heute Abend mit uns ins Theater zu gehen. Sie war so freundlich anzunehmen und wird uns begleiten.“

Jeffreys väterlicher Blick glitt über Lianne hinweg, und sie widerstand dem Drang, mit den Fingern abzutasten, ob die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen waren.

„Wie nett von Ihnen, so kurzfristig einzuspringen“, erwiderte Jeffrey eine Spur ironisch. „Wie ich sehe, war die Einladung, die mein Sohn ausgesprochen hat, recht enthusiastisch.“ Bevor sie antworten konnte, ging er in den Korridor zurück. „Gabe, in mein Büro. Sofort.“

„Gib mir zwei Minuten bitte.“ Er schloss die Tür hinter seinem Vater und lehnte sich dagegen.

Lianne explodierte: „Von allen schmutzigen Tricks war das ja wohl der mieseste! Ich kann nicht glauben, dass du deinen Vater dazu benutzt, mich zu zwingen, eine Einladung anzunehmen. Das funktioniert nicht, Gabe! Ich komme nicht mit!“

„Du hast ja recht, wenn du sauer bist, aber lass mich mein Verhalten erklären: Es ist Premierenabend bei der Royal Shakespeare Company, eine Inszenierung von Richard II.. Es ist eine Gala zugunsten der neuen Krebsstation am Kinderkrankenhaus in der Great Ormond Street. Meine Mutter war Vorsitzende des Unterstützervereins, und mein Vater ist in letzter Minute für sie eingesprungen. Auch wenn du keine Zeit mit mir verbringen möchtest, du würdest meinem Vater einen großen Gefallen tun, wenn du mitkämst. Ich glaube, wenn er Menschen um sich hat, um die er sich kümmern muss, wird ihm das helfen, ein paar schwierige Stunden zu überstehen. Er sollte nicht ständig daran erinnert werden, dass Grace das alles organisiert hat und nun nicht hier ist, um die Früchte ihrer Arbeit zu ernten.“

Liannes Ärger legte sich ein wenig, aber so schnell wollte sie nicht klein beigeben. „Ich reagiere ausgesprochen unfreundlich auf Bevormundung, Gabe, wie sehr du mir die Angelegenheit auch schmackhaft zu machen versuchst.“

„Falls es dir die Entscheidung erleichtert: Es gehören noch ein halbes Dutzend anderer Leute zu unserer Gruppe. Du brauchst den ganzen Abend kein Wort mit mir zu reden, wenn du nicht willst.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

„Unter den Gegebenheiten wäre es eine Schande, eine großartige Gelegenheit auszuschlagen: Richard II. ist mein Lieblingsstück unter Shakespeares historischen Stücken.“

„Dann hole ich dich um halb sieben Uhr ab“, sagte Gabe rasch. „Festliche Kleidung ist übrigens erwünscht.“ Damit ging er, noch ehe sie etwas erwidern konnte.

„Ah, Gabriel, schön, dass du dich freimachen konntest, um herzukommen.“ Die Begrüßung seines Vaters enthielt wieder einen Hauch Ironie, was Gabe seltsam tröstlich fand, weil Jeffreys ironischer Witz seit dem Fortgang seiner Frau kaum noch aufgeblitzt war.

„Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen!“

„Ja, du schienst mit bemerkenswerter Intensität zu arbeiten. Ich hoffe, dein … Projekt … wurde erfolgreich zum Abschluss gebracht?“

„Erfolgreicher, als man erwarten durfte“, bestätigte Gabe amüsiert, und sein Blick wanderte zu dem dunkelhaarigen, athletischen Mann, der schweigend am Fenster stand.

„Na schön. Da du hier bist, möchte ich dir Nick Santos vorstellen. Er kam heute mit der Morgenmaschine aus New York.“

Jeffrey deutete auf den Mann am Fenster, der vortrat, die Rechte zum Gruß ausgestreckt, in der Linken einen Aktenkoffer. „Gabriel.“

Eine beeindruckende Erscheinung, dachte Gabe, während er Nick Santos die Hand schüttelte und sich fragte, was dieser in Jeffreys Büro wollte. „Willkommen in London. Hatten Sie einen guten Flug?“

„Ereignislos.“ Nicks Stimme war tief, der Akzent schwer deutbar. „Unter diesen Umständen war ereignislos das Beste, worauf ich hoffen konnte.“

„Klingt geheimnisvoll. Gibt es ein Problem?“ Gabe blickte von Nick zu seinem Vater.

„Könnte man sagen“, bestätigte Jeffrey trocken. „Nick hat mir etwas aus New York gebracht, das ich dir zeigen möchte.“ Er stand auf, betätigte den Knopf der Sprechanlage und kam um den Schreibtisch herum. „Jetzt bitte keine Anrufe, Monica! Während der nächsten halben Stunde möchte ich nicht gestört werden.“

Jeffrey ging zur Bürotür und schloss sie ab, dann zog er die Vorhänge zu und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Gabe war verwundert und auch ein bisschen beunruhigt durch dieses sonderbare Verhalten. Während der letzten Tage schien sein Vater wieder mehr mit sich und der Welt im Einklang gewesen zu sein. Er konnte nur hoffen, dass das keine Illusion oder gar die ersten Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs gewesen waren.

Schließlich setzte Jeffrey sich wieder hinter seinen Schreibtisch. „Also gut, Nick. Ich glaube, jetzt sind wir soweit, Sie von Ihrer Last zu befreien.“

Nick kam schweigend an Jeffreys Schreibtisch. Gabe staunte nicht schlecht, als er den Ärmel seines Maßanzuges hochzog und ein paar Handschellen zum Vorschein kamen, mit denen der Aluminiumkoffer an seinem Handgelenk befestigt war.

Zum ersten Mal trat ein Lächeln in Nicks dunkle Augen. „Ich hoffe inständig, dass Sie die Schlüssel für diese Handschellen haben, Mr. DeWilde. Andernfalls brauchen wir Dynamit.“

Jeffrey holte einen kleinen Schlüssel an einer langen Kette aus seiner Schreibtischschublade. „Hier ist er.“ Er beugte sich über den Tisch und öffnete die Handschellen. Nick fing sie geschickt auf, als hätte er das schon viele Male gemacht. Dann stellte er den Aluminiumkoffer mitten auf den Schreibtisch. „Möchten Sie ihn öffnen, Mr. DeWilde?“

Jeffrey schüttelte den Kopf. „Nein, machen Sie nur. Sie haben ihn hergebracht, Sie dürfen ihn öffnen.“

Der Koffer hatte zwei Zahlenschlösser, und Nick brauchte ungefähr dreißig Sekunden, die richtige Kombination einzugeben. Dann ließ er die Verschlüsse aufschnappen und hob den Kofferdeckel.

Jeffrey stieß einen leisen Laut der Zufriedenheit aus, Gabe jedoch war sprachlos. Fassungslos blickte er auf eine glitzernde Tiara, die in einer eigens für sie angefertigten Umfassung aus blauem Samt steckte. Ineinander verschlungene Reihen glitzernder Diamanten brachen das Licht der Deckenbeleuchtung und schufen einen Regenbogen feuriger Farbtupfer. An der Vorderseite der Tiara schimmerten die sechs Tropfenperlen, die für ihre Symmetrie berühmt waren. Über jeder schwebte ein vierkarätiger Diamant von exquisiter Brillanz und Klarheit.

Da Gabe heute Morgen beim Betreten des Hauses an der Tiara der Kaiserin Eugenie vorbeigegangen war, glaubte er, eine Kopie vor sich zu haben. Aber was für eine hervorragende Arbeit! Er nahm die Tiara auf, betrachtete sie genauer und wünschte, eine Lupe dabeizuhaben. Er war sozusagen mit Edelsteinen und Juwelen aufgewachsen, aber er hatte nie eine Fälschung von dieser Qualität gesehen. Stirnrunzelnd legte er die Tiara zurück und blickte seinen Vater an:

„Ist sie falsch, oder wurden zwei Tiaras für die Kaiserin Eugenie angefertigt?“

„Nein, es gibt nur eine“, sagte Jeffrey.

Gabe hielt die Tiara näher ans Licht. „Das ist eine außerordentlich gute handwerkliche Arbeit. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass diese Perlen echt sind. Es muss ein kleines Vermögen gekostet haben, eine so gute Imitation anfertigen zu lassen, auch wenn man anstatt der Diamanten Zirkone nimmt. Warum sollte sich jemand die Mühe machen?“

„Es ist keine Fälschung“, sagte Jeffrey, holte eine Lupe aus der Schreibtischschublade und reichte sie Gabe. „Sieh selbst. Die Steine sind echt. Dies ist die Originaltiara von Kaiserin Eugenie. Ich habe ihre Authentizität selbst vor einigen Wochen bestätigt.“

„Großer Gott!“ Gabe hielt die Lupe vors Auge und betrachtete einen Wert von ungefähr dreieinhalb Millionen Pfund. „Wie ist sie hierhergekommen?“

„Ich habe sie aus New York hergebracht“, erklärte Nick Santos. „Es bereitete mir eine schlaflose Nacht, zu wissen, dass ich einen Wert von etwa sechs Millionen Dollar an meinem Handgelenk befestigt hatte.“

Gabe setzte die Lupe ab und starrte Nick an, als könne er seinen Ohren nicht trauen. „Grundgütiger Himmel, Dad, die Leute von der Versicherung bekämen kollektiv Herzattacken, wenn sie wüssten, dass wir die Tiara aus dem Schaukasten genommen haben. Der Himmel weiß, was die tun, wenn sie erfahren, dass sie eine Reise nach New York und zurück gemacht hat!“

„Den Versicherungsleuten ist es völlig egal, ob die Tiara hier steht oder Nick sie in den Atlantik wirft. Sie ist nämlich nicht versichert.“

Erneut begann Gabe zu fürchten, sein Vater steuere auf einen Nervenzusammenbruch zu. Er widersprach ruhig: „Natürlich ist sie versichert, Dad. Dein Vater hat die gesamte DeWilde-Juwelensammlung in den fünfziger Jahren in einen Trust eingebracht, und wir haben sie bei zwei Gesellschaften versichert – bei Global Associates und bei Commonwealth International. Erinnerst du dich? Ich weiß nicht, bei welcher Gesellschaft dieses Stück in den Büchern steht …“

Commonwealth International glaubt, die Tiara sei bei Global versichert und umgekehrt“, erklärte Jeffrey. „Tatsächlich ist sie nirgendwo versichert, aus dem einfachen Grund, weil ich bis vor sechs Wochen nicht wusste, dass sie noch existiert. Ich hatte angenommen, sie sei schon vor Jahrzehnten in ihre Bestandteile zerbrochen worden.“

Sein Dad schien im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, trotzdem redete er Unsinn. „Dad, unten in der Eingangshalle bewacht eine elektronische Überwachungsanlage im Wert von fünfzehntausend Pfund die Tiara der Kaiserin Eugenie. Wir ließen sie installieren, weil die Versicherungsgesellschaft das verlangte.“

„Nun, das habe ich allen erzählt, als wir für das ganze Geschäft ein neues Sicherheitssystem haben wollten. Tatsächlich ließ ich die Sicherheitsanlage einbauen, damit das Ausstellungsstück unten echter wirkte, so als hätten wir wirklich etwas zu sichern. Heutzutage würde uns niemand glauben, dass wir eine Tiara im Wert von drei Millionen Pfund ausstellen, wenn nicht auch das Sicherungssystem entsprechend ist.“

Gabe durchlief es kalt. Er begann zu verstehen und wünschte, er irre sich. „Dad du willst mir doch hoffentlich nicht sagen, dass die Tiara, die wir unten ausstellen, falsch ist.“

„Genau das ist sie, mein Sohn. Die Tiara unten ist eine teure, gut gemachte Fälschung mit einer 22karätigen Goldfassung und keinem einzigen echten Stein.“

Gabe musste sich setzen. „Erzähl mir die Geschichte von Anfang an, ja? Es kommt mir plötzlich so vor, als sprächen wir verschiedene Sprachen.“

„Das dauert ein Weilchen. Musst du irgendwelche Termine absagen?“

„Nicht vor heute Nachmittag.“

„Dann sollten wir uns als erstes verständigen, dass alles, was in diesem Raum besprochen wird, streng geheim bleibt. Ich werde Megan morgen beim Lunch einweihen, da sie uns zur Gala begleitet.“

Gabe hätte schwören können, dass er den Amerikaner nicht mal ansah, trotzdem beantwortete der die unausgesprochene Frage. Der Mann verfügte offenbar über gute Instinkte. „Ich bin Privatermittler“, erklärte er. „Ihr Vater beauftragte mich letzten Monat, Nachforschungen über die Herkunft dieser Tiara anzustellen.“

„Nick wurde mir empfohlen. Er war bis vor einigen Jahren bei der Polizei von San Francisco tätig und hat seither einige spektakuläre Fälle aufgeklärt. Also, wie gesagt, alles bleibt unter uns. Vorläufig sehe ich keinen Grund, abgesehen von uns dreien und Megan noch jemand in die Geschichte einzuweihen.“

„Sollten wir nicht den Aufsichtsrat benachrichtigen?“

„Nein. Die Juwelen gehören persönlich dem DeWilde-Trust, somit ist es ausschließlich eine Familienangelegenheit, obwohl unglücklicherweise auch eine Familienangelegenheit Auswirkungen auf den Ruf der Gesellschaft haben kann, ganz zu schweigen vom Kurswert der Aktien. Nick wurde von mir privat beauftragt, nicht von der DeWilde-Aktiengesellschaft.“

Das DeWilde’s-Unternehmen scheint in letzter Zeit gehörig unter Familienangelegenheiten zu leiden, dachte Gabe wehmütig. „Wenn es eine Familienangelegenheit ist, sollten wir es dann nicht auch Kate erzählen?“

Jeffrey legte die Fingerspitzen aneinander. „Sie hat derzeit mit ihrem Studium so viel zu tun, dass ich es für sinnlos halte, sie mit Dingen zu belasten, die sie nicht beeinflussen kann.“

„Na schön“, stimmte Gabe zu. Er wusste, dass sie beide an Grace dachten, doch keiner sprach den Namen aus. Gabe fragte sich, ob Jeffrey verhindern wollte, dass Grace über Kate etwas von dieser Sache erfuhr. Misstraute er seiner Ehefrau inzwischen so sehr?

„Wir müssen etwas in die Familiengeschichte eintauchen, also lass uns anfangen“, begann Jeffrey und überspielte den heiklen Augenblick. „Kannst du dich an meinen Onkel Dirk DeWilde erinnern?“

„Nur an den Namen. War er nicht Großvaters älterer Bruder? Er gründete das DeWilde’s-Geschäft in New York und verstarb im zweiten Weltkrieg oder so ähnlich. Es gibt einige Bilder von ihm in Kemberly. Er sah sehr gut aus, falls ich mich an den richtigen Mann erinnere.“

„Genau der. Wie du sagtest, er war der ältere Bruder meines Vaters und Haupterbe der DeWilde’s-Unternehmungen. Allerdings verstarb er nicht im Krieg, sondern verschwand irgendwann Anfang 1948, glaube ich.“

„Du glaubst? Bist du dir nicht sicher? Man verliert doch nicht einfach so einen Onkel.“

„Sollte man meinen, aber es ist nicht ganz einfach, sich an Vorgänge zu erinnern, die fast fünfzig Jahre zurückliegen. Außerdem wurde sein Verschwinden immer als ein großes Familiengeheimnis behandelt.“

„Hatte er irgendetwas Skandalöses verbrochen?“

„Vielleicht ja, vielleicht nein“, erwiderte Jeffrey resigniert. „Heutzutage, wo jedes Skandälchen in den Zeitungen und anderen Medien breitgetreten wird, kann man sich kaum noch in die Geisteshaltung einer Generation hineinversetzen, die davon überzeugt war, jeder noch so kleine Skandal müsse unter den Teppich gekehrt werden, weil sonst der gesellschaftliche Ruin drohe. So unglaublich es scheint, ich weiß weder genau, wann er verschwand, noch warum. Ich weiß nur, was mein Vater mir erzählte, als ich geschäftsführender Direktor der Londoner Niederlassung wurde, und das war wenig genug.“

„Und zwar?“, drängte Gabe.

„Angeblich fiel es Dirk nach dem Krieg schwer, sich wieder ins normale Arbeitsleben, sprich die Leitung der New Yorker Filiale hineinzufinden, nachdem er vier Jahre als kampferprobter Offizier des Marine-Geheimdienstes gearbeitet hatte. Dirk bemühte sich einige Zeit, doch das Geschäft entglitt ihm immer mehr. Im April 1948 reichte er seine Kündigung ein und ließ der Familie ein notariell beglaubigtes Schreiben zukommen, dass er auf alle Ansprüche aus dem DeWilde’s-Vermögen verzichte, inklusive seines Erbteils. Dann verschwand er. Mein Vater schickte ein paar Telegramme und bat um Klärung. Sie blieben unbeantwortet. Damals glaubte man, Dirk sei auf einer langen Urlaubsreise und werde sich schließlich schon wieder melden.“

„Aber jemand muss sich doch Gedanken über das Geschäft gemacht haben. Wer kümmerte sich darum, nachdem Dirk weg war?“

„Dein Großonkel Henry sprang ein, schien aber von Anfang an mit seinen Aufgaben überfordert zu sein.“ Jeffrey machte ein missbilligendes Gesicht, wie stets, wenn er von der New Yorker Filiale sprach. „Unter Henrys Leitung geriet das Geschäft an der Fifth Avenue in die roten Zahlen …“

Das war Gabe nicht neu, und Henrys umfangreiche Sprösslingsbrut half nicht gerade, die Situation zu verbessern. Sloan DeWilde, Henrys Sohn, wurde nomineller Leiter des Geschäftes, obwohl er nie viel Interesse daran gezeigt hatte. Er hatte Talent und einen klugen Kopf, doch leider hatte ihn bisher niemand motivieren können, beides für die Geschäftsinteressen einzusetzen.

„Ernsthaft begann man erst nach Dirk zu suchen, als ein Brief die Familie erreichte, es gehe ihm gut, er beabsichtige jedoch nicht, in die Tretmühle des Familienunternehmens zurückzukehren“, fuhr Jeffrey fort. „Der Brief kam aus Hongkong. Mein Vater ließ dort von der Detektei Pinkerton nach ihm suchen. Nach zwei Jahren wurde die Suche jedoch ergebnislos abgebrochen. Ich war damals sieben oder acht, und kann mich auch nicht erinnern, dass die Sache großartig innerhalb der Familie diskutiert worden wäre. Außerdem lebte Onkel Dirk in New York. Er war einfach nur ein Name für mich.“

„Und du warst noch zu klein, die geschäftlichen Folgen zu verstehen.“

„Sicher, aber außerdem war die Zeit nach dem Krieg verrückt und unruhig. Dirks Verschwinden schien mir einfach in das allgemeine Durcheinander zu passen. Die Situation in unserer Familie war besonders seltsam, weil bei uns so viele Nationalitäten zusammenkamen. Mein Vater und seine Brüder hatten alle am Krieg teilgenommen, aber jeder für ein anderes Land.“

„Ja, ich weiß. Henry war in der Royal Air Force, Dirk im U.S. Marine Corps und Großvater Charles in der Französischen Armee. Wie kam es überhaupt dazu?“

„Nach Ausbruch des Krieges schickten meine Großeltern meinen Vater nach Brasilien, damit er nicht eingezogen würde. Er hatte rheumatisches Fieber gehabt, und sie glaubten deshalb, er sei dem Militärdienst nicht gewachsen. Mein Vater wollte gegenüber seinen Brüdern jedoch nicht zurückstehen, kehrte nach England zurück und trat in die Freie Französische Armee des Generals de Gaulle ein. Die medizinischen Untersuchungen waren dort laxer, weil General de Gaulle schlichtweg jeden Mann brauchte. Außerdem war mein Vater in Frankreich geboren und sprach Französisch, Englisch und Holländisch.“

„Warst du schon auf der Welt, als dein Vater in die Armee eintrat?“

„Nein. Ich kam einige Monate später, nachdem er auf eine Mission nach Nordafrika gegangen war, zur Welt. Die ersten fünf Jahre meines Lebens habe ich geglaubt, ich hätte gar keinen Vater. Als er dann aus dem Krieg zurückkehrte, war es für mich, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht. Ich habe jahrelang damit gerechnet, dass er genauso plötzlich wieder verschwindet. Deshalb berührte mich Dirks Verschwinden wohl auch nicht besonders. Es war einfach das Muster, das ich für normal hielt. Genauso, wie ich es für normal hielt, dass Häuser dastanden und im nächsten Augenblick zerbombt wurden.“

„Gott sei Dank kann ich mich in die Zeit aus Mangel an Erfahrung nicht hineinversetzen.“

„Man darf nicht vergessen, dass in Europa auch nach Kriegsende noch jahrelang das Chaos herrschte.“

Nick bemerkte versonnen: „Zu verschwinden war für Ihren Onkel, zumal mit seinen internationalen Verbindungen, 1948 sehr viel einfacher, als es das heute wäre.“

„Das stimmt“, bestätigte Jeffrey. „In praktisch jedem Land gab es lange Vermisstenlisten, ganz zu schweigen von den vielen Flüchtlingen, die keine Personalpapiere mehr hatten. Falls Dirk nach Europa zurückgekommen ist, konnte er jederzeit behaupten, seine Papiere seien verlorengegangen, und sich unter anderem Namen eine neue Identität aufbauen.“

„Es ist möglich, dass er sich eine neue Identität zugelegt hat“, stimmte Gabe zu. „Aber es ist doch genauso möglich, dass er verschwunden blieb, weil er tot ist. Habt ihr das nicht zu vorschnell außer Acht gelassen?“

„Inzwischen dürfte er tot sein, oder er ist ein alter Mann in den Neunzigern. Aber mein Vater und Onkel Henry waren davon überzeugt, dass er 1948 aus freien Stücken untergetaucht ist. Und Vater war bis zu seinem Todestag sicher, dass Dirk lebte und dass es ihm gutging.“

„Ich habe etliche Nachforschungen angestellt“, sagte Nick Santos, „und konnte keinen Hinweis auf ein Verbrechen oder dergleichen finden. Aufgrund alter Unterlagen, die mir Ihr Vater gab, konnte ich nachvollziehen, dass Dirk seine New Yorker Bankkonten am 24. April 1948 auflöste. Sein Londoner Konto wurde einen Monat später, am 20. Mai, geschlossen und die Summe nach Hongkong überwiesen.“

„Wieder Hongkong“, fiel Gabe auf. „Vielleicht lebte er dort irgendwo glücklich verheiratet mit einer Chinesin. Das ist ja alles sehr interessant, aber ich sehe keine Verbindung zwischen dem Verschwinden von Onkel Dirk und der Tatsache, dass unsere mordsmäßig teure Sicherungsanlage unten lediglich eine falsche Tiara bewacht.“

„Es gibt eine sehr direkte Verbindung“, erklärte Nick Santos. „Allem Anschein nach hat Dirk DeWilde bei seinem Verschwinden einige Familienjuwelen mitgehen lassen. Sechs Stücke, um genau zu sein, darunter die Tiara der Kaiserin Eugenie, das berühmteste und wertvollste Stück der Sammlung.“

Gabe stieß einen leisen Pfiff aus. „Der Gag ist nicht übel. Er verzichtete auf seinen Anteil am Familienvermögen und bediente sich stattdessen bei den Juwelen?“

„So einfach ist das leider nicht“, wandte Jeffrey ein. „Denn wir wissen nicht sicher, ob Dirk die Juwelen genommen hat.“

„Wie bitte? Niemand hat sich bemüht, das genau festzustellen?“

Jeffrey lächelte: „Unglaublich, was. Aber die Angst vor einem Skandal überschattete seinerzeit alle anderen Überlegungen. Drei Monate nach Dirks Verschwinden sollte die Juwelensammlung routinemäßig von einem Juwelier, einem alten Freund der Familie, gereinigt und kontrolliert werden. Er teilte meinem Vater die erstaunliche Feststellung mit, dass die Tiara eine hervorragend gemachte Fälschung sei. Du kannst dir den Aufruhr vorstellen. Der Juwelier wurde zum Schweigen verpflichtet. Danach kontrollierte mein Vater persönlich die übrigen Stücke der Sammlung und fand heraus, dass fünf weitere gefälscht waren.“

„Also mir scheint ziemlich klar, dass Onkel Dirk seine Altersvorsorge mit ein paar Juwelen aufgebessert hat.“

Jeffrey erwiderte: „Ich weiß nicht recht. Mein Vater stellte fest, dass in den drei Monaten dreizehn Leute Zugang zu einigen Juwelen hatten, vier jedoch zu allen sechs verschwundenen Stücken: mein Vater und sein Bruder Henry in London, seine Schwester Marie Claire Duplessis in Paris und sein Bruder Dirk in New York.“

„Trotzdem bleibt Dirk der Hauptverdächtige. Dein Vater hat sie nicht genommen, und Henry oder Marie-Claire hatten keinen Grund, sie zu stehlen.“

„Sie ziehen voreilige Schlüsse“, wandte Nick ein. „Ihr Onkel Henry frönte einem aufwendigen Lebensstil, und sein Einkommen hing vom Profit des Geschäftes ab, der ständig abnahm. Ein Zusatzeinkommen durch die Juwelen hätte er sicher gut gebrauchen können.“

„Aber Onkel Henry hat Geld geheiratet“, widersprach Gabe. „Tante Maura kommt aus einer sehr wohlhabenden Familie. Onkel Henry braucht keine Juwelen zu klauen, um ein Privatflugzeug zu unterhalten, Champagner zu trinken oder seine Havanna zu rauchen.“

„Henry heiratete Maura erst 1956, viele Jahre nach dem Diebstahl“, sagte Jeffrey. „Und mein Vater vermutete immer, dass Henry weit mehr über Dirks Verschwinden wusste, als er zugab.“

„Das würde die leichte Feindseligkeit erklären, die ich immer zwischen Großvater und Onkel Henry gespürt habe. Außerdem habe ich nie begriffen, warum er so reserviert gegenüber unseren Cousins war.“

„Wahrscheinlich weil sie größtenteils so träge sind wie Henry“, sagte Jeffrey streng.

Gabe bemerkte, dass Nick Santos sich ein Schmunzeln verkniff und musste selbst auch ein Lächeln unterdrücken. Wenn es darum ging, das Leben ernst zu nehmen und hart zu arbeiten, kannte sein Vater wirklich keinen Spaß.

„Möglicherweise haben sich auch mehrere zusammengetan, um den Diebstahl durchzuziehen“, mutmaßte Nick Santos. „Erstaunlicherweise hat auch Ihre Großtante Marie-Claire ein Motiv. Sie war seinerzeit in einen gewissen Armand de Villeneuve verliebt, der Paris etwa zur selben Zeit verließ, als auch Dirk DeWilde verschwand. Wie Sie vielleicht wissen, tauchte Armand de Villeneuve schließlich als Gründer einer sehr erfolgreichen Textilgesellschaft in Hongkong wieder auf. Und Ihr Vater sagte mir, dass niemand wisse, woher sein Startkapital stamme.“

Armand de Villeneuve war Gabe vertraut, vor allem auch sein Sohn Phillippe, der einen tiefen Groll gegen die Familie DeWilde zu hegen schien. „Die vielen Spuren nach Hongkong sind sicher kein Zufall. Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum wir unten eine falsche Tiara bewachen lassen und Nick heute die echte aus New York hergebracht hat. Wie kam sie dahin?“

„Zum ersten Teil deiner Frage, Gabe: Wir stellen unten eine falsche Tiara aus, weil dein Großvater nicht wusste, wie er den Diebstahl der echten bekanntgeben sollte, ohne zugleich seine Geschwister dem Diebstahlsverdacht auszusetzen.“

„Wenn er den Mund aufgemacht hätte, wäre die Chance, den echten Dieb zu finden, größer gewesen.“

„Vermutlich. Aber es gab noch einen anderen Grund für sein Schweigen. Auch während der schlimmsten Phase des Krieges blieb die Tiara im Schaukasten. Sie wurde eine Art Symbol des trotzigen Widerstandes, ein Symbol der Hoffnung und Schönheit in einer Zeit, der es an beidem mangelte. Die Erinnerung daran war noch sehr frisch. Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es für meinen Vater 1948 gewesen wäre, erklären zu müssen, es täte ihm leid, aber die Tiara sei falsch.“

„1948 war das vielleicht schwierig, aber wir hatten ein halbes Jahrhundert Zeit, um mit der Wahrheit herauszurücken.“

„Sicher, nur, nachdem der Betrug einmal begangen war, entwickelte die ganze peinliche Geschichte sozusagen ein Eigenleben. Ich erfuhr die Wahrheit auch erst vor vierzehn Jahren, als ich geschäftsführender Direktor wurde. Damals trafen wir Überlegungen, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Es erschien uns ausgesprochen schädlich, erklären zu müssen, die alte DeWilde’s – Geschäftsführung habe die Öffentlichkeit dreißig Jahre lang zum Narren gehalten. Je länger der Betrug dauerte, desto unmöglicher wurde es, ihn aus der Welt zu schaffen. Daher meine Verwirrung, als ich vor drei Wochen einen Anruf von einem New Yorker Juwelier erhielt, der mir mitteilte, soweit er es beurteilen könne, habe man ihm soeben die Tiara der Kaiserin Eugenie zum Kauf angeboten.“

„Bist du deshalb so schnell nach New York geflogen und hast Moms Geburtstag vergessen?“

„Ja, und sie dachte, ich würde mich mit …“ Jeffrey brach mitten im Satz ab, und ein trauriger Ausdruck kehrte in seine Augen zurück. „Der Juwelier stimmte zu, unsere Verhandlung achtundvierzig Stunden geheimzuhalten, länger nicht. Mir blieb keine Wahl, ich musste sofort fliegen.“

Gabe erinnerte sich, dass seine Mutter durch Jeffreys Abwesenheit tief verletzt gewesen war. Er fragte sich allerdings, warum sein Vater ihr nicht einfach die Wahrheit gesagt hatte. In Nicks Gegenwart, mochte er jedoch keine persönlichen Fragen stellen. „Und du konntest dich in New York vergewissern, dass es sich um die echte Tiara handelte?“, fragte er, um die Gedanken seines Vaters von Grace abzulenken.

„Ja, anhand der Originalbeschreibung der Hauptsteine. Außerdem haben wir technisch aufgearbeitete Versicherungsfotos von 1926 zur Verfügung. Damals hat dein Urgroßvater Max die Tiara als Geburtstagsgeschenk für seine Frau erstanden. Die Tiara auf meinem Schreibtisch ist zweifellos die, die Max Eugenies Erben abkaufte.“

„Da sie fünfzig Jahre überdauert hat, hat der Dieb sie eindeutig nicht wegen ihres Wertes gestohlen. Andernfalls wäre sie in ihre Einzelteile zerlegt und verkauft worden.“

„Stimmt. Nick, Sie sagten am Telefon, dass Sie Fortschritte gemacht hätten beim Nachvollziehen der Herkunft.“

„Ja, Sir, und Sie werden überrascht sein. Offenbar war die Tiara in einem bekannten australischen Juweliergeschäft ausgestellt worden, wo sie amerikanischen Touristen auffiel, die soeben sechs Millionen Dollar in der Lotterie gewonnen hatten. Der Mann kaufte die Tiara für seine Frau, die jedoch, als sie in die Staaten zurückkehrten, feststellte, dass sie nur wenig Gelegenheit haben würde, sie zu tragen. Der Mann verkaufte die Tiara an die Blackstone-Filiale in Miami, und erstand stattdessen eine Yacht. Blackstone erkannte, dass die Tiara identisch war mit der berühmten Tiara der Kaiserin Eugenie, die bei DeWilde’s in London ausgestellt wurde. Deshalb rief Blackstone senior Sie an, um sicherzugehen, dass er nicht mit gestohlener Ware handelte.“

„Was hast du ihm erzählt, Dad?“

„Sehr wenig“, erwiderte Jeffrey trocken. „Mr. Blackstone, ein Juwelier von unendlichem Takt, stellte nur so viele Fragen, bis er sich sicher war, dass er nicht in ein Verbrechen verwickelt wurde. Dann verkaufte er mir mein Eigentum zu einem Preis, für den man 1948 die englischen Kronjuwelen bekommen hätte. Mein nächstes Problem war nun, die Tiara hierherzubringen. Wie hätte ich dem Zoll erklären sollen, dass ich die Tiara heimbrachte, die ja eigentlich sicher in unserem Schaukasten verwahrt wurde?“

„Also hast du Nick angeheuert.“

„Ja.“ Einen Augenblick schien ein rosa Hauch seine Wangen zu überziehen. „Wie schon gesagt, er wurde mir sehr empfohlen.“

„Ich bin ein guter Freund von Allison Ames“, erklärte Nick. „Wir haben zusammen an einem großen Fall gearbeitet, bei dem es um Geheimnisverrat in einer amerikanischen Elektronikfirma und einer großen Telekommunikationsfirma in Frankreich ging.“

„Wer ist Allison Ames?“, fragte Gabe begriffsstutzig.

„Ihr gehört die Sicherheitsfirma Alliance de Securité Internationale“, sagte Jeffrey beiläufig. Zu beiläufig, wie Gabe fand. Er beobachtete seinen Vater mit erhöhtem Interesse. Jeffrey sah Nick an und schien den Blick seines Sohnes nicht zu bemerken. Oder wich er ihm absichtlich aus? Ein sechster Sinn sagte Gabe, dass er auf einen Namen gestoßen war, den sein Vater lieber geheimgehalten hätte.

Jeffrey wandte sich an den Detektiv und ließ Gabe keine Chance, weitere Fragen zu stellen. „Nick, Sie sagten, die Tiara sei in einem australischen Juweliergeschäft von internationalem Ruf ausgestellt gewesen. Das ist mir ein Rätsel. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Juwelier von Ruf eine solche Tiara überhaupt kaufen kann. Jeder erfahrene Juwelier auf der Welt kennt dieses Stück. Wie heißt das Geschäft?“

„H. Morgenstern und Söhne“, sagte Nick. „Harry Morgenstern, der Gründer des Unternehmens, ist wohl noch im Geschäft, obwohl er hoch in den Achtzigern ist.“

„Morgenstern … Harry Morgenstern …“ Jeffrey starrte in die Ferne. „Der Name ist mir vertraut. Und Mr. Morgensterns Ruf ist tadellos, wenn ich mich an den richtigen Mann erinnere. Wir haben sogar Geschäfte mit ihm gemacht, ehe Ryder die DeWilde’s – Filiale in Sydney eröffnete. Mr. Morgenstern floh mit seiner Familie vor den Nazis nach Australien. Haben Sie herausgefunden, wie er an die Tiara kam? Sobald wir das wissen, können wir entscheiden, ob wir ihm mitteilen, dass noch fünf weitere Stücke fehlen.“

„Es ist mir bisher nicht gelungen, mit ihm persönlich zu sprechen“, erklärte Nick. „Ich habe geschrieben, gefaxt und telefoniert. Bisher habe ich nur mit drei verschiedenen Assistenten geredet. Deshalb würde ich, falls Sie die zusätzlichen Ausgaben gestatten, gern nach Australien fliegen und mit ihm persönlich reden. Auf die Weise bin ich an Ort und Stelle, sollten sich irgendwelche Spuren ergeben, die sofort verfolgt werden müssen.“

„Gute Idee. Wann können Sie abreisen?“

„Morgen“, schlug Nick vor. „Vorausgesetzt, ich bekomme einen Platz in der Maschine.“

„Bitten Sie Monica, Ihr Ticket zu buchen. Sie hat bei allen Fluglinien Freunde am Reservierungsschalter. Und sie besorgt Ihnen ein ruhiges Zimmer in einem bequemen Hotel für heute Nacht.“

„Und was machen wir zwischenzeitlich mit der Tiara?“, wollte Gabe wissen.

Jeffrey deutete auf seinen Wandsafe, der, nicht sehr einfallsreich, hinter einem Gemälde des Gründerehepaares DeWilde verborgen war. „Das ist der sicherste Platz, der mir einfällt – jedenfalls einer, der kein Höchstmaß an Spekulationen auslöst.“

Nick ging hinüber und begutachtete den Safe. „Jeder Juwelendieb, der auf sich hält, knackt den in fünf Minuten.“

„Vorausgesetzt, der Juwelendieb weiß, dass der Safe etwas enthält, das den Aufwand lohnt“, bemerkte Jeffrey. „Außerdem sehe ich keine Alternative, bis ich die falsche Tiara unten gegen die echte ausgetauscht habe.“

Nick schlug lächelnd vor: „Sie sollten Allison Ames anheuern. Für solche Aufgaben ist sie geradezu genial.“

„Ich möchte weiter keine Außenstehenden in diese Sache einbeziehen“, erwiderte Jeffrey steif. „Glücklicherweise habe ich Zugang zu allen Sicherheitscodes für den Schaukasten unten. Es sollte nicht zu schwierig sein, irgendwann nachts die Tiaras auszutauschen. Inzwischen muss der Safe genügen.“ Er schloss die Tiara in den Tragekoffer wieder ein und verstaute ihn im Safe. „So, das wär’s“, sagte er lächelnd. „Es ist ein gutes Gefühl, dass die echte Tiara nach fünfzig Jahren wieder dort ist, wo sie hingehört.“

8. KAPITEL

Nachdem Lianne sich das vierte Mal umgezogen hatte, musste sie zugeben, dass sie sich nicht gerade benahm, wie eine Frau, die ihren Begleiter den ganzen Abend ignorieren wollte. Sie verzichtete auf BH und Unterwäsche, zog eine irisierende dunkle Strumpfhose an und schlüpfte wieder in das enganliegende schwarze Seidenkleid, das sie als erstes anprobiert hatte.

Prüfend drehte sie sich vor dem Spiegel zur Seite. Ohne Unterwäsche saß das Kleid nun wenigstens glatt. Aber war es nicht zu kurz und zu schlicht für einen so offiziellen Anlass? Außerdem schien zwischen Kinn und Dekolletéansatz enorm viel Haut zu sein. Seufzend sprühte sie sich mit einer Wolke Parfum ein. Heute würde nichts ihren unmöglichen Ansprüchen genügen. Noch einmal wollte sie sich jedoch keinesfalls umziehen. Wenigstens hatte sich ihr Haar ausnahmsweise bändigen und zu einer elegant lässigen Frisur hochstecken lassen.

Sie klipste sich zwei große glitzernde Ohrgehänge an, die sie selbst entworfen und hergestellt hatte. Weiter würde sie keinen Schmuck tragen, nicht einmal eine Uhr, damit die Ohrringe voll zur Geltung kamen …

Sie nahm die schwarze Abendtasche vom Bett und ging in den Wohnraum. Julia korrigierte Schülerarbeiten und blickte lächelnd auf, als Lianne hereinkam. „Puh, Lianne, das Kleid sieht ja umwerfend aus!“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Natürlich verdirbt der makellose Körper darin den Gesamteindruck auch nicht gerade.“

„Danke!“ Lianne wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Wenn sie nicht ausgerechnet mit Gabriel DeWilde verabredet gewesen wäre, hätten sie und Julia zweifellos in den letzten Stunden gemeinsam aus Kleiderschränken und Schmuckschatullen den geeigneten Abendaufzug zusammengesucht. Unruhig fingerte sie an ihrer Tasche herum. „Gabe kommt spät“, bemerkte sie und errötete leicht, wie immer, wenn sie gegenüber ihrer Freundin seinen Namen erwähnte. Julia war gleichbleibend lieb und freundlich, doch Lianne wurde den Verdacht nicht los, dass sie mehr unter der Trennung litt, als sie zugab.

„Um diese Zeit ist der Verkehr sicher stark.“ Julia legte gelassen den Füllhalter ab und schob den Stapel Schüleraufsätze beiseite. „Gabe ist sehr höflich. Er würde dich nicht warten lassen, wenn es nicht unumgänglich wäre.“

Gabe hatte zweifellos tadellose und kultivierte Manieren, und zu Julia hatte er sich vermutlich stets korrekt verhalten. Jedoch war „höflich“ kein Wort, mit dem sie sein Verhalten ihr gegenüber beschreiben konnte. Wieder einmal fragte sich Lianne, was ihr einfiel, die Beziehung zu einem Mann aufrechtzuerhalten, bei dessen Anblick sie vor allem der dringende Wunsch überkam, ihm möglichst schnell die Kleider vom Leib zu reißen, um mit ihm ins nächste Bett zu fallen. Und das bei einer Frau, die sich stets geschworen hatte, dass es wichtiger sei, einen Mann zu mögen, als nach seinem Körper zu lechzen.

Das Summen der Türglocke klang laut in der Stille des Wohnraumes. „Das wird Gabe sein“, sagte Julia. „Soll ich ihn hereinlassen?“

„Ja, danke! Ich hole meinen Mantel.“

Als Lianne aus dem Schlafzimmer zurückkam, war Gabe bereits an der Eingangstür und sprach mit Julia. Sie wollte nicht hören, was gesagt wurde, doch ihr entging nicht, wie viel Freundlichkeit und Wärme sein lächelndes Gesicht ausdrückte, während er ihr zugewandt war. Er nahm Julias Hand zwischen seine Hände, und Lianne wünschte inständig, er würde sie nur einmal so ansehen wie jetzt Julia, anstatt mit der üblichen Mischung aus Leidenschaft und Verachtung.

Sie verhielt sich vollkommen still, dennoch spürte Gabe ihre Gegenwart und wandte ihr den Kopf zu. Sofort verschwand der zärtliche Ausdruck in seinen Augen. Er sah atemberaubend gut aus in seinem Abendanzug, und einen Augenblick betrachteten sie sich schweigend. „Entschuldige, dass ich mich verspätet habe“, sagte er mechanisch. „Der Verkehr ist heute Abend besonders stark. Wir sollten uns sputen!“

Sie hatte vorgehabt, nicht mit ihm zu sprechen, und sein Verhalten bestärkte sie nur in ihrem Plan. Wortlos ging sie an ihm vorbei und drehte sich nur zu Julia um, um ihr eine gute Nacht zu wünschen.

„Viel Spaß im Theater!“, rief Julia ihnen nach und winkte zum Abschied.

An der Treppe hielt Gabe Lianne zurück. „Warte! Zieh besser deinen Mantel über. Es ist kalt draußen.“ Er nahm ihr den Mantel ab, half ihr hinein und berührte zart ihren Nacken, als er den Kragen aufstellte. Dann drehte er sie zu sich herum. „Du bist schön“, sagte er fast schroff. „So schön, dass es mich bei deinem Erscheinen vorhin fast umgehauen hat.“

Lianne spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Sie schloss kurz die Augen und schwieg aus purer Befangenheit.

Gabe missverstand ihr Schweigen jedoch. Er strich ihr seufzend mit dem Daumen über die bebenden Lippen. „Ich weiß, du kommst nur gezwungenermaßen mit und wirst nicht mit mir sprechen.“ Amüsiert fügte er hinzu: „Allerdings hat eisiges Schweigen aus deiner Warte auch seine Nachteile.“

Er neigte den Kopf und küsste sie. Als sie sich voneinander lösten, sagte er grinsend. „Das war sehr angenehm, danke! Ich frage mich, wie oft ich dich heute Abend noch küssen kann, ehe du dein Schweigegelübde brichst und mir sagst, ich solle mich zum Teufel scheren.“

Sie maß ihn mit einem strafenden Blick, wandte sich ab und ging zu seinem Wagen hinaus.

Die Theateraufführung war hervorragend und die Wohltätigkeitsgala ein ungeheurer Erfolg. Während des anschließenden Champagnerempfangs unterhielt Gabe sich angeregt mit allen spendenbereiten Gästen und beobachtete insgeheim Lianne. Sie hatte jene strahlende Präsenz, die sie zum Mittelpunkt machte, auch wenn sie nichts weiter tat, als dazustehen und hinreißend auszusehen. Aber sie stand nicht nur da, sondern zog jeden mit geistreicher Unterhaltung in ihren Bann – einfach jeden, mit Ausnahme von ihm. Er beobachtete sie mit einer Mischung aus Sehnsucht und Zorn, was im Übrigen seine ständige Gefühlsmixtur in ihrer Gegenwart zu sein schien.

Zweifellos war sie die ideale Begleitung für heute Abend gewesen, hingerissen von dem Stück und nicht im mindesten eingeschüchtert durch die hochrangigen Gäste in der Loge seines Vaters. Sie war charmant zu Jeffrey, zog jedoch eine genaue Trennlinie zwischen der gesellschaftlichen Situation, in der sie sich befanden, und der Tatsache, dass Jeffrey DeWilde morgen wieder ihr oberster Boss war. In den beiden Pausen war sie sogar ausgesprochen hilfreich gewesen, indem sie geschickt Fragen nach Grace abgelenkt hatte. Zumindest bei einer Gelegenheit, die Gabe mitbekommen hatte, hatte sie seinen Vater vor der zudringlichen Neugier eines wohlhabenden Gönners beschützt, der offenbar weitaus mehr Geld als Taktgefühl besaß.

Genauso charmant war sie zu Megan, die für heute Abend aus Paris gekommen war, um ihre Mutter zu vertreten. Nur eine Person, nämlich er selbst, war nicht Empfänger ihres großzügig ausgeteilten Charmes geworden. Er beobachtete schweigend und zunehmend ungehalten, wie einer der Gäste ihr ein Glas Weißwein brachte, um das sie gebeten hatte. Sie nahm das Glas mit einem freundlichen Lächeln und einer neckenden Bemerkung entgegen, die den Gast, einen berühmten, meist ernsten Kinderarzt, zum Lachen und Kichern brachte.

Der Arzt zog doch tatsächlich den Bauch ein und fuhr sich mit der Hand über den kahler werdenden Schädel. Musste sie so offensichtlich mit jedem Mann im Theater flirten? Wusste sie denn nicht, dass der Kerl eine Ehefrau und Enkelkinder hatte? Anscheinend doch, denn innerhalb kurzer Zeit lenkte sie den Doktor zu seiner Frau zurück und begann eine angeregte Unterhaltung mit Megan. Was konnte sie bloß so Wichtiges mit seiner Schwester zu bereden haben, dass sie nicht mal die Zeit fand, ihm einen Blick zu gönnen? Genug ist genug, dachte Gabe und blickte die Spenderin, mit der er sich unterhalten hatte, so grimmig an, dass sie sofort versprach, ihren Betrag zu verdoppeln.

Er verfügte noch über genügend Selbstbeherrschung, der ältlichen Dame für ihre unerwartete Großzügigkeit zu danken und verabschiedete sich, so höflich es ihm möglich war.

Mit dem Geschick, das er auf hunderten Wohltätigkeitsbällen und Galaveranstaltungen erworben hatte, gelang es ihm schließlich, sich durch die Menge zu drängen, ohne erneut aufgehalten zu werden.

„Megan, ich habe dich heute Abend kaum zu Gesicht bekommen“, sagte er zu seiner Schwester, doch sein Blick glitt gegen seinen Willen sehnsüchtig über Lianne hinweg.

Megan sah ihn leicht amüsiert an. „Wir haben fast den ganzen Samstag zusammen verbracht, Gabe.“

„Und ich bin mir sicher, Sie haben sich immer noch eine Menge zu erzählen“, wandte Lianne galant ein. „Sind Zwillinge nicht angeblich unzertrennlich?“ Sie lächelte Megan herzlich an. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Wenn ich darf, würde ich Ihr Angebot, mir nächsten Monat die Pariser Filiale anzusehen, gern wahrnehmen. Ich hoffe, meine Entwürfe gehen in den nächsten Wochen in Produktion.“

„Ich freue mich auf Ihren Besuch, Lianne. Ich kenne einige wunderbare Lokale, etwas abseits der üblichen Touristenpfade, wo wir essen können. Übrigens, habe ich Ihnen schon gesagt, wie begeistert ich von den Vorabentwürfen bin, die Sie mir von der Kollektion Lianne für DeWilde’s geschickt haben?“

„Noch nicht, aber Sie haben es jetzt. Danke!“ Liannes Lächeln galt ausschließlich Megan. „Entschuldigen Sie mich jetzt bitte“, sagte sie und wich Gabes finsterem Blick aus. Sie entfernte sich, um mit dem Schauspieler zu reden, der die Rolle des Henry Bolingbroke gespielt hatte – ein gutaussehender Newcomer, der nach Gabes Meinung entschieden zu viel Interesse an Liannes Dekolleté zeigte.

In Megans Augen blitzte der Schalk. „Gabe, mein Schatz, ich würde es für eine gute Idee halten, wenn du aufhören könntest, sie anzustarren wie ein Ertrinkender die letzte Rettungsinsel im gesamten Ozean.“

„Sie?“, fragte er und richtete seine Aufmerksamkeit mit einiger Anstrengung auf Megan. „Wen?“

„Dieselbe Frau, nach der du dich schon den ganzen Abend verzehrst“, lachte Megan. „Dieselbe, die so gründlich einem Mann den Kopf verdreht hat, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr erlebt habe.“

Er murmelte eine leise Verwünschung, und Megan legte ihm tröstend eine Hand auf den Arm. „Gabe, du bist mein Zwilling, und ich liebe dich von Herzen, deshalb hintergehe ich meine Geschlechtsgenossin und verrate dir ein Geheimnis. Lianne hätte dir nicht den ganzen Abend so beharrlich aus dem Weg gehen können, wenn sie dich nicht genauso interessiert beobachtet hätte wie du sie.“

Seine Miene hellte sich kurz auf, verfinsterte sich aber wieder. „Sie beobachtet mich nur, damit sie mir ausweichen kann. Sie verachtet mich!“

Megan biss sich kurz auf die Lippen, um nicht zu lachen. „Ich bin nicht davon überzeugt, dass du ihre Gefühle richtig einschätzt, Gabe. Ich hasse es, noch ein Geheimnis zu lüften, aber ich bezweifle, dass Lianne diese Aufmachung gewählt hat, weil sie Eindruck auf den Vorsitzenden der British Medical Society machen wollte.“

„Was meinst du damit?“

„Vertrau meinem Urteil, Bruderherz! Lianne trägt nichts als Haut unter dem Kleid.“

„Sie trägt nichts darunter?“, wiederholte er mit rauer Stimme.

„Nichts, außer Strumpfhosen“, bestätigte Megan.

Gabe schluckte trocken und unterdrückte den Drang, zu Lianne zu laufen und das Jackett um sie zu legen, ehe der Idiot, der an ihrem Kleid hinabstarrte, zu demselben interessanten Schluss kam wie seine Schwester. Gabe wollte schon durch das Foyer stürmen, doch Megan hielt ihn zurück.

„Wenn du jetzt mit ihr sprichst, Gabe, wird einer von euch beiden in die Luft gehen. Warte, bis ihr allein seid, ehe du ihr sagst, was du fühlst!“

„Ich weiß nicht, was ich fühle“, entgegnete er und war peinlich berührt, weil er merkte, dass er genauso unreif und bockig klang, wie er sich fühlte. „Ich weiß nur, dass ich es nicht ertrage, wenn sie bei mir ist, und dass ich es noch weniger ertrage, wenn wir getrennt sind.“

„Ich bin mir sicher, ein paar gemeinsame Stunden im Bett würden euch beiden helfen, die Situation zu klären.“ Megan klang wieder amüsiert. „Falls du an der Meinung einer Außenstehenden interessiert bist, ich möchte behaupten, ihr beide befindet euch im Endstadium eines Anfalls heftiger gegenseitiger Begierde. Schafft das Problem aus der Welt, und ihr entdeckt vielleicht, was ihr sonst noch als Paar gemeinsam habt.“

Gabe fragte finster: „Seit wann bist du so verdammt gescheit?“

„Das bin ich schon lange“, seufzte Megan. „Wenn es um die Gefühle anderer geht, habe ich immer den großen Durchblick, nur bei meinen eigenen nicht.“

„Dieser Bastard Whitney hat dir wirklich schwer zugesetzt, was?“

„Ich wünschte, ich könnte das alles meinem Ex-Verlobten anlasten, aber vieles hat seine Ursachen in mir selbst. Gegenwärtig bin ich mir nicht sicher, ob ich jemals wieder eine Beziehung zu einem Mann haben möchte. Arbeit kann dich genauso gefangennehmen wie eine Liebesaffäre, aber die Ergebnisse sind gewöhnlich viel greifbarer und lohnender.“

Gabe hätte gerne geantwortet, doch er beobachtete, dass sein Vater den Raum durchquerte, um mit Lianne zu sprechen. Der Idiot von einem Schauspieler, der in ihr Kleid gesehen hatte, wirkte enttäuscht. Gut. Was immer Lianne zu seinem Vater sagte, brachte beide zum Lachen. Da Jeffrey locker und gelöst wirkte, war Gabe bereit, Lianne ihre Sünden zu vergeben, die, um fair zu sein, hauptsächlich darin bestanden, dass sie ihn verrückt machte, weil sie zu attraktiv war, um ignoriert zu werden.

„Dad hat mich gebeten, bis morgen über Mittag zu bleiben“, sagte Megan und unterbrach Gabes Gedankengänge. „Er sagt, er habe etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Familienangelegenheiten, die das Unternehmen betreffen.“ Nach einer Pause fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: „Geht es um Mutter? Weißt du etwas?“

„Nein, ich glaube nicht. Ich denke, es geht um die DeWilde-Juwelenkollektion.“

„Um die Juwelen?“, wiederholte Megan erstaunt. „Ach du mein Schreck, hoffentlich plant Dad nicht wieder eine dieser internationalen Ausstellungen. Die Versicherungsgesellschaft macht mich wahnsinnig mit den vielen Vorsichtsmaßnahmen, die ich treffen muss, sobald das ganze Zeugs aus dem Geschäft gebracht wird.“

„Ich glaube nicht, dass er etwas in diese Richtung plant, zumindest augenblicklich nicht. Aber er sollte dir erzählen, worum es geht. Es ist eine lange Geschichte, und hier ist nicht der richtige Ort dafür.“ Gabe dachte stirnrunzelnd an die Unterhaltung mit seinem Vater und Nick Santos. „Übrigens, Meg, hast du jemals von einer Sicherheitsfirma namens Alliance de Securité Internationale gehört?“

Sie dachte einen Augenblick nach. „Nein, ich glaube nicht. Dem Namen nach müsste es eine französische Firma sein. Warum? Will Dad mit ihr arbeiten?“

„Soweit ich weiß, nein. Aber der Name tauchte auf, weil Dad einen Privatermittler angestellt hat, der ihm von der Chefin dieser Firma empfohlen wurde. Zumindest glaube ich, dass er diesen speziellen Mann nur wegen der Empfehlung genommen hat. Die Alliance de Securité Internationale scheint eine kleine Firma zu sein. Die Chefin oder Besitzerin heißt Allison Ames.“

Megan wurde sehr still. „Sie ist etwa in unserem Alter? Blond, schlank, beeindruckende dunkelblaue Augen? Sehr athletisch?“

„Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern, die Frau je gesehen zu haben. Ihr Name fiel in der Unterhaltung heute Morgen.“

„Mit Dad?“

„Ja, aber eher indirekt.“ Gabe blickte zu seinem Vater hinüber, der sich immer noch mit Lianne unterhielt. „Dad schien sich unbehaglich zu fühlen, als Nick Santos den Namen nannte. Als wäre es ihm lieber gewesen, er hätte diese Verbindung nicht erwähnt.“

Nach einigen Augenblicken sagte Megan: „Ich kenne sie auch nicht.“

„Wer ist dann die blonde, blauäugige Frau, von der du eben gesprochen hast?“

„Niemand. Ich war verwirrt.“

Nach dieser unbefriedigenden Antwort hätte er zweifellos weiter nachgebohrt, wenn er nicht plötzlich bemerkt hätte, dass Lianne zum ersten Mal an diesem Abend allein war. Er küsste seine Schwester rasch auf die Wange. „Ich muss mich sputen. Ruf mich an, wenn du das nächste Mal in der Stadt bist. Du kannst bei mir wohnen, und dann bummeln wir mal wieder eine ganze Nacht durch.“

„Klingt nicht übel. Das haben wir seit Ewigkeiten nicht gemacht. Und wir hatten doch immer viel Spaß dabei, was? Abgemacht, Gabe!“ Megan hielt ihn noch einmal auf, als er weggehen wollte. „Da du mein Lieblingsbruder bist, ein weises Wort zu deiner Erbauung. Zähl bis zehn, ehe du etwas zu Lianne sagst, okay?“

„Ich bin dein einziger Bruder. Aber vertrau mir, ich bin geradezu ein Muster an Takt.“ Gabe schritt entschlossen davon.

Gabriel DeWilde kam durch das Foyer in einer Haltung auf sie zu, als würde ihm das Theater gehören. Bildete er sich ein, sie jetzt einsammeln zu können wie einen vergessenen Koffer, nachdem er sie den ganzen Abend über ignoriert hatte? Zu allem Überfluss war er auch noch der bestaussehende und anziehendste Mann im ganzen Haus.

Lianne löste sich von der Säule, gegen die sie sich gelehnt hatte. Gabe blieb vor ihr stehen, eine braune Haarsträhne war ihm in die Stirn gefallen. Mit strengem Blick fragte er: „Trägst du überhaupt etwas unter diesem verdammten Kleid?“

Sie richtete zum ersten Mal an diesem Abend das Wort an ihn. „Fahr zur Hölle, Gabe!“

„Da bin ich schon gelandet.“

„Genieße die Glut!“ Sie wandte sich ab und ging davon, bemüht, ihm zu entkommen und zugleich hoffend, dass er ihr folgte. Sie schloss kurz die Augen und hielt sich am Treppengeländer fest, als sie erleichtert seine Schritte hinter sich hörte. Mit ihrem Verhalten heute Abend hatte sie es offenbar geschafft, ihn mächtig anzutörnen. Unbewusst hatte sie es vielleicht darauf angelegt. Nun war sie sich jedoch keineswegs sicher, ob sie die dadurch entstandene Situation handhaben konnte.

Schweigend, jedoch in gespannter Erwartung dessen, was kommen würde, gingen sie die Treppe hinunter. Gabe holte ihr den Mantel aus der Garderobe und gab dem Portier ein Trinkgeld, damit er ihm den Wagen vorfuhr. Während sie auf den Jaguar warteten, zog er Lianne in den Schatten des überdachten Portikus, nahm sie in die Arme und küsste sie.

„Lianne, komm mit mir nach Haus“, raunte er nah an ihrem Mund, und es klang fast wie ein Befehl.

Die Erinnerung an das Fiasko ihrer sonntäglichen Verabredung war noch sehr deutlich. Zweifel kehrten zurück und dämpften ihre Gefühle. Vertraute sie ihm genug, es auf einen neuen Versuch ankommen zu lassen? Schlimmer noch, war sie imstande, mit den emotionalen Konsequenzen zu leben, wenn sie mit jemandem schlief, der sie nicht mal sonderlich zu mögen schien? Was, wenn er nach einer weiteren leidenschaftlichen Liebesnacht einfach wegging, wie er es schon einmal getan hatte? Was sie für ihn empfand, ging weit über bloße sexuelle Anziehung hinaus, doch Gabe schien keine tieferen Gefühle für sie zu entwickeln.

Die Vernunft riet ihr, sich aus purem Selbstschutz sofort heimfahren zu lassen. Doch als sie Gabe ansah, war die Sehnsucht ihm so deutlich vom Gesicht abzulesen, dass es ihr zu Herzen ging. Wortlos küsste er sie erneut mit solcher Hingabe, dass ihre Antwort unumgänglich wurde. Mit dem Gefühl, etwas Vorbestimmtes zu tun, erlag sie dem eigenen Begehren. Sie raunte ihm ihre Zustimmung zu, schlang die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss mit all der Leidenschaft, die sie seit Tagen zu unterdrücken versuchte.

Sie waren beide atemlos, als sie sich schließlich voneinander lösten. Lianne hatte kaum zwei Gläser Wein getrunken, trotzdem war ihr, als drehe sich alles um sie. Der Parkplatzwächter fuhr den Wagen vor, und sie ließ sich von Gabe zum Jaguar ziehen. Wie benommen nahm sie die Fahrt durch die leeren Straßen der Stadt und ins West End wahr. Gabe parkte vor seinem Häuserblock, direkt unter dem Warnhinweis, dass hier abgestellte Wagen abgeschleppt würden. Lianne fühlte irgendwie, dass dies ein Grund zur Sorge war, konnte sich jedoch nicht genügend konzentrieren, um zu entscheiden, warum.

Sie eilten in den Lift. Gabe drängte sie gegen die Wand, riss mit einer Hand seine Krawatte herunter und öffnete ihren samtenen Abendmantel. Er hob ihr Kinn an, sodass sie den Kopf zurücklegen musste, und küsste sie erneut. Sie schlang die Arme um ihn und spürte seine Erregung. Ihr Puls schien doppelt so schnell zu schlagen wie gewöhnlich.

Ein Luftzug und das Geräusch sich öffnender Türen ließen sie aufmerken. Bevor sie ganz begriff, dass der Lift in der fünften Etage angehalten hatte, nahm Gabe sie auf die Arme und trug sie zu seiner Wohnungstür. Davor setzte er sie kurz ab, holte den Schlüssel heraus, nahm Lianne wieder auf die Arme und trug sie über die Schwelle, die Tür mit dem Fuß hinter sich zustoßend.

Ihr Mantel und sein Jackett wurden in der Halle abgeschüttelt. Die Schuhe blieben an der Schwelle zum Schlafzimmer zurück. Mit geschickten Händen öffnete er bereits den Reißverschluss ihres Kleides, streichelte ihre Haut, ertastete ihre Brüste. Ohne zu fragen, sank er mit Lianne aufs Bett, streifte das Oberteil ihres Kleides hinab und fuhr mit den Lippen sehnsüchtig über ihre Brüste.

Lianne wollte ihn ebenfalls spüren, ihn nackt in den Armen halten. Sie tastete nach seinen Hemdknöpfen, doch ihre Finger waren vor Erregung zu ungeschickt.

„Warte, ich helfe dir!“ Gabe riss sich das Hemd geradezu hinunter. Mit nacktem Oberkörper, beugte er sich über sie. „Ich möchte, dass du in meinen Armen alles ringsum vergisst und nur noch mich spürst“, rief er leidenschaftlich.

„Keine Einwände“, flüsterte sie zurück.

„Ich habe von dem ganzen Theaterstück nur die Hälfte mitbekommen, weil ich mich ständig gefragt habe, ob du etwas unter diesem verdammten Kleid trägst oder nicht“, gestand er mit leiser Stimme.

„Jetzt weißt du es.“

„Ja, allerdings.“

Eilig entledigte er sich seiner restlichen Kleidung. Heftige Erregung pulsierte in ihr, als sie seinen Körper auf sich spürte. Es gab für sie nur diesen Augenblick, diesen Mann und die alles verzehrende, gegenseitige Leidenschaft. Sie schlang die Arme um seinen Nacken, ihre Finger glitten durch sein Haar, und ihre Lippen öffneten sich unter dem Druck seines Mundes. Sie schmiegte sich an ihn, ihr Körper bebte, bereit, ihn aufzunehmen, noch bevor er mit der Hand ihre Schenkel spreizte.

Seine Berührungen waren fast mehr, als sie ertragen konnte. Sie stöhnte leise auf. Ihre Haut war unerträglich empfindlich. Sie umklammerte seine Schultern und wappnete sich vor dem Ansturm der Gefühle. Das Blut pulsierte in ihrem Leib, wie sie es erst einmal erlebt hatte, in jener ersten Nacht mit Gabe. Als er in sie eindrang, war es wie eine Erlösung. Ihr Körper spannte sich an und schien auf dem Höhepunkt ihrer Liebe in einem Rausch von Empfindungen zu implodieren.

Gabe lag wach und beobachtete, wie das erste Morgenlicht, die Schwärze der Nacht vertrieb. Lianne lag schlafend neben ihm, erschöpft von den Stunden, in denen sie sich geliebt hatten. Er drehte sich auf die Seite, damit er sie sehen konnte. Sie schlief mit derselben Intensität, mit der sie alles andere tat. Ihr Haar war über das Kissen ausgebreitet, ein Arm ausgestreckt, der andere lag über ihrem Bauch.

Er ließ eine Hand durch das lange nussbraune Haar gleiten, und einige Locken wickelten sich um seine Finger. Anstatt die Hand zurückzuziehen, schloss er die Augen und presste das Gesicht in die Masse dunkler Locken. Unglaublich, aber schon wieder regte sich Verlangen in ihm. Obwohl sie sich ausgiebig geliebt hatten, war eine tiefe Sehnsucht in ihm noch nicht gestillt worden.

Lianne bewegte sich im Schlaf, und das Bettlaken rutschte ihr bis zur Taille hinab. Unfähig, zu widerstehen, legte er eine Hand auf ihre Brust. Lianne gab einen leisen Brummlaut von sich, rollte sich ihm zugewandt auf die Seite und klemmte seine Hand unter ihrer Brust ein.

Seine sehnsüchtigen Gefühle wurden heftiger. Er wollte Lianne an sich ziehen, sie beschützen und für sie dasein. Vor allem aber wollte er nie wieder aufwachen, ohne sie an seiner Seite zu haben.

Der Gedanke war beängstigend …

Sehr sacht fuhr er mit dem Daumen über ihre Brustspitze. Sie erwachte, wie erwartet. Ihre Haut reagierte empfindlich auf die Berührung. Lianne blinzelte ihn schläfrig an, deutete sein Mienenspiel und riss die Augen auf. Sie erkannte, was er wollte – brauchte – und brummelte schläfrig:

„Gabe, das kann nicht dein Ernst sein!“

Er schwieg. Er war sich nicht sicher, ob er reden konnte, ohne etwas zu sagen, dass er später bereuen würde. Stattdessen umfasste er ihre Handgelenke und legte sie ihr über den Kopf, sodass ihr Körper seinen Blicken und Zärtlichkeiten ausgeliefert war. Gabe beugte sich herunter und bedeckte ihre Brüste mit sanften Küssen.

Sein Verlangen erwuchs aus tieferen und liebevolleren Gefühlen, als er sie je gehabt hatte. Da war nichts mehr vom ungeduldigen Befriedigen der Lust, wie noch gestern. Er liebte sie zärtlich und rücksichtsvoll und nutzte die Erfahrungen, die er in der letzten Nacht mit ihren körperlichen Reaktionen gemacht hatte. Als sie schließlich bebend in seinen Armen den Höhepunkt ihrer leidenschaftlichen Vereinigung erlebte, verströmte er sich in ihr und blieb, überwältigt von der Intensität der eigenen Empfindungen, einige Sekunden lang reglos liegen.

Sobald er wieder klar denken konnte, merkte er jedoch, dass dieses sonderbar sehnsüchtige Gefühl in ihm noch nicht gestillt war.

Lianne hielt ihn umfangen, ohne gegen sein Gewicht zu protestieren und ließ die Hände sacht über seinen Rücken gleiten. „Ich liebe dich, Gabe“, sagte sie leise. „Ich dachte, das solltest du vielleicht wissen.“

Ihr Geständnis machte seine schmerzliche Sehnsucht schier unerträglich. Er sah sie schweigend an, ängstlich bemüht, sich nicht zu seinen Gefühlen zu bekennen.

Lianne berührte sein Gesicht, und ihre zärtliche Geste quälte ihn noch mehr. „Schon gut, Gabe. Sieh mich nicht so entsetzt an. Du brauchst nichts zu erwidern.“

Schließlich fand er seine Stimme wieder. „Ich weiß nicht, was Liebe ist, Lianne. Ich weiß nur, dass ich dich so sehr begehre, wie nie eine Frau zuvor.“

Noch während er sprach, wurde er sich seiner Lüge bewusst. Er wusste, was Liebe war – nämlich genau das, was er für Lianne empfand. Diese Erkenntnis machte ihm Angst …

9. KAPITEL

Seit sieben Tagen wurden Wolken und Nebel, die so oft San Francisco einhüllten, von der Frühlingssonne vertrieben. Grace stand am herrlichen Panoramafenster ihrer neuen Luxuswohnung und wünschte sich hartnäckig Regen. Die Sonne schien sie und ihre trübe Stimmung zu verspotten, indem sie ihr ins Gesicht erklärte, dass der Sommer nahte und das Leben sich nach dem Winterschlaf rasch erneuerte.

Leider steckte sie immer noch in den Tiefen des emotionalen Winters. Ihr altes Leben war gescheitert, und sie hatte keine Hoffnung, es wieder aufzunehmen. Ihr Kummer war so groß, dass es sie an manchen Tagen Mühe kostete, aufzustehen und sich anzuziehen. Deshalb hatte sie es sich zur täglichen Pflichtübung gemacht, Make-up aufzulegen, sich ordentlich zu frisieren und auszugehen, um irgendetwas, und mochte es noch so belanglos sein, zu erledigen.

Da sie erkannte, dass sie Gefahr lief, in eine regelrechte Depression zu verfallen, hatte sie bewusst eine unmöblierte Wohnung gemietet, damit sie gezwungen war, sich neu einzurichten. Im Prinzip keine schlechte Idee, dachte sie und blickte sich wehmütig in ihrem fast leeren Wohnraum um. Bei ihrem erlesenen Geschmack war es jedoch nicht leicht, etwas Passendes zu finden. Deshalb bestand ihre Einrichtung vorerst lediglich aus einer antiken Frisierkommode und einem Sofa im Wohnraum. Zudem ein paar blanke Notwendigkeiten, wie Telefon und einige Küchengerätschaften.

Grace ging gelangweilt zum Sofa, nahm eines der Kissen und schüttelte es heftig auf. Schließlich umschlang sie es mit den Armen und starrte aus dem Fenster. Selbst jetzt, da sie den endgültigen Schritt getan und fünftausend Meilen Abstand zwischen sich und Jeffrey gebracht hatte, konnte sie ihre Trennung noch nicht ganz begreifen. Es erschien ihr unglaublich, dass sie noch letzte Weihnachten, vor fünf Monaten, glücklich gewesen waren, überschwänglich glücklich sogar.

Nein, naiv glücklich, korrigierte sie sich. Wir sind immer so gut miteinander ausgekommen, dass wir einfach keine Mechanismen zur Problembewältigung entwickelt haben. Beim ersten großen Test ging unsere Ehe in die Brüche.

Die meisten Eheleute, die sich nach vielen Jahren scheiden ließen, kannten die genauen Umstände nicht, die letztlich zum Bruch führten. Gewöhnlich war es eine Kombination aus zu viel Streiterei, gepaart mit Langeweile im täglichen Familienleben und der wachsenden Irritation durch Intimität ohne Liebe. Grace hingegen kannte den genauen Zeitpunkt, an dem der Selbstzerstörungsmechanismus ihrer Ehe eingesetzt hatte. Es war am Neujahrstag gewesen, um zwei Uhr morgens, als sie und Jeffrey von einer Silvesterparty heimkamen, die entsetzlich langweilig gewesen war.

Jeffrey zog gähnend die Krawatte aus und fingerte an den schweren goldenen Manschettenknöpfen herum, die einst seinem Großvater gehört hatten.

„Warte, lass mich helfen.“ Grace glitt vom Bett, auf das sie sich voll bekleidet gelegt hatte, zu schläfrig und vielleicht auch ein bisschen zu beschwipst, um sich auszuziehen. Jeffrey streckte gehorsam die Handgelenke aus, und sie mühte sich redlich mit den widerspenstigen Manschettenknöpfen, die einfach nicht herausgehen wollten.

Sie fluchte undamenhaft heftig, und Jeffrey hob ihr Kinn an und küsste sie auf die Nasenspitze. „Gracie, mein Schatz, du bist betrunken.“

Niemandem außer Jeffrey war es gestattet, sie Gracie zu nennen. Doch wenn er es tat, schien ihr Herz vor Zuneigung immer ein wenig schneller zu schlagen. „Ich bin nicht betrunken“, widersprach sie, tödlich beleidigt wegen der Unterstellung, mit betont deutlicher Aussprache. „Die Löcher in den Manschetten sind zu klein für die Knöpfe, das ist alles.“

Er lachte: „Wenn du es sagst. Allerdings würde ich es dir nicht verübeln, wenn du betrunken wärst. Das war eine entsetzliche Party.“

„Hm.“ Sie ließ die Manschettenknöpfe in Ruhe und zog ihm stattdessen das Hemd über den Kopf. Als seine obere Hälfte nackt war, legte sie zufrieden seufzend die Wange an seine Brust und ließ das Hemd zu Boden fallen. „Silvesterpartys kommen mir immer sehr traurig vor, wie ein heftiger Versuch zu leugnen, dass Zeit und Schicksal unaufhaltsam voranschreiten und uns mitziehen.“

„Sehr tiefschürfend“, lobte er und strich ihr zärtlich übers Haar. „Allerdings bezweifle ich, dass die meisten Gäste heute Abend viel Energie auf philosophische Betrachtungen über den Sinn des Lebens verschwendet haben. Sie haben einfach zu emsig versucht, sich zu amüsieren und sich dabei nur lächerlich gemacht.“

Lächelnd ließ sie eine Hand über seine Brust streichen. „Habe ich dir jemals gesagt, dass du genau die richtige Menge Haare auf der Brust hast, Jeffrey?“

„Nein, ich glaube nicht“, erwiderte er schmunzelnd.

„Brusthaar ist sehr wichtig bei einem Mann“, erklärte sie mit der Ernsthaftigkeit der Angetrunkenen. „Ich mag Männer nicht, die aussehen wie Gorillas. Aber männliche Models, die alles glattrasieren sehen, doch noch alberner aus, oder?“

„Ich muss gestehen, dass ich diesem Tatbestand bisher nicht allzu viel Beachtung geschenkt habe. Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass mein Brusthaar deinen Ansprüchen genügt, da ich weiß, dass du einen untadeligen Geschmack hast.“

Er zog seine Hose aus und hängte sie ordentlich über den stummen Diener, obwohl sie am nächsten Tag in die Reinigung gegeben wurde. Keine Frau sollte mit so einem Pedanten zusammenleben müssen, dachte Grace. Sie verdiente zweifellos einen Platz im Himmel für ihre Toleranz. Er war wirklich unmöglich, aber sie liebte ihn unendlich.

Sanftes Verlangen regte sich in ihr, so vertraut und willkommen wie ein Paar bequeme Slipper. Sie drehte Jeffrey den Rücken zu und hielt ihr langes Haar hoch. „Würdest du mir helfen? Ich kann den Reißverschluss nicht erreichen.“

Er zog ihn hinunter, das Kleid glitt zu Boden und verriet den interessanten Tatbestand, dass sie es sich mit über Fünfzig noch leisten konnte, ein schulterfreies Abendkleid ohne BH darunter zu tragen. Jeffrey stand hinter ihr, drückte ihr einen Kuss in den Nacken, umschlang sie mit beiden Armen und umfasste ihre Brüste. „Mein Gott, Gracie, du bist so schön, ich muss dich nur ansehen und möchte mit dir schlafen.“

Das war erfreulich zu hören. Sie drehte sich lächelnd in seinen Armen. „Ich glaube, wir dürfen, da wir verheiratet sind und so.“

Jeffrey küsste sie innig, was befriedigend und erregend war. Grace schüttelte die Schuhe ab und ging mit ihm zum Bett. Ihre Zärtlichkeiten wurden leidenschaftlicher, und sie verfielen rasch in den Rhythmus, der ihr ureigenster war. Jeffrey liebte sie inbrünstig und doch zärtlich und rücksichtsvoll, was ihr mit den Jahren immer wichtiger geworden war. Sie vermutete, dass ihre Leidenschaft irgendwann nachließ. Doch in seinen Armen liegend, konnte sie sich kein Leben vorstellen, das nicht durch ihre beglückende sexuelle Beziehung versüßt wurde.

Diesmal schliefen sie nicht, wie so oft, hinterher rasch ein. Jeffrey streckte den Arm aus, und sie kuschelte sich glücklich an seine Schulter. Vielleicht weil es der erste Tag eines neuen Jahres war, bekam er Lust, in Erinnerungen zu schwelgen. „Hast du je bedauert, dass wir nicht mehr Kinder haben?“, fragte er und ließ den Finger über die Narbe auf ihrem Bauch fahren.

„Vielleicht, als ich jünger war.“ Sie legte ihre Hand auf seine. Für sie war diese Narbe eine Erinnerung an die Höhen und Tiefen in ihrem Leben, die sie gemeinsam gemeistert hatten. Die Operation hatte zweifellos zu den Tiefen gehört, war jedoch durch Jeffreys unerschütterliche Liebe leichter zu ertragen gewesen. „Jetzt will ich eine Menge Enkel.“

„Ja, es wäre schön, eine neue Generation heranwachsen zu sehen. Und ich bin mir sicher, alle unsere Kinder bekommen hübsche Babys.“

Sie lachte: „Wie gut, dass du nicht voreingenommen bist. Falls du dir wünschst, wir hätten noch ein Kind gehabt, darf ich dich vielleicht erinnern, durch wie viele Höllen wir gegangen sind, als sie Teenager waren.“

„Glaube mir, ich erinnere mich an jeden entsetzlichen Augenblick. Nein, ich dachte nur gerade daran, dass du mir bei unserer Hochzeit gesagt hast, du wolltest mindestens sechs Kinder.“

„In jenen Tagen habe ich eine Menge unglaublich dummer Dinge gesagt, Jeffrey. Glücklicherweise wurde ich mit dem Alter klüger.“ Sie lachte und gähnte ein bisschen. „Es muss ja ein paar Kompensationen für die Lasten des Altwerdens geben.“

„Du wirst nicht alt. Wir anderen ja, aber du nicht.“ Er rollte sich auf die Seite und blickte so liebevoll und zärtlich auf sie hinunter, dass sie den absurden Drang verspürte zu weinen. Jeffrey war ein sehr reservierter Mann. Grace sonnte sich in dem Wissen, dass er nur bei ihr die Barrieren seiner Selbstbeherrschung fallenließ und Gefühle zeigte. Selbst in Gegenwart der Kinder, die er herzlich liebte, war er nur selten locker. Er hatte nie zugelassen, dass sie seine Fehler und Schwächen ebenso kennenlernten wie seine Stärken.

Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Ich liebe dich, Gracie, mehr, als ich mir jemals vorgestellt habe, einen Menschen lieben zu können.“

„Ich liebe dich auch.“ Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf den Mund. Dabei fragte sie sich, warum das Schicksal so gut zu ihr war und oft so grausam zu Menschen, die Glück weit eher verdient hätten als sie. „Ich kann kaum glauben, wie sehr meine Liebe zu dir gewachsen ist, Jeffrey.“

Sie spürte, wie er sich anspannte und nach einem Moment wieder entspannte. „Wenn ich ein übersensibler Mensch wäre, müsste ich mir jetzt Sorgen machen. Das klang so, als wärst du ein bisschen überrascht, dass du mich tatsächlich liebst.“

„Nun, soweit würde ich nicht gehen“, erwiderte sie leise lachend. Nach zweiunddreißig Ehejahren, konnte sie wohl getrost die Wahrheit bekennen – ein Geschenk der Ehrlichkeit, um ihrem Mann zu zeigen, wie töricht sie als junges Ding gewesen war, und wie sehr sie ihn heute liebte. „Die Wahrheit ist, Jeffrey, als wir heirateten, habe ich dich nicht so sehr geliebt, wie es hätte sein sollen.“

Seine Hand blieb still auf ihrem Schenkel liegen. „Das verstehe ich sogar. Du warst unglaublich jung, viel jünger als Kate heute. Unsere Gefühle sind in dem Alter wohl mehr von unseren Hormonen bestimmt.“

„Nein, das war es nicht.“ Plötzlich schien es ihr wichtig, ihm alles zu erzählen. „Rückblickend erkenne ich die egozentrische junge Frau kaum, die ich in jenen Tagen war. Ich habe dich aus lauter falschen Gründen geheiratet, Jeffrey, und ich verdiene das glückliche Schicksal nicht, das alles so wunderbar für mich gerichtet hat.“

„Warum genau hast du mich geheiratet, Grace?“

Sie musste angetrunkener gewesen sein, als ihr bewusst war. Rückblickend fand sie keine andere Erklärung dafür, dass ihr die Kälte entgangen war, mit der Jeffrey die Frage gestellt hatte.

„Ich habe dich geheiratet, weil du Jeffrey DeWilde warst, der begehrteste Junggeselle Londons und der Fang der Saison.“ Sie kicherte anzüglich: „Außerdem warst du absolut hinreißend im Bett. Sicher hatte das was mit meiner Entscheidung zu tun, dich nicht mehr aus den Fingern zu lassen.“

„Und der Umstand, dass ich vermögend war, hat sicher auch nicht gestört.“

Sie hörte den Zynismus, bezog ihn jedoch törichterweise auf die junge, zwanzigjährige Grace und nicht etwa auf die Frau von heute, seine Frau, die ihn mit jeder Faser ihres Herzens liebte.

„Sicher nicht“, gestand sie und teilte seine Verachtung für die gedankenlose, oberflächliche Person von damals. „Ehrlich gesagt, ich fand es einfach herrlich, zu einer Familie zu gehören, die tatsächlich über das Vermögen verfügte, das ihrem Ansehen entsprach.“

„Im Gegensatz zu deiner eigenen Familie.“

„Absolut“, bekannte sie offen. „Mein Bruder hat das Familienvermögen der Powells so erfolgreich wieder zusammengetragen, dass es schwer ist, sich daran zu erinnern, wie es in unserer Kindheit und Jugend war. Powell war ein Name, mit dem man rechnen musste in der Gesellschaft von San Francisco. Leider hatten meine Eltern kaum einen Penny. Ich hasste das ewige Sparen und Schuldenmachen, nur damit wir bei den richtigen Anlässen, mit den richtigen Leuten und in der richtigen Kleidung auftauchten.“

Grace hatte sich nie gewünscht, dass ihre Eltern reicher gewesen wären, sie hätte nur gewollt, dass sie sich aus den gesellschaftlichen Kreisen zurückzogen, die sie sich nicht mehr leisten konnten. Nach zweiunddreißig Ehejahren musste Jeffrey wissen, dass ihr gesellschaftliches Ansehen nicht wirklich etwas bedeutete.

„Ich verstehe, dass ich der ideale zukünftige Ehemann war: reich, gesellschaftlich akzeptiert und unglaublich dumm, weil ich nicht gemerkt habe, dass ich wegen meiner Position und meines Geldes geheiratet wurde.“

Zu spät wurde Grace endlich bewusst, dass er sie mit jedem Wort missverstanden hatte. Entsetzt hatte sie sofort versucht, den falschen Eindruck wettzumachen. Jeffrey hatte höflich und aufmerksam gelauscht. Doch nach einer Stunde intensiven Bemühens hatte sie gemerkt, dass er immer noch in dem ursprünglichen Missverständnis befangen war. Jeffrey hatte nur verstanden, dass sie ihn wegen seiner Position und seines Geldes geheiratet hatte. Die zweiunddreißig Ehejahre in tiefer gegenseitiger Liebe zählten nichts. Die subtilere Wahrheit, dass sie auch als junge Frau eher nach Sicherheit, denn nach Wohlstand und gesellschaftlicher Akzeptanz gestrebt hatte, entging ihm völlig.

In den folgenden Wochen erkannte Grace, dass sie ihrer Ehe eine tödliche Wunde zugefügt hatte. Letztlich war es jedoch Jeffrey gewesen, der ihr den Todesstoß versetzte.

Das Telefon läutete, und sie lief hin, um es von seinem gegenwärtigen Standplatz auf einem Einbauregal zu holen. Es könnte Jeffrey sein, der ihr sagen wollte – ja, was eigentlich? Dass die letzten drei Monate ein schrecklicher Irrtum waren, und dass er sie immer noch liebte? Nein, über dieses Stadium des Wunschdenkens war sie längst hinaus. Sie schlang die Arme um sich, damit die Hand nicht nach dem Hörer griff.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. „Mutter, hier ist Megan. Tut mir leid, dass ich dich nicht antreffe …“

„Hallo, Meg.“ Grace hatte den Hörer abgenommen und sprach zur eigenen Genugtuung mit sicherer Stimme. Sie imitierte sogar ein sorgloses Lachen. „Ich war ziemlich beschäftigt und habe mich sozusagen hinter dem Anrufbeantworter versteckt. Du weißt, wie das ist.“

„Hoffentlich störe ich nicht. Ich wollte nur ein bisschen schwatzen.“ Megan klang vorsichtig und unnatürlich höflich. Alle drei Kinder verhielten sich so seit ihrer Trennung von Jeffrey, als hätte sie sich plötzlich in eine Person verwandelt, die sie nicht mehr kannten und mit der sie nicht umzugehen wussten. Ausgenommen Gabe, der sich offenbar entschlossen hatte, das Problem zu lösen, indem er nicht mit ihr sprach.

Ihre Abschiedsbriefe waren offenkundig kein Erfolg gewesen, und Jeffrey hatte alles noch verschlimmert, indem er den Familienanwalt beauftragt hatte, die Kinder offiziell in einem gesonderten Brief von der Trennung zu unterrichten.

Sie hätte vielleicht lange genug in London bleiben sollen, um Gabe anzurufen. Aber was hätte sie sagen können, um etwas Unbegreifliches zu erklären? Vielleicht hätte sie irgendeine Geschichte erfinden können, die ihr Fortgehen erklärte, ohne sich der Demütigung auszusetzen, von ihren Kindern bemitleidet zu werden. Doch zu dem Zeitpunkt schien es unerheblich, ob sie Gabe aus London anrief oder später aus San Francisco, wenn sie vielleicht ruhiger und weniger gekränkt war.

Außerdem war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, wie rasch sich schließlich der endgültige Bruch mit Jeffrey entwickelt hatte. Nach einer Woche eisigen Schweigens war die Vorstellung, eine weitere Nacht mit ihm in einem Bett zu verbringen, unerträglich geworden. Zu viele Nächte, in denen sie gewartet und sich gefragt hatte, ob er heimkam, oder was er inzwischen machte, hatten sie erschöpft. Ihre Angst, die erlittenen Kränkungen und ihr Zorn hatten sich in einer gigantischen Explosion Luft gemacht. Nach ihrem letzten schrecklichen Streit hatte sie nur noch an Flucht gedacht. Der Wunsch, eine Zuflucht zu finden, wo sie in Ruhe, allein ihre Wunden lecken konnte, war übermächtig gewesen.

„Mutter, bist du noch da? Soll ich lieber ein andermal anrufen? Ich störe sicher.“

„Nein, überhaupt nicht. Ich freue mich, von dir zu hören. Ich habe nur gerade an einem provisorischen Einrichtungsplan für mein Geschäft gearbeitet“, gab sie vor, „aber ich rede viel lieber mit dir.“ Sie hoffte, Megan kaufte ihr die gespielte Munterkeit ab.

„Oh Mutter, ich hatte gehofft, du würdest deine Geschäftspläne aufgeben. Ich weiß, du hast zu viel kreative Energie, um zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen, aber muss es unbedingt ein Geschäft sein? Du weißt, wie viel Sorgen wir momentan mit unserer Filiale in New York haben, und Dad und Gabe sind sauer …“

„Neuerdings scheint Jeffrey ständig über irgendetwas sauer zu sein, da kann ich ihm auch gleich einen richtigen Grund liefern. Nicht dass ich einsehen könnte, wie ein Brautgeschäft in San Francisco die geringste Auswirkung auf unsere Filiale an der Fifth Avenue hat, außer in Jeffreys blühender Phantasie. In England oder Frankreich fahren die Bräute vielleicht in die Hauptstädte, um sich für den großen Tag auszustatten, aber hier, in den Staaten, kauft man in seiner Heimatstadt ein. Mein Geschäft wird DeWilde’s keinen Kunden rauben.“

Während Grace sprach, nahm die Idee, ein eigenes Geschäft zu eröffnen, die ursprünglich nur eine Waffe gegen Jeffrey gewesen war, ohne dass ein ernsthafter Plan dahintergesteckt hätte, allmählich Gestalt an. Mit freudiger Erwartung dachte sie an die notwendigen Aktivitäten und Entscheidungen, die die Leere ihres Lebens ausfüllen würden. Sie konnte all die aufregenden Ideen, die der Aufsichtsrat von DeWilde’s abgelehnt hatte, in die Tat umsetzen, und das Geschäft würde den exklusiven Stempel ihrer eigenen Persönlichkeit tragen. Und, zum Kuckuck, sie würde Erfolg haben. Jeffrey mochte sie für alt und unattraktiv halten, aber sie würde ihm beweisen, dass sie immer noch über alle notwendigen Qualitäten verfügte, etwas Erfolgreiches auf die Beine zu stellen.

„Dad wird dir unterstellen, dass du dein Geschäft nur eröffnest, um ihn zu ärgern und DeWilde’s zu schaden. Mutter, ehrlich, wenn du ihn sehen könntest … er ist schrecklich unglücklich, ganz in sich gekehrt …“

„Die Stimmungen und das Verhalten deines Vaters interessieren mich nicht mehr“, sagte Grace und schloss in dem Bemühen, Bilder des leidenden Jeffrey zu unterdrücken, kurz die Augen. „Um ganz offen zu sein, es ist mir gleichgültig, ob Jeffrey meinen Plänen zustimmt oder nicht. Wir leben getrennt und ich habe vor, bald die Scheidung einzureichen.“ Sie war selbst erstaunt über diesen Satz. „Meine zukünftigen geschäftlichen Aktivitäten gehen nur mich etwas an, Meg. Das verstehst du sicher.“

„Wir hatten alle gehofft, dass ihr beide, du und Dad, eure Schwierigkeiten bereinigen könntet …“

Grace war an einem Punkt angelangt, wo sie in dieser Hinsicht keine Hoffnung mehr hegte. „Ich sehe keine Chance für eine Versöhnung, Meg.“

„Aber, Mutter, warum nicht? Was ist passiert? Keiner von uns versteht, was eigentlich los ist. Du und Dad, ihr wirktet immer so glücklich …“

„Ich möchte nicht darüber sprechen“, ihre Stimme brach vor Verzweiflung. „Bitte, Meg, stell mir keine Fragen mehr“, flüsterte sie.

„Nein, natürlich nicht. Mutter, es tut mir leid, ich wollte dich nicht aufregen. Gütiger Himmel, Mom, weinst du?“

„Nein“, log Grace. „Du weißt, ich weine nur, wenn ich glücklich oder schrecklich böse über etwas bin. Reden wir nicht mehr von mir, sondern von dir. Hast du in letzter Zeit etwas Aufregendes erlebt?“

Meg stieß ein kurzes Lachen aus. „Herrjeh, Mom, ich arbeite zu hart, um groß auszugehen. Warte, am Donnerstag bin ich zur Wohltätigkeitsgala für das Kinderkrankenhaus nach London geflogen. Das war seit Monaten meine erste aufregende Verabredung.“

„Ich bin froh, dass du dort warst. War die Gala ein Erfolg?“

„Umwerfend. Die Kritiken für das Stück waren bestens, und wir haben eine Menge Geld für das Krankenhaus eingenommen.“

„Das freut mich sehr. Haben wir unsere …“ Sie brach den Satz ab und begann erneut. „Weißt du, ob die Ziele, die sich das Komitee gesetzt hatte, erreicht wurden? Sie waren ziemlich hoch gesteckt.“

„Wir haben die Summe noch erheblich überschritten. Der Chef des Krankenhauses wandelte nach der Vorstellung völlig benommen vor Glück durch das Foyer. Du hast in Abwesenheit viele Komplimente eingeheimst.“ Mit sanfter Stimme fügte Meg hinzu: „Du wurdest vermisst, Mom, und nicht nur von den Mitgliedern deines Komitees.“

Grace bedauerte, dass sie die Früchte monatelanger Arbeit nicht mehr genießen konnte und einen Galaabend in Gesellschaft ihrer Zwillinge, auf die sie so stolz war, versäumt hatte. Aber sie durfte ihrem alten Leben nicht nachtrauern oder sie lief Gefahr, tatsächlich verrückt zu werden. „Es freut mich, dass es ein Erfolg war. Hast du interessante Leute kennengelernt? Es müssen doch einige Dutzend akzeptable Männer dort gewesen sein.“

Megan seufzte übertrieben: „Das ist nicht zufällig eine deiner üblichen, dezent verschleierten Anfragen nach dem Stand meines Liebeslebens?“

Grace wurde munterer. „Wie hast du das nur erkannt?“, neckte sie. „Ich hielt mich immer für sehr raffiniert.“

„Sicher. Du bist in etwa so raffiniert wie ein Dampfhammer.“

Grace musste jetzt ehrlich lachen. „Okay, ich verzichte jetzt auf die Raffinesse und bitte um schlichte Information. Zugegeben, ich hoffe immer noch zu hören, dass du einen großartigen Mann kennengelernt hast. Und ich hoffe natürlich, dass er sich deiner würdig erweist. Nicht nur um deinetwillen, auch um unseretwillen.“

„Ich weiß, Mom, es juckt dich, meine Hochzeit zu planen. Aber ich warne dich, nach meiner Erfahrung mit Edward bin ich eigentlich keine Kandidatin mehr für eine komplette DeWilde’s – Hochzeit mit allem Drum und Dran.“

„Deine Hochzeit zu planen würde mir Spaß machen, aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich mir wünsche, dass du heiratest.“ Grace lehnte sich im Sofa zurück, zog die Schuhe aus und schlug die Beine unter. Es war angenehm entspannend, sich so in die weichen Kissen zu kuscheln. „Mit den Jahren wird man egoistischer. Dein Vater und ich haben ein Alter erreicht, wo wir schlichtweg eifersüchtig sind auf alle unsere Freunde, die bereits Enkelkinder haben. Wir möchten unsere eigenen Enkelchen verwöhnen.“

Grace erschrak über ihre Ausdrucksweise. Ihr Unterbewusstsein hatte ihr Streiche gespielt. Unbewusst hatte sie so gesprochen, als wären sie und Jeffrey noch ein Paar. Megan, die normalerweise sofort betont hätte, dass der Wunsch der Eltern, Enkelkinder zu knuddeln, kein ausreichender Grund war, sich in die gefährlichen Untiefen einer Ehe zu stürzen, bemerkte das Unbehagen ihrer Mutter, ließ das Thema taktvoll fallen und kam noch einmal auf die Gala zurück.

„Gabe kam mit einer hinreißenden jungen Frau ins Theater. Lange Beine, wunderschönes Haar und ein Bündel an Energie. Alle Männer drehten sich nach ihr um. Du müsstest sie eigentlich kennen. Lianne Beecham. Du hast sie eingestellt.“

„Natürlich. Gabe kam also mit Lianne.“ Grace lachte leise vor sich hin. „Das hätte ich gern gesehen. Als ich die Einstellungsgespräche mit Lianne führte, ging mir durch den Sinn, dass sie genau den Typ Frau verkörpert, der Gabe aus der Reserve locken könnte.“

„Du hast recht“, lachte Megan. „Ich würde sagen, im Augenblick bringt sie ihn um den Verstand.“

„Ich habe Gabe in dieser Woche einige Male auf Band gesprochen. Er hat nicht zurückgerufen. Vermutlich hat er sich entschlossen, meine Anrufe zu ignorieren.“

„Tja, ich fürchte, er ist richtig böse auf dich“, bestätigte Meg nach einer kurzen Pause.

Grace war so mit ihrem eigenen Kummer befasst gewesen, dass sie erst jetzt den notwendigen Abstand fand, die Situation aus dem Blickwinkel ihres Sohnes zu betrachten. „Wir haben immer so eng zusammengearbeitet, dass er sich vermutlich gekränkt fühlt, weil ich ihn nicht eingeweiht habe. Er wird sich hoffentlich fangen, wenn er erkennt, wie schwierig es für Eltern ist, ihre Eheprobleme mit den eigenen Kindern zu besprechen.“

Sie sagte das optimistischer, als sie sich fühlte. Sie konnte nur hoffen, dass das ausgezeichnete Verhältnis, das sie immer zu ihren Kindern gehabt hatte, die Krise mit Jeffrey und die bevorstehende Scheidung überdauerte.

„Ich bin mir sicher, er fängt sich“, pflichtete Megan bei. „Er ist ein vernünftiger Mann und wird irgendwann erkennen, dass er sich wie ein Trottel benimmt. Da ist noch etwas, Mutter.“ Megan hatte sich noch nie verstellen können, und Grace merkte sofort, dass sie nun zum eigentlichen Grund ihres Anrufes kam.

„Wir hatten ein paar kleinere Sicherheitsprobleme hier in der Pariser Filiale“, fuhr Megan fort. „Ich habe den Verdacht, dass jemand aus dem mittleren Management klebrige Finger hat.“

„Du liebe Zeit, wenn man sich mit solchen Dingen befassen muss, ist das immer furchtbar unangenehm.“

„Ja, allerdings. Wir brauchen einen externen Berater, der uns Empfehlungen zur Verbesserung unseres Sicherheitssystems gibt und natürlich den Dieb fängt. Jemand empfahl eine kleine Firma mit Namen Alliance de Securité Internationale. Sie gehört einer gewissen Allison Ames und ich glaube, sie hat vor einigen Monaten für das Londoner Geschäft gearbeitet. Das Projekt, für das ich sie brauche, ist aus offensichtlichen Gründen sehr heikel. Wie du dir denken kannst, wollen wir niemanden beschuldigen, ehe wir seiner Täterschaft nicht absolut sicher sind.“

Grace umfasste den Hörer so fest, dass ihre Finger schmerzten. „Hast du mit deinem Vater über diese Firma gesprochen?“, fragte sie und wunderte sich, dass ihre Stimme überhaupt funktionierte.

„Ja. Er sagte, er könne beruflich nichts über Allison Ames oder ihre Firma sagen. Er erinnerte mich, dass er bei Ryder in Australien war, als sie ihre Arbeit für DeWilde’s in London beendete. Er sagt, er sei ihr nicht begegnet.“

Grace starrte wütend geradeaus. Wenn die Liebe tot war, blieben nur noch Stolz und Selbstachtung. Sie hatte genug geweint, getrauert und ihre Fehler bedauert. Sie wollte kein Mitleid, von niemandem. Sie wollte Rache.

„Mich darfst du nicht fragen“, erwiderte sie scheinbar ruhig. „Meine Aufgabengebiete waren Einkauf und Verkauf. Falls dein Vater nichts über Allison Ames sagen kann, solltest du Freddie Trevelyan fragen. Er ist in London verantwortlich für die Sicherheit und vermutlich auch dafür, dass Miss Ames’ Firma beauftragt worden ist.“

„Dann rede ich mit Freddie“, erwiderte Megan verunsichert.

„Ich persönlich arbeite lieber mit großen Sicherheitsfirmen zusammen. Sicherheit bedeutet heutzutage vor allem High-Tech-Anlagen und dergleichen. In der Regel sind große Firmen damit besser bestückt, und sie verfügen über mehr Experten. Aber Miss Ames ist vielleicht die rühmliche Ausnahme von der Regel, das weiß ich nicht.“

Grace zwang sich, noch einige Nettigkeiten mit ihrer Tochter auszutauschen, ehe sie sich verabschiedete und auflegte. Sie war sich nicht sicher, wer hier wen zum Narren hielt. Megan brauchte wahrscheinlich wirklich einen Sicherheitsberater, aber deshalb hatte sie nicht Allison Ames und die Alliance de Securité erwähnt. Sie war Verkaufsmanagerin in Paris und hatte ebenso wenig mit Sicherheitsfragen zu tun wie sie, Grace, es in London gehabt hatte.

Zornig marschierte sie zwischen Küche und Wohnraum hin und her. Dieser verlogene Jeffrey! Wie konnte er behaupten, Allison Ames nicht zu kennen? Die Tatsache, dass er zu einem solchen Betrug fähig war, ließ sie an den Fundamenten des Vertrauens zweifeln, auf denen ihre zweiunddreißigjährige Ehe scheinbar so sicher geruht hatte.

Sie stürmte ins Schlafzimmer zurück, setzte sich mitten aufs Bett und griff nach dem Telefon. Natürlich war es nicht da, sie hatte noch gar keinen Nachttisch. Gleich morgen würde sie sich einen besorgen. In einer Großstadt wie San Francisco musste es doch irgendwo Nachttische geben, die ihren Ansprüchen genügten. Sie nahm den Apparat vom Boden auf und wählte die Nummer ihrer Londoner Wohnung, ehe sie es sich anders überlegen konnte.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. „Hier spricht Jeffrey DeWilde. Ich kann Ihren Anruf im Moment nicht entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe so schnell wie möglich zurück.“

Sie wusste, dass er da war, spürte geradezu seine Anwesenheit. „Jeffrey, nimm den Hörer ab. Verdammt, Jeffrey, sofort!“

„Ich bin da, Grace.“

Sie schloss die Augen, als sie seine ruhige, vertraute Stimme hörte. Eine Woge des Schmerzes drohte über ihr zusammenzubrechen, doch sie stemmte sich ihr entgegen. „Bist du allein?“

Seine Stimme wurde kälter. „Ja, ich bin allein. Ist das wichtig für dich?“

„Nein. Was mir wichtig ist, ist meine Beziehung zu unseren Kindern. Ich lasse es nicht zu, dass du mich vor ihnen verächtlich machst, wie das derzeit wohl deine Absicht ist.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Grace.“

„Nun, dann muss ich genauer werden. Ich hatte gerade ein langes Telefonat mit Megan. Falls du deiner Geliebten das nächste Mal Arbeit verschaffen willst, dann bitte nicht dort, wo sie in Kontakt mit meinen Kindern kommt. Ich will nicht, dass dein schäbiges kleines Flittchen sich in meine Familie drängt. War das deutlich genug?“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, entschlossen, Jeffrey keinen Schluchzer hören zu lassen. Sie hatte es so satt, weiter von ihren Gefühlen zerrissen zu werden, während Jeffrey sich immer tiefer in seine würdevolle Reserviertheit zurückzog.

„Allison ist kein Flittchen …“ Jeffrey verstummte plötzlich, doch sie hatte sehr wohl bemerkt, wie zornig er versuchte, sie in Schutz zu nehmen. Es brachte sie fast um, zu erkennen, dass Allison Ames schaffte, was ihr nicht mehr gelang: Seine Gefühle aus ihrem derzeitigen Tiefkühlzustand aufzutauen.

„Diese Unterhaltung ist unangemessen und lächerlich“, sagte Jeffrey gespielt gelassen und unterdrückte seinen Zorn. „Aber ich entnehme deinem wilden Ausbruch, dass jemand aus der Pariser Filiale in Betracht gezogen hat, die Dienste der Alliance de Securité in Anspruch zu nehmen. Ich versichere dir, ich habe von dieser Entscheidung weder gewusst noch sie unterstützt.“

„Du bist ja so eine Säule an Rechtschaffenheit, nicht wahr, Jeffrey? Ich frage mich, warum es mir so verdammt schwerfällt, deine Unschuldsbeteuerungen zu glauben.“

„Wenn du weiter nichts Wichtiges zu besprechen hast, würde ich die Unterhaltung gern beenden. Ich habe noch andere Termine.“ Mit leichter Ironie fügte er hinzu: „Du verstehst sicher, dass wir derzeit im Büro etwas unterbesetzt sind.“

„Es erstaunt mich, dass du noch keinen Ersatz für mich eingestellt hast.“

„Ich studiere gerade einige interessante Bewerbungen.“

„Mit Allison Ames, um dir das Bett zu wärmen, und einem neuen Verkaufsdirektor bist du doch fein raus, was?“

„Was erwartest du?“ Erstaunlicherweise brauste er wieder auf. „Ich kann nicht nur dasitzen und grübeln, weil du mich und die Firma im Stich gelassen hast. Obwohl dir Loyalität und Pflichtbewusstsein offenbar nicht viel bedeuten, habe ich eine Verantwortung gegenüber unseren Aktionären und den Mitarbeitern.“

„Ich verstehe nur allzu gut, Jeffrey. Mit dem neuen Geschäft, das ich eröffne, stecke ich bereits knietief in Verantwortung.“

„Was genau soll das heißen?“

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was das heißen sollte. Sie hatte sich nur wieder mal auf eines dieser endlosen, dummen Wortgemetzel eingelassen. „Was hast du denn nicht verstanden, Jeffrey? Ich plane ein Geschäft in San Francisco, das weißt du doch. Natürlich erfordert das verschiedene rechtsverbindliche Verträge und Verhandlungen.“

„Du kannst nicht einfach ein Geschäft eröffnen, Grace. Woher willst du die finanzielle Unterstützung für so ein großes Projekt nehmen?“

„Ich dachte, ich versuche es bei einer Bank“, sagte sie sarkastisch. „Außerdem bin ich mir sicher, dass mir mein Bruder hilfreiche Kontakte herstellen kann.“ Da ihr Bruder, Leland Powell, Präsident einer Gesellschaft mit umfangreichen Immobilien- und Einzelhandelsgeschäften war, klang das durchaus glaubwürdig.

Jeffrey lachte zornig auf. „Dein Bruder ist ein viel zu kluger Kaufmann, um bei der Darlehensaufnahme für ein Geschäft zu helfen, das zum Scheitern verurteilt ist. Du hast weder das kaufmännische noch das Managementwissen, um ein großes neues Geschäft aufzuziehen. Und du hast keine Möglichkeit, das nötige Kapital aufzutreiben.“

Sein hörbarer Zorn förderte nur ihre Entschlossenheit. „Natürlich kann ich Geld auftreiben. Im Notfall kann ich das Startkapital sogar selbst aufbringen.“

„Unmöglich!“

„Keineswegs. Ich werde meine Aktienanteile an DeWilde’s verkaufen.“

Es war ein spontaner Einfall gewesen, den Jeffrey mit langem Schweigen quittierte.

„Die Familienaktien sind in einem Trust festgelegt“, sagte er schließlich.

„Die Familienaktien, das stimmt. Aber meine nicht. Erinnere dich bitte, dein Vater war so begeistert über unsere Eheschließung, dass er mir ein Hochzeitsgeschenk machte, ein Aktienpaket, das sich inzwischen auf fünf Prozent der Gesamtaktien beläuft. Aus Steuergründen wurden meine Aktien nicht im Trust festgelegt. Ich habe vor, sie zu verkaufen und damit mein eigenes Geschäft hier in San Francisco zu finanzieren.“

An diese Aktien hatte sie bis heute nie einen Gedanken verschwendet. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie weder scherzte noch bluffte. Sie hatte die Mittel in der Hand, wieder Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. „In zehn Tagen werde ich meinen Makler bitten, die Aktien für mich auf den Markt zu bringen. Sollte dir eine andere Möglichkeit der Finanzierung meines Geschäftes einfallen, hab keine Scheu, mich anzurufen.“

„Das kann nicht dein Ernst sein!“ Normalerweise hätte sein Zorn sie zurückschrecken lassen. Heute jedoch verpuffte die Wirkung völlig. Zu groß war ihre Wut wegen seines Ehebruchs mit Allison Ames. „Ist das eine Art Erpressung? Soll ich dir Gott weiß was bieten, damit du deine Aktien im Wert von etlichen Millionen Pfund nicht auf den Markt bringst? Du weißt sehr gut, dass der Kurs unserer Aktien gewaltig fällt, wenn du verkaufst.“

Sie freute sich über seine Besorgnis und lächelte. „Genau das wollte ich sagen, Jeffrey. Ich bin mir sicher, das ist eine bedenkliche Aussicht für dich.“

Er begann zu protestieren.

Sie legte auf.

10. KAPITEL

Jeffrey wusste kaum noch, wie Allison Ames aussah. Sie war blond und blauäugig gewesen, schlank und sportlich, aber auf der Straße würde er sie kaum wiedererkennen. Selbst in seiner gegenwärtigen Gefühlsmixtur aus Zorn und trübem Selbstmitleid empfand er es als Gipfel der Ironie, dass er seine Ehe wegen einer Affäre mit einer jungen Frau zerstört hatte, die er jetzt nicht mal mehr wiedererkennen würde.

Er hatte Allison auf einer seiner vielen Geschäftsreisen nach Paris kennengelernt, ein paar Monate nach Graces demütigender Beichte, dass sie ihn nicht aus Liebe, sondern wegen seines Namens, des Vermögens und der gesellschaftlichen Position geheiratet hatte. Ein anderer Mann hätte ihr Geständnis möglicherweise gelassen hingenommen. Er war am Boden zerstört gewesen. Aus seiner Sicht hatte Grace das Fundament ihrer Beziehung ruiniert und ihn bis ins Mark getroffen.

Da er die ersten fünf Jahre seines Lebens ohne Vater aufgewachsen war, obwohl die Mutter stets beteuert hatte, Vater lebe und es gehe ihm gut, war in ihm die tiefverwurzelte Überzeugung gewachsen, dass er es nicht wert sei, geliebt zu werden. Obwohl er später die Zusammenhänge für das Fortbleiben seines Vaters begriff, hatte er diese frühkindliche Angst nie ganz abgelegt.

Später, als er die Universität abschloss und sich einen Ruf als Oxfords begehrtester Junggeselle erwarb, trug sein Erfolg bei Frauen sogar noch zur Bestätigung seiner frühkindlichen Ängste bei. Er war klug und uneitel genug zu erkennen, dass viele Frauen sich vom Namen und Vermögen der DeWildes ebenso angezogen fühlten wie von seiner Person. Als normaler Mann ohne Ambitionen auf einen Heiligenstatus, hatte er seine Chancen genutzt, wo sie sich boten, seine Gefühle jedoch unter Verschluss gehalten.

Grace war ihm wie die rühmliche Ausnahme von der Regel erschienen. Er hatte sie in seinem Examensjahr kennengelernt, als sie sich für ein Semester am Kings College eingeschrieben hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ihre überschäumende Energie, ihr künstlerisches Talent und die Leichtigkeit, mit der sie Freundschaften schloss, hatten ihn überwältigt. Kurz gesagt, sie war all das, was er nicht war. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er gewusst, dass er nie eine andere würde heiraten wollen. Er nahm sie mit nach Kemberly zu seinen Eltern, die ebenso begeistert von ihr waren wie er.

Im Rosengarten von Kemberly hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Grace hatte den Verlobungsring seiner Großmutter, einen Saphir, umgeben von Diamanten, mit Tränen in den Augen angenommen. Danach hatte sie ihn so zärtlich geküsst, dass er es heute noch in seinen Träumen spürte.

Bis zu ihrer verhängnisvollen Beichte am Neujahrsmorgen hatte er nie angezweifelt, dass sie ihn aus Liebe geheiratet hatte. Seit jener Nacht konnte er nicht mehr ruhig schlafen.

Wenn er in Paris war, wohnte er immer im Hotel Bristol, und das Personal gewöhnte sich allmählich an seine mitternächtlichen Ausflüge. In jener Nacht, als er Allison begegnete, hatte man ihm vom Tresen her freundlich grüßend zugenickt, als er um ein Uhr morgens in Trainingshose, Turnschuhen und Parka heruntergekommen war.

Er hatte das Hotel verlassen, um einen raschen Spaziergang durch die Nachbarstraßen zu machen, in der Hoffnung, danach schlafen zu können. Er hatte kaum die Kreuzung zur Rue de la Paix erreicht, als er eine Frau im Jogginganzug auf sich zulaufen sah.

Was für eine verrückte Zeit zum Laufen, dachte er und bewunderte ihre leichten, flüssigen Bewegungen. Gabe und Megan hatten zu den Laufmannschaften ihrer Universitäten gehört. Er hatte einige Übung darin, die Geschwindigkeit einzuschätzen, und diese junge Frau lief im Wettkampftempo. Sie war noch etwa fünfzig Meter entfernt, als sie von einem herannahenden Auto geblendet wurde. Im selben Moment rannte eine Katze aus der Seitenstraße genau vor ihre Füße. Die Katze kam mit dem Schrecken davon, doch Allison fiel längelang auf den Bürgersteig.

Jeffrey war in Sekunden bei ihr. Sie schimpfte beredt in Englisch mit amerikanischem Akzent. Er war erstaunt, denn er hatte sie für eine Einheimische gehalten, da sie sogar im Jogginganzug einen gewissen Pariser Chic hatte.

Erleichtert, weil sie nicht bewusstlos war, stellte er sich vor und bot ihr seine Hilfe an. Sie erklärte, nicht ernstlich verletzt zu sein, rieb sich jedoch den Knöchel, der vermutlich mindestens verstaucht war. Schmutzbedeckt, begann sie zu niesen, weil sie eine Allergie gegen Katzenhaare hatte und schimpfte, dass sie ihren Achtkilometerlauf nicht mehr, wie geplant, in dreißig Minuten schaffen konnte. Jeffrey seufzte, mit so viel Fitness kam er nicht mit. Er überlegte, dass er sie Gabe vorstellen sollte. Sie könnten Marathonstrecken zusammen laufen, außerdem würde er sich vermutlich über ihre deftige Ausdrucksweise amüsieren.

Als er ihr endlich aufhalf, stellte sie sich als Allison Ames vor. Sie erzählte, sie wohne in Monte Carlo, sei jedoch eine Woche bei Freunden in der Stadt.

„Kommen Sie mit in mein Hotel. Wir bitten den Portier, Ihnen ein Taxi zu rufen“, schlug er vor. „Mit dem verknacksten Knöchel können Sie nicht nach Hause laufen.“ Unfähig, seine väterlichen Impulse zu unterdrücken, schalt er sie milde: „Sie können von Glück sagen, dass es nur den Knöchel erwischt hat. Ihnen hätte Schlimmeres zustoßen können. Es ist nicht sicher für eine junge Frau, zu dieser späten Stunde durch Paris zu laufen.“

Sie lächelte ihn an. Rückblickend musste er sagen, dass sie ein schönes Lächeln hatte, mit den perfekt geraden Zähnen, die nur teure amerikanische Zahnärzte hinbekamen.

„Es ist auch nicht sicher, die Einladung eines Mannes in sein Hotel anzunehmen“, konterte sie neckend.

Entsetzt ließ er sofort den Arm sinken, den er automatisch stützend um ihre Taille gelegt hatte, und wich zwei Schritte zurück. „Meine liebe junge Lady, ich versichere Ihnen, dass ich nicht im entferntesten daran gedacht habe, Ihnen etwas auch nur annähernd etwas Unsittliches anzutragen.“ Wie immer, wenn er nervös oder aufgeregt war, wurde sein Vokabular leicht altmodisch, und er sprach gestelzt und viel zu förmlich.

Sie schenkte ihm wieder dieses schöne Lächeln und erwiderte freundlich und selbstsicher: „In diesem Fall nehme ich Ihr Hilfsangebot mit Freuden an. Danke.“

Er war erleichtert, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die aus jeder noch so harmlosen Berührung eine sexuelle Belästigung machten. Dennoch riskierte er es nicht mehr, den Arm um sie zu legen. Er streckte den Arm aus, bot seine Hilfe an, drängte sich jedoch nicht auf. Allison stützte sich bei ihm ab, und so stolperten sie vorwärts. Es war nicht weit zum Hotel, trotzdem kamen sie wegen ihrer Verletzung nur langsam voran. Er hatte ihr erzählt, dass er in London lebe, jedoch häufig geschäftlich in Paris sei. Um die Ehrenhaftigkeit seiner Absichten zu unterstreichen, erwähnte er, dass er verheiratet sei und drei Kinder habe, davon ein Zwillingspaar in ihrem Alter.

Allison hatte nicht viel gesagt, vermutlich, weil sie stärkere Schmerzen hatte, als sie zugeben mochte. Jeffrey bewunderte, mit welchem Gleichmut sie den qualvollen Gang zum Hotel ertrug. Ebenso bewunderte er ihr fließendes Französisch, in dem sie dem Portier ihre bedauerliche Situation erklärte. Guillaume war sehr besorgt gewesen und hatte angeboten, dass Mademoiselle sich vor der Taxifahrt im Puderraum der Damen wieder frisch machen könne.

Als sie von dort zurückkehrte, bemerkte Jeffrey erstaunt, wie attraktiv sie war. Sie hatte sich das schulterlange blonde Haar zurückgebürstet und den Dreck aus dem Gesicht gewaschen, was rosige Wangen und eine makellose Haut zum Vorschein brachte. Außerdem fiel ihm auf, dass ihre Augen strahlend blau waren wie die von Grace. Beim Gedanken an seine Frau schwand sein Lächeln. An sie zu denken, war für ihn immer völlig normal gewesen. Doch seit er die Wahrheit über ihre Gefühle kannte, wollte er nicht, dass sie sich in seine Gedanken drängte.

Mit gallischem Überschwang, den Guillaume für besondere Gäste reservierte, kam er durch die Lobby auf sie zu und erklärte, das bestellte Taxi stehe Mademoiselle jetzt zur Verfügung. Sie dankte ihm, gab dann Jeffrey die Hand und dankte ihm ebenfalls. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt durch ihren bewundernden Blick, den Blick einer Frau, die einen Mann anziehend fand. Als sie das Taxi bestieg, fiel ihm ein, dass sie vermutlich kein Geld bei sich hatte. Er lieh sich zweihundert Franc vom Portier und gab sie ihr.

„Sie wollen doch ihre Freunde nicht aus dem Bett klingeln“, argumentierte er, als sie sich weigerte, das Geld anzunehmen. „Bitte, ich bestehe darauf, dass Sie es nehmen. Spenden Sie den Betrag irgendeiner wohltätigen Organisation, falls Sie das Gefühl haben, es zurückzahlen zu müssen.“

Später fragte er sich, ob es dieses harmlose Geschenk von zweihundert Franc gewesen war, das alles Weitere auslöste. Hätte Allison ihn angerufen und am nächsten Tag zum Essen eingeladen, wenn sie sich nicht in seiner Schuld gefühlt hätte? Wäre er klug genug gewesen, abzulehnen, wenn er sich nicht eingeredet hätte, sie versuche lediglich, ihren Dank für das Darlehen abzustatten?

Jedenfalls hatte er die Einladung ins La Lune Ascendante in Monmartre angenommen und hatte sich gesagt, dass er die Maßstäbe der Sechziger nicht auf die Neunziger übertragen dürfe. Ihn zum Essen einzuladen, war reine Höflichkeit von ihr. Schließlich war sie jünger als Gabe und Megan und sah in ihm zweifellos nur eine Vaterfigur. Er sollte keine sexuellen Unterströmungen vermuten, wo es keine gab.

Aus den Ruinen seiner zerstörten Ehe zurückblickend, musste er jedoch zugeben, dass er, hätte es die zweihundert Franc nicht gegeben, einen anderen Vorwand gesucht hätte, Allison wiederzusehen. Tatsache war, er war reif gewesen für eine Affäre. Seine Ehe war reines Ödland geworden. Sein Ego war tief verletzt. Das Sexualleben, einst unglaublich schöner Teil ihrer Beziehung, existierte nicht mehr. Während der ersten beiden Monate des neuen Jahres hatte er kaum mit Grace geschlafen, obwohl er sie nach wie vor begehrte. Den endgültigen Schock hatte er ein paar Wochen vor seiner Begegnung mit Allison erlebt, als er mit Grace schlafen wollte und es nicht konnte. „Vorübergehende“ Impotenz war nichts, was ein fünfundfünfzigjähriger Mann auf die leichte Schulter nahm, zumal immer die Angst bestand, dass aus „vorübergehend“ dauerhaft wurde. Er schrieb seine Unfähigkeit der langen Liste von Sünden zu, die er Grace anlastete.

Bei Allison hatte er das Gefühl gehabt, jung, potent und begehrenswert zu sein. Außerdem verursachte sie ihm aber schreckliche Schuldgefühle, obwohl er annahm, dass sie zu den jungen Frauen gehörte, die häufig wechselnde Affären hatten. Nach zwei Monaten heimlicher Wochenenden in Paris und mittwöchlicher Treffs in verschiedenen diskreten Londoner Hotels merkte er, dass er sich geirrt hatte. Sie hatte keineswegs häufig wechselnde Affären und schon gar nicht mit verheirateten Männern. Erschrocken hatte er sofort Schritte unternommen, ihre Beziehung zu beenden. Zumal er erkennen musste, dass Allison glaubte, sich in ihn zu verlieben.

Seltsam, überlegte er, dass Allison vor allem deshalb so anziehend auf ihn gewirkt hatte, weil er angenommen hatte, sie mache sich nicht sonderlich viel aus ihm. Es war das genaue Gegenteil dessen, was er von seiner Beziehung zu Grace verlangte. Das einzige, was er zu seinen Gunsten sagen konnte, war, dass er die Beziehung sofort abgebrochen hatte, als er merkte, dass Allison ihm aufrichtige Gefühle entgegenbrachte. Er machte ihr sogar klar, dass er ein herzloser, untreuer Bastard sei, der sie nicht verdiene.

Die bittere Ironie war, dass Grace den Namen seiner Geliebten und die Orte ihres Treffens genau an dem Wochenende herausfand, an dem er die Affäre beendete. Sie war außer sich gewesen über seinen Ehebruch, war weinend durch die Wohnung gewirbelt und hatte Gegenstände nach ihm geworfen.

Er war, wie immer, verstummt, unfähig, ihr zu erklären, wie er auf den schlüpfrigen Pfad geraten war, der zu seiner Untreue geführt hatte. Je lauter Grace tobte, je mehr hatte er sich in sich zurückgezogen. Bis zu jenem entsetzlichen Moment, als seine Selbstbeherrschung versagte und er sie anschrie, er wolle sie nie wiedersehen.

Was zu der absolut absurden Situation führte, dass Grace ihn genau in der Woche verließ, als er den Kontakt zu Allison abbrach, um reumütig zu seiner Frau zurückzukehren und sie um Verzeihung zu bitten. Zudem verließ Grace ihn auch noch auf sein Verlangen hin.

Die Götter mussten sich über ihn scheckig lachen.

Die Konferenz, die er heute Morgen mit seinen Topmanagern abgehalten hatte, war erstaunlich produktiv gewesen. Jeffrey steckte den Kopf in Monicas Büro und verabschiedete sich zu einem raschen Lunch.

Zehn Tage waren vergangen, und sein Aktienmakler hatte ihm mitgeteilt, es gäbe bisher keine Anzeichen dafür, dass ein großes Paket DeWilde-Aktien auf dem Markt sei. Diese Auskunft beruhigte ihn nicht sonderlich. Bestenfalls konnte sie bedeuten, dass Grace vorerst kein Kapital benötigte, schlimmstenfalls, dass sie ihn durch Ungewissheit quälen wollte.

Er konnte nicht einschätzen, wie feindselig Graces Gefühl ihm gegenüber waren. Ein Anwalt aus San Francisco hatte ihm kürzlich einen dreiseitigen Brief geschickt, sehr knapp, sehr deutlich und sehr amerikanisch, in dem er die Bedingungen einer schnellen Scheidung nach dem Recht des Staates Nevada skizzierte, die Grace ihm anbot. Er hatte Ramsbotham den Brief noch nicht gezeigt, es war ihm zu peinlich gewesen. Allerdings brauchte er keinen Anwalt, um die Bedingungen zu interpretieren. Grace war offenbar bereit, ihm Kemberly und ein Hemd zu lassen, vielleicht noch ein oder zwei Paar Socken. Alles andere, einschließlich der Londoner Wohnung, sollte ihr gehören.

In gewisser Weise war der Brief jedoch ein Segen gewesen. Endlich konnte er aufhören, sich vorzumachen, Gracie käme morgen nach Hause. Die Erkenntnis, dass sie fort und die Firma in Gefahr war, hatte ihm endgültig die Energie gegeben, vor den leitenden Angestellten das Scheitern seiner Ehe einzugestehen. Er hatte ihnen offen erklärt, dass Grace ihr Aktienpaket als Waffe in den Scheidungsverhandlungen einzusetzen gedachte oder als Pfand, um Kapital zur Finanzierung ihrer Geschäftspläne aufzubringen.

Gabe war außer sich gewesen über seine Mutter. Jeffrey merkte, dass er keine bessere Taktik hätte anwenden können, wenn es seine Absicht gewesen wäre, den Sohn der Mutter zu entfremden. Doch seine Bitterkeit hatte sein Gefühl für Anstand noch nicht so weit untergraben, dass er die Beziehung zwischen Mutter und Kindern vergiften wollte. Grace war immer eine wunderbare, liebevolle Mutter gewesen, und es schmerzte ihn sogar, dass Gabe so vollkommen seine Partei ergriff und die Schuld am Scheitern ihrer Ehe ausschließlich Grace zuschob.

Die übrigen Mitglieder des Managements hatten die Sache naturgemäß weniger persönlich genommen. Erstaunlich rasch waren sie mit Vorschlägen gekommen, wie die Position der Gesellschaft am Markt zu stärken und ein möglicher Aktienkursverfall zu begrenzen sei.

Monica bereitete eine Konferenzschaltung mit Sloan DeWilde in New York und Ryder Blake in Sydney vor, damit er sie über die neuesten Entwicklungen unterrichten und ihre Meinungen zu einigen Vorschlägen einholen konnte. Alles in allem fand Jeffrey, dass es einer der produktivsten Tage seit Graces Fortgang gewesen war. Da er endlich akzeptiert hatte, dass sie nicht zurückkehrte, konnte er aufhören, sich in Selbstmitleid zu suhlen und unternehmerische Entscheidungen treffen.

Ein Energieschub durchfuhr ihn, und er hatte plötzlich keine Lust mehr, in einem überfüllten Restaurant bei einem Essen zu sitzen, auf das er eigentlich keinen Appetit hatte. Nach einer Woche Regen war endlich die Sonne herausgekommen, und so entschloss er sich zu einem Spaziergang die Bond Street entlang, um die Auslagen einiger Konkurrenten zu begutachten.

Er hatte die Hälfte der Arkaden hinter sich gebracht, als er eine junge Frau entdeckte, die die Auslagen von Asprey bestaunte, einem der ältesten und angesehensten Juweliere Londons. Zuerst erkannte er ihr nussbraunes Haar, ehe ihm wirklich klar wurde, wer da stand. Seit jenem Abend, als sie Gabe ins Theater begleitet hatte, war ihm ihre Anwesenheit im Büro mehr und positiv aufgefallen. Er freute sich über den gelegentlichen Austausch einiger freundlicher Worte mit ihr. Sie gehörte zu jenen sonnigen Gemütern, die immer etwas Fröhliches oder Interessantes zu sagen hatten.

Sie betrachtete die Auslagen mit der ihr eigenen lebhaften Intensität, fast so, als blicke sie mit ihrem ganzen Körper und nicht bloß mit den Augen. Sie nahm ihre Umgebung gar nicht wahr, und er hätte ohne weiteres unbemerkt vorbeigehen können. Zu seiner eigenen Überraschung ging er jedoch hinüber und stellte sich neben sie.

„Was bewundern Sie da?“, fragte er, ohne zu grüßen. „Die Schwanenbrosche? Sie ist hervorragend gearbeitet.“

„Nicht die Brosche“, erwiderte sie geistesabwesend und so befangen in ihrer Betrachtung, dass sie seine Gegenwart als etwas völlig Selbstverständliches hinnahm, fast so, als wären sie verabredet gewesen. „Schauen Sie sich mal das Design dieser Smaragd- und Diamantenkette dort auf der Seite an. Und jetzt stellen Sie sich das dreimal vergrößert vor und um kleine Seidenorchideen geschlungen. Wäre das nicht ein ideales Brautkrönchen für eine Frau in den Dreißigern, die etwas Romantisches für ihre Hochzeit sucht, das nicht so aussieht, als hätte sich der Designer bei seinem Entwurf eine achtzehnjährige Debütantin vorgestellt?“

Er betrachtete die Kette, und sein geschultes Auge erkannte sofort die hervorragende Juwelierarbeit und das schöne Design. Seine Phantasie versagte jedoch, wenn er sich die Steine dreifach vergrößert, in Kristall gearbeitet und um Seidenorchideen geschlungen, vorstellen sollte. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, erwiderte er, amüsiert über seine Unfähigkeit. „Ich fürchte, mein kreatives Talent bleibt selbst unter dem stärksten Mikroskop unsichtbar.“

Lianne drehte sich zu ihm um und bemerkte erst jetzt, wer neben ihr stand. „Mr. DeWilde!“ Sie lächelte ihn an und freute sich offenbar aufrichtig, ihn zu sehen. „Tut mir leid, ich habe nur am Rande wahrgenommen, dass jemand neben mir stand. In meiner Kollektion fehlen noch zwei aufregende Stücke für ältere Bräute, und meine Suche nach Anregungen, um diese Lücke zu füllen, entwickelt sich langsam zur Besessenheit.“

Jeffrey erwiderte ihr Lächeln. Er vermutete, dass Lianne zu der Sorte Mensch gehörte, deren Lächeln immer erwidert wurde. Er verdrängte den Gedanken an Grace, die einzige andere Frau, die er kannte, mit der Fähigkeit, durch ihre bloße Anwesenheit alles freundlicher erscheinen zu lassen. Er räusperte sich und sagte: „So erfreut ich bin, eine meiner Angestellten zu treffen und zu sehen, dass sie auch während ihrer Mittagspause arbeitet, könnte ich Sie von Ihrer Inspirationssuche weglocken, um einen Cappuccino mit mir zu trinken? Es gibt eine ausgezeichnete Kaffeebar etwa fünf Gehminuten von hier.“

„Gerne, ich bin geradezu kaffeesüchtig. Danke.“ Genau wie Grace wirkte sie begeistert, ohne überschwänglich zu sein.

„Hat Ihnen die Aufführung von Richard II. gefallen?“, erkundigte er sich, als sie nebeneinander hergingen. „Ich muss gestehen, mir hat es sehr zugesagt. Gute Regiearbeit von Sir Tony.“

„Ja, es hat mir auch sehr gefallen. Ich liebe Shakespeares historische Stücke. Ehrlich gesagt, gefallen sie mir viel besser als die Tragödien.“

„Haben Sie eine Ahnung, woran das liegt?“

Sie zog die Stirn in Falten. „Vermutlich, weil die Geschichten handlungsorientiert sind, was mir sehr entgegenkommt. Ich komme nicht gut mit Zögern und Unentschlossenheit zurecht, worauf Tragödien ja meistens basieren. Mitten in Hamlets x-tem Monolog, was er nun tun solle, überkommt mich immer der unstillbare Drang loszuschreien, er solle endlich mit der Nabelschau aufhören und mit seinem Leben weitermachen.“

Jeffrey lachte: „Der Punkt geht an Sie. Aber wenn das so ist, wundert es mich, dass sie Richard II. mögen. Er ist nicht gerade ein Musterbeispiel an entschlossenem Handeln.“

„Ach, ich weiß nicht. Ich habe nichts dagegen, mit Charakteren zu leiden, die echte Probleme haben. Richard erscheint mir nobel und ehrenwert, von allen Seiten betrogen von Männern, die zu dickschädelig und unsensibel sind, die Fallgruben zu erkennen, die vor ihnen liegen. Henry Bolingbroke hat einen Tunnelblick, also prescht er einfach vor und überreitet natürlich auch noch erfolgreich die Fallgruben, von deren Existenz er gar nichts weiß. Zu allem Überfluss gewinnt seine Seite dann auch noch, verdammt.“

„Wahrscheinlich war das ein Glück für England“, gab Jeffrey DeWilde schmunzelnd zu bedenken. „Henry wurde ein großer König.“

„Und Richard war nicht brutal genug, mit all den streitenden Edelleuten fertig zu werden, richtig?“ Sie machte ein trauriges Gesicht und versenkte sich gedanklich einen Augenblick in das Schicksal von Menschen, die seit ungefähr sechshundert Jahren tot waren. „Keiner kann uns besser als Shakespeare erinnern, dass das Leben oft ungerecht ist.“

„Und ein ständiger Kuddelmuddel“, stimmte Jeffrey zu und öffnete ihr die Tür zur Kaffeebar. „Da wären wir“, fügte er hinzu.

Lianne hielt noch einmal kurz inne und roch am Stand eines Straßenhändlers an einem Veilchenstrauß. „Ich liebe den Frühling in London“, sagte sie, als sie sich an einen Tisch beim Fenster setzten. „An einem Tag wie heute leide ich unter der besten Form von Amnesie und vergesse vollkommen, wie ich diese trüben, feuchten Wochen im Februar und März verabscheut habe.“

„London ist zweifellos schön um diese Jahreszeit, aber auf dem Land ist es noch schöner. Ich wollte dieses Wochenende nach Kemberly fahren. Warum schließen Sie sich mir nicht einfach an? Ich bin zwar kein Gärtner, aber sogar ich kann Ihnen sagen, dass die Gärten von Kemberly im Augenblick hinreißend aussehen. Ich frage Gabe, ob er Sie fahren kann?“

Kaum hatte er die Einladung ausgesprochen, da fragte Jeffrey sich schon, ob er noch ganz bei Verstand war. Dieses Wochenende nach Kemberly fahren? Woher stammte bloß die Idee? Noch vor kurzem war er überzeugt gewesen, Kemberly nie wieder besuchen zu können, weil die Erinnerung an Grace dort unerträglich war.

Er fragte sich, an welchem Punkt er erkannt hatte, dass der Schmerz, den er in sich trug, ihn überallhin begleiten würde. Was bedeutete, dass ein Wochenende in Kemberly ihn nicht mehr und nicht weniger belastete als ein Wochenende anderswo.

Einmal abgesehen von seinen persönlichen Problemen, war er keineswegs sicher, warum er sich plötzlich bemüßigt fühlte, sich in Gabes Privatleben einzumischen. Nachdem er sich fünfundzwanzig Jahre lang strikt geweigert hatte, Einfluss auf das Liebesleben seiner Kinder zu nehmen – eine Haltung, die damals begann, als Gabe seine Zuneigung zu einer Kindergartenfreundin dadurch kundtat, dass er ihr ständig die Buntstifte klaute – schien dies kaum der geeignete Moment zu sein, den Kuppler zu spielen. Er war nun tatsächlich der letzte Mensch auf Erden, der sich einbilden durfte, zu verstehen, was zwei Menschen zu idealen Partnern füreinander machte.

Nur aus dem Umstand, dass Gabe wie ein hungriger, zu früh aus dem Winterschlaf aufgeweckter Bär durch die Flure der Firma stapfte, konnte er für sich nicht das Recht herleiten einzugreifen. Wenn Gabe mit Lianne zusammensein wollte, war er vermutlich selbst imstande, das zu arrangieren.

Ihre Cappuccinos wurden serviert, und Lianne rührte den Milchschaum in ihrer Tasse mit deutlich mehr Konzentration um, als die Aufgabe erfordert hätte. Jeffrey, dessen Sensibilität gegenüber den Gefühlen anderer Menschen weitaus besser entwickelt war als seine Fähigkeit, die eigenen auszudrücken, spürte, dass er sie mit seiner Einladung in eine Zwickmühle gebracht hatte. Als Lianne schließlich den Blick von ihrem Cappuccino hob, bemerkte er, dass ihre Wangen leicht gerötet waren.

„Danke für die Einladung, Mr. DeWilde, aber ich bin nicht sicher, ob ich annehmen sollte. Ich bin gern mit Gabe zusammen und er mit mir, aber ich glaube kaum, dass er mich gern mit nach Kemberly nimmt. Ich denke, er würde meine Anwesenheit dort als sehr … störend empfinden.“

Jeffrey glaubte, diese rätselhafte Antwort ziemlich gut interpretieren zu können. Vermutlich bedeutete sie, dass Gabe zwar gern mit Lianne schlief, jedoch keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er weder an Ehe noch an Bindung dachte und auch nicht vorhatte, sie in seine Familie einzuführen. Mein Sohn, überlegte Jeffrey, ist ein Dummkopf.

Er stellte seine Tasse ab. „Meine Liebe, nicht Gabe spricht diese Einladung aus, sondern ich. Unverblümt gesagt, wir bitten Gabe lediglich, den Chauffeur zu spielen.“

Daraufhin lächelte sie schwach. „Nun, wenn Sie es so sehen, wie könnte ich da ablehnen? Danke, Mr. DeWilde. Ich nehme Ihre Einladung, übers Wochenende nach Kemberly zu kommen, sehr gern an.“

11. KAPITEL

Ich hätte Gabe nie sagen sollen, dass ich ihn liebe, dachte Lianne und betrachtete aus dem Autofenster die vorbeihuschenden Hecken, ohne sie wirklich zu sehen. Obwohl sie es vermieden hatte, den Fehler zu wiederholen, war der Schaden angerichtet. Gabe hatte am Abend nach der Gala schon nichts von ihren Gefühlen hören wollen und heute, zwei Wochen später, wollte er das erst recht nicht. Leider war sie, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, so aufgewühlt gewesen von dem beglückenden Erlebnis, dass sie alle Vorsicht außer Acht gelassen hatte. Die schicksalhaften Worte waren ihr herausgerutscht, ehe sie sie zurückhalten konnte. Sei’s drum, auch wenn es unklug gewesen war, ihre Gefühle zu bekennen, sie entsprachen der Wahrheit.

Verstohlen warf sie einen Blick auf Gabes ernstes Profil und seufzte. Ihr eigenes Gesicht kam ihr oft wie ein Monitor vor, auf dem sich alle Empfindungen deutlich darstellten. Es war geradezu ein Fenster in ihr Herz. Gabe hingegen war ein Meister des kontrollierten, nichts verratenden Mienenspiels. Allerdings entlarvte ihn sein betont ausdrucksloses Gesicht auch. Es verriet, dass er Gefühle vor ihr verbarg. Etwas, das sie sehr verletzend fand.

Sie verstand nicht genau, was Gabe an ihrer Beziehung so störte. Mit Sicherheit ging seine Weigerung, die gegenseitige Anziehung zu gestehen, jedoch weit über das übliche Zögern eines begehrten Junggesellen hinaus, seine Freiheit aufzugeben. Aus irgendeinem Grund misstraute Gabe den Gefühlen, die sie einander entgegenbrachten. Manchmal hatte sie den Eindruck, er wehrte sich geradezu dagegen, dass sich aus ihrer Affäre so etwas wie eine dauerhafte Bindung entwickelte.

Während der letzten beiden Wochen hatten sich die Grenzen ihrer Beziehung kaum verschoben. Als Gabe sie am Abend der Gala von seiner Wohnung heimfahren wollte, hatten sie entdeckt, dass sein Wagen aus dem Parkverbot vor seinem Haus abgeschleppt worden war. Leise schimpfend – und Lianne musste zugeben, dass er sich angesichts der Situation in seinen Formulierungen sehr zurückhielt – hatte er schließlich ein Taxi bestellt, um sie heimbringen zu lassen. Als sie einsteigen wollte, hatte er sie noch einmal in die Arme geschlossen und ihr zugeflüstert, wie wichtig ihm diese gemeinsame Nacht gewesen war.

Sie glaubte, dass er es ehrlich gemeint hatte. Doch von dem Moment bis heute hatte er nie wieder über seine Gefühle gesprochen oder sich dazu geäußert, wie er sich die Entwicklung ihrer Beziehung weiter vorstellte. Ihre häufigen Verabredungen vollzogen sich nach einem starren, von Gabe bestimmten Muster. Meistens gingen sie irgendwohin aus, wo sie von vielen Menschen umgeben waren. Diese Abende gipfelten in der Regel in heißen Liebesnächten.

Zweimal lud er sie ins Theater ein, und einmal bat er sie, ihn zur Ausstellungseröffnung bei einem befreundeten Galeristen zu begleiten. Einmal hatte er sie mit in eines der seltenen Konzerte von Enya genommen, für das Karten kaum zu haben waren, und zweimal hatte sie ihn zu Wohltätigkeitsbanketts begleitet, deren Erlös für den Erhalt historischer Gebäude verwendet wurde. Sie hatte ihn geneckt, er wolle offenbar alle Wohn- und Geschäftshäuser Englands hinter nachgemachten georgianischen Fassaden verschwinden lassen. Er hatte nur leicht beschämt gegrinst und gemeint, jeder habe ein Recht auf seine Exzentrik.

Lianne fragte sich, woran es wohl lag, dass man, sofern man verliebt war, auch die Macken eines Menschen mochte. Es hatte sie gefreut, dass Gabe, der oberflächlich betrachtet, geradezu der Prototyp des kultivierten Weltbürgers war, eine stille, sentimentale Liebe zu kleinen reedgedeckten Cottages und Dorfgärten voller Malven und Löwenmäulchen hegte.

Verglichen mit ihrer ersten, denkwürdigen Verabredung musste Lianne jedoch zugeben, dass ihre Beziehung winzige Fortschritte machte. Gabe blickte sie nicht mehr den ganzen Abend finster an, als drohe er ihr regelrecht, sich nur ja zu amüsieren, sondern freute sich inzwischen offensichtlich über ihre Gegenwart und die Leichtigkeit, mit der sie sich in den Kreis seiner Freunde eingliederte.

Trotzdem entging ihr nicht, dass er sie nie zu einem Abend in seine Wohnung einlud, um zu zweit allein zu sein und nur ein bisschen zu faulenzen. Auch hatte er stets Ausflüchte parat, wenn sie einen Sonntagmorgen im Zoo oder einen Bummel durch das Victoria und Albert Museum oder irgendeinen anderen informellen Ausflug vorschlug, der vorausgesetzt hätte, dass nur sie beide sich miteinander abgaben.

Dieses Wochenende hatte sich nach dem typischen Muster entwickelt. Schon einige Tage, bevor sie von Jeffrey DeWilde nach Kemberly eingeladen worden war, hatte sie erfahren, dass Julia das Wochenende bei der Familie ihres Bruders verbringen würde. Sie hatte die Abwesenheit der Freundin genutzt und Gabe zu sich eingeladen. Sie hatte vorgeschlagen, sich ein paar chinesische Gerichte bringen zu lassen und anschließend einige Videofilme anzusehen.

„Ich überlasse dir sogar die Tüte mit Popcorn, die gerade mit dem letzten Carepaket meiner Mutter aus den Staaten gekommen ist“, hatte sie geneckt. „Da du viele Jahre in Amerika verbracht hast, musst du wissen, dass ein Film ohne Popcorn gar kein richtiger Film ist, und ich kann dir sogar das Original bieten.“

Er hatte gelächelt und zugegeben, dass Popcorn auch den schlechtesten Film fast erträglich machte. Trotzdem hatte er ihre Einladung zu einem Abend allein mit ihr nicht eindeutig angenommen. Lianne konnte sich sehr gut vorstellen, wie es mit dem Wochenende weitergegangen wäre, wenn Jeffrey DeWilde nicht die Einladung ausgesprochen hätte. In letzter Minute wäre Gabe irgendein Konzert, eine Dinnerparty oder ein Wohltätigkeitsball eingefallen, an dem er unbedingt teilnehmen musste, und er hätte sie gebeten, ihn zu begleiten. Er hätte sich irgendetwas einfallen lassen, damit er sie an einem unverfänglichen Ort treffen und später mit ihr schlafen konnte, ohne Gefahr zu laufen, in eine Situation zu geraten, in der es zu langen, ruhigen Gesprächen und wirklicher Vertrautheit kam.

Wenn sie Gabes Einstellung zu ihr analysieren müsste, würde sie sagen: Er mag mich, wünschte sich aber, es wäre nicht so.

Die sexuelle Anziehung war bei beiden ungemindert. Lianne begann jedoch immer deutlicher zu spüren, wie unbefriedigend es war, sexuelles Begehren auszuleben, das nicht von gegenseitiger tiefer Liebe begleitet wurde.

Als Gabe heute Morgen in ihre Wohnung gekommen war, um sie abzuholen, hatte er sich nicht mal die Mühe gemacht, sein Verlangen nach ihr zu verbergen. Sobald sie bestätigte, dass Julia übers Wochenende verreist war, nahm er sie in die Arme und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie beide erregt und atemlos waren, als sie sich voneinander lösten.

Schweigend und abwartend hatten sie sich in dem kleinen Flur gegenüber gestanden. Gabe wollte vielleicht nicht wahrhaben, wie belastet ihre Beziehung war. Doch er war kein Narr und spürte mit Sicherheit, dass sie sich verletzt fühlte durch sein Verhalten.

„Wir haben nicht genügend Zeit, uns zu lieben“, sagte Gabe schließlich.

„Nein“, bestätigte sie, ohne jede Überzeugung. Es war eine Sache, sich zu wünschen, ihre Beziehung bestünde aus mehr als gelegentlichem Sex. Eine ganz andere war es, der ungeheuren gegenseitigen Anziehung zu widerstehen. Sie atmete tief durch und bemerkte: „Dein Vater hat uns gebeten, rechtzeitig zum Lunch in Kemberly zu sein. Wir müssen gleich los, wenn wir vor eins noch dort sein wollen.“

Er neigte den Kopf, um sie zu küssen. „Du hast keine Ahnung, wie schnell ich fahren kann.“

Sie drehte das Gesicht weg und wich seinem Mund aus, blieb jedoch in seinen Armen. Das war die typische halbherzige Reaktion, die sie immer bei Gabe an den Tag legte, und die so vollkommen im Widerspruch zu ihrer sonstigen Entschlossenheit stand. „Die Geschwindigkeitsbegrenzungen …“, stammelte sie und war wütend auf sich, dass sie ihn trotz allem begehrte. Genauso wütend war sie auf ihn wegen seiner offenkundigen Überzeugung, sie stünde ihm stets zur Verfügung. „Die Polizei schwärmt samstags morgens geradezu aus.“

Er sah ihr tief in die Augen und versprach: „Ich zahle das Strafmandat.“

Arroganter Kerl, dachte sie zornig und wappnete sich, Nein zu sagen. Sie wusste, sie sollte sich ihm verweigern, bis er bereit war, sie mit Leib und Seele zu nehmen. Doch er hob sie hoch und trug sie in ihr Schlafzimmer, ehe sie die notwendige Entschlossenheit zum Protest aufbrachte.

Fast gequält blickte er auf sie hinab. „Verdammt, Lianne, wie bringst du mich nur jedes Mal dazu?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, erwiderte sie, und zum ersten Mal färbte Bitterkeit ihre Worte.

Er antwortete nicht, sondern sank mit ihr aufs Bett und griff nach den Knöpfen ihrer Jacke, während sie nach dem Reißverschluss seiner Hose langte. Ihr Verlangen steigerte sich so rasch, dass es Lianne schier ängstigte. Wie sollte sie eine Leidenschaft beherrschen, die jedes Mal außer Kontrolle geriet, sobald Gabes Lippen ihre Brüste berührten oder seine Hand zwischen ihre Schenkel glitt. Sie hatte eine solche Heftigkeit der Gefühle noch nicht erlebt, und es machte ihr Angst.

Ihre Vereinigung war wie ein Gefühlsrausch mit einem ekstatischen Höhepunkt. Ihr Körper bäumte sich auf, und sie spürte Gabe sich anspannen, ehe er ein letztes Mal in sie eindrang und die aufgestaute Spannung sich in einem wahren Feuerwerk an Empfindungen löste.

Gabe sank auf sie nieder und schien einige Augenblicke lang die Welt ringsum nicht wahrzunehmen. Lianne drückte den Kopf ins Kissen und kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Sie hatte Gabe soeben geliebt, er hatte lediglich Sex mit ihr gehabt. Sie wusste jedoch nicht, wie lange sie die berauschenden körperlichen Empfindungen noch ertrug, ohne dass Liebe und Zuneigung ihnen eine tiefere Bedeutung gaben.

Gabe brach das Schweigen, das ihre Fahrt begleitete, und holte ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. „Wir sind fast in Kemberly“, erklärte er. „Es liegt auf dem Kamm eines kleinen Hügels, sodass du es gut sehen kannst, sobald wir um die nächste Straßenbiegung kommen.“

„Ich freue mich wirklich darauf, es kennenzulernen“, gestand sie freimütig und verdrängte die unbequemen Gedanken. „Offen gestanden freue ich mich auf das ganze Wochenende.“

Das war keine bloße Höflichkeitsfloskel. Trotz ihres Kummers mit Gabe genoss sie es, ein paar Stunden aus der Stadt herauszukommen. Sie liebte das üppige Grün, das überall spross, seit sie die Autobahn verlassen hatten. Lianne kurbelte das Fenster herunter und sog den Duft von frisch gemähtem Gras ein und den gelegentlich süßlichen Hauch von Silagefutter, mit dem die Milchkühe gefüttert wurden. Sie lebte gern in London, und sie war geradezu begeistert, in der hart umkämpften europäischen Modebranche arbeiten zu können. Doch der wahre Grund, warum sie die Staaten verlassen hatte, war ihre als Kind erworbene Liebe zum englischen Land. Eine Liebe, der sie ein Leben lang treu geblieben war. Ihr geheimer Traum war es, eines Tages ein Haus oder Cottage bewohnen zu können, das einige Zeit vor dem zwanzigsten Jahrhundert erbaut worden war.

Obwohl sie unterstellt hatte, dass Kemberly ein älteres, stilvolles Haus war, überwältigte sie der Anblick, der sich ihnen bot, als sie um die nächste Biegung kamen und Kemberly vor ihnen lag.

Auf einer kleinen Anhöhe stehend, war es im frühen georgianischen Stil erbaut. Die ehemaligen Eigentümer, Barone, waren zu arm und zu liederlich gewesen, sich mit dauernden Modernisierungen abzugeben. Folglich hatte es unbeschadet in seiner ursprünglichen Makellosigkeit die viktorianische Leidenschaft für falsche mittelalterliche Türme überstanden sowie die edwardianische Verrücktheit, imperiale Verschönerungen anzubringen und die Neigung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, ohne Rücksicht auf Ästhetik, Telefonmasten aufzustellen und Elektroleitungen zu ziehen.

Architektonisch einfach gegliedert, scharte sich ein zentraler Teil mit seinen zwei Seitenflügeln um einen Hof. Die handgearbeiteten Coltswoldsteine waren durch Alter leicht verwittert. Große, graziöse Fenster im Queen-Anne-Stil paarten sich mit unpassend breiten elisabethanischen Fensterbänken, auf denen dicht mit Frühlingsblumen bepflanzte Kästen standen. Narzissen und Hyazinthen strahlten geradezu unanständig intensiv, quollen aus ihren Behältern und bildeten sinnliche Farbkleckse vor dem blassgoldenen Stein.

Stufen aus Steinplatten führten durch förmliche, terrassenartig angelegte Grünanlagen. Daran schloss sich eine Rasenfläche in Hanglage an, die bis zu einem geschützten Wäldchen aus Buchen und Platanen reichte. Die Sonne, offenbar entschlossen, Lianne das Haus auf spektakulärste Weise zu präsentieren, erschien über den Baumwipfeln und tauchte den Eingangsportiko in strahlendes Licht. Um dem Zauber den letzten Pfiff zu geben, begann auch noch ein Kuckuck zu rufen und wiederholte seinen Lockruf ein halbes Dutzend Mal, wie um sie willkommen zu heißen.

Lianne betrachtete dieses perfekte Anwesen namens Kemberly, und die Künstlerin in ihr verliebte sich augenblicklich und unwiderruflich. Sprach- und reglos blickte sie geradeaus auf ein malerisches Haus, umgeben von knospenden Blumenrabatten, während ihre übrigen Sinne Geräusche und Gerüche aufnahmen.

Gabe hielt den Wagen inmitten der runden, gepflasterten Zufahrt an. Das schlüpfrige, unebene Kopfsteinpflaster war im Winter vermutlich geradezu lebensgefährlich, jedoch passte es so ideal zu seiner Umgebung, dass Lianne nachfühlen konnte, weshalb die DeWildes es nicht ersetzt hatten.

Gabe stieg aus und kam um den Wagen, ihr die Tür zu öffnen. Diesmal entging ihr, wie sorgfältig er es vermied, sie zu berühren, da ihre Aufmerksamkeit auf das Haus gerichtet war. Gabe war noch damit beschäftigt, ihre Reisetaschen aus dem Kofferraum zu holen, als Jeffrey DeWilde aus dem Haus trat und sie mit einem Lächeln begrüßte, das eine Spur angestrengt wirkte.

„Schön, dass Sie es zum Lunch geschafft haben“, sagte er, gab ihr die Hand und versetzte seinem Sohn einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Mrs. Milton werkelt schon den ganzen Morgen in der Küche herum. Sie ist restlos begeistert, dass wir wieder mal einen Gast haben. Hoffentlich habt ihr beide einen herzhaften Appetit mitgebracht, andernfalls wird sie enttäuscht sein.“

Er vermisst seine Frau, ging es Lianne spontan durch den Sinn. Sie hätte nicht sagen können, wie sie das trotz seiner jovialen Begrüßung erkannt hatte, war jedoch überzeugt, dass ihr Eindruck stimmte. An Wochenenden, wenn seine Einsamkeit nicht durch die Hektik des Büroalltags überspielt wurde, war Graces Fehlen wahrscheinlich besonders schmerzlich für ihn zu spüren. Jeffrey DeWilde wirkte immer so ruhig und selbstsicher, da vergaß man leicht, dass der äußere Schein trügen konnte. Erst seit sie Gabe näher kannte, war ihr klargeworden, dass die Beherrschten mit ihrer ruhigen Fassade oft nur den Tumult der Gefühle im Innern verbargen. Da Jeffrey seine Emotionen besonders tief in sich vergrub war er vermutlich noch aufgewühlter als Gabe.

Er tat ihr leid. Sie wünschte sich, ihn gut genug zu kennen, um ihn einfach tröstend umarmen zu dürfen. Da eine Umarmung nicht in Frage kam, erwiderte sie wenigstens sein Lächeln besonders herzlich.

„Nochmals danke, dass Sie mich dieses Wochenende hierher eingeladen haben“, begann sie. „Kemberly hat mich bereits in seinen Bann geschlagen. Wenn die Inneneinrichtung nur halb so schön ist wie die Außenanlage, haben Sie in mir eine lebenslange Sklavin gewonnen, Mr. DeWilde. Sie brauchen mir nur zu versprechen, dass ich gelegentlich nach Kemberly kommen darf, und jeder Ihrer Wünsche ist mir Befehl.“

Seine Augen, die denen Gabes so sehr glichen, strahlten vor Belustigung. „Gefährliche Worte, Lianne. Ich werde sie mir gewiss merken.“ Er wandte sich an seinen Sohn. „Der Verkehr muss ziemlich dicht gewesen sein, ihr kommt ein bisschen später, als wir erwartet haben.“

Lianne spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, doch Gabe blieb ungerührt. „Wir wurden bei der Abfahrt aufgehalten“, erklärte er beiläufig.

„Aha.“ Jeffreys Augen blitzten noch eine Spur amüsierter. Lianne war ziemlich entsetzt, dass ihre morgendlichen Aktivitäten so leicht zu erraten waren, noch dazu ausgerechnet vom Vater ihres Geliebten. Da sich Jeffreys Stimmung offensichtlich hob, war sie jedoch bereit, die Peinlichkeit zu ertragen. „Mrs. Milton hat beschlossen, dass Lianne das blaue Gästezimmer bekommt“, fügte Jeffrey hinzu.

Gabe lächelte sie schließlich an, und ihr dummes Herz schien vor Freude gleich einen Schlag auszusetzen. „Du solltest dich geehrt fühlen“, sagte er. Zu dritt begannen sie, aufs Haus zuzugehen. Gelegentlich blieben sie stehen, um ein besonders farbenprächtiges Blumenbeet zu bewundern. „Für gewöhnlich muss schon zumindest ein Kabinettminister kommen, ehe die furchtbare Mrs. Milton bereit ist, das blaue Zimmer zu öffnen.“

Jeffrey lachte zustimmend, dann kehrte eine gewisse Leere in seinen Blick zurück. „In den letzten Monaten ist Mrs. M. traurigerweise vieler Gäste beraubt worden, die sie mit ihren Fähigkeiten beeindrucken konnte. Wenn es nach ihr ginge, müsstet ihr an festlich mit altem Porzellan gedeckter Tafel mindestens vier Mahlzeiten am Tag zu euch nehmen.“

Dann ist der Bruch zwischen Jeffrey und Grace also nicht aus heiterem Himmel gekommen, wie Gabe annimmt, überlegte Lianne. In den letzten Monaten war die übliche Routine an Wochenendeinladungen nach Kemberly offenbar schon nicht mehr beibehalten worden. Sie hatte nie daran geglaubt, dass Grace aus einer plötzlichen Laune heraus Familie und Unternehmen verlassen hatte. Jeffreys Worte schienen dies zu bestätigen. Offenbar hatte es schon einige Zeit vor dem endgültigen Bruch Schwierigkeiten in der Ehe gegeben.

„Ich fühle mich natürlich geehrt, dass ich auf Mrs. Miltons Liste bevorzugter Gäste stehe. Aber was ist so Besonderes am blauen Zimmer?“, erkundigte sie sich und hoffte, Jeffrey mit ihrer Frage von traurigen Gedanken abzulenken.

„Wahrscheinlich gar nichts“, lachte er. „Angeblich wurde der Prinzregent nach der Renovierung des Hauses 1826 als erster Gast hierher eingeladen. Er gewann nicht nur beim Whist dreitausend Guineas von seinem Gastgeber, was den armen Baron augenblicklich in Armut stürzte, er amüsierte sich in jener Nacht auch in seinem Schlafzimmer mit der Baronesse, was erhebliche Zweifel daran aufkommen ließ, ob der neun Monate später geborene Erbe tatsächlich ein Abkömmling von Baron Kemberly war oder ein Nebenprodukt des Prinzregenten.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Leider habe ich nie Dokumente gefunden, die diese Legende bestätigten, aber die hiesigen Anwohner behaupten, dass der Prinz der Baronesse während ihrer Nacht der Leidenschaft ein Kompliment wegen der blauen Tapete des Zimmers machte. Seither haben alle Herrinnen von Kemberly jenes Schlafzimmer zu Ehren des Prinzen in Blau gehalten.“

„Was meine Mutter regelmäßig zu dem Hinweis veranlasst, dass der Prinz wohl nicht viel Spaß mit der Baronesse gehabt haben kann, wenn ihm Zeit blieb, einen Kommentar zur Tapete abzugeben“, bemerkte Gabe und hielt plötzlich verärgert inne, weil er seine Mutter in diesem Zusammenhang erwähnt hatte.

Jeffrey sah ihn einen Moment durchdringend an und sagte dann in überraschend einfühlsamem Ton: „Deine Mutter hat mehr als dreißig Jahre in diesem Haus gelebt, Gabe. Die letzten zwanzig war sie Herrin von Kemberly. Es ist praktisch unmöglich, übers Wochenende herzukommen und weder ihren Namen zu nennen, noch sich an ihre frühere Anwesenheit zu erinnern.“

„Nein, natürlich nicht, das ist mir klar“, erwiderte Gabe mit ausdrucksloser Stimme und unbewegter Miene. „Dieses Haus ist voll und ganz Ausdruck der Persönlichkeit meiner Mutter. Sie liebte es.“ Übergangslos fügte er im selben ausdruckslosen Ton hinzu: „Wenn du fertig bist, Lianne, bringe ich dich nach oben.“

„Gute Idee“, bestätigte Jeffrey und maß seinen Sohn mit einem weiteren abschätzenden Blick, entschied sich jedoch, keine persönlichen Kommentare mehr abzugeben. „Aber vielleicht könnten Sie nach dem Essen erst auspacken, Lianne. Mrs. Milton hat irgendetwas Kompliziertes zubereitet und möchte, dass wir so schnell wie möglich zu Tisch gehen.“

Gabe begleitete Lianne pflichtgemäß hinauf, verließ sie jedoch, sobald er ihr das blaue Zimmer gezeigt hatte. Es war genauso hübsch, wie sie es sich vorgestellt hatte, mit eleganten Regencymöbeln, einem Kamin im griechischen Stil und einer hinreißenden Aussicht. Die Fenster lagen an der Rückseite des Hauses, von wo aus der Blick über Wiesen hinab zu einem sich schlängelnden Fluss glitt. Schafe grasten am anderen Flussufer, und in der Ferne konnte sie eine Farm und den Turm einer Dorfkirche erkennen. Der Anblick war so malerisch, es hätte geradezu ein viktorianisches Aquarell mit dem Untertitel „Heimat, süße Heimat“ sein können.

Die idyllische Szenerie wird an diesem Wochenende einiges kompensieren müssen, dachte sie wehmütig, richtete sich rasch das Haar und frischte in dem modernen Bad, das an ihr Zimmer grenzte, ihr Make-up auf. Ihre Anwesenheit hier in Kemberly schien Gabe besonders deutlich zu machen, wie zwiespältig seine Gefühle für sie waren. Es kostete ihn offenbar schon Mühe, bloß höflich zu ihr zu sein. Erst recht war sein Verhalten nicht das eines Liebhabers.

Soviel zu ihrer verrückten geheimen Hoffnung, ihr Besuch in Kemberly könnte ihn dazu bewegen, an so etwas wie dauerhafte Bindung zu denken.

Nach einem Lunch, der so delikat und üppig war wie vorausgesagt, schlug Jeffrey DeWilde einen forschen Rundgang durch die Gärten vor, um die Wirkung von zu viel Stachelbeertorte mit zu viel Sahne abzumildern.

Während sie nebeneinander hergingen, erklärte Jeffrey Lianne die Geschichte des Hauses und dass seine Familie es Mitte der dreißiger Jahre in sehr schlechtem, renovierungsbedürftigem Zustand gekauft hatte.

„Meinen Großeltern blieb kaum genügend Zeit, die wichtigsten Bauarbeiten ausführen zu lassen, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Traurigerweise kamen sie ein paar Monate nach meiner Geburt bei einem Bombenangriff ums Leben. Leider habe ich sie also nicht kennengelernt, obwohl ich hier auf Kemberly geboren bin und hier gelebt habe, bis mein Vater aus dem Krieg heimkehrte.“

„Was war nach dem Krieg?“, fragte Lianne. „Haben Sie danach nicht mehr hier gelebt?“

„Nein“, bestätigte Jeffrey lächelnd. „Mary, meine Mutter, ist eine sehr bemerkenswerte Frau. Sie war die Tochter eines englischen Landedelmannes und hatte die konservativste Erziehung genossen, die sich denken lässt. Man hätte also annehmen können, dass sie geradezu begeistert war von Kemberly, das so ungefähr die Quintessenz des englischen Landherrenhauses darstellt. Man hätte sie sich gut in langen Strickjacken vorstellen können, wie sie mit einem Weidenkörbchen in der Hand durch den Garten geht, um abgeblühte Blumen abzuschneiden, und abends Söckchen für ihre Enkel strickt.“

Diese Beschreibung ließ sogar Gabe leise auflachen. „Du musst meine Großmutter kennenlernen“, sagte er zu Lianne. „Sie ist in den Achtzigern und raucht wie ein Schlot. Dabei bedient sie sich einer dieser langen Zigarettenspitzen à la Marlene Dietrich, und sie hasst das Landleben von ganzem Herzen. Sie behauptet, nur Menschen, die der Liebe Gott mit einem abartigen Sinn für Humor ausgestattet hätte, würden gern in Gemeinschaft mit Kühen und Hühnern leben. Sie hat eine Wohnung in London und ein Apartment an der Park Avenue in Manhattan, und sie überquert den Atlantik nach Lust und Laune.“

„Im Augenblick ist sie in New York“, erklärte Jeffrey und verzog den Mund zu einem Lächeln, als er an seine Mutter dachte. „Sie behauptet: Die besten Schönheitschirurgen gibt es in New York. Sie denkt gerade darüber nach, sich die Nase richten zu lassen.“

„Glücklicherweise“, fügte Gabe hinzu, „hat sie Schwierigkeiten, einen Arzt zu finden, der bereit ist, eine Schönheitsoperation an einer Achtzigjährigen durchzuführen.“

Lianne lachte und freute sich, welch liebevolles Bild die beiden von einer offenbar ungewöhnlichen Frau zeichneten. „Da hatte sie aber Glück, dass ihr Mann nicht darauf bestand, auf dem Land zu leben, oder sie gar zwang, als Herrin von Kemberly zu agieren. Ihr Vater muss ein sehr verständnisvoller Mann gewesen sein“, sagte sie zu Jeffrey.

„Oberflächlich betrachtet passten die beiden überhaupt nicht zusammen“, erzählte er weiter. „Charles, mein Vater, war sehr zielstrebig und arbeitsbesessen und sehr konservativ in Haltung und Erscheinung. Allmählich gelange ich jedoch zu der Überzeugung, dass er tief in seinem Herzen derselbe Rebell war wie meine Großmutter. Nach typisch britischer Manier, zumindest in jenen Tagen, kam ich kurz nach meinem siebten Geburtstag in ein Internat. Danach zogen meine Eltern frohgemut nach London um. Sie kauften sich eine Wohnung in Knightsbridge und lebten ein sehr geselliges, kultiviertes Leben. Außer in den langen Sommerferien, dann zogen sie mir zuliebe wieder nach Kemberly.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Als Grace und ich heirateten, waren meine Eltern begeistert, endlich eine Frau in der Familie zu haben, die liebend gern in Kemberly wohnen wollte. An unserem zehnten Hochzeitstag überschrieben sie uns das Haus formell als Geschenk.“

„Also sind Megan, Kate und ich hier aufgewachsen“, führte Gabe weiter aus und fügte achselzuckend hinzu: „Es ist schon eigenartig, wenn ich darüber nachdenke. Meine Mutter ist Amerikanerin, und mein Vater gehört der ersten Generation seiner Familie an, die in England geboren wurde. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte Wurzeln hier in Kemberly, die Jahrhunderte zurückreichen.“

„Ich kann leicht nachvollziehen, wie so etwas zustande kommt“, sagte Lianne. „Ich bin als Kind so viel herumgereist, dass ich irgendwann gemerkt habe, es sind vor allem Gefühle, die darüber entscheiden, ob man sich an einem Ort zu Hause fühlt. Wie lange man dort gelebt hat, oder wo die Eltern herstammen, spielen dabei weniger eine Rolle.“

Auf dem Rückweg waren sie einen steilen Anstieg hochgekommen. Lianne blieb stehen, um Atem zu schöpfen und blickte hinter sich auf ein Schachbrettmuster aus Feldern und Dorfgebäuden. Gabe blieb mit ihr stehen, und sein Blick folgte ihrem.

„Trotz der Ansichten deiner Großmutter bezüglich Kühen und Hühnern, glaube ich, dass es den meisten Menschen sehr leichtfallen würde, hier Wurzeln zu schlagen“, bemerkte sie. „Man muss nur ein bisschen an der modernen Oberfläche kratzen, und schon kommt der ganze Reichtum der Geschichte Kemberlys zum Vorschein. Ich beneide dich um deine Bindung an dieses Haus, Gabe.“

Wie üblich, hielt er sorgfältig Abstand zu ihr, denn Gabe berührte sie nur aus Leidenschaft, nie in Freundschaft. Doch nachdem sie das gesagt hatte, nahm er plötzlich ihre Hand, führte sie an die Lippen und küsste ihre Fingerspitzen mit so viel Zärtlichkeit, wie sie es noch nie bei ihm erlebt hatte. Sie sah ihn schweigend an, und was sie in seinen Augen zu lesen glaubte, gab ihr neue Hoffnung. Ohne auf seinen Vater zu achten, der einige Schritte voraus war, beugte Gabe den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund.

Jeffrey ging taktvoll weiter, doch Lianne war sich seiner Gegenwart deutlich bewusst und entzog sich zögernd Gabes Zärtlichkeiten. „Wir sollten besser deinen Vater einholen“, sagte sie bewegt. Es störte sie nicht, dass man ihr die Rührung anmerkte. Wenn Gabe ihr zur Leidenschaft auch noch Zärtlichkeit bot, war es endgültig um sie geschehen.

Gabe ließ sie los, nahm jedoch ihre Hand und zog sie unter seinem Arm hindurch. So gingen sie schweigend weiter, und zum ersten Mal empfand sie das Schweigen als angenehm und kameradschaftlich. Der Zauber von Kemberly ist wirklich mächtig, dachte Lianne, wenn er sogar Gabe zärtlich stimmt.

Sie holten Jeffrey ein, als er soeben in die Parkanlagen zurückging. Er stand unter einem Rosenbogen, der in einen tiefer gelegten und von einer Mauer umschlossenen Garten führte. In seiner Mitte befand sich ein von Steinen gesäumter Lilienteich, und an den Rändern waren Rosen gepflanzt.

„Hier habe ich Grace gebeten, mich zu heiraten“, erzählte Jeffrey und ging zu einer der Holzbänke, die so gestellt waren, dass man einen schönen Blick hatte. „Sie hat diesen Garten wiederbelebt. Er war völlig verwahrlost. Einige der Rosen, die sie gerettet hat, sind Sorten aus dem achtzehnten Jahrhundert, die es heute gar nicht mehr gibt.“

„Der Garten ist wunderschön“, bestätigte Lianne. „Aber hier ist überhaupt alles schön.“

„Das ist ausschließlich Graces Werk. Sie hat Kemberly von einem kalten Schuppen in ein richtiges Heim verwandelt.“ Jeffrey räusperte sich und blinzelte rasch. Er deutete auf eine Laube und lenkte die Aufmerksamkeit bewusst von sich ab. „Sie können sich sicher vorstellen, was für ein herrlicher Anblick das im Sommer ist, wenn die Heckenrosen an den Mauern und Rosenbögen blühen. Um diese Jahreszeit zeigen sich natürlich erst die ersten zarten Knospen.“

Gabe schritt unruhig um den Teich herum, die Brauen finster zusammengezogen. Lianne saß neben Jeffrey. Einem Impuls folgend, über den sie nicht weiter nachdachte, streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. „Sie kommt zurück“, tröstete sie leise. „Niemand schafft sich ein so anheimelndes Zuhause wie Kemberly und verlässt es dann. Nicht für immer.“

Gabe stieß einen ungeduldigen Laut aus und warf einen kleinen Stein über die Oberfläche des Lilienteiches. „Meine Mutter hat genau das getan“, widersprach er schroff. „Sie packte und ging, flog nach San Francisco, verließ meinen Vater, Kemberly und alle, die ihr auf ihrer plötzlichen Suche nach Selbstverwirklichung im Weg standen.“

Jeffrey starrte auf die dunkle Erde der Rosenbeete. Langsam schlossen sich seine Finger um Liannes, er akzeptierte den Trost. „Nein“, bekannte er schließlich. „Ganz so war das nicht.“ Er atmete tief durch. „Grace ist gegangen, weil ich sie vertrieben habe.“

Lianne spürte, dass Gabe, der hinter ihr war, geradezu erstarrte vor Verblüffung. Als Sekundenlang niemand sprach, fragte sie vorsichtig: „Könnten Sie Grace nicht bitten zurückzukommen, Mr. DeWilde?“

Jeffrey lächelte traurig. „Nein, das kann ich nicht.“ Er ließ ihre Hand los, wandte sich ihr jedoch zu und sah sie an. „Ich fürchte, ich gehöre zu den Menschen, die nicht sonderlich viel Mut haben. Wie die meisten Feiglinge leide ich unter den Konsequenzen meiner eigenen Ängste. Ich zwang Grace zu gehen, weil ich Angst hatte, sie könnte mir wehtun. Was ungefähr der Amputation des Armes gleichkommt, weil man sich den Finger gequetscht hat.“ Er beobachtete eine Libelle, die sich auf einem Lilienblatt niederließ. Seine Stimme wurde ironischer, als er fortfuhr: „Zu meiner großen Verblüffung stelle ich nun fest, dass ein fehlender Arm mehr schmerzt als ein gequetschter Finger.“

„Ich glaube nicht, dass Sie ein mutloser Mann sind“, widersprach Lianne.

„Danke, Lianne. Aber das liegt wohl eher daran, dass Sie zu den glücklichen Menschen zählen, die immer das Beste in anderen sehen. Früher fand ich das naiv, heute halte ich es für eine große Stärke.“ Er stand auf und wischte einen nicht vorhandenen Fussel von der makellosen Falte seiner Twillhose. Er blickte seinen Sohn an. „In gewisser Weise bist du zu sehr nach mir geraten, Gabe. Mach dich nicht zum Narren, indem du deinen Arm amputierst, nur weil du fürchtest, dass du irgendwann – in vielen Jahren vielleicht – einen gequetschten Finger haben könntest.“

„Was willst du mir damit sagen?“, fragte Gabe gereizt. „Ich war noch nie gut im Rätselraten.“

Jeffrey verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Dann muss ich mich wohl glasklar ausdrücken. Gabe, du benimmst dich derzeit wie ein Volltrottel. Deshalb möchte ich ausdrücklich auf folgendes hinweisen: Du bist nicht ich, und Lianne ist nicht Grace. Falls ihr zwei heiratet, werdet ihr nicht automatisch die Fehler wiederholen, die deine Mutter und ich gemacht haben. Allerdings werdet ihr auch nicht automatisch unsere Erfolge haben.“

Nachdem ihn beide Zuhörer schier mit offenen Mündern anstarrten, nickte Jeffrey Lianne höflich zu und wandte sich zum Gehen. „Ich muss unbedingt noch einige Akten aufarbeiten. Sie müssen mich also bitte entschuldigen. Ich überlasse Sie Gabes Obhut. Das Dinner findet heute Abend um halb acht statt. Ich habe ein paar unserer Nachbarn dazugebeten. Wir sehen uns dann.“ Er ging mit geschmeidigen, energischen Schritten davon, doch die Schultern waren eingezogen, und die Hände hatte er tief in den Taschen seines Tweedjacketts vergraben.

Lianne stand nur da und sah ihm nach, ihre Wangen brannten vor Scham. Gabe trat vor sie hin. Erstaunlicherweise wirkte er weder verärgert noch verlegen, sondern ziemlich belustigt. „Mein Vater hat die ärgerliche Angewohnheit, den Nagel genau auf den Kopf zu treffen.“

„Worauf genau beziehst du dich?“, fragte sie ungewöhnlich scharf. „Darauf, dass er dich einen Volltrottel geschimpft hat?“

„Zum Beispiel.“ Gabe legte ihr die Arme um die Taille und zog sie langsam an sich. „Aber vor allem darauf, dass ich die letzten Wochen vor dir weggelaufen bin, weil ich ein zu großer Feigling war, zu tun, was ich wirklich wollte: Dir sagen, wie sehr ich dich liebe und dich bitten, meine Frau zu werden.“

Lianne schluckte trocken und wandte sich ab. Dass er offenbar augenblicklich vor den Wünschen seines Vaters kapitulierte, machte sie unsicher. „Gabe, du musst das nicht tun. Wir sind nur einen Schritt vom einundzwanzigsten Jahrhundert entfernt. Auf die Gefahr hin, dich zu verblüffen, es ist ungefähr hundert Jahre her, seit pflichtbewusste Söhne einen Heiratsantrag machten, weil ihre Väter das so wollten.“

„Jetzt benimmst du dich aber wie eine Närrin, Lianne. Das ist doch absurd.“ Er zog sie mit auf die Bank, nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. „Natürlich bitte ich dich nicht, meine Frau zu werden, weil mein Vater das gesagt hat. Ich liebe dich bis zum Wahnsinn. Deshalb möchte ich dich heiraten.“

„Bis vor einer Minute hast du nicht das geringste Interesse an einer dauerhaften Bindung bekundet.“

Er zögerte einen Moment, ehe er erwiderte: „Es waren schlimme Wochen für mich. Mit ansehen zu müssen wie die Ehe meiner Eltern zerbrach, war nicht leicht. Ich habe meine Gefühle für dich angezweifelt, weil ich eine scheinbar intakte Ehe vor meinen Augen auseinanderbrechen sah“, gestand er und zuckte verunsichert die Achseln. „Die meiste Zeit habe ich überhaupt nicht mehr gewusst, was ich empfinde. Und irgendwie schien es nie der richtige Zeitpunkt zu sein, über eine dauerhafte Bindung mit dir zu sprechen.“

„Das verstehe ich sogar. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass zwischen uns etwas sehr viel Persönlicheres abläuft als nur eine allgemeine Wiederholung dessen, was deine Eltern erlebt haben. Manchmal, wenn wir zusammen waren, hatte ich das Gefühl, du bemühtest dich geradezu, mich nicht zu mögen. Heute Morgen im Auto beispielsweise. Es war dir irgendwie unangenehm, mich nach Kemberly zu fahren. Ich habe das so deutlich gespürt, als hättest du es laut gesagt.“

„Leider hatte mein Vater nur allzu recht mit dem, was er sagte. Ich hatte wirklich Angst. Es war mir keineswegs unangenehm, dich nach Kemberly zu bringen, ich hatte schlichtweg Angst davor.“

„Aber warum? Wovor hattest du Angst? Ich habe mich nie als einen Menschen betrachtet, der andere einschüchtert.“

Er gestand seufzend: „Ich hatte Angst davor, wie sehr du mich an meine Mutter erinnern würdest. Nicht im Aussehen, aber im Wesen. Du hast ihre Energie, ihre Kreativität und ihre Fähigkeit, das Leben beim Wickel zu packen und das Beste aus ihm zu machen. Ich fürchte, ich bin mehr wie mein Vater. Ich beherrsche meine Gefühle so sehr, dass ich Gefahr laufe, an ihnen zu ersticken. Dich hier zu erleben … zu sehen, wie problemlos du dich hier einfügst …“ Er brach ab und begann erneut: „Mir schien, dass wir durch eine dauerhafte Bindung nur unser Schicksal herausfordern würden, und genauso scheitern müssten wie meine Eltern mit ihrer Ehe. Ich fürchtete, ihre Probleme würden sich bei uns wiederholen, und da sie es nicht geschafft hatten, sie zu lösen, welche Chance hätten wir, es besser zu machen?“

„Und ein paar Worte deines Vaters haben dich plötzlich vom Gegenteil überzeugt? Einfach so?“

Er überhörte ihren sarkastischen Unterton. „Nicht so, wie du denkst. Mein Vater ist gewöhnlich ein sehr diskreter Mann. Ich glaube, er hat nur deshalb einiges über den Bruch seiner Ehe preisgegeben, weil er mir klarmachen wollte, dass ich meine Mutter falsch beurteile. Ich sollte begreifen, dass sie nicht eines Morgens aufwachte und aus einer Laune heraus nach San Francisco abdüste. Da waren wohl eine Menge komplizierter Verwicklungen am Werk, die zur endgültigen Trennung führten.“

„Und weil deine Mutter nicht der schuldige Teil bei der Trennung ist, hältst du es jetzt für sicher, mich zu heiraten? Da sich Grace nicht so verhalten hat, wie du befürchten musstest, traust du mir nun auch zu, eine gute Ehefrau zu werden?“ Lianne bebte geradezu vor Zorn und sprang auf. „Danke für deinen Heiratsantrag, Gabe. Die Antwort ist nein. Ich habe keinerlei Interesse daran, auf irgendeine verdrehte Weise ein Ersatz für deine Mutter zu sein.“

Sie entzog sich ihm und lief aufs Haus zu, doch Gabe holte sie ein und drehte sie zu sich herum. „Lianne, nicht dir habe ich misstraut, sondern mir!“

„Ach ja? Und dein Vater hat dein Selbstvertrauen plötzlich ins Gigantische gesteigert?“, fragte sie mit beißendem Sarkasmus.

„Ja, verdammt, ja! Durch seine Bemerkung habe ich erkannt, dass ich nicht mal den Gedanken ertrage, den Rest meines Lebens ohne dich verbringen zu müssen. Und zur Hölle mit allen Problemen, ob eingebildet oder echt. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe, zum Kuckuck! Weil das Leben mit dir ein farbiges Kaleidoskop ist und ohne dich nur öd und leer.“

„Sehr poetisch, Gabe. Du hast schauspielerische Begabung, aber es ist zu spät für Beteuerungen unendlicher Liebe. Ich will dich nicht heiraten.“

Er drängte sie gegen die Wand, stemmte die Hände beiderseits ihres Körpers auf und hielt sie zwischen seinen Armen gefangen. „Dann lebe ohne Trauschein mit mir zusammen, das ist mir auch egal. Aber versuche nicht, mir weiszumachen, dass du auf das hier verzichten willst.“ Er neigte den Kopf und küsste sie hitzig.

Nein, darauf wollte sie in der Tat nicht verzichten, genauso wenig wie auf Sex. Aber sie wollte keinen Mann heiraten, bloß weil dessen Vater es vorschlug, so wohlmeinend Jeffreys Einmischung auch gewesen sein mochte. „Du hast recht, Gabe. Mit dir zu schlafen ist toll. Wenn du das nächste Mal Bedarf hast, ruf an, ich stehe zur Verfügung. Aber ich werde keine Einladungen in Konzerte, Theater oder zu Wohltätigkeitsveranstaltungen mehr annehmen. Und ganz bestimmt werde ich keine Einladung mehr annehmen, das Wochenende in Kemberly zu verbringen. Lass uns nicht so tun, als bestünde unsere Beziehung aus mehr als rein körperlicher Anziehung.“

Gabe wirkte verwirrt, zornig und verunsichert. Er war geradezu Lichtjahre von seiner üblichen Selbstsicherheit entfernt. „Vor zwei Wochen hast du mir gesagt, dass du mich liebst.“

„Nun ja, manche Dinge sollten besser unausgesprochen bleiben. Oder man sollte sie gleich wieder vergessen, nachdem sie gesagt wurden.“

Er wich etwas zurück, aber nur, um ein blaues Kästchen mit dem berühmten goldenen DeWilde’s-Zeichen auf dem Deckel aus seiner Jackettasche zu holen.

Er reichte es ihr. „Ich habe das am Morgen nach unserer Liebesnacht – nach der Gala – gekauft. Seither trage ich es mit mir herum und versuche den richtigen Zeitpunkt und die richtigen Worte zu finden.“

Da Lianne sich nicht bewegte, nahm er ihre Hand, legte das Kästchen hinein und schloss ihre Finger darum. „Wahrscheinlich ist es zu spät, Lianne. Trotzdem wäre es mir lieb, wenn du das Kästchen öffnen würdest.“

Sie starrte auf das Ringkästchen und mochte ihren Augen kaum trauen. Dieser Kauf konnte nur Gabes eigene Idee gewesen sein und hatte nichts mit dem zu tun, was sein Vater eben gesagt hatte. Sie drückte auf den kleinen goldenen Verschluss, und der Deckel sprang auf.

In einem Samtbett, unterfüttert mit dem traditionellen pfirsichfarbenen Satin, steckte der viktorianische Ring, den sie an ihrem ersten Arbeitstag bei DeWilde’s bewundert hatte.

Langsam zog sie den Ring heraus. Die winzigen Diamanten im Herzen der goldenen Blumen glitzerten im Sonnenlicht. „Woher wusstest du, dass mir dieser Ring gefiel?“, erkundigte sie sich mit bebender Stimme.

„Harry Pierce, der Verkäufer, hat es mir verraten.“ Er räusperte sich und fügte hinzu: „Ich möchte, dass du ihn behältst, Lianne. Ohne jede Verpflichtung natürlich. Er passt wunderbar zu dir, und mir gefällt die Vorstellung, dass du ihn trägst.“

Es war eine herrliche Juwelierarbeit, obwohl dieser Ring vermutlich nicht zu den wertvollsten Stücken bei DeWilde’s gehörte. Liannes Herz quoll schier über vor Zuneigung, als sie beim Betrachten des Ringes daran dachte, dass Gabe so einfühlsam war, etwas auszuwählen, das ihr wirklich gefiel. „Du solltest ihn mir besser anstecken“, bat sie und hielt ihm die linke Hand hin.

Bei dieser Geste hellte sich seine Miene etwas auf. „An welchen Finger?“

„Du hast die Wahl.“

„Das ist einfach“, erwiderte er leise. Er steckte ihr den Verlobungsring an, nahm ihre Hand und presste seine Lippen darauf. „Ich liebe dich, Lianne. Mehr, als ich es ausdrücken kann. Wenn du mich heiratest, verspreche ich dir, dass ich alles tun werde, damit du glücklich wirst.“

Sie berührte den Ring und lächelte Gabe aus tränenfeuchten Augen an. „Ehrlich gesagt, Gabe, hast du dich gerade ziemlich gut ausgedrückt – und mich glücklich gemacht.“

Er erwiderte das Lächeln und wirkte immer noch leicht verlegen. „Nun ja, ich habe gehört, dass man jede Frau mit Diamanten herumkriegt.“

„Oder mit tollem Sex“, neckte sie. „Das solltest du dir für die Zukunft merken.“

Er nahm sie in die Arme und presste sie an sich. „Dann habe ich’s geschafft“, raunte er. „Was glaubst du, wie viele Männer du auftreiben kannst, die dir neben einem privaten Vorrat an Diamanten den besten Sex bieten können?“

„Nicht viele“, räumte sie leise lachend ein. „Ich bin sicher, da kann es nicht viele geben.“

12. KAPITEL

3 Uhr nachmittags: Inspizieren möglicher Büroräume mit Rita Shannon.

Grace trug die Notiz in ihren Kalender ein und warf Handtasche und Autoschlüssel auf den Küchentresen. Rita Shannon war ihre neu eingestellte Assistentin, die sich bereits unentbehrlich machte, eine harte Arbeiterin mit überschüssiger kreativer Energie. Grace wusste die kompetente administrative Hilfe zu schätzen. Sie steckte bis zur Halskrause in Arbeit, Konferenzen, Verhandlungen – und genoss es in vollen Zügen!

Sie schenkte sich ein Glas Eiswasser ein und trank durstig. Mögliche Standorte für ihr neues Geschäft zu inspizieren, war schweißtreibende, ermüdende Arbeit, die sie jedoch ausgesprochen gern tat, obwohl sie in den letzten zehn Tagen ihrem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen war.

Heute hatte man ihr allerdings ein Objekt gezeigt, das ideal gelegen war. Unglücklicherweise war das Gebäude in einem völlig heruntergekommenen Zustand. Mit umfangreichen Renovierungen ließe es sich allerdings zu einem schicken Brautgeschäft umgestalten, wofür es in jedem Fall besser geeignet war, als für das in Konkurs gegangene Fitnessstudio, das es vorher beherbergt hatte. Sie würde morgen ihren Architekten mitnehmen. Er sollte sich die Sache ansehen und überschlagen, wie viel Geld sie aufwenden mussten, um das Haus ordentlich zu sanieren. Sie war entschlossen, sich das Konzept für ihr neues Geschäft nicht durch Knauserigkeit bei den Vorauskosten zu ruinieren.

Sie hörte das Band ihres Anrufbeantworters ab, das voll war mit Mitteilungen dreier verschiedener Immobilienmakler, einem Innenarchitekten, der gerüchteweise von ihren Plänen für ein neues Geschäft gehört hatte, ihrer Bank, ihrem Bruder und sogar von Kate, die ausnahmsweise mal keine Vierundzwanzigstundenschicht hatte, und sich mit ihr zum Dinner treffen wollte.

Grace schrieb sich die Mitteilungen auf und stellte lächelnd fest, dass sie in den nächsten Wochen an jedem Tag mindestens einen Termin hatte. Sie lächelte noch glücklicher, als sie bis September weiterblätterte und die Eintragung in Rot für den 21. las.

Der Hochzeitstag von Gabe und Lianne.

In fast genau drei Monaten war ihr geliebter Gabe ein verheirateter Mann. Unter den vielen Veränderungen, die die Verlobung hervorgebracht hatten, war eine, die an ein kleines Wunder grenzte: Gabe sprach wieder mit ihr. Er hatte sie persönlich angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er und Lianne Beecham verlobt waren. Obwohl von ihm keine weiteren Gesprächsinitiativen ausgegangen waren, hatte er zumindest die beiden Male in den letzten Wochen zurückgerufen, nachdem sie ihm aufs Band gesprochen hatte. Wenn sie ihm doch nur klarmachen könnte, dass ihre Pläne für ein Brautgeschäft in San Francisco keine Auswirkungen auf die Geschäftsinteressen der DeWildes hatten.

Realistischerweise musste sie leider davon ausgehen, dass es ihr nur schrittweise gelingen konnte, Gabe davon zu überzeugen, dass sie nicht vorhatte, den DeWildes Konkurrenz zu machen. Bis dahin brachte sie glücklicherweise jeder Tag jenem Septemberdatum und damit Gabes Hochzeit näher. Es blieb wirklich kaum genügend Zeit, eine Trauung mit anschließendem großem Empfang perfekt zu organisieren. Doch mit harter Arbeit und ein bisschen Kooperation von allen beteiligten Seiten, glaubte sie, etwas Spektakuläres arrangieren zu können, das dem Anlass gerecht wurde.

Wenn es ihre Aufgabe gewesen wäre, eine Frau für Gabe zu suchen, hätte sie keine idealere Partnerin für ihn finden können als Lianne, überlegte sie schmunzelnd. Die Zeremonie, die ihre Eheschließung besiegelte, sollte beiden lebenslang eine schöne Erinnerung sein.

Vor sich hinsummend ging Grace ins Schlafzimmer und streifte ihr modernes Bett, an dessen Kopfteil sich ein integrierter Nachttisch befand, mit einem raschen Blick. Das schreckliche Telefonat mit Jeffrey vergangenen Monat hatte sich letztlich als befreiend erwiesen. Es beendete die Lähmung, die in den ersten Wochen nach der Trennung Besitz von ihr ergriffen hatte. Geradezu in einem Wutanfall hatte sie damals die Wohnung verlassen und ein kleines Vermögen für Mobiliar ausgegeben, das seither fast täglich angeliefert wurde.

Die Erinnerung an das schmerzliche Gespräch mit Jeffrey, das letzte, das sie miteinander geführt hatten – Gabes Verlobung hatte er ihr mit keinem Wort mitgeteilt – war jetzt nur noch eine gelinde Irritation, eine kleine Wunde, die sie problemlos ignorieren konnte. In letzter Zeit schaffte sie es bereits manchmal, stundenlang keinen flüchtigen Gedanken an ihn zu verschwenden. Sie hoffte, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft, entdecken zu können, dass sie einen ganzen Tag nicht an ihn gedacht hatte. Das würde der Tag sein, an dem sie endlich den Mut aufbrachte, die Scheidung einzureichen.

Sie hängte die Leinenjacke über die Lehne des Schaukelstuhles in der Zimmerecke und legte die Ohrringe in einen Keramiktopf auf der Kommode. Da sie fast ihr ganzes Erwachsenenleben von Antiquitäten umgeben gewesen war, hatte sie sich entschieden, mit der Vergangenheit zu brechen und ihr Apartment im neuesten High-Tech-Stil einzurichten. Bisher war nur die Einrichtung des Schlafzimmers komplett geliefert worden, und sie gefiel ihr sehr. Die strahlende Frische ihrer neuen Umgebung lieferte ihr die Inspiration für ein wahres Füllhorn an Ideen für ihr neues Geschäft.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Geschäft bereits in deutlichen Bildern: Ausstellungsbereiche mit viel Glas und poliertem Chrome, gemildert durch intime Ecken und Spezialitätenboutiquen, die in warmen, femininen Farben dekoriert waren, damit Bräute, die ein Kleid probierten, sich sowohl vor einem hypermodernen wie vor einem romantisch intimen Hintergrund sehen konnten.

Oh ja, dachte Grace, schüttelte ihre hochhackigen Sandalen ab und ging zum Bett, mein Geschäft hier in San Francisco wird sofort ein Markenzeichen in der Branche werden. Und es würde nichts, aber auch absolut nichts vom leicht staubigen, antiquierten Charme von DeWilde’s haben. Es würde ausschließlich ihr Konzept sein, ganz Grace und nichts von Jeffrey.

Sie setzte sich im Schneidersitz mitten aufs Bett, streckte einen Arm aus und betätigte einen Knopf der elektronischen Schalttafel, die in den Nachttisch eingebaut war. Im Kopfteil des Bettes öffnete sich ein kleines Fach, und elektronisch gesteuert fuhr ein Bord nach außen, auf dem das Telefon stand. Als es voll ausgefahren war, beleuchtete ein Spotlight die Wähltastatur.

Sie lächelte mit kindlichem Vergnügen, nahm den Hörer auf und fragte sich belustigt, wie ein Möbeldesigner auf die Idee kommen konnte, Kunden würden Geld dafür bezahlen, ihr Telefon auf einem nutzlosen elektronischen Tablett serviert zu bekommen. Zugleich erinnerte sie sich jedoch, wie sie dieser Verlockung erlegen war und wusste, dass sie nie mehr mit einem Telefon auf dem Nachttisch zufrieden sein würde, das nicht sein Geheimfach hatte, in dem es auf Knopfdruck verschwand.

In London war es bereits halb elf Uhr abends, doch Grace nahm an, dass Lianne noch auf war. Sie holte die Liste mit Fragen zur Hochzeit aus der Schublade und wählte Liannes Londoner Wohnung an. Bisher war die Liste deprimierend sauber, von keinem Häkchen verunziert, das die Erledigung einer Aufgabe bedeutet hätte, was, gelinde gesagt, beunruhigend war. Ich muss nach Brautjungfern fragen, dachte Grace und kritzelte eine entsprechende Notiz nieder, während es am anderen Ende der Leitung zu läuten begann. Manchmal war es schwieriger, die richtigen Kleider für die Brautjungfern zu finden als das eigentliche Brautkleid …

„Hallo?“, meldete sich schließlich eine schläfrige, zerstreute Stimme.

„Lianne? Hier ist Grace. Wie geht’s dir, meine Liebe. Hoffentlich habe ich dich nicht aufgeweckt.“

„Grace? Oh wie schön, von dir zu hören. Nein, du hast mich nicht geweckt. Es ist erst … halb elf.“

„Gut. Ich bin froh, dass ich dich erreicht habe. Wir haben so viel zu bereden, und bei dem achtstündigen Zeitunterschied, ist es nicht leicht, dich zu erwischen.“ Grace schlug die ausgestreckten Beine übereinander, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und machte es sich bequem. „Ich bin ganz erpicht darauf, deine Pläne für die Hochzeit zu erfahren. Gabe schien wirklich nichts zu wissen, als ich letzte Woche mit ihm gesprochen habe. Aber Männer sind wohl nie besonders einfallsreich, wenn es um Hochzeitsvorbereitungen geht. Ich erinnere mich, dass Jeffrey absolut nutzlos war, als wir zu entscheiden versuchten …“

Verdammt! Sie hatte ihn heute erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt. Sie verstummte und begann erneut: „Also, kommen wir zuerst zu den wichtigsten Fragen. Habt ihr euch schon entschieden, ob die Trauung in der Stadt oder im All Saints in Kemberly stattfinden soll?“

Es entstand eine längere Pause, ehe Lianne antwortete: „Um ehrlich zu sein, Grace, meine Eltern hielten es für eine gute Idee, wenn Gabe und ich uns in der Unitarischen Kirche in Benton’s Inlet trauen ließen, die sie auch besuchen. Sie mögen den Pastor sehr und glauben, dass wir ihn auch mögen werden.“

„Benton’s Inlet? In Michigan?“ Sobald sie es ausgesprochen hatte, merkte Grace, dass sie Michigan in einem Tonfall sagte, als läge es irgendwo auf halbem Weg zwischen der dunklen Seite des Mondes und dem Planeten Jupiter. „Nun, also, natürlich ist es traditionell so, dass die Familie der Braut entscheidet, wo die Trauung stattfinden soll. Allerdings hat Gabe viele Freunde in London und du sicher auch. Dann gibt es da die vielen Leute, die wir aufgrund ihrer Verbindung zur Firma DeWilde’s einladen sollten …“

„Meine Eltern haben auch viele Freunde.“

Grace atmete tief ein und aus, entsetzt über ihre Taktlosigkeit. „Natürlich, Lianne. Wie gedankenlos von mir. Ich bin sicher, eine Herbsthochzeit in Michigan ist schlichtweg schön. Ich habe kürzlich mit deiner Mutter telefoniert. Sie erzählte mir, dass Benton’s Inlet am Lake Michigan liegt, somit ist es landschaftlich sicher herrlich dort. Und wenn ihr zwei auf dieser Seite des Atlantiks heiraten wollt, wird mich das sehr freuen.“

„Eigentlich haben wir noch nicht genau entschieden, was wir machen“, erwiderte Lianne. „Wie du schon sagtest, die meisten unserer Freunde sind hier in London, aber meine Verwandten leben fast alle in Michigan, und sie möchten natürlich Gäste bei meiner Hochzeit sein. Es kommt hinzu, dass meine Mutter sich Gedanken wegen meiner Großeltern macht. Mein Großvater ist sechsundachtzig und meine Großmutter siebenundachtzig. Mutter fürchtet, dass die Flugreise nach London die beiden überfordert. Wenn ich allerdings darauf bestehe, hier in London zu heiraten, bestehen sie darauf herzufliegen, womit das Dilemma perfekt wäre.“

„Ich verstehe. Aber genau betrachtet, ist es ein recht schönes Dilemma. Ich freue mich, dass deine Großeltern noch leben.“

„Ja, die Mutter meines Vaters lebt auch noch, aber sie ist gesundheitlich besser beieinander als die Eltern meiner Mutter. Ich habe Glück.“ Lianne klang irgendwie abwesend.

„Also, falls ihr in Michigan heiratet, werden die Reisepläne für mich und Kate jedenfalls viel einfacher!“ Grace war entschlossen, die unerwartete Wendung von der positiven Seite zu betrachten.

„Buche bitte noch kein Flugticket“, mahnte Lianne zur Vorsicht. „Gabe und ich diskutieren noch über das Pro und Kontra. Es gibt so vieles dabei zu bedenken.“

Grace biss sich fast auf die Zunge und versagte sich mit heldenhafter Zurückhaltung den Hinweis, dass es Zeit wurde, mit dem Diskutieren aufzuhören und eine Entscheidung in der einen oder anderen Richtung zu treffen, da es nur noch drei Monate bis zur Hochzeit waren. Lianne war ein liebes, süßes Mädchen, aber offenbar unterschätzte sie, gegen welchen Zeitdruck sie arbeiteten. Drei Monate waren kaum ein Augenzwinkern, wenn man eine förmliche große Hochzeit ausrichten wollte. Es wäre sogar fast unmöglich, es in dieser Zeit zu schaffen, wenn sie nicht auf Kontakte der DeWildes oder ihre eigenen in der Branche zurückgreifen könnte.

Solange nicht die Kirche ausgewählt war, konnte sie keinerlei Arrangement hinsichtlich des anschließenden Empfangs treffen. Und solange nicht über den Ablauf des Empfangs entschieden war, konnte sie keinen Lieferanten für das Essen beauftragen. Und ohne den Lieferanten konnte die Menüabfolge nicht festgelegt werden. Ganz zu schweigen von den tausend anderen Kleinigkeiten, um die man sich kümmern musste – die Kapellen, die Blumenarrangements, die Fotografen, die Leute mit den Videokameras.

Und dann mussten rechtzeitig Einladungen gedruckt und verschickt werden, damit vielbeschäftigte Leute ihren Terminkalender prüfen und die Reisevorbereitungen treffen konnten. Und besonders, dachte Grace, wenn Gäste aus England oder Frankreich sich zu einem unbekannten Ort wie Benton’s Inlet durchschlagen mussten. Und was war mit Ryder Blake in Australien? Gabe würde ihn vermutlich als Brautführer haben wollen, und bei seinem hektischen Arbeitsplan würde Ryder zumindest wissen wollen, ob er nach England oder in die Staaten fliegen sollte.

Allerdings hatte sie sich immer geschworen, sich nie in eine jener grässlichen, alle bevormundenden Schwiegermütter zu verwandeln, die so eifrig die Hochzeit organisieren, dass sie Kleinigkeiten, wie die Wünsche von Braut und Bräutigam völlig außer Acht lassen. Sie fand einen taktvollen Themenwechsel angebracht.

„Hast du dir dein Kleid schon ausgesucht, Lianne? Wir haben eine gute Saison, was schlichten Schnitt und gute handwerkliche Verarbeitung angeht. Die Hersteller verzichten immer mehr auf Glitzerzeug und achten dafür auf Details, wie Schnitt und Fall des Kleides.“

„Du hast recht, die Auswahl war gewaltig.“ Lianne klang endlich etwas begeisterter. „Die Wahl ist mir wirklich schwergefallen, aber ich glaube, ich habe endlich das Richtige gefunden. Es ist ganz schlicht geschnitten, elfenbeinfarbener Satin mit langen Ärmeln und einem skandalös tiefen Ausschnitt.“

Ein Auflachen, das Grace stets mit ihrer zukünftigen Schwiegertochter in Verbindung brachte, erwärmte schließlich Liannes Stimme. „Ich werde mir einen dieser Super-BHs kaufen, die überall angepriesen werden. Mal sehen, ob ich nicht ein richtiges Dekolleté unter meinen keuschen Schleier zaubern kann, wenn ich den Mittelgang entlangschreite. Das wäre ein echtes Hochzeitsgeschenk für mich.“

Grace lachte: „Ich werde mich bemühen, dem Dekolleté besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich bin sicher, es wird spektakulär! Bitte lass eine der Brautjungfern eine Aufnahme machen, wenn du Anprobe hast, und schick mir das Bild per Express. Ich kann es nicht erwarten, zu sehen, was du dir ausgesucht hast. Und, Lianne, ich würde mich sehr freuen, wenn du mir gestatten würdest, dir das Kleid zu schenken. Betrachte es als kleines zusätzliches Hochzeitsgeschenk von mir.“

Es entstand wieder eine längere, gespannte Pause, ehe sie antwortete: „Danke, Grace, das ist sehr lieb, und ich bin dir für dein großzügiges Angebot sehr dankbar … aber Jeffrey hat sich schon erboten, mein Kleid zu bezahlen, und ich habe angenommen.“

„Kein Problem“, sagte Grace und hoffte, es gelang ihr, unbekümmert zu klingen. „Dann musst du mir einfach gestatten, die Rechnung zu übernehmen, wenn ich das nächste Mal in London bin und wir etwas Schönes für die Flitterwochen kaufen. Wohin wollt ihr übrigens? Oder ist das ein Geheimnis?“

„Es ist geheim. Allerdings werde ich dir verraten, dass ich gegen Gabes ersten Vorschlag mein Veto eingelegt habe: ein Ritt auf dem Yak durch Katmandu.“ Das Lachen kehrte in Liannes Stimme zurück. „Ich habe ihm dann vorgeschlagen, er solle sich weniger um Originalität bemühen und mehr in Kategorien, wie schönes Zimmer, heißes Badewasser und vierundzwanzig Stunden Zimmerservice denken. Da fiel ihm Las Vegas ein. Er brauchte noch ein paar Versuche, aber ich denke, jetzt hat er etwas Schönes gefunden.“

Grace wollte nicht an ihre eigenen Flitterwochen in Rom denken, mit heißen, glücklichen Tagen, an denen sie die Wunder der alten Stadt und kühlen, glücklichen Nächten, in denen sie die Wunder der Liebe mit Jeffrey entdeckt hatte. Sie mochte nicht an den Nachmittag denken, als sie ihren Espresso auf der Piazza San Bartolomeo getrunken und Jeffrey ihr eine leicht verwelkte Rose bei einem Straßenhändler gekauft und mit einem scheuen Lächeln überreicht hatte. Da hatte sie die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass sie sich unsterblich in den Mann verliebte, den sie aus den falschen Gründen geheiratet hatte.

Ihre Flitterwochen in Rom lagen über dreißig Jahre zurück, ihre Liebe zu Jeffrey war tot und vergessen. Heute scherte sich ihr Mann nicht mal mehr genügend um sie, den Hörer abzuheben und mit ihr die Pläne für die bevorstehende Hochzeit ihres Sohnes zu besprechen …

Grace stoppte gnadenlos ihr Abgleiten in Selbstmitleid, zumal sie aus bitterer Erfahrung wusste, dass es selbstzerstörerisch war, diesen Weg einzuschlagen. „Es war wirklich schön, mit dir zu reden, Lianne. Obwohl man beim besten Willen nicht behaupten kann, dass wir irgendwelche Fragen abschließend geklärt hätten“, fügte sie heiter hinzu, ohne die geringste Spur von Ungeduld. „Ich freue mich darauf, wieder von dir zu hören, sobald du dir mit Gabe einig bist, wo ihr euren großen Tag feiern wollt.“

„Ja, natürlich. Ich rufe dann sofort an.“

„Wenn du Gabe das nächste Mal siehst, grüß ihn schön von mir, ja?“

Es entstand eine längere Pause. „Ja, ich sag’s ihm … äh … wenn ich ihn sehe.“

Ach du meine Güte, dachte Grace amüsiert, Gabe ist bei ihr. Deshalb klang sie so schläfrig und zerstreut, als ich anrief.

„Also, ich muss mich sputen“, sagte sie und hielt es für angebracht, das Gespräch schnell zu beenden. „Mein Terminkalender ist für den Rest des Tages vollgepackt, und für dich ist es sicher auch Zeit, ins Bett zu gehen.“

„Ja.“ Es hörte sich an, als japse Lianne kurz, und Grace hatte plötzlich eine peinlich genaue Vorstellung davon, was diesen Japser ausgelöst haben könnte.

„War schön, mit dir zu reden, Lianne“, wiederholte sie rasch. „Mach’s gut.“

Lianne legte den Hörer auf, rollte sich im Bett zur Seite und schlug gespielt verärgert auf Gabes marodierende Hände ein. „Deine Mutter hat geahnt, was hier vorgeht“, sagte sie vorwurfsvoll. „Das war ziemlich peinlich. Sie hat gewusst, dass du mit mir im Bett liegst.“

Gabe nibbelte ihr zärtlich am Ohrläppchen „Hat sie? Ich vermute mal, das war nicht ihr erster Hinweis darauf, dass wir das Ehebett nicht im Zustand jungfräulicher Unschuld besteigen werden.“

Lianne seufzte: „Ehrlich Gabe, so wie sich die Dinge derzeit entwickeln, bekomme ich langsam Zweifel, ob wir es jemals schaffen zu heiraten.“

Er setzte sich auf und machte ein ernstes Gesicht. „Was soll das heißen? Ist das etwa ein dezenter Hinweis, dass du mich nun doch nicht heiraten willst?“

„Nein, natürlich nicht“, beteuerte sie kopfschüttelnd. „Wie kommst du nur auf so etwas? Aber du warst so beschäftigt in letzter Zeit, ich glaube, du hast gar nicht mitbekommen, was sich hier zusammenbraut. Diese Hochzeit entwickelt sich zu einem Alptraum gigantischen Ausmaßes. Und ich habe ehrlich keine Ahnung, wie wir das überstehen sollen.“

„Wieso das? Was ist denn los?“ Grinsend fügte er hinzu: „Gerüchteweise verlautet, dass DeWilde’s ein wirklich gutes Geschäft für Brautausstattungen sein soll mit weitreichenden Kontakten, die dir ermöglichen, jedes Detail einer perfekt organisierten Hochzeit zu planen.“

Lianne war nicht zum Lachen zumute. „Es geht nicht nur um ein Problem, es geht um Dutzende. Und keines davon kann durch DeWilde’s oder irgendein anderes Geschäft gelöst werden. Dein Vater spricht nicht mit deiner Mutter und umgekehrt, und jeder von beiden könnte jeden Augenblick die Scheidung einreichen. Das nur mal vorausgeschickt. Dann wäre da noch Julia, meine beste Freundin, die Frau auf der Welt, die ich mir am meisten als meine Brautführerin wünsche. Zufälligerweise liebt sie dich, Gabe, das können wir nicht ignorieren.“

„Bist du sicher? Bei allem, was mir heilig ist, Lianne. Ich habe ihr nie Hoffnungen auf eine Heirat gemacht. Ich habe nicht mal angedeutet, dass ich in diese Richtung denken könnte. Wenn wir uns zufällig begegnen, erscheint sie mir immer vollkommen unbefangen und munter. Eben wie eine Freundin, eine gute Freundin.“

„Sie ist viel zu munter, das ist das Problem. Sie hat in den letzten Wochen einiges an Gewicht verloren, und sie lächelt mit so verzweifelter Entschlossenheit, wenn Sie uns sieht, dass ich jedes Mal heulen könnte.“

Er nahm ihre Hand und verschränkte die Finger mit ihren. „Es tut mir wirklich leid, wenn ich Julia verletzt haben sollte. Ich wünschte, ich hätte es vermeiden können. Aber ich liebe nun mal dich, und wir können nicht auf unsere Hochzeit verzichten, damit wir Julia nicht aufregen. Das ginge ja wohl zu weit.“

„Sicher. Trotzdem werde ich während der ganzen Zeremonie daran denken müssen, dass meiner Freundin gerade das Herz bricht und ich ihr auch noch stundenlange Folter zumute, indem ich sie bitte, bei der Trauung dabei zu sein.“

„Kannst du nicht jemand anders bitten, Brautführerin zu spielen?“

„Leider nein. Ich habe darüber nachgedacht, und ich glaube, das wäre noch schlimmer. Julia hat ihren Stolz, und wenn ich sie nicht bitte, Brautführerin zu sein, wird sie genau wissen, warum. Zudem würde uns das wohl alle irgendwie zwingen, uns einiger Wahrheiten zu stellen, an denen man momentan besser nicht rührt.“

„Da könntest du recht haben. Ehrlichkeit ist in diesem Fall wohl nicht die richtige Taktik. Ich gebe zu, das ist ein Problem“, räumte Gabe ein.

Lianne schnitt eine Grimasse. „Und das ist erst der Anfang. Dann ist da noch die Sache mit unseren Familien. Meine Eltern haben an die zweihundert Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen und andere Verwandte ausfindig gemacht, die geradezu tödlich beleidigt wären, wenn sie nicht auf unserer Hochzeit tanzen dürften. Was sie sich aber aufgrund der weiten Anreise gar nicht leisten können, es sei denn, wir feiern in Michigan.“

„Na, das ist leicht zu lösen. Dann heiraten wir eben in Michigan.“

„Gabe, ich habe deine Mutter praktisch mit den Zähnen knirschen hören, und sie schien kurz vor einem Schlag zu stehen, als sie erfuhr, wir würden eventuell in Michigan heiraten. Meine Eltern denken an Picknicktische im Kirchgarten und deine an Kaviar und Champagner, gefolgt von einem Vier-Gänge-Menü, zubereitet von den besten Köchen Englands.“

„Mir wäre das Picknick durchaus recht.“

„Wirklich? Und was ist mit deinen Freunden? Die sind hier in London. Ich glaube kaum, dass sie für ein Barbecue nach Michigan fliegen würden. Und dann deine Schwester Kate. Sie war schrecklich nett, als ich sie anrief und bat, meine zweite Brautführerin zu sein. Aber ich wusste, dass sie sich insgeheim Sorgen macht, woher sie in drei Teufels Namen die Zeit nehmen soll, nach London zu fliegen oder nach Michigan, oder wo immer nun diese verflixte Trauung stattfindet.“

„Du hast Megan vergessen“, sagte er, lehnte sich mit dem Oberkörper gegen das Kopfteil des Bettes und begann, ihren Nacken zu kraulen. „Was hatte Megan einzuwenden, um die Litanei bevorstehender Katastrophen zu vervollständigen?“

„Nichts“, erklärte sie. „Megan ist so erleichtert, dass deine Mutter endlich eine Hochzeit planen kann, dass sie sich einfach nur freut. Sie hofft, dass nun alle wenigstens einige Monate lang damit aufhören, sie verkuppeln zu wollen. Sie hat mir überschwänglich gedankt, dass wir das allgemeine Interesse auf uns gelenkt haben.“

„Da hast du’s. Wenigstens ein Familienmitglied machen wir glücklich.“

„Was ungefähr 250 Leute auf der anderen Seite übriglässt.“

„Dann ist dies wohl der Moment, wo du sehr tief durchatmen und der Tatsache ins Auge blicken musst, dass man es nicht allen recht machen kann.“

„Nicht mal uns selbst?“

„Du machst es mir immer recht“, raunte er, „und ich werde mich bemühen, selbiges zu tun.“ Er rollte herum, ergriff ihre Hände und hielt sie ihr über den Kopf, um besseren Zugang zu ihrem Körper zu haben. „Mm“, machte er nach einem Kuss in ihre Halsbeuge. „Weißt du, ich kann mir gut vorstellen, wie die Vampirlegenden entstanden sind. Die Kehle einer Frau hat etwas unglaublich Erotisches. Ganz zu schweigen von den Brüsten und …“

„Gabe, verdammt, du hörst mir nicht zu!“

„Es ist schwer, gleichzeitig zu lecken und zu lauschen.“

Sie schob ihn von sich und war selbst erstaunt, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. „Gabe, das ist alles kein bisschen komisch! Was sollen wir bloß machen? Wenn diese Hochzeit endlich stattfindet, sind wahrscheinlich alle untereinander verkracht, wir eingeschlossen!“

Gabe setzte sich hin, zog sie auf seinen Schoß und drückte ihren Kopf an seine Schulter. „Tut mir leid, Kleines. Das Ganze ist dir sehr ernst, was?“

„Natürlich ist es mir ernst. Gabe, dies ist genau die Situation, an der ganze Familien zerbrechen. Solche Hochzeiten lösen Fehden aus, die bis in die sechste Generation weitergetragen werden, und Braut und Bräutigam so erschöpfen, dass sie die ersten beiden Ehejahre brauchen, sich von den Schrecken der Feier zu erholen.“

„Du übertreibst, Liebes. Ich bin sicher, bei unseren großartigen Kommunikationsfähigkeiten brauchen wir keinen Tag länger als sechs Monate zur Erholung.“

Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Gabe, was sollen wir nur machen?“

Er legte eine Hand unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht an und küsste sie zart auf den Mund. „Keine Sorge. Das wichtigste ist doch, dass wir beide wissen, wir wollen für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben. Da sollte es doch möglich sein zu entscheiden, wie wir nun tatsächlich heiraten.“

Wenn er sie so anlächelte, wollte sie glauben, dass er alle Probleme für sie löste und sogar einen Weg fand, wie sie heiraten konnten, ohne eine Seite der Familie samt Verwandtschaft zu vergraulen. Seufzend kuschelte sie sich enger an ihn. „Manchmal ist deine DeWilde-Arroganz richtig praktisch. Du klingst so selbstsicher, dass ich dir alles zutraue.“

Er küsste sie auf die Nasenspitze. „Das solltest du auch. Glaub mir, Darling, alles wird sich regeln. Du wirst sehen.“

EPILOG

Der Portier hielt Grace auf, als sie nach einem Tag voller Verhandlungen, Treffen und Diskussionen mit Anwälten auf den Lift zuging. „Mrs. DeWilde, es ist etwas für Sie abgegeben worden. Wir haben es in unserem Lagerraum in den Kühlschrank gestellt, damit es kalt bleibt.“

„Danke“, erwiderte Grace geistesabwesend und dachte teilweise an das morgige Treffen mit einem Banker ihres Bruders und teilweise daran, dass weder Gabe noch Lianne sich in den letzten beiden Wochen bei ihr gemeldet hatten. Sie versuchte, geduldig zu bleiben, doch die Unfähigkeit der beiden, sich auf einen Ort für die Hochzeit zu einigen, war nicht nur unangenehm, sondern inzwischen schon fast rücksichtslos. Heute Abend war es zu spät, noch in England anzurufen, aber gleich morgen früh würde sie Gabe am Telefon eine Standpauke halten.

Der Portier kam aus dem Lagerraum und trug einen großen, in Cellophan eingehüllten Weidenkorb, der mit langen silbrigen Bändern verziert war. „Schaffen Sie es, ihn selbst zu tragen, Mrs. DeWilde? Leider ist niemand da, meinen Posten an der Tür zu übernehmen, sonst würde ich Ihnen den Korb hinauftragen.“

Grace nahm den Korb, indem sie einen Arm darumschlang. „Ich schaffe das schon, danke. Glücklicherweise ist er nicht allzu schwer.“ Während sie auf den Lift wartete, schob sie die Zellophanhülle etwas beiseite. „Mm … Dom Perignon“, sagte sie leise, als sie die große Flasche in ihrem Bett aus nachgemachtem weißem Stroh sah. „Ganz zu schweigen von einem Kasten Schokoladentrüffel und einem Karton importierter gezuckerter italienischer Mandeln. Sieht alles sehr teuer aus.“ Sie lächelte dem Portier zu, als er ihr die Lifttür aufhielt. „Da legt es eindeutig jemand darauf an, einen guten Eindruck zu machen. Ich bin mal gespannt, was mir da jemand verkaufen will.“

Der Portier gab lächelnd zu bedenken: „Was immer es ist, lassen Sie sich Zeit mit der Entscheidung. Auf die Weise bekommen Sie vielleicht einen zweiten Präsentkorb.“

„Das ist eine hervorragende Idee“, bestätigte Grace, als sich die Lifttüren schlossen.

Ihr Apartment war nach dem heißen, lauten Tag angenehm kühl und ruhig. Grace stellte den Korb zusammen mit ihrer Handtasche auf die Kochinsel in der Mitte ihrer Küche und löste die Silberbänder. Sie schob das Cellophan beiseite und langte nach der beigelegten Karte. Gleichzeitig drückte sie den Rücklaufknopf des Anrufbeantworters. Während sie die erste Mitteilung abhörte, schlitzte sie den Umschlag der Karte auf, die ungewöhnlich dick war. Wahrscheinlich liegt gleich ein Kaufvertrag dabei, dachte sie ironisch.

Der Umschlag enthielt keinen Kaufvertrag, sondern einen Brief. Grace begann zu lesen. Die zweite Mitteilung auf dem Anrufbeantworter war erst drei, vier Worte gelaufen, als sie einen erstickten Schrei ausstieß, den Pausenknopf drückte und den Brief in blanker Fassungslosigkeit weiterlas. Blinzelnd, als würden ihr die Augen den Dienst versagen, las sie die lange Mitteilung noch einmal. Sie war von Gabe und Lianne unterschrieben und besagte schier Unglaubliches.

Grace unterdrückte einige kräftige Flüche, schnappte sich die Flasche Dom Perignon, stürmte in ihr Schlafzimmer und schälte sich unterwegs aus Schuhen und Kleidung. Bis auf die Unterwäsche entkleidet, landete sie, heftig atmend, auf ihrem Lieblingsplatz mitten auf dem Bett, die Champagnerflasche zwischen ihren Füßen.

Ohne weiter nachzudenken, holte sie das Telefon hervor und wählte die Londoner Nummer. „Lass bloß nicht den Anrufbeantworter laufen“, sagte sie leise vor sich hin. „Komm schon, Jeffrey, ich muss mit dir sprechen. Ich muss wirklich mit dir sprechen!“

„Hallo?“

„Jeffrey?“ Ihr Körper sackte vor Erleichterung leicht in sich zusammen. „Dem Himmel sei Dank, dass ich dich zu Hause erwische. Ich bin gerade in meine Wohnung zurückgekommen, und da erwartete mich dieser unglaubliche Präsentkorb von Gabe und Lianne …“

„Champagner“, sagte er. „Und Pralinen. Dazu confetti, die traditionellen gezuckerten Mandeln bei italienischen Hochzeiten. Du musst zugeben, dass sie ihre Ankündigung im großen Stil gemacht haben.“

„Großer Gott, Jeffrey, ich kann nicht glauben, dass du das so ruhig hinnimmst!“

„Du hättest mich vor sechs Stunden erleben sollen, als ich nach Hause kam und den Korb vorfand! Du musst bedenken, dass ich schon ein bisschen länger Zeit hatte, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Tatsächlich habe ich deinen Anruf seit einigen Stunden erwartet.“

Zu spät erkannte sie, dass es in London zwei Uhr früh war. „Entschuldige Jeffrey, es tut mir so leid, dass ich zu dieser unchristlichen Stunde angerufen habe, aber ich musste mit jemandem sprechen. Ich kann es einfach nicht glauben! Sie sind durchgebrannt, richtiggehend durchgebrannt!“

„Nach Gretna Green, wenn ich der hilfreichen kleinen Notiz glauben darf, die meinen Präsenten beigelegt war“, bemerkte Jeffrey trocken. „Ich bin mir fast sicher, sie haben dich mit derselben faszinierenden Auskunft versorgt.“

„Wie konnten sie uns das nur antun, Jeffrey?“, jammerte Grace. „Wir hätten ihnen eine so schöne Hochzeit ausgerichtet. Stattdessen beschließen sie, einfach wegzulaufen und sich in irgendeinem popligen kleinen Standesamt in Gretna Green das Jawort zu geben!“

„Ich weiß, es ist wirklich rücksichtslos von ihnen. Ich hätte Gabe für dich erwürgt, meine Liebe, aber leider war er nicht verfügbar. Und wenn er und Lianne aus ihren Flitterwochen im Schottischen Hochland zurückkommen, wage ich zu behaupten, dass wir töricht genug sind, ihnen auch noch zu verzeihen …“

„Oh Jeffrey!“ Grace war zum Heulen und gleichzeitig zum Lachen zumute. „Für eine Familie, die ihren weltweit bekannten Namen mit der Ausrichtung von Traumhochzeiten erworben hat, haben wir bei unseren eigenen Kindern keinen großen Erfolg. Zuerst wird Megan praktisch am Altar verlassen und dann brennen Gabe und Lianne miteinander durch. Mich schaudert, wenn ich mir vorstelle, was Kate einfallen mag.“

„Es war besser, Megan wurde am Altar verlassen, als dass sie den falschen Mann geheiratet hätte. Und im Endeffekt ist doch nur wichtig, dass Gabe und Lianne sich lieben und nicht, dass eine Unterstützertruppe von Hunderten von Gästen ihnen bei der Trauung zusieht.“

„Vermutlich hast du recht. Aber ich hätte mir so sehr gewünscht, dass dieser besondere Tag eine schöne Erinnerung für sie wird.“

„Ich bin mir sicher, es war ein besonderer und erinnernswerter Tag für sie“, tröstete Jeffrey. „Wie auch immer, Gracie, die Sache ist gelaufen. Alles, was uns jetzt noch zu tun übrigbleibt, ist, ihnen viel Glück zu wünschen.“

„Verdammt, Jeffrey, würdest du aufhören, die ganze Geschichte mit so viel … Reife zu betrachten? Er ist unser Sohn, unser einziger Sohn! Ich weiß, es ist selbstsüchtig von mir, aber ich habe mir sehr gewünscht, in der Kirche in Kemberly neben dir zu stehen, wenn die beiden einander geloben, sich zu lieben und zu ehren …“ Grace hielt plötzlich inne, entsetzt, wie viel sie mit dieser unbedachten Bemerkung verraten hatte, nicht nur über Jeffrey, sondern auch über sich selbst.

Ihr Mann schwieg einige Augenblicke. „Also, ich glaube, wir sollten trotz der Entfernung, so gut es eben geht, unsere eigene, improvisierte Feier machen“, schlug er schließlich vor. „Ich habe meinen Champagner noch nicht geöffnet. Warum holst du nicht deine Flasche und bringst sie mit zum Telefon? Dann lassen wir die Korken knallen, schenken uns ein großes Glas voll ein und trinken auf Gabe und Lianne.“

„Ich habe die Champagnerflasche schon neben mir auf dem Bett.“

„Du sitzt auf dem Bett?“, fragte Jeffrey, seine Stimme klang eine Spur angespannt.

„Ja.“ Aus irgendeinem Grund durchströmte sie eine Hitzewelle. Sie schluckte, um sich die trockene Kehle zu befeuchten. „Alte Gewohnheiten legt man nicht so leicht ab.“

Wieder eine längere Pause. „Ja, das habe ich auch entdeckt.“ Jeffrey räusperte sich. „Hast du auch ein Glas dabei oder nur die Flasche?“

Er kennt mich zu gut, dachte Grace. Er weiß, dass ich mit der Flasche in der Hand zum Telefon gestürmt bin und natürlich vergessen habe, ein Glas mitzubringen. Es war fast, als wäre er hier im Schlafzimmer bei ihr. „Ich habe kein Glas, aber ich hole mir eins. Auf die Ehe unseres Sohnes sollten wir mit etwas Eleganterem trinken als mit einem Schluck aus der Pulle.“

Sie holte sich eines von ihren neuen Kristallgläsern aus dem Esszimmer, kehrte zum Bett zurück und nahm den Hörer auf. „Ich bin fertig. Ich habe jetzt alles.“

„Dann öffne die Champagnerflasche, und nimm den Hörer wieder, sobald du dir ein Glas eingeschenkt hast.“

Mit befriedigendem „Plop“ schoss der Korken Richtung Zimmerdecke. Grace schenkte sich ein Glas ein und nahm den Hörer auf. „Jeffrey? Bist du da? Ich habe ein volles Glas.“

„Ich bin hier, Dom Perignon in der Hand. Ich trinke auf das Wohl von Gabe, unserem Sohn, und auf das von Lianne, seiner jungen Frau. Möge ihnen ein Leben voller Liebe, Gesundheit und Glück beschieden sein!“

Grace fürchtete plötzlich, sie könne zu weinen beginnen. „Darauf trinke ich auch“, sagte sie mit bewegter Stimme und nahm rasch einen Schluck. „Auf Gabe und Lianne.“

Sie setzte ihr Glas ab und wartete gespannt. Doch Jeffrey erkundigte sich nicht, wie es ihr ginge, oder was sie den ganzen Tag gemacht habe. Vielleicht traut er sich einfach nicht, dachte sie traurig. Bei einer Gelegenheit wie dieser, wo sie auf die Ehe ihres frisch verheirateten Sohnes tranken, wollte er vielleicht nicht Gefahr laufen, an ihr eigenes Versagen zu rühren.

Schließlich ergriff er doch das Wort. „Grace, danke, dass du angerufen hast. Ich bin froh, dass wir zu diesem besonderen Anlass ein Glas Champagner zusammen trinken konnten, wenn auch weit voneinander entfernt.“

„Wir haben drei Superkids gemacht, nicht wahr, Jeffrey? Was wir auch sonst falsch gemacht haben mögen, die drei sind uns gut gelungen.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte er leise. „Die haben wir gut hingekriegt.“

Er sagte nichts weiter, und diesmal war es Grace, die das Schweigen brach. „Ich weiß, es ist spät für dich, Jeffrey …“

„Ja, es ist ziemlich spät. Und da sich Gabe so unerwartet abgesetzt hat, werde ich einen teuflisch schweren Tag haben. Gute Nacht, Grace. Pass auf dich auf!“

„Gute Nacht, Jeffrey. Schlaf gut!“

Sie legte den Hörer auf und starrte blicklos auf die Flasche Dom Perignon. Schließlich straffte sie die Schultern, nahm ihr Glas und trank es in hastigen Schlucken leer.

„Und das auf uns, Jeffrey“, flüsterte sie. „Auf uns!“

– ENDE –

IMPRESSUM

Gefährliche Intrigen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 1996 Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „The Reluctant Bride“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA SPEZIAL
Band 2 - 1997 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Yvonne Hergane

Umschlagsmotive: Eyecandy Images, Prikhnenko / ThinkstockPhotos

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733774882

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Rita Shannon war zu spät dran. Sie hasste es, zu spät zu kommen, vor allem, wenn es um eine so wichtige Verabredung ging wie um die mit Grace DeWilde. Als sie den langen Flur des großen Wohnblocks in San Francisco, in dem sie sich verabredet hatten, entlanglief, erhaschte sie in einem Spiegel flüchtig ein Bild von sich und verzog das Gesicht. Ich hätte dieses langweilige grüne Ding nicht anziehen sollen, dachte sie, in dem ich so grässlich blass aussehe.

Es war aber zu spät, um sich über die Kleidung Gedanken zu machen. Rita hatte sich ohnehin schon fünfmal umgezogen. Sie hatte nacheinander das rote Kostüm, den Blazer, die Shorts und das schlichte schwarze Outfit verworfen und sich schließlich für das grüne Kleid entschieden – nicht, weil sie keine weitere Auswahl mehr gehabt hätte, sondern weil sie keine Zeit mehr hatte.

Nun war sie schon fast fünf Minuten zu spät. Was Grace DeWilde jetzt wohl von ihr denken würde? Diese Rita Shannon hat wirklich Nerven, sich für die Stelle als Assistentin der Geschäftsführung zu bewerben, würde sie denken. Rita dachte schon daran, umzukehren, vom Empfang aus anzurufen und die Verabredung abzusagen – aber in derselben Sekunde schalt sie sich selbst: Bin ich denn wahnsinnig? Wie kann ich nur daran denken, die Chance sausenzulassen, mit einer Frau zusammenzuarbeiten, die ich schon seit dem College bewundere? Rita hatte damals in einem Seminar namens „Frauen in Führungspositionen“ Grace DeWilde zum Thema ihrer Klassenarbeit gemacht. Aber, was noch wichtiger war, sie hatte ihr Vorbild entdeckt, eine Frau, der sie seitdem nachzueifern versucht hatte. Sie wollte so sein wie Grace.

Sie kniff die Lippen zusammen. Die Dinge hatten sich nicht gerade so entwickelt, wie sie es sich vorgestellt hatte, und nun war sie hier, raste den Flur entlang und kam zu spät zu einem Termin, der sich vermutlich als der wichtigste ihres Lebens herausstellen würde.

Am Schluss wendet sich doch immer alles zum Guten.

Tatsächlich? fragte sie sich. Manchmal bin ich wirklich versucht, den Spruch meiner Mutter anzuzweifeln. Das Komischste ist, dass ich heute nicht hier wäre, hätte ich nicht meinen Job bei Maxwell & Co. verloren.

Nun, sie hatte den Job in dem großen Kaufhaus in San Francisco nicht direkt verloren. Tatsache war, sie hatte gekündigt – ungefähr zwei Sekunden, bevor man sie gefeuert hätte. Trotzdem hatte es ihr eine große Befriedigung verschafft, ihrem Chef, diesem Spatzenhirn namens Gerald Hastings, die Meinung zu sagen.

„Ich sehe nicht, wo das Problem liegt, Gerald“, hatte sie an ihrem letzten Arbeitstag bei Maxwell gesagt. Sie hatte ihr Bestes getan, um ruhig zu bleiben – was bei ihrem impulsiven Wesen nicht leicht war –, denn die Sache war ihr wichtig. Aber sie und Gerald, der Chefeinkäufer, hatten schon mehr als eine Stunde über ihre Idee, eine Brautmodenabteilung aufzubauen, diskutiert, und waren dabei keinen Schritt weitergekommen.

Gerald hatte sie voller Verachtung angesehen. Er war der Neffe des Geschäftsführers, und er sorgte stets dafür, dass man das nie vergaß.

„Wie ich bereits sagte“, hatte er in diesem arroganten Ton erwidert, der Rita wahnsinnig machte, „eine Brautmodenabteilung wäre zu teuer. Die Betriebskosten sind zu hoch, die Gewinnspanne zu klein.“

Er hatte ihren sorgfältig ausgearbeiteten Vorschlagsbericht offenbar nicht einmal angesehen. „Wenn Sie die Zahlen, die ich für Sie zusammengestellt habe, noch einmal lesen würden …“

„Ich muss sie nicht lesen. Die Antwort ist Nein.“

„Ich glaube, Sie haben das noch nicht ausreichend durchdacht“, hatte sie zähneknirschend entgegnet. „Ich beanspruche nicht viel Platz – nur genug, um ein paar Kleider und Schleier auszustellen, einige Paar Schuhe und ein paar Dessous natürlich. Wir müssen keine Tischwäsche hinzunehmen, kein Porzellan, nicht einmal Schmuck – noch nicht. Ich weiß, dass es funktionieren wird, wenn wir der Sache einfach nur eine Chance geben.“

„Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?“

Am liebsten wäre sie ihm über den Schreibtisch hinweg an den Kragen gesprungen, aber sie wollte es sich nicht mit ihm verscherzen. Die Brautmodenabteilung bedeutete ihr alles, und sie war bereit, dafür zu kämpfen. „Doch, ich habe Sie gehört. Aber ich bin mir sicher, wenn Sie …“

„Ich muss wohl ganz deutlich werden. Eine Brautmodenabteilung kommt für Maxwell & Co. nicht in Frage. Wir brauchen keine, und ich will keine.“

Als sie sich gegenseitig anstarrten, wurde Rita bewusst, dass es nichts mehr gab, womit sie diesen phantasielosen Mann überzeugen konnte. Diese Feststellung machte sie so wütend, dass sie sagte: „Nun gut, Gerald. Vielleicht liegt die Entscheidung aber nicht nur bei Ihnen.“

„Wollen Sie damit andeuten, Sie möchten sich über meinen Kopf hinweg an meine Vorgesetzten wenden?“, fragte er kühl.

„Ich will gar nichts andeuten. Aber warum legen wir dieses Problem nicht Mr. Rossmore vor?“

Als sie den Geschäftsführer des Kaufhauses erwähnte, überzog eine Zornesröte Geralds Gesicht. „Ich fürchte, Sie vergessen, dass Sie nur meine Assistentin sind!“

„Wie könnte ich? Sie erinnern mich doch bei jeder Gelegenheit daran!“

„Nun nicht mehr! Denn ab dieser Sekunde sind Sie …“

„Warten Sie!“

Er war tatsächlich drauf und dran, sie zu feuern? Nach allem, was sie für das Kaufhaus geleistet hatte? Der einzige Grund, warum sie nach dem Führungswechsel auf ihrem Posten geblieben war, waren die Versprechungen des neuen Managements gewesen – Versprechungen, die nie eingehalten worden waren. Ich war so unglaublich dumm, dachte sie, Leuten zu glauben, die eine Firma wie Glencannon um eines höheren Marktanteiles willen zerstört haben. Ich hätte Jason Maxwell und Partnern nicht eine Minute meiner Arbeitszeit widmen sollen.

Gerald Hastings erwartete ganz offensichtlich eine Entschuldigung – aber diese Befriedigung würde sie ihm verflixt noch mal nicht verschaffen. „Sie können mich nicht feuern, Gerald“, sagte sie äußerlich unbewegt, während ihr Herz zum Zerspringen klopfte. War sie wirklich gerade dabei, ihren Job aufzugeben, ohne einen anderen in der Hinterhand zu haben?

„Ach, kann ich nicht?“, grinste er.

„Nein“, erklärte sie. „Weil ich nämlich kündige!“

Was war das für ein herrlicher Augenblick gewesen! dachte sie nun. Sie hatte die Tür aufgerissen und war erhobenen Hauptes hinausstolziert – und hinein in die Arbeitslosigkeit.

Endlich erblickte sie die Nummer der Wohnung von Grace DeWilde, die ihr die Arbeitsvermittlungsagentur genannt hatte. Sie blieb einen Augenblick vor der Tür stehen, um ihren Pulsschlag zu beruhigen. Ich werde irgendeinen dämlichen Fehler begehen, dachte sie nervös. Grace DeWilde wird auf den ersten Blick erkennen, was für ein Versager …

„Hör auf damit!“, schalt sie sich selbst. Es gab keinerlei Grund, ängstlich zu sein. Sie hatte die nötige Qualifikation, um diese Stelle perfekt auszufüllen. Sie brauchte nur eine Chance, das zu beweisen. Entschlossen klopfte sie an. Die Tür ging auf, und Rita stand plötzlich ihrem Vorbild gegenüber.

Sie hätte Grace DeWilde überall erkannt, denn sie hatte unzählige Fotos von ihr in Zeitschriften gesehen, die über ihre Karriere berichtet hatten. Aber sie nun als Person aus Fleisch und Blut vor sich zu haben – das blonde Haar perfekt frisiert, die großen blauen Augen strahlend, die schlanke Gestalt in ein perfekt sitzendes hellblaues Kostüm gekleidet –, das war so beeindruckend, dass Rita einige Sekunden lang fast bewegungsunfähig erstarrte.

Als ihr bewusst wurde, dass Grace DeWilde sie fragend ansah, riss sie sich schließlich zusammen. „Mrs. DeWilde? Ich bin Rita Shannon. Die Agentur Summit schickt mich.“

Grace DeWilde lächelte warm und streckte ihr eine Hand entgegen. „Hallo, Rita. Herzlich willkommen.“

Einen Augenblick später folgte Rita ihrem Vorbild in die Wohnung. Grace bedeutete Rita mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen.

„Ich wollte gerade eine Tasse Tee trinken“, sagte sie. „Möchten Sie auch eine? Ich kann aber auch Kaffee kochen, wenn Sie den lieber mögen.“

„Ich nehme gerne eine Tasse Tee, vielen Dank“, antwortete Rita heiser.

Sie sah zu, wie Grace anmutig und sicher den Tee eingoss, und holte tief Luft. Sie, die sie noch nie um eine passende Bemerkung verlegen gewesen war, fühlte sich in Anwesenheit dieser erfolgreichen Frau stumm und hilflos. Wenn ich mich weiterhin so benehme, dachte sie, wird Mrs. DeWilde denken, sie hat es mit einer kompletten Idiotin zu tun.

„Zucker? Milch? Zitrone?“, fragte Grace. Die vielen Jahre, die sie in England gelebt hatte, hatten ihrem Tonfall einen charmanten britischen Akzent verliehen.

„Nichts, danke“, sagte Rita. Obwohl sie den Tee sonst gesüßt trank, wollte sie es jetzt nicht riskieren, nervös mit Löffel und Zuckerdose herumzuhantieren. Sie schaffte es auf wundersame Weise, die Tasse aus Grace’ Hand anzunehmen und auf dem Beistelltisch abzusetzen, ohne etwas zu verschütten.

Sie betrachtete Grace, die sich nun selbst eine Tasse eingoss. Die Zeitschriftenfotos werden ihr nicht gerecht, dachte sie. Auf den Bildern sieht sie immer ein bisschen distanziert und trotz ihres Lächelns irgendwie unnahbar aus. Wenn man ihr aber persönlich gegenübersteht, wirkt sie viel wärmer, dynamischer, lebendiger.

Ihr Lebenslauf fiel ihr ein. Sie nahm die Aktenmappe heraus, die sie sorgfältig vorbereitet hatte. „Ich habe eine Kopie meines Lebenslaufs mitgebracht.“

Grace warf einen flüchtigen Blick darauf, nippte an ihrem Tee und sagte: „Danke, aber ich habe ihn schon gesehen. Die Agentur hat mir über alle Bewerber Unterlagen geschickt.“

Alle Bewerber? Wie viele gab es denn? Rita unterdrückte einen erneuten Anflug von Panik. Es war jetzt völlig unwichtig, ob auch andere Bewerber genauso kompetent waren wie sie. Was zählte, war nur, dass niemand diesen Job mehr wollte als sie.

„Verstehe“, sagte Rita. „Ich nehme an, Sie haben schon viele Vorstellungsgespräche geführt. Wenn Sie Fragen an mich haben oder noch mehr Informationen brauchen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“

Grace lächelte. Als Rita die Belustigung in ihren Augen sah, hätte sie sich am liebsten selbst geohrfeigt. In ihrem Eifer, Grace von ihrer Eignung als Assistentin zu überzeugen, hatte sie das Gespräch an sich gerissen – oder es zumindest versucht. Das ist typisch für mich, dachte sie und begann sich schon mit dem Gedanken abzufinden, dass Grace sie bald hinauskomplimentieren würde.

„Ich meine …“, begann sie.

Grace setzte ihre Tasse ab und lächelte wieder. „Ich weiß, was Sie meinen. Und ich weiß Ihr Bestreben zu schätzen, keine unnötige Zeit verlieren zu wollen.“

Gott sei Dank, dachte Rita.

„Das entspricht nämlich ganz meiner eigenen Einstellung“, fuhr Grace fort. „Ich habe über viele Jahre hinweg die Erfahrung gemacht, dass man keine Zeit verschenken darf, wenn man vorankommen will.“

„Da kann ich Ihnen nur zustimmen“, erwiderte Rita erleichtert.

Grace musterte sie eindringlich. „Aus Ihren Unterlagen konnte ich ersehen, dass Sie für die Stelle bestens qualifiziert sind. Eigentlich scheinen Sie sogar überqualifiziert zu sein. Sie waren eine Zeitlang leitende Einkäuferin bei … Entschuldigung, welches Kaufhaus war das gleich noch?“

„Glencannon.“ Rita fühlte sich augenblicklich in jene Zeit zurückversetzt, in der sie nicht nur ihren Job, sondern auch eine Beziehung verloren hatte, von der sie lange geglaubt hatte, sie würde in eine Ehe münden. Das Bild eines gutaussehenden Mannes tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf, aber sie drängte es wütend zurück. Sie wollte jetzt nicht an Erik Mulholland denken. Sie wollte nie wieder an ihn denken …

„Ich erinnere mich“, sagte Grace. „Glencannon war eines der angesehensten Kaufhäuser in San Francisco. Es wurde von Maxwell & Co. aufgekauft, nicht wahr?“

„Richtig.“ Ritas Stimme nahm einen leicht bitteren Ton an. „Glencannon wurde letztes Jahr von Maxwell & Co. geschluckt. Es war keine sehr schöne Geschichte, und viele von uns sind dabei auf der Strecke geblieben.“

Grace sah sie mitfühlend an. „Ich bin mir sicher, es war nicht einfach für Sie.“

Nicht einfach? dachte Rita. Mit dem Wunschtraum, einmal in die Geschäftsleitung zu gelangen, hatte sie damals bei Glencannon auf der niedrigsten Stufe angefangen und sich dann Schritt für Schritt hochgearbeitet: Abteilungsleiterin, Einkaufsassistentin, schließlich leitende Einkäuferin. Sie wusste, dass sie noch höher hätte steigen können, aber dann hatten sich die Dinge schlagartig geändert. Erik Mulholland war plötzlich am Ort des Geschehens aufgetaucht, und beinah über Nacht waren die alten Glencannon-Schilder abgenommen und stattdessen die von Maxwell aufgehängt worden.

Sie erinnerte sich noch gut an jenen entsetzlichen Tag, an dem der alte Kaufhausbesitzer, ein wundervoller Mann namens Harvey Glencannon, jedem Angestellten persönlich zum Abschied die Hand geschüttelt hatte. Rita hatte Mühe gehabt, nicht in Tränen auszubrechen, als er ihr für alles dankte, was sie für ihn und die Firma getan hatte. Noch nie hatte sie jemand so niedergeschlagen gesehen wie Harvey Glencannon. Es brach ihr fast das Herz. Und das alles war Erik Mulhollands Schuld gewesen.

Wie clever er alles eingefädelt hatte! Er hatte es geschafft, dass sie sich in ihn verliebte, hatte sie in eine stürmische, leidenschaftliche Liebesaffäre verstrickt. Aber hatte er sie wirklich geliebt? Für ihn war Rita nur eine willkommene Quelle für die Informationen gewesen, die er brauchte, um die Übernahme von Glencannon zu organisieren.

Und Rita war für ihren Mangel an Diskretion schwer bestraft worden. Mr. Glencannon hatte sicherzustellen versucht, dass die meisten seiner Angestellten auch unter der neuen Führung ihre Positionen behielten, aber es dauerte nicht lange, bis sie alle eine böse Überraschung erlebten. Einige – auch langverdiente – Mitarbeiter wurden sofort entlassen, andere versetzt und wieder andere, darunter Rita, zurückgestuft.

Man hatte ihr gesagt, man sei davon überzeugt, sie habe durchaus die Fähigkeiten, um in dem neu organisierten Kaufhaus den Posten des Chefeinkäufers auszufüllen – aber leider fehle ihr noch die Erfahrung, die man für die Arbeit in einer Firmenkette wie Maxwell benötige. Solange, bis sie sich die erforderlichen Kenntnisse angeeignet hätte, sollte Gerald Hastings vorübergehend die Stelle des Chefeinkäufers übernehmen und Rita als seine Assistentin arbeiten.

Das alles konnte sie jetzt aber unmöglich Grace DeWilde erzählen. „Ja, es war schwierig, vor allem, als ich nach der Übernahme zur Einkaufsassistentin zurückgestuft wurde. Ich habe die Stellung gehalten, solange ich konnte, aber schließlich haben mein Vorgesetzter und ich beschlossen … getrennte Wege zu gehen.“

„Ich verstehe. Wollen Sie über die Gründe sprechen?“

Rita versuchte, alles ein wenig herunterzuspielen. „Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich wollte im Kaufhaus eine Brautmodenabteilung eröffnen und er … nicht.“

„Und das war der Grund, warum Sie gegangen sind?“

„Das war wohl der entscheidende Auslöser. Aber eigentlich habe ich mich schon seit dem Zeitpunkt in der Firma nicht mehr wohl gefühlt, als Mr. Glencannon gehen musste. Es wurde wirklich Zeit, dass ich mich beruflich veränderte.“

„Also wollen Sie jetzt Assistentin der Geschäftsführung werden.“

„Nicht Assistentin irgendeiner Geschäftsführung“, sagte Rita ehrlich. „Ihre Assistentin.“

Grace sah sie gleichermaßen überrascht und amüsiert an. Rita war fest entschlossen, diese Stelle zu bekommen. „Ich will mich nicht einschmeicheln, aber … Mrs. DeWilde, ich bewundere Sie und verfolge Ihre Karriere schon seit vielen Jahren. Ich habe sogar am College eine Seminararbeit über Sie geschrieben.“

Grace schlug sich verblüfft mit der Hand auf die Brust. „Du liebe Güte.“

„Ich kann mir denken, wie das klingt“, sagte Rita. „Aber die Wahrheit ist, Sie waren für mich immer ein Vorbild. Ich gebe zu, wegen der Vorfälle der letzten Jahre hinke ich mit meinem Karriereplan etwas hinterher, aber ich möchte eines Tages eine eigene Firma führen, und ich kann mir dafür keine bessere Lehrerin denken als Sie.“ Sie lehnte sich zurück und wartete nervös auf Grace’ Antwort. Hatte sie den Bogen überspannt?

Grace betrachtete sie nachdenklich. „Wie bereits erwähnt, hat mir die Agentur mehrere Bewerber geschickt, aber ich denke, es werden keine weiteren Vorstellungsgespräche erforderlich sein. Ich hatte der Agentur die Höhe des Gehalts mitgeteilt …“

„Ich weiß, Mrs. DeWilde, und ich finde es sehr großzügig.“

„Wenn Sie damit also einverstanden sind, und wenn Sie den Job wollen – er gehört Ihnen.“

Wenn sie den Job wollte? Rita machte den Mund auf, um zu antworten, aber Grace hob abwehrend die Hand. „Bevor Sie etwas sagen, sollte ich Ihnen vielleicht meine Pläne erklären. Kann ich mich darauf verlassen, dass, wie auch immer Ihre Entscheidung ausfällt, keine Informationen über diese Unterhaltung nach außen dringen?“

Rita hätte sich eher die Hand abgehackt als ein Wort zu verraten. „Natürlich!“

Grace nickte. „Sie haben vorhin auf schmeichelhafte Art erwähnt, Sie hätten meine Karriere mitverfolgt. Dann werden Sie sicher auch wissen, dass ich nicht mehr der DeWilde Corporation angehöre. Mein Mann und ich haben uns … getrennt.“

„Ich habe darüber gelesen“, antwortete Rita diskret.

„Überspringen wir die schlimmen Details. Wichtig ist nur, dass ich nach San Francisco zurückgekommen bin, um mein eigenes Geschäft aufzumachen.“

Darauf hatte Rita gehofft. „Eine neue DeWildes – Filiale!“, rief sie aus.

„Gewissermaßen“, erwiderte Grace. „Aber das Geschäft wird ziemlich anders aussehen. Ein bisschen mehr wie … San Francisco, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Rita war sich sicher, dass sie das wusste. Voll freudiger Aufregung dachte sie an die Ideen, die sie Gerald Hastings präsentiert hatte, und schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, dass er sie damals abgelehnt hatte. Sie war so niedergeschlagen gewesen, nachdem sie gekündigt hatte; es war, als wäre ihr Leben irgendwie zu Ende. Aber nun schien ihr eine ganz neue Welt offenzustehen. Und das hatte sie indirekt Geralds Engstirnigkeit zu verdanken.

Am Schluss wendet sich doch immer alles zum Guten. Der Spruch ihrer Mutter hatte sich wieder bewahrheitet. Nun, Mom, dachte Rita, ich kann’s kaum erwarten, dir zu sagen, wie recht du hattest!

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. „Wann fangen wir an?“

„Wie wär’s mit Morgen?“

„Warum nicht gleich?“, erwiderte Rita freudestrahlend.

Ihre neue Chefin lachte. „Ihr Enthusiasmus freut mich, und ich würde Ihr Angebot gerne annehmen, denn wir haben in der Tat eine Menge zu tun. Aber ich muss heute Nachmittag einige Anrufe erledigen – einer davon hat mit der Finanzierung und der gesetzlichen Absicherung des neuen Geschäfts zu tun.“

„Das könnte ich für Sie übernehmen“, sagte Rita eifrig.

Grace lachte wieder. „Danke, aber ich glaube, das mache ich lieber selbst.“

„Kann ich sonst etwas tun?“

„Sie können morgen früh um Punkt neun hier sein.“

Rita hätte am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Stattdessen griff sie betont ruhig nach ihrer Tasche, stand auf und hielt Grace ihre Hand hin. „Mrs. DeWilde, danke, dass Sie mir diese Chance geben!“

Grace verabschiedete sich mit einem Lächeln. „Danken Sie mir nicht zu früh. Ich verlange meinen Angestellten eine Menge ab!“

Ritas Augen blitzten. „Sie können sich auf mich verlassen, das verspreche ich Ihnen!“

Auch als sie den vollen Fahrstuhl betrat, konnte sie einfach nicht mehr aufhören zu lächeln. Sie ignorierte die Menschen um sie herum, die sie irritiert ansahen und sich zu fragen schienen, ob Rita irgendwie abgehoben wäre. Nun, irgendwie bin ich das, dachte sie belustigt. Noch bevor sie das Erdgeschoss erreicht hatte, schwebte sie auf Wolke sieben.

2. KAPITEL

Am selben Tag, an dem Rita von Grace DeWilde angestellt worden war, saß Caroline Madison mit Erik Mulholland in einem neuen Lokal namens Patisse beim Mittagessen und lächelte ihn an. Die Fingernägel der Hand, die sie auf die seine legte, glänzten in einem hellen Rosa, das perfekt zu ihrem Designerkostüm, ihrem Lippenstift, ihren Nylons und ihren Stöckelschuhen passte. Die einzigen beiden Dinge, die an diesem Tag an ihr nicht rosa waren, waren ihre blauen Augen und ihr hellblondes Haar.

Und der große, diamantenumfasste Amethyst, der an ihrem Ringfinger prangte, stellte Erik fest. Der Schmuck war kein Geschenk von ihm, und er schien ihn fast anklagend anzustarren. Erik wandte schnell den Blick ab.

„Ich war so überrascht, als du heute angerufen und mich zum Essen eingeladen hast“, sagte Caroline. „Ich weiß, wie beschäftigt du bist. Und heute Abend sind wir doch mit meinen Eltern zum Dinner verabredet.“

Erik legte die Weinkarte beiseite, die er gerade studiert hatte. Ich sollte jetzt nichts trinken, dachte er. Einige wichtige asiatische Kunden hatten sich für den Nachmittag angekündigt, und da würde er einen klaren Kopf brauchen. Sie wollten, dass er für sie ein Geschäft für ein neues Hotel im Zentrum von San Francisco abschloss. Wenn mir dieser Coup gelingt, hätte ich mal wieder einen großen Beitrag zur Bebauung der Innenstadt geleistet. Dabei hat San Francisco ein neues Mammuthotel wahrlich nicht nötig.

„Ich weiß“, sagte er. „Aber ich wollte dich sehen.“

„Du klingst so ungewohnt ernst. Stimmt etwas nicht?“

Er war sich selbst nicht sicher. Es war nicht seine Art, spontan zu sein, aber er hatte Caroline heute zum Essen eingeladen, weil er sich endlich entschieden hatte, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er musste es tun, bevor er es sich wieder anders überlegte. Nicht, dass es ihm so ging wie schon so oft und er sich bis an die Klippe heranwagte, aber den Absprung schließlich dann doch nicht schaffte.

Allerdings sah es so aus, als könnte er auch heute nicht springen. Er hatte den Verlobungsring in seiner Tasche, aber jetzt, da Caroline vor ihm saß, schien er einfach nicht die richtigen Worte zu finden. Warum eigentlich? Jedes Mal, wenn er sie ansah, sagte er sich, dass er verdammtes Glück hatte, dass eine Frau wie Caroline Madison ihn liebte.

Aber liebte er sie auch? Ich glaube schon, dachte er. Aber was hält mich dann davon ab, ihr mit einem Glas Champagner in der Hand einen Antrag zu machen?

Caroline sah ihn leicht besorgt an, und einmal mehr fiel ihm auf, wie schön sie war. Alles an ihr war einfach perfekt: ihr blondes Haar, die blauen Augen, ihre Abstammung, die sich auf väterlicher Seite bis zu den Passagieren der „Mayflower“ zurückverfolgen ließ, ihre Stilsicherheit bei der Wahl ihrer eleganten, unauffälligen Designer-Garderobe. Erik hatte sie noch nie nervös oder aufgebracht gesehen. Sie liebte Kinder und arbeitete einmal die Woche ehrenamtlich in einer Tagesklinik für Senioren. Sie verkörperte alles, was man sich nur wünschen konnte, und doch …

„Alles in Ordnung“, sagte er. Der Ring fühlte sich in seiner Tasche wie eine Tonne Blei an. Es sah so aus, als würde das geplante Verlobungsgeschenk auch in seiner Tasche bleiben – zumindest heute. Erik griff nach Carolines Hand. „Tut mir leid. Ich habe dich hierhergebeten, und jetzt bin ich ein so schlechter Gesellschafter.“

Sie schenkte ihm ein so verständnisvolles Lächeln, dass er sich wieder wunderte, warum in aller Welt er nicht die Gelegenheit ergriff, sie zu seiner Frau zu machen. „Das macht nichts, Erik. Es ist nur – ich mache mir Sorgen. Du arbeitest zu viel.“

„Unsinn“, protestierte er. „Außerdem liebe ich meine Arbeit.“

„Tatsächlich?“ Ihre Augen musterten ihn zweifelnd. „Es gab in letzter Zeit Momente, wo ich nicht so recht daran glauben mochte. Hast du irgendwelche Sorgen?“

„Nein, bestimmt nicht. Mir gehen einfach nur zu viele Dinge im Kopf herum.“

Caroline zögerte kurz. „Ist eines davon vielleicht das Angebot meines Vaters?“

Carolines Vater war Niles Madison. Obwohl er sich schon halb zur Ruhe gesetzt hatte, unterhielt er immer noch ein Büro in der angesehenen Investment-Firma Morton, Madison und Shade. Und kürzlich hatte er Erik einen Vizepräsidentenposten angeboten – eine Traumstelle, mit der er für immer ausgesorgt haben würde. Erik wusste, dass er eigentlich dankbar annehmen sollte, aber er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er mit diesem Angebot bestochen werden sollte. Erik wusste, dass es die Vizepräsidentschaft sozusagen nur im Doppelpack mit Caroline geben würde. Er hatte Niles um Bedenkzeit gebeten, und seit jenem Tag hatte er wirklich über nichts anderes mehr nachgedacht.

Was aber nicht hieß, dass er darüber reden wollte. „Caroline, wir hatten vereinbart …“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte sie seufzend. „Du musst dich allein entscheiden.“

„Es ist nicht so, dass ich das Angebot nicht zu schätzen wüsste“, sagte Erik schuldbewusst. „Es ist nur – ich muss auch an Rudy denken. Wir haben hart daran gearbeitet, unsere eigene Investment-Firma aufzubauen, und ich kann ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen.“

„Rudy ist ein erwachsener Mann“, erwiderte Caroline mit dem leicht genervten Unterton, der ihr manchmal entschlüpfte, wenn sie nicht aufpasste. „Er kann gut für sich selber sorgen.“

Erik hatte keine Lust, darüber zu streiten. „Stimmt“, sagte er beschwichtigend. „Schließlich ist er Anwalt.“

Caroline lächelte nicht. Sie nahm einen Schluck Wasser und sagte: „Ich hoffe, du nimmst dir nicht allzu viel Zeit für deine Entscheidung. Daddy hat dir ein großzügiges Angebot gemacht, und das mindeste, was du ihm schuldest, ist eine baldige Antwort.“

„Du hast recht. Ich werde ihm antworten – wenn die Zeit gekommen ist.“ Er wechselte schnell das Thema. „In der Zwischenzeit – was möchtest du zum Nachtisch?“

„Nichts, vielen Dank“, antwortete sie, sah auf ihre Armbanduhr und legte die Stirn in Falten. „Lieber Himmel! Ich hätte schon vor zehn Minuten bei der Anprobe sein müssen. Hast du etwas dagegen, die Rechnung kommen zu lassen?“

Er hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, er war erleichtert. Als sie das Lokal verlassen hatten, küsste er sie flüchtig und winkte einem Taxi. „Bist du mir böse?“, fragte er Caroline, als das Taxi neben ihnen hielt.

Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf. „Nein, aber alles ist so schwierig. Daddy fragt mich ständig, ob du dich schon entschieden hättest. Er macht sich große Hoffnungen …“ Sie sah zu Erik auf und fügte hinzu: „Und ich auch.“

Er hielt ihr die Autotür auf und half ihr hinein. „Wir sehen uns heute Abend.“ Ich wünschte, ich könnte mehr versprechen, dachte er.

Als das Taxi abgefahren war, starrte er ihm sekundenlang hinterher und machte sich schließlich auf den Weg in sein Büro.

Die Investment-Firma Mulholland-Laughton befand sich im zwanzigsten Stock des Vale-Gebäudes. Als Erik dort ankam, war seine Sekretärin Eleanor noch nicht vom Mittagessen zurück. Die Tür zu Rudys Büro stand offen, was hieß, dass er ebenfalls noch nicht da war. Umso besser, dachte Erik. Ihm war jetzt sowieso nicht danach zumute, mit jemandem zu sprechen. Nachdenklich betrat er sein Büro, aber statt sich an die Arbeit zu machen, blieb er am Fenster hinter seinem Schreibtisch stehen.

Was ist nur los mit mir? fragte er sich. Warum bringe ich es nicht endlich fertig, Caroline zu fragen, ob sie meine Frau werden will? Ich gehe auf die Vierzig zu; es wird Zeit, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Wenn ich nicht vorsichtig bin, opfere ich alles für meine Arbeit – selbst mein Liebesleben.

Wie aus dem Nichts erschien ein Bild vor seinem inneren Auge – ein zartes ovales Gesicht mit ausdrucksvollen braunen Augen und einem schönen, sinnlichen Mund.

Verdammt! fluchte er vor sich hin. Was sollte das denn? Er hatte hart daran gearbeitet, nicht mehr an Rita Shannon zu denken. Warum schlich sie sich heute plötzlich in seine Gedanken?

Aber er wusste warum. Und es war nicht nur, weil sie im vergangenen Jahr eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatten. Er hatte daran gedacht, was er alles für seine Arbeit geopfert hatte, und Rita gehörte eindeutig dazu. Dabei hatte er sie einmal so sehr geliebt, dass er ihr beinah einen Heiratsantrag gemacht hätte.

Im Nachhinein war er froh, dass er es nicht getan hatte. Nachdem ihr feuriges Verhältnis beendet war und Erik Zeit gehabt hatte, das Ganze zu analysieren, war ihm klargeworden, dass diese Ehe niemals funktioniert hätte. Rita war nicht die Frau, die er brauchte. Sie hätte nie in seine Pläne gepasst. Sie war zu eigensinnig, zu unbezähmbar, zu … lebendig. Sie machte den Mund auf, wenn ihr etwas nicht gefiel. Rita Shannon wäre nie eine anpassungsfähige, nachgiebige Ehefrau geworden.

Und eine anpassungsfähige Frau war genau das, was er wollte, redete er sich ein. Er brauchte eine Frau, die immer hinter ihm stand und ihm dienlich war – nicht nur in Bezug auf seine Karriere, sondern auch auf seinen Seelenfrieden. Er wusste, dass ihn diese Einstellung zu einem schrecklichen Chauvinisten machte, und es tat ihm leid – aber so sollte es nun einmal sein. Seine Arbeit war äußerst anspruchsvoll und brauchte all seine Energie auf, also konnte er keine Ehefrau gebrauchen, die selbst den Ehrgeiz hatte, Karriere zu machen. Er brauchte eine Frau, die sich nicht über Überstunden aufregte und die es klaglos hinnahm, dass er auf Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten nicht erschien, obwohl er es vorher versprochen hatte. Kurz gesagt, dachte er, ich brauche eine „traditionelle“ Ehefrau.

Er lachte heiser auf. Rita Shannon war die letzte Person, die in dieses Schema passen würde. Sie war leitende Einkäuferin bei Glencannon gewesen, als er sie kennenlernte, und sie machte keinen Hehl aus ihrem Ehrgeiz, auf der Karriereleiter noch höher steigen zu wollen.

Aber dann war Glencannon von Maxwell & Co. geschluckt worden.

Da haben ein paar Leute einen schönen Batzen Geld daran verdient, dachte Erik und kniff die Lippen zusammen. Doch er hatte nicht zu jenen Leuten gehört. Als sie sich das letzte Mal gestritten hatten, hatte Rita ihm vorgeworfen, die ganze Sache von Anfang an bewusst gesteuert zu haben, und er hatte nicht erklären können, wie die Dinge wirklich gelaufen waren. Nicht, dass das zu jenem Zeitpunkt noch etwas ausgemacht hätte – die Fronten zwischen ihnen waren schon so verhärtet gewesen, dass keine Erklärung mehr hätte etwas retten können.

Erik starrte immer noch nachdenklich aus dem Fenster, als Eleanor eintrat.

„Erik?“

„Ja, was gibt’s?“ Er fuhr herum und blickte seine Sekretärin an, die ungewöhnlich aufgeregt aussah.

„Tut mir leid, wenn ich störe“, sagte sie. „Aber Grace DeWilde ist am Telefon. Sie möchte einen Termin ausmachen, aber ich dachte, Sie wollten vielleicht selbst mit ihr sprechen.“

Grace DeWilde? dachte er verblüfft. Natürlich wusste er, wer sie war – wer wusste das nicht? Letzten Monat, etwa Anfang Mai, hatten sie und ihr Mann ihre Trennung bekanntgegeben, und seitdem waren in der Wirtschaftswelt ständig neue Gerüchte über die möglichen Konsequenzen aufgetaucht.

In Eriks Beruf machte es sich bezahlt, immer gut informiert zu sein, und so hatte er die Entwicklung gespannt mitverfolgt. Die DeWilde Corporation war immer noch im Familienbesitz, obwohl sie vor einigen Jahren durch Aktienverkauf an der Börse einiges an Kapital hatte flüssig machen müssen. Die DeWilde-Aktien waren stabil, aber Erik wusste, wenn Grace ihren Anteil von fünf Prozent auf einmal verkaufen würde, würde der Marktwert aller Firmenaktien in den Keller fallen.

Er hatte schon gehört, dass Grace DeWilde nach San Francisco zurückgekommen war. Aber warum rief sie ihn an? Neugierig griff er nach dem Telefonhörer.

„Danke, Eleanor“, sagte er und drückte auf den Knopf für die Leitung eins. „Mrs. DeWilde? Hier ist Erik Mulholland. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Eine warme Stimme antwortete ihm. „Ich habe ein Problem, Mr. Mulholland. Wenn Sie Zeit haben, würde ich gerne mit Ihnen darüber sprechen.“

Erik warf einen flüchtigen Blick auf seinen Terminkalender, schob ihn dann aber schnell beiseite. Ganz abgesehen von seiner Neugierde, welches Problem wohl Grace DeWilde beschäftigte, war er unheimlich gespannt darauf, die Frau kennenzulernen, die er schon lange aus der Ferne bewunderte. Selbst auf dieser Seite des Atlantiks war ihr ausgezeichneter Geschäftssinn berühmt.

„Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung“, sagte er, sah dann aber, wie Eleanor ihm entsetzt abwinkte. „Außer während einer halben Stunde am heutigen Nachmittag. Da habe ich leider einen Termin, der sich nicht verschieben lässt.“

Das Lachen am anderen Ende der Leitung klang ausgesprochen charmant. „Ich hege nicht die Absicht, Ihren Terminplan durcheinanderzubringen“, versicherte Grace. „Ich weiß selbst nur zu gut, wie störend das sein kann. Eigentlich hatte ich nur vorgehabt, mit Ihrer Sekretärin einen Termin auszumachen, aber sie hat mich zu Ihnen durchgestellt, bevor ich es verhindern konnte.“

„Das hat sie ganz richtig gemacht“, sagte Erik mit Blick auf Eleanor, die nun das Büro verließ. „Wann würde es Ihnen denn passen? Ich kann Sie gern in Ihrem Büro aufsuchen …“

„Ich fürchte, ich habe noch kein richtiges Büro. Im Moment behelfe ich mir mit meinem Wohnzimmer. Also wäre es vielleicht am einfachsten, wenn ich zu Ihnen komme.“

„Sagen Sie mir nur den Tag und die Uhrzeit.“

„Ich weiß, dass das kurzfristig ist, aber … ginge es noch diese Woche? Sagen wir Mittwochnachmittag, so gegen drei?“

Erik sah wieder auf seinen Terminkalender. Der Mittwoch war völlig ausgebucht, aber er sagte: „In Ordnung. Ich erwarte Sie also.“ Er zögerte kurz. „In der Zwischenzeit … könnten Sie mir vielleicht einen leisen Hinweis geben, worum es geht? Es versteht sich von selbst, dass ich jede Information streng vertraulich behandle.“

„Das weiß ich“, antwortete sie in einem Ton, der besagte, dass sie nichts anderes akzeptieren würde. „Ich … ich habe mit dem Gedanken gespielt, hier in San Francisco ein neues Geschäft zu eröffnen.“

Erik konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Eine neue DeWildes – Filiale?“

„Nein, diese Firma würde unter meiner alleinigen Leitung stehen.“

„Ich verstehe“, erwiderte er. In Gedanken spielte er schon sämtliche möglichen Folgen durch. Er wusste nun, was sie von ihm wollte. „Und wie groß soll das Geschäft werden?“

„Ich bin noch nicht sicher. Das ist eine der Fragen, über die wir sprechen müssten. Eine von vielen, fürchte ich. Aber alles weitere am Mittwoch. Ach ja, und ich möchte, dass meine Assistentin mich begleitet. Das macht Ihnen doch keine Probleme?“

Er war so aufgeregt wegen all der Möglichkeiten, die diese Aufgabe ihm eröffnen würde, dass er auch einverstanden gewesen wäre, wenn Grace vorgeschlagen hätte, ihre eigene Blaskapelle mitzubringen. „Aber natürlich nicht.“

„Gut. Wir sehen uns dann am Mittwoch.“

„Ich freue mich darauf.“

Er verabschiedete sich höflich und legte auf. Die Wirtschaftswelt hatte sich gefragt, was mit den DeWilde-Aktien geschehen würde, wenn Grace ein konkurrierendes Geschäft eröffnete. Nun also würden sie das alle erfahren. Eine plötzliche Vorfreude stieg in Erik wegen des Termins am Mittwoch auf. Es war lange her, seit ihn ein Projekt dermaßen begeistert hatte.

Trotz der aufregenden Verabredung mit Grace war er den Rest des Tages irgendwie nicht richtig bei der Sache. Selbst während des Treffens mit der Ishitaki-Gruppe fiel es ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer war es ein bestimmtes Gesicht, ein Name, eine Stimme, die ihn nicht loslassen wollte.

Warum bedeutet mir Rita immer noch so viel – nach all der Zeit? fragte er sich verzweifelt. War es, weil sie sich unter so unglücklichen Umständen getrennt hatten? Irgendwie fühlte er sich immer noch schuldig. Er wünschte, er wäre ehrlicher zu ihr gewesen.

Es ist vorbei, redete er sich ungeduldig ein. Die Glencannon-Geschichte war der Auslöser dafür gewesen, dass Rita und er auseinandergegangen waren, aber Erik wusste, dass das ohnehin irgendwann passiert wäre. Sie waren einfach zu verschieden. Sie hatten nichts gemeinsam – außer dieser körperlichen Anziehungskraft. Also was machte es schon, dass er ihr Lächeln liebte oder ihren Elan und ihren Ehrgeiz bewunderte? Was bedeutete es schon, dass er ihren Verstand mochte und ihre dummen Witze lustig fand? Das Leben ging weiter.

Es ist vorbei, wiederholte er. Aber selbst, als er am Abend die Auffahrt zur beeindruckenden Jugendstilvilla von Carolines Eltern hinauffuhr, konnte er nicht aufhören, an Rita zu denken.

„Ich glaube, du hast kein Wort von dem gehört, was ich heute Abend gesagt habe“, sagte Caroline vorwurfsvoll. Sie hatten das Abendessen beendet und saßen nun im Wohnzimmer. Zu Eriks Erleichterung hatten sich Carolines Eltern verabschiedet und waren nach oben gegangen.

„Tut mir leid, Caroline“, sagte er. „Ich hatte einen furchtbar langen Tag.“

„Willst du darüber reden?“

Er hatte einen Brandy getrunken, in der Hoffnung, er würde ihn entspannen. Es hatte nicht funktioniert. „Es ist nichts“, log er. „Nur ein Problem mit den neuen asiatischen Kunden.“

Sie rückte näher und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Die Geste war liebevoll gemeint, aber an diesem Abend irritierte sie ihn. Er hielt ihre Hand fest. „Ich sollte jetzt besser gehen.“

„Noch nicht! Es ist doch noch früh.“

Er roch den schwachen Duft ihres Parfums und widerstand der Versuchung, von ihr abzurücken. „Ich weiß, aber morgen wartet viel Arbeit auf mich.“

„Erik, wir müssen miteinander reden.“

„Worüber?“, fragte er angespannt.

„Wie wär’s, wenn du dir einfach ein paar Tage freinimmst? Wir könnten die Küste entlangfahren. Es gibt ein paar hübsche kleine Pensionen in der Gegend um Mendocino, wo wir ein bisschen entspannen könnten. Nur wir zwei ganz allein.“

Er fragte sich, warum ihn die Aussicht so wenig verlockte. „Klingt wundervoll, Caroline, aber ich kann im Moment wirklich nicht weg.“

Sie schmiegte sich an ihn. „Bitte, Liebling. Es ist so lange her, seit wir richtig allein waren.“

Er legte sanft den Arm um sie. Sie mochte es nicht, wenn er ihre Frisur zerzauste, und solche Gesten brachten sie manchmal aus der Fassung. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein anderes Bild in seinem Kopf auf: Rita, in Jeans und T-Shirt, wie sie einem Hund hinterherrannte, der unten am Yachthafen seinem Besitzer weggelaufen war. Sie hatte das Ende der flatternden Leine erwischt und war übermütig lachend ein ganzes Stück neben dem ebenso übermütigen Hund hergerannt.

Caroline würde eher sterben als ein Paar Jeans anzuprobieren, dachte Erik plötzlich – davon, dass sie sich damit in der Öffentlichkeit sehen lassen könnte, ganz zu schweigen. Und in die Nähe von Tieren, vor allem großen Hunden, würde sie sich schon gar nicht wagen …

Es irritierte ihn, dass er an Rita Shannon dachte, während er die schöne, perfekte Caroline in seinen Armen hielt. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte er.

Sie sah mit jenem Augenaufschlag zu ihm hoch, der ihm schmeichelte und ihn gleichzeitig wahnsinnig machte. „Versprochen?“, fragte sie.

Er kam sich vor wie ein Mistkerl. „Versprochen.“ Er küsste sie flüchtig und wollte aufstehen, aber sie schlang die Arme um seinen Hals. „Es wäre so schön, mit dir wegzulaufen – auch, wenn es nur für ein paar Tage ist.“

Erik küsste sie erneut, aber wieder drängte sich etwas mit Macht in sein Bewusstsein – die Erinnerung an Rita und an das Wochenende, an dem sie sich gemeinsam heimlich nach Aruba abgesetzt hatten. Sie hatte ihm verschmitzt lächelnd gezeigt, wie schnell sie packen konnte. Der winzige String-Bikini, den sie mitgenommen hatte, passte problemlos in ein kleines Täschchen. Die meiste Zeit an dem Wochenende, dachte er, und eine heiße Blutwelle schoss ihm in den Kopf, hat sie nicht einmal diesen kleinen Stofffetzen angehabt.

Er wollte Caroline küssen, er wollte mit ihr schlafen. Aber wie sollte er das tun, wenn ihm eine andere Frau nicht aus dem Kopf ging? Er verabschiedete sich mit einer schwachen Entschuldigung und ging so schnell wie möglich zu seinem Wagen.

3. KAPITEL

Rita und Grace DeWilde kamen fünf Minuten zu früh zu ihrer Verabredung am Mittwoch. Grace hatte Rita nur gesagt, dass sie auf dem Weg zu einer Investment-Firma waren, die ihnen bei der Finanzierung des neuen Geschäfts helfen sollte, und Rita hatte keine Zeit gehabt, sich die Liste der Mieterparteien im Hochhaus anzusehen, bevor der Fahrstuhl sie in das zwanzigste Stockwerk beförderte. Dort wies ihnen ein eleganter anthrazitfarbener Teppichboden den Weg zu einem ganz in Creme und Blau gehaltenen Büro. Ein Namensschild, verborgen zwischen mehreren Telefonapparaten, Faxgeräten und Druckern, identifizierte die Empfangsdame als Eleanor Whitley. Als Grace und Rita eintraten, begrüßte sie die beiden mit einem Lächeln und einer einladenden Handbewegung.

„Guten Tag, Sie müssen Mrs. DeWilde sein“, sagte sie mit einem Kopfnicken, das auch Rita mit einschloss, und griff nach dem Hörer. „Ich sage Mr. Mulholland Bescheid, dass Sie hier sind.“

Rita, die gerade auf einem der cremefarbenen Sofas neben dem Empfang Platz nehmen wollte, erstarrte beim Klang des genannten Namens. Ich habe mich sicher verhört, sagte sie sich alarmiert, und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass, selbst wenn sie den Namen richtig gehört hatte, es Dutzende von Mulhollands in San Francisco geben musste. Es wäre schon ein erstaunlicher Zufall, wenn ausgerechnet dieser Mr. Mulholland Erik sein sollte.

Sie hatte kaum zu Ende gedacht, als die Tür zu ihrer Linken aufging. Rita hatte keine Zeit, sich innerlich auf den Anblick der tiefblauen Augen jenes Mannes vorzubereiten, der ihr plötzlich gegenüberstand und den bis ans Ende ihrer Tage zu verachten sie einst beschlossen hatte.

Einen Moment lang starrten sie sich wortlos an. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Rita keinen Ton herausbringen können. Wie konnte das passieren? fragte sie sich voller Panik. Warum hat Grace mich nicht vorgewarnt? Warum habe ich nicht nachgefragt?

Es ist nicht Grace’ Schuld, versuchte sie sich zu beruhigen. Wie hätte Grace denn auch wissen sollen, dass Erik und ich eine … Vergangenheit haben? Ich hätte mich eben früher um den Namen unseres Gesprächspartners kümmern sollen. Und was soll ich nun tun?

Wie immer, wenn sie verlegen oder unsicher war, trat sie die Flucht nach vorne an. Sie streckte die Hand aus und sagte so ungerührt wie möglich: „Hallo, Erik.“

Er antwortete nicht sofort. Schließlich ergriff er ihre Hand und erwiderte mit jener tiefen Stimme, die ihr so gut in Erinnerung war: „Hallo, Rita. Es ist lange her.“

Sein kühler Ton machte sie wütend. So also stellt er sich das vor, dachte sie. Nun gut, das Spiel kann ich auch spielen. „Findest du?“, sagte sie. „Ich war so beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekommen habe, wie die Zeit vergangen ist.“

Erik lächelte nur. Dann sah er an Rita vorbei zu Grace. „Mrs. DeWilde, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Darf ich Sie in mein Büro bitten? Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich habe hier eine ganz spezielle Earl-Grey-Mischung …“

Er redete unaufhörlich auf Grace ein, nahm ihren Ellenbogen und führte sie in sein Büro, ohne sich darum zu kümmern, ob Rita ihnen nachkam. Ärgerlich wegen dieses für sie offensichtlich unhöflichen Verhaltens folgte Rita den beiden und konnte sich gerade noch zusammenreißen, die Tür nicht hinter sich zuzuknallen.

Erik bot Grace einen Platz auf einem blauen Sofa an, schien sich dann an Rita zu erinnern und deutete ihr mit einer Handbewegung an, auf einem Sessel Platz zu nehmen, der die Sitzgruppe rund um einen kleinen Kaffeetisch vervollständigte. Auf der anderen Seite des Raumes befanden sich ein großer Schreibtisch und dahinter ein riesiges Fenster, das einen herrlichen Panoramablick auf die Golden-Gate-Brücke bot.

Rita setzte sich und sah auf das großformatige, abstrakte Gemälde, das ihr gegenüber an der Wand hing. Wilde Farbkleckse und ein schwarzer Rahmen – das Bild scheint genau meine derzeitige Gefühlslage widerzuspiegeln, dachte sie. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass Erik seit ihrem letzten Treffen offenbar nicht nur seinen Firmensitz, sondern auch die gesamte Einrichtung seines Büros geändert hatte. Ich muss zugeben, das sieht großartig aus, dachte sie. Genauso wie er selbst. Irritiert durch diese plötzliche Eingebung, schaute sie verlegen auf ihre Hände hinunter. Doch als sie sah, dass sie den Gurt ihrer Handtasche und den Griff der Aktenmappe so fest umklammert hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten, stellte sie beide Gegenstände am Boden ab.

Die Sekretärin klopfte an und betrat das Zimmer mit einem silbernen Tablett, auf dem ein elegantes Teeservice thronte. Das teure Porzellan hatte ein zeitloses, dezentes Muster. Ein hübsch angerichteter Teller mit delikatem Gebäck lag neben der Teekanne.

Alles nur vom Besten, dachte Rita, als Eleanor das Tablett auf dem Tisch abstellte. Aber Erik hat schon immer größten Wert auf Perfektion bis ins Detail gelegt. Nicht umsonst war er immer schon besonders gut in seinem Job.

„Sie scheinen wirklich an alles gedacht zu haben“, sagte Grace anerkennend, nachdem Eleanor sich wieder zurückgezogen hatte.

„Ich wollte, dass Sie sich hier wohl fühlen, Mrs. DeWilde“, erwiderte Erik bescheiden.

„Nennen Sie mich doch Grace.“

„Dann müssen Sie mich auch Erik nennen“, sagte er und deutete auf das Tablett. „Würden Sie so freundlich sein, einzugießen?“

Grace vollzog das Ritual mit ihrer angeborenen Anmut. Immer noch bemüht, Fassung zu bewahren, nahm Rita ihre Tasse entgegen, lehnte aber das angebotene Gebäck ab. Wütend starrte sie Erik an. Verdammt, während ich innerlich koche, dachte sie, scheint er meine Anwesenheit kaum wahrzunehmen.

„Das haben wir doch dabei, nicht wahr, Rita?“

Rita zuckte wie ertappt zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sowohl Grace als auch Erik sie erwartungsvoll ansahen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nun nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon gerade gesprochen worden war. „Ich habe alle relevanten Unterlagen mitgebracht.“ Errötend setzte sie ihre Teetasse ab und griff nach ihrer Aktentasche. Mit dem Gefühl, dass Eriks Augen sie verfolgten, nahm sie einfach das erstbeste Blatt heraus, das sie erblickte, und betete, dass es das war, das verlangt worden war. „Hier ist die Kopie des Geschäftsentwurfs, aber wenn Sie möchten, kann ich auch …“

Erik streckte die Hand nach der Akte aus. „Lassen Sie uns damit anfangen.“

Der Geschäftsentwurf, den Grace vorbereitet hatte, behandelte den Zweck und die Ziele des zukünftigen Unternehmens, nannte die erforderlichen Finanzsummen und die geplanten Marketingstrategien und enthielt zudem eine Beschreibung der Waren, die angeboten werden sollten, sowie eine Liste der in Frage kommenden Lieferfirmen. Alles sah so einleuchtend und einfach aus, aber Rita wusste, wie viel Zeit und Mühe Grace in die Erarbeitung des Entwurfs investiert hatte. Sie selbst hatte allein für das Abtippen der Papiere mehrere Stunden gebraucht.

Rita war von ihrem neuen Job fasziniert. Versicherungen, Buchhaltung sowie Gewinn- und Verlustrechnung waren ihr von ihrer alten Stelle als Einkäuferin bei Maxwell & Co. bekannt, aber sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, einen Finanzierungsplan auszuarbeiten oder Rückzahlungstermine festzusetzen. Sie war eifrig dabei, sich alles Neue anzueignen.

Erik wartete immer noch mit ausgestreckter Hand darauf, dass sie ihm die Papiere reichte. Sie fing seinen prüfenden Blick auf und fragte sich, woran er wohl gerade dachte. Aber Erik lächelte nur kurz vor sich hin und begann dann die Akten zu studieren, die sie ihm gegeben hatte.

Äußerlich unbewegt – wie sie hoffte – lehnte sie sich wieder zurück und griff nach ihrer Teetasse. Es machte sie wütend, dass sie wegen eines Mannes nervös war, den sie vor Monaten aus ihren Gedanken und ihrem Leben verbannt hatte. Und, was noch irritierender war – Erik schien es kaum etwas auszumachen, dass sie sich im Raum befand. Machte ihre Anwesenheit ihm denn gar nichts aus?

Nachdem er den Entwurf gelesen hatte, lehnte er sich entspannt zurück und sah Grace an. „Interessant.“

Rita war von seinem lapidaren Kommentar verärgert. War das alles, was er zu sagen hatte?

Grace dagegen schien keineswegs beleidigt. „Ich weiß, dass der Plan funktionieren kann. Aber ich würde gern von Ihnen erfahren, ob Sie ihn für durchführbar halten?“

Erik zuckte die Schultern. „Die Finanzierung dürfte keine großen Probleme bereiten. Aber ich kann mir vorstellen, dass auch andere … Faktoren eine Rolle spielen könnten.“

Welche anderen Faktoren? fragte sich Rita. Ich kann mir nicht denken, dass Grace irgendetwas nicht berücksichtigt hat.

Grace wusste, worauf Erik sich bezog. „Sie meinen die DeWilde Corporation“, sagte sie. „Sie glauben, die könnte versuchen, mir Schwierigkeiten zu machen.“

Erik sah auf die Aktenmappe. Widerstreitende Gedanken schienen ihm durch den Kopf zu gehen, denn als er aufsah, sagte er: „Darf ich ganz ehrlich sein?“

Das wäre ja ganz was Neues, dachte Rita. Aber sie schwieg. Sie war nur als Beobachterin da, um sich Notizen zu machen und so viel zu lernen wie nur möglich. Es war nicht ihre Aufgabe, Streit vom Zaun zu brechen oder Grace dahingehend zu beeinflussen, Erik nicht zu trauen. Das, beschloss sie, hatte Zeit bis später.

„Ich erwarte sogar, dass Sie ehrlich sind, Erik“, sagte Grace. „Deswegen bin ich hier.“

„Bevor wir weitermachen, müsste ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stellen.“

„Sicher“, erwiderte Grace.

„Es ist kein Geheimnis, dass Sie und Ihr Mann sich … getrennt haben. Auch nicht, dass Sie ein Paket Anteile an der DeWilde Corporation besitzen. Ich bin mir sicher, Sie wissen, dass die Wirtschaftswelt – von der Börse ganz zu schweigen – sehr neugierig ist, wie sich die Dinge weiterhin entwickeln.“

„Sie meinen, alle wollen erfahren, ob ich meine Anteile verkaufen werde oder nicht.“

„Das ist eine legitime Frage.“

„Richtig. Ich habe mich noch nicht entschieden.“

„Das hatte ich mir bereits gedacht. Sonst wären Sie nicht hier, um mit mir zu sprechen.“

„Stimmt.“ Grace machte eine kleine Pause. „Sie sagten, Sie wollten ehrlich sein, also werde ich das auch sein. Die Wahrheit ist – meine derzeitige Situation ist so in Veränderung begriffen, dass ich es vorziehen würde, den Verkauf der Anteile nur als letzte Möglichkeit zu nutzen. Wenn ich das Geschäft mit eigenen Mitteln eröffnen könnte, wäre mir das entschieden lieber.“

„Ich verstehe. Aber ein Geschäft zu eröffnen birgt auch ganz andere Schwierigkeiten. Sie stimmen mir sicher darin zu, dass die DeWilde Corporation ein verständliches Interesse daran hat, den Firmennamen zu schützen – von der speziellen Konkurrenzsituation ganz zu schweigen.“

„Die DeWildes haben kein Monopol auf Brautmodenläden.“

Erik lächelte. „Ich würde eine DeWildes – Filiale nicht als Laden bezeichnen.“

„Eins zu null für Sie“, sagte Grace, ebenfalls lächelnd. „Wer könnte das besser wissen als ich, die ich das Firmenkonzept mit entwickelt habe.“

„Sie sind zu bescheiden. Es ist allseits bekannt, dass Sie diejenige waren, die die DeWilde-Philosophie kultiviert hat und die sozusagen die geistige Mutter der Marketingstrategie war.“

„Sie übertreiben, Erik“, wandte Grace ein.

„Ich glaube nicht. Jedenfalls hat ihr Weggang in der Firmenleitung höchste Alarmstufe ausgelöst.“

„Sie scheinen über die DeWildes bemerkenswert gut informiert zu sein.“

„Das ist mein Beruf“, sagte Erik. „Aber ich muss zugeben, es war nicht einfach, an Informationen zu gelangen. Für eine Familie, die eine Firma von derartiger Größe besitzt und leitet, sind erstaunlich wenig Interna nach außen gedrungen.“

„Ja, die Familie hält zusammen, muss ich gestehen. Sie waren alle nicht sehr glücklich, als ich beschloss, mich … abzusetzen.“

Rita hörte den bitteren Unterton, den Grace nicht verbergen konnte. Ihre neue Chefin hatte ihr die intimen Details ihrer zerbrochenen Ehe nicht mitgeteilt, und Rita hatte das auch nicht erwartet. Aber Grace war immer noch sehr traurig, das war unschwer zu erkennen.

Auch Erik war der traurige Unterton in Grace’ Stimme nicht entgangen. „Ich hatte nicht vor, Sie zu bekümmern, aber wenn wir das geplante Unternehmen auf die Beine stellen wollen, ist es unerlässlich, uns einen klaren Überblick der Situation zu verschaffen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man sagen, dass Ihre Absicht, ein Geschäft zu eröffnen – unter welchem Namen und unter welchen Umständen auch immer –, bei den DeWildes erbitterte Gegenreaktionen hervorrufen wird.“

„Da haben Sie wahrscheinlich recht“, stimmte Grace ihm zu. „Aber davon lasse ich mich nicht abschrecken.“

Erik lächelte. „Gut. Dann sind wir uns einig.“

„In der Tat“, sagte Grace und erhob sich. „Ich glaube, wir haben Ihre Zeit nun ausreichend in Anspruch genommen.“

Auch Rita und Erik standen auf. „Bevor Sie gehen“, sagte er, „möchte ich, dass Sie meinen Partner Rudy Laughton kennenlernen. Er ist Anwalt und wird sich um alle gesetzlichen Aspekte Ihres Unternehmens kümmern. Wenn Sie möchten, kann Eleanor Sie gerne in sein Büro führen. Es ist gleich da vorne, den Flur entlang.“

„Sehr gerne“, sagte Grace und hielt ihm ihre Hand hin. „Wir bleiben in Verbindung.“

Er schüttelte ihr höflich die Hand. „Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.“

Als Grace das Büro verlassen wollte, machte Rita sich auf, ihr zu folgen, aber bevor sie die Tür erreichen konnte, hielt Erik sie zurück. „Könnte ich eine Minute mit dir sprechen, Rita?“

Rita drehte sich abweisend zu ihm. „Oh, ich glaube nicht …“

„Es ist schon in Ordnung, Rita“, unterbrach sie Grace zu ihrem Leidwesen. „Wir sehen uns dann, nachdem ich Mr. Laughton kennengelernt habe.“

Rita blieb nichts anderes übrig als zuzusehen, wie Eriks Sekretärin hereinkam und Grace hinausführte. Das letzte, was sie wollte, war, mit diesem Mann allein zu sein, also flüchtete sie sich, noch bevor er etwas sagen konnte, in geschäftliche Details. „Wir haben noch zusätzliche Informationen dabei. Ablaufbeschreibungen, Projektentwürfe …“

Sie kramte in ihrer Tasche nach den Papieren, als Erik seine Hand auf die ihre legte. „Ich werde sie mir später ansehen. Im Moment möchte ich eher wissen … wie ist es dir ergangen?“

Das hätte er nicht tun sollen, dachte sie bestürzt. Er hätte mich nicht anfassen sollen. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn er Abstand gewahrt hätte, oder wenn Grace noch mit im Raum gewesen wäre. Aber nun, da sie allein waren und seine Hand auf ihrer lag, begann Rita den letzten Rest ihrer mühsam aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung zu verlieren. Sie zog ihre Hand weg.

„Wie es mir ergangen ist?“, fragte sie spitz. Sie versuchte so kühl wie nur möglich zu wirken, aber ihre dunklen Augen blitzten. „Eine interessante Frage, vor allem, weil sie von dir kommt.“

Er zuckte zusammen, hielt aber ihrem Blick stand. „Ich habe damals schon gesagt, wie leid mir alles tut.“

„Ja, das hast du. Und wenn du dich erinnern kannst, habe ich schon damals gesagt, dass das nicht genug ist. Ich habe meine Meinung nicht geändert.“

„Ich habe mich entschuldigt. Was kann ich mehr tun?“

Sie starrte ihn an. „Wirklich unglaublich. Du bist immer noch derselbe arrogante, widerwärtige Mensch wie früher. Es ist dir eben unwichtig, dass du mich und alle anderen Glencannon-Angestellten hintergangen hast. Und wofür? Damit du beweisen konntest, wie schlau du bist? Damit du noch mehr Geld scheffeln konntest?“

Er sah beklommen zu Boden. „So war es nicht.“

„Ach ja? Du hast das Leben dieser Menschen ruiniert, Erik. Wenn du Mr. Glencannon am letzten Tag gesehen hättest …“ Sie brach ab, bevor sie irgendetwas sagte, das sie später bereuen würde. Abrupt wandte sie sich ab und starrte zum Fenster hinaus. Ich muss mich in den Griff kriegen, bevor Grace wieder zurückkommt, sagte sie sich.

„Es tut mir leid, Rita“, sagte Erik hinter ihr. „Ich würde das gern wiedergutmachen.“

„Warum?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen. Bevor er antworten konnte, winkte sie zornig ab. „Es macht jetzt keinen Unterschied mehr. Es ist vorbei.“

„Wenn du so denkst, warum bist du immer noch so wütend?“

„Ich bin nicht wütend!“

„Mach mir nichts vor.“

Sie wirbelte herum, in der Absicht, ihm eine spitze Bemerkung darüber entgegenzuschleudern, dass er ihr etwas vorgemacht hatte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so dicht hinter ihr stehen würde. Als sie merkte, dass er kaum einen Schritt entfernt war, taumelte sie zurück. Er griff nach ihr, um sie zu stützen.

„Fass mich nicht an!“, stieß sie hervor.

Er ließ sie nicht los. Rita versuchte sich loszureißen, aber er hielt ihren Arm immer noch umklammert, und als sie den Fehler beging, zu ihm hochzuschauen, erstarrte sie bewegungsunfähig. Einen Moment lang standen sie einfach nur da, Auge in Auge.

Das Verlangen, das er früher schon in Rita zu erwecken imstande war, ergriff plötzlich von ihr Besitz, und unwillkürlich fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Einen verzweifelten Augenblick lang wollte sie nichts anderes als ihre Arme um seinen Nacken schlingen und seinen Kopf zu ihrem herunterziehen. Unbewusst öffnete sie die Lippen und schloss die Augen. Oh, ihn jetzt küssen, seine Umarmung spüren, ihren Körper an seinen pressen …

Mit einer ungeheuren Willensanstrengung kam sie wieder zur Vernunft und wich zurück. „Lass mich bitte los“, sagte sie kühl.

Diesmal gehorchte er. Aber als sie zur Tür ging, wusste sie, dass er sie mit den Augen verfolgte. Schweigend warteten sie zusammen, bis Grace in Begleitung von Rudy Laughton zurückkam. Rita wurde Eriks Partner vorgestellt, und es gelang ihr während des folgenden Wortwechsels, sich einige Schritte von Erik zu entfernen. Als Rita und Grace sich schließlich verabschiedet hatten, entfuhr Rita ein erleichterter Seufzer. Ich war noch nie so froh, von irgendwo wegzukommen, dachte sie.

Rita war kaum überrascht, als Grace sie im Taxi ansprach. „Ich wusste nicht, dass Sie und Erik sich bereits kennen.“

Das war Ritas Stichwort, sie musste die Gelegenheit nutzen. „Wenn ich gewusst hätte, dass er der Mann war, den wir treffen sollten, hätte ich Sie vorher gewarnt.“

Grace runzelte die Stirn. „Wieso?“

„Erik Mulholland ist kein sehr netter Mensch.“

„Sie meinen persönlich?“

„Ich meine in jeder Hinsicht“, erwiderte Rita rau.

„Ich nehme an, Sie beziehen sich darauf, dass er als Organisator mehrerer Unternehmensfusionen berühmt berüchtigt ist.“

„Der Ruf ist wohlbegründet, glauben Sie mir. Erinnern Sie sich noch, dass ich Ihnen erzählte, auf welch unschöne Weise das Glencannon-Kaufhaus aufgekauft wurde? Dafür war niemand anderer als Erik Mulholland verantwortlich.“

Grace schwieg eine Weile. „Er wurde mir von höchster Stelle empfohlen.“

„Das glaube ich. Er ist sehr gut in seinem Job.“

„Ja, das war auch der Grund, warum ich mit ihm sprechen wollte.“ Grace tippte sich nachdenklich an die Lippen. „Das rückt die Sache in ein ganz anderes Licht, nicht wahr?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, ich muss zugeben, Erik hat mich ziemlich beeindruckt. Aber wenn ich mich entschließen sollte, mit ihm zusammenzuarbeiten, werden Sie vermutlich ein Problem damit haben, oder?“

Sieht man mir das so leicht an? fragte sich Rita verzweifelt. Aber sie war entschlossen, Grace’ Frage nicht zu beantworten, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben. „Haben Sie denn schon entschieden, ob Sie mit ihm zusammenarbeiten wollen?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein, noch nicht“, antwortete ihre Chefin zu ihrer Erleichterung, fügte dann jedoch hinzu: „Aber ich muss sagen, ich neige dazu, Ja zu sagen. Auch Eriks Partner hat mir gut gefallen. Sie sind ein gutes Team, denke ich.“

Ohne Vorwarnung schoss Rita ein Bild aus früheren Tagen durch den Kopf: Eriks schlanker, aber kraftvoller Körper über ihr, das Glänzen seiner schweißnassen Armmuskeln, als er sich langsam auf sie legte. Ihr war, als könnte sie sogar sein Gewicht spüren. Sie schloss die Augen. Einst hatte sie gedacht, sie würden auch ein gutes Team abgeben.

Sie schüttelte den Kopf und verscheuchte die Erinnerung. Ihre Affäre war Vergangenheit. Nun war es an der Zeit, sich mit der unliebsamen Gegenwart auseinanderzusetzen.

Zu ihrem Glück hielt das Taxi gerade vor Grace’ Wohnblock, und Rita wurde von der Pflicht enthoben, zu antworten. Als sie ausgestiegen waren, drehte sich Grace, die gerade das Haus betreten wollte, noch einmal zu Rita um. „Das war ein langer Tag. Fahren Sie heim und erholen sich eine Zeitlang. Wir können morgen früh über Erik Mulholland sprechen.“

Erleichtert winkte Rita zum Abschied und ging hinüber zu ihrem Auto. Zeit war genau das, was sie jetzt brauchte. Zeit, um die Gefühle in ihrem Inneren zu beruhigen und nüchtern darüber nachzudenken, wie sie nun vorgehen sollte. Zeit, um sich – beruflich und privat – darauf vorzubereiten, Erik wieder gegenüberzutreten.

Wegen eines Autounfalls brauchte Rita über eine Stunde für die Fahrt nach Hause. Viel zu viel Gelegenheit für sie, über Erik nachzudenken. Ich habe ein echtes Problem, dachte sie, während sich die Autoschlange nur im Schneckentempo vorwärts bewegte. Was soll ich tun? Kann ich wirklich mit Erik zusammenarbeiten?

Sie schloss die Augen. Mühelos konnte sie sich daran erinnern, wie seine Lippen sich auf ihren angefühlt hatten, welches Verlangen jeder Kuss in ihr ausgelöst hatte. Sie erinnerte sich an sein weiches Haar, den Duft seiner Haut, seinen Blick …

Das Hupen eines ungeduldigen Autofahrers holte sie abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Zitternd umklammerte sie das Lenkrad. Wenn allein die Erinnerung an Erik sie so aus der Fassung brachte, wie konnte sie jemals glauben, sie könnte es aushalten, von Angesicht zu Angesicht mit ihm zusammenzuarbeiten? Es ist unmöglich, dachte sie. Ich muss Grace morgen sagen, dass es mir unmöglich ist, mit Erik zu kooperieren. Wenn Grace Erik Mulholland engagiert, muss ich kündigen.

Kündigen? Und eine berufliche Chance wie diese einfach sausenlassen? schalt sie sich gleich selbst. Das kommt überhaupt nicht in Frage! Was ist nur los mit mir? Seit Jahren habe ich von einer solchen Chance geträumt, und nun, da sie in greifbarer Nähe ist, will ich einfach davonrennen? Nein! beschloss sie. Gleich morgen früh sage ich Grace, dass ich, wenn sie Erik engagieren will, keine Probleme damit haben werde, mit ihm zusammenzuarbeiten. Schließlich, dachte sie, während der Verkehr endlich schwächer wurde, sind Erik und ich beide Profis. Solange alles streng geschäftlich bleibt, wird es kein Problem geben.

Überhaupt kein Problem.

4. KAPITEL

Als älteste Tochter der Shannons aufgewachsen, umgeben von vier Schwestern und zwei Brüdern, war Rita ihren jüngeren Geschwistern wie eine zweite Mutter gewesen. Aber ihre Schwester Marie, die zwei Jahre jünger war als Rita, hatte ihr schon immer am nächsten gestanden. Es war Samstagnachmittag, und Rita war gerade beim Hausputz, als Marie anrief und wie immer ohne Umschweife zur Sache kam.

„Also“, sagte sie, „wie ist der neue Job?“

Rita legte den Mopp weg, mit dem sie gerade den Küchenboden gewischt hatte, und warf sich in einen Sessel. „Ganz okay.“

„Du arbeitest für eine Frau, die du seit dem College bewunderst, und alles, was du zu sagen hast, ist ganz okay?“

Rita grinste. „Ich hätte wissen sollen, dass du mich durchschaust. Also gut, es ist großartig. Ich arbeite zwar erst seit einer Woche, aber ich lerne jeden Tag etwas Neues. Grace ist einfach faszinierend.“

„Und wann wird das neue Geschäft eröffnet?“

„Noch lange nicht“, sagte Rita lachend. „So was braucht eben seine Zeit. Wir arbeiten immer noch am Konzept. Ehrlich gesagt, wir haben noch nicht einmal damit begonnen, geeignete Ladenräume zu suchen. Aber ich habe einen Immobilienmakler beauftragt.“

„Ich kann es kaum erwarten“, sagte Marie seufzend. „Ich habe schon immer davon geträumt, in einer DeWildes – Filiale einzukaufen.“

„Ich auch. Aber das wird keine neue DeWildes – Filiale, sondern eine ganz andere, eigene Firma.“

„Und wie anders?“

„Nun, das Geschäft soll mehr nach … San Francisco aussehen. Sag es keinem, denn es ist erst so eine Idee, aber wir dachten an eine bombastische Eröffnungsfeier. Hauptattraktion: ein nachtschwarzes Brautkleid. Dazu eine Auswahl an reinweißen Kleidern für die Hochzeitsgäste.“

Marie pfiff durch die Zähne. „Das ist selbst für diese Stadt ziemlich avantgardistisch, findest du nicht?“

„Wieso, es ist doch ein fabelhafter Einfall, der jede Menge Aufmerksamkeit erregen wird.“

„Das bezweifle ich nicht. Und was gibt’s als i-Tüpfelchen auf der Party?“

„Oh, da denke ich mir schon noch etwas aus.“

„Klingt ganz nach meiner Schwester. Du warst schon immer so zuversichtlich.“

Eriks Gesicht tauchte unvermittelt vor Ritas geistigem Auge auf, und sie zuckte zusammen. Auf Grace’ Bitte hin hatte sie während ihrer gestrigen Mittagspause einige zusätzliche Papiere zu Erik gebracht. Sie hatte gehofft, er würde beim Essen sein, aber er hatte in seinem Büro gearbeitet, und als er sie zum Mittagessen eingeladen hatte, hatte sie es vor lauter Überraschung nicht geschafft abzulehnen. Sie waren in ein neues Lokal in der Nähe seines Büros gegangen. Wieso habe ich diese Einladung bloß angenommen? hatte sie sich sofort gefragt. Ich will mit diesem Mann nicht essen gehen. Ich will ihn überhaupt so wenig wie möglich sehen.

Aber nun gab es kein Entkommen mehr. Sie bestellte einen Salat, von dem sie voraussichtlich keinen Bissen herunterkriegen würde. Eriks ausnehmend charmantes Verhalten irritierte sie. Sie trank ihren Wein in einem Zug, als wäre er ein Elixier, und fühlte sich danach nicht mehr ganz so nervös.

Auf seine Frage, wie ihr der neue Job gefalle, hatte sie ihm geantwortet, sie habe bisher jede Minute genossen.

„Das kann ich verstehen“, erwiderte er. „Grace DeWilde ist eine bemerkenswerte Frau.“

Rita nickte zustimmend. Über Grace zu sprechen schien ihr harmlos genug. „Das ist sie. Das neue Geschäft wird wie eine Bombe einschlagen. Du kannst dir nicht vorstellen, welch großartige Ideen Grace hat …“ Sie sah ihn fragend an. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein, nein. Es ist nur – könnte sein, dass noch ein paar Probleme auf uns zukommen.“

„Ja. Grace hat mir erzählt, dass ihr Mann wegen ihres neuen Geschäfts einen Riesenaufstand macht. Aber sie schien darüber nicht sonderlich besorgt. Oder sollte sie das sein?“

„Nein, es gibt keine Schwierigkeiten, mit denen Rudy und ich nicht fertig werden könnten – jedenfalls bisher. Und wir wussten ja schon vorher, dass die DeWilde Corporation nicht darüber begeistert sein würde, dass Grace ihr das Territorium streitig macht.“

„Es ist nicht ihr Territorium!“, warf Rita kämpferisch ein. „Grace hat das Recht, ein Geschäft aufzumachen, wo auch immer sie will!“

„Ja, aber das ist nicht einfach irgendein Geschäft. Und es könnte sein, dass sie den Firmennamen DeWildes nicht benutzen darf.“

Rita beruhigte sich. „Das weiß sie. Und es macht ihr kein Kopfzerbrechen. Sie denkt ohnehin darüber nach, das Geschäft ‚Grace‘ zu nennen.“

„Gefällt mir“, sagte Erik. „Der Name passt zur anmutigen Eleganz der Besitzerin.“

Rita nickte erneut beifällig. „Sie ist wirklich elegant, nicht wahr? Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel Klasse und Köpfchen wie sie.“

„Oh, du hast schon auch deine Qualitäten.“

Der Wein hatte sie übermütig gemacht. „Ach, findest du?“, fragte sie.

Und plötzlich, wie aus dem Nichts, lag eine eigentümliche Spannung in der Luft. Erik beugte sich über den Tisch zu Rita, seine Augen hielten die ihren gefangen. „Das weißt du doch.“

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Verlegen sah sie weg und hielt sich an ihrem beinahe leeren Weinglas fest. Dann kam der Ober und nahm ihre Bestellung auf. Nachdem er wieder gegangen war, war Rita so fest entschlossen, keine private Unterhaltung mehr zuzulassen, dass sie jeden Unsinn daher plapperte, der ihr in den Sinn kam. Sie sprach so schnell, dass Erik beim besten Willen nicht mehr zu Wort kam.

Erst als sie das Lokal verlassen hatten und sich draußen anschickten, wieder getrennte Wege zu gehen, sagte er: „Ich habe das Treffen sehr genossen, Rita. Wir müssen das bald wiederholen.“

Sie wusste, dass es nicht das war, was er erwartete, aber sie antwortete: „Jetzt, da wir beide für Grace arbeiten, wird es wohl jede Menge geschäftliche Treffen geben.“ Sie gab Erik keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, sondern sprang rasch in ein Taxi, das am Straßenrand parkte, und winkte zum Abschied.

„Colleen und ich waren uns gestern darüber einig, dass bei Maxwell & Co. zu kündigen das Beste war, was du je getan hast. Findest du nicht? Rita? Rita, hörst du mir überhaupt zu?“

Maries Stimme brachte Rita wieder in die Realität zurück. „Natürlich“, sagte sie, obwohl sie in den letzten fünf Minuten kein Wort gehört hatte. „Was hast du gesagt?“

Marie seufzte. „Ich sagte, ich habe sowieso nie verstanden, warum du nicht schon früher bei Maxwell gekündigt hast. Du und deine falschverstandene Loyalität! Du hättest es in einem anderen Kaufhaus in null Komma nichts wieder zur Chefeinkäuferin gebracht.“

„Ja, aber wenn ich früher gekündigt hätte, wäre ich nicht gerade dann auf Arbeitssuche gewesen, als Grace nach San Francisco kam und eine Assistentin brauchte. So hat alles perfekt zusammengepasst.“

„Das ist wahr. Wenn ich dich richtig verstehe, war das für dich also wieder kein Wink des Schicksals, endlich sesshaft zu werden.“

„Sesshaft werden?“ Rita schüttelte sich. „Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich nicht heiraten will.“

„Vielleicht änderst du ja mal deine Meinung. Wenn du zu lange wartest …“

„Ach, bitte – erspar mir das Märchen von der tickenden biologischen Uhr. Du weißt, wie ich darüber denke. Die Geschichte wurde von Männern erfunden, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass Frauen ihren Platz am Herd haben. Außerdem – angesichts dessen, was du und Colleen und Martha und Louise mit euren Kindern mitgemacht habt – glaubst du wirklich, dass ich da noch Lust auf Mann und Nachwuchs habe?“

„Das meinst du nicht wirklich.“

„Doch, das meine ich“, sagte Rita stur. „Aber lass uns nicht darüber streiten. Ich bin überzeugt, dass Ehe und Kinder zwei der größten Freuden im Leben einer Frau sind. Aber du vergisst einen entscheidenden Punkt. Bevor ich anfange, ans Heiraten und Kinderkriegen zu denken – meinst du nicht, dass es, zumindest in absehbarer Zukunft, in meinem Leben erst mal einen Mann geben sollte, der sich als Gatte und Vater eignet?“

„Vielleicht hättest du ja längst einen finden können, wenn deine Ansprüche nicht so verdammt überzogen wären.“

„Ich bin eben wählerisch.“

„Du bist unmöglich.“

„Vielleicht gibt es ja auch keinen Mann, der zu mir passt.“

„Wie willst du das wissen, wenn du nicht einmal suchst?“

„Wir wollten doch aufhören, darüber zu streiten.“

„Also gut. Eigentlich habe ich ohnehin angerufen, um dich etwas anderes zu fragen. Du solltest doch einen Ort suchen, wo wir Moms und Dads Hochzeitstag feiern können.“

Rita stöhnte. Bei all dem Stress der letzten Wochen hatte sie das völlig vergessen. „Das erledige ich sofort“, sagte sie schuldbewusst.

„Ach, Rita! Es kommt nicht jeden Tag vor, dass unsere Eltern ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag feiern! Ich will, dass an diesem Tag alles perfekt ist.“

„Ich weiß, ich weiß. Ich kümmere mich darum.“

„Na hoffentlich.“

„Ich versprech’s.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie sich eine Tasse Kaffee und trat hinaus auf die Terrasse. Das Haus bot einen herrlichen Blick über die Bucht von Sausalito. Aber Rita hatte im Augenblick keinen Sinn für das friedliche Panorama.

Die letzten Tage waren für sie ebenso aufregend gewesen wie für ihre Chefin. Grace hatte einen Korb mit Champagner und italienischen Pralinen bekommen – darin ein Brief, der besagte, dass ihr Sohn Gabriel und seine Verlobte Lianne Beecham durchgebrannt waren, um zu heiraten. Rita wusste, wie Grace sich darauf gefreut hatte, Gabe und Lianne bei der Planung ihrer Hochzeit behilflich zu sein; schließlich war das ihr Beruf. Gleichzeitig hätte es ihr die Möglichkeit geboten, ihr Verhältnis zu ihrem Sohn zu verbessern, das seit der Trennung von Jeffrey und dem Umzug nach San Francisco deutlich abgekühlt war.

Grace’ Traurigkeit angesichts des Briefes hatte auch Rita angesteckt, obwohl sie sich eingestehen musste, dass ihre eigene Verwirrung auf einem ganz anderen Problem beruhte. Jetzt, da Grace Erik offiziell damit beauftragt hatte, Investoren für ihr neues Geschäft zu suchen, musste Rita sich mit der Situation anfreunden, dass er wohl oder übel Teil ihrer beruflichen Zukunft werden würde.

Sie hatte es geschafft, Erik wiederzusehen, ohne sich zu sehr zum Narren zu machen – noch. Aber nun, da sie zusammenarbeiten mussten, würde sie ihre Gefühle unter Kontrolle bringen müssen. Warum hing sie vergangenen Gefühlen nach, wo doch ihre ganze Zukunft auf dem Spiel stand? Ich war doch immer ein Profi, dachte sie, und ich bin gut in meinem Job. Ich werde mir diese berufliche Chance nicht vermasseln.

Das Klingeln des schnurlosen Telefons, das sie mit nach draußen genommen hatte, ließ sie zusammenzucken. Im Glauben, es sei ihre Schwester, die noch einmal anrief, nahm sie den Hörer ab. „Was gibt es noch, Marie?“

Nach einer kurzen Pause hörte sie eine vertraute männliche Stimme. „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber hier ist …“

Sie wusste, wer es war. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie setzte sich in ihrem Sessel auf. „Hallo, Erik. Woher hast du meine Nummer?“

Autor

Judith Arnold

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