Weihnachten im Harrington Park Hotel (3-teilige Serie)

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STÜRMISCHES WIEDERSEHEN IN DER STADT DER LIEBE von LIZ FIELDING
James Harrington! Chloe kann es nicht fassen, als der attraktive Hotelerbe plötzlich vor ihr steht. Vor Jahren hatten sie eine heiße Romanze, doch ihre Eltern sorgten dafür, dass Chloe ihn nicht wiedersehen durfte – mit dramatischen Konsequenzen! Vergessen konnte Chloe ihre große Liebe nie. Seine graugrünen Augen, die sinnlichen Lippen … Im weihnachtlichen Kerzenschein in Paris flammen die lustvollen Gefühle zwischen ihnen wieder auf. Aber kann es einen Neuanfang für sie geben, nach allem, was geschehen ist?

SÜẞE BESCHERUNG FÜR DEN PRINZEN von KANDY SHEPHERD
Prinz Edward von Tianlipin weiß, dass sein Leben der Krone gehört. Selbst seine Braut wurde schon vor Jahren für ihn bestimmt. Doch als er in Singapur die zauberhafte Sally vor dem Ertrinken rettet, fühlt er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Nur für eine Nacht will er seine Pflicht vergessen. In seinem Penthouse über den Dächern der Stadt verbringen sie Stunden ungezügelter Leidenschaft. Dann muss er die Romanze ohne ein Wort beenden. Denn als Thronfolger darf er nicht seinem Herzen folgen! Oder kann es ein Weihnachtswunder geben?

FEST DER LIEBE MIT DEM BOSS? von SUSAN MEIER
Kurz vor Weihnachten reist Eventplanerin Erin mit Tycoon Hugo Harrington nach London, um die Eröffnung seines Luxushotels vorzubereiten. Ein Job, mehr nicht! Auch wenn die alleinerziehende Mutter heimlich für Hugo schwärmt, ist er als ihr Boss tabu! Doch als dichtes Schneegestöber sie eines Abends zwingt, bei Hugo in seiner Penthouse-Suite zu übernachten, ist es um sie geschehen: Nach einem ungeahnt romantischen Dinner verbringt sie den Rest der Nacht in seinen Armen. Ein Fehler? Am Morgen muss sie fürchten, dass Hugo ihr Entscheidendes verschwieg …


  • Erscheinungstag 02.11.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751528153
  • Seitenanzahl 420
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
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Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2020 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Christmas Reunion in Paris“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA , Band 222021 11/2021
Übersetzung: Anike Pahl

Abbildungen: Song_about_summer / Shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783751507097

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Lokalteil, London Evening Post, 28. September

Nach einem vorangegangenen Meeting mit Gläubigern des Harrington Park Hotels hat der Eigentümer Nicholas Wolfe am heutigen Tag verkündet, einen Antrag auf Insolvenz gestellt zu haben.

Einst wurde der Name des renommierten Hauses mit einem sehnsüchtigen Seufzer im Flüsterton genannt und als Heim, fern der Heimat für diejenigen bezeichnet, die wohlhabend genug waren, sich das Luxushotel leisten zu können. Doch nach dem Tod von Rupert Harrington vor zwanzig Jahren verlor das Hotel schnell an Glanz.

Seine Witwe Katherine übertrug das Eigentum auf ihren zweiten Ehemann, den amerikanischen Geschäftsmann Nicholas Wolfe, damit sie sich auf ihre junge Familie konzentrieren konnte. Allerdings fehlte Wolfe der magische Harrington-Touch, und so geriet die Marke unter seiner Leitung allmählich ins Wanken. Nach Katherines tödlichem Verkehrsunfall schien das Schicksal des Hotels endgültig besiegelt.

Gerüchten zufolge soll sich James Harrington – Besitzer des Michelin-Sternerestaurants L’Étranger und jüngerer Sohn von Katherine und Rupert Harrington – mit seiner Zwillingsschwester Sally Harrington, ihres Zeichens Innenarchitektin, zusammengetan und gemeinsam mit ihr ein Angebot abgegeben haben. Die beiden hoffen, dieser Ikone unter den Londoner Hotels wieder zu ihrem früheren glorreichen Rang in der Spitzenliga der Hotellerie zu verhelfen.

Chloe war spät dran. Sie sollte längst auf dem Weg zu einem anderen Job sein, aber wegen einer Grippe war die Personaldecke des Hotels sehr dünn, daher hatte man sie gebeten, ihre Schicht zu verlängern. Die Option einer Absage war allerdings nicht infrage gekommen.

Die Doppelschicht hatte sie vollkommen erschöpft. Beine, Füße und Kopf taten ihr weh, aber dies war zumindest das letzte Zimmer.

Ihr war immer unwohl hier oben, wenn die Gäste allmählich vom Shoppen oder Sightseeing zurückkehrten, darum arbeitete sie zügig. Alles musste perfekt sein. Im Geiste ging sie ihre Checkliste durch, um jedem Gast den größtmöglichen Komfort zu garantieren, der in diesem Luxushotel im Herzen von Paris selbstverständlich war.

Die Minibar war aufgefüllt, die frischen Blumen arrangiert und der Obstkorb mit makellosen Früchten bestückt. Eine Flasche Mineralwasser stand neben einem auf Hochglanz polierten Glas, und eine pinkfarbene Schachtel mit federleichten Macarons lag auf dem Tablett neben dem Kaffeeautomaten.

Sie atmete und erschrak, als sie hinter sich das Klicken des Türschlosses hörte. Es war etwas zu früh für den angekündigten Gast. Wahrscheinlich wollte sich die Hausdame vergewissern, dass der Raum vorbereitet war.

„J’ai terminé …“, rief sie.

„Prends ton temps, madame …“

Es war ein Mann, der ihr sagte, sie solle sich ruhig Zeit lassen. Er stellte seine Tasche ab und ging zum Fenster. Sein Französisch klang gut, obwohl es von einem englischen Akzent gefärbt war.

Mit zitternden Händen strich Chloe die Tagesdecke glatt. Immer, wenn sie einem Engländer begegnete, wurde sie nervös, weil sie befürchtete, man könnte sie erkennen. Denn viele der Gäste hatten exklusive internationale Privatinternate besucht – genau wie sie.

Sie befürchtete Hohn und Spott darüber, dass sie hier gelandet war – nicht nur von Angesicht zu Angesicht im Hotelzimmer, sondern auch in den sozialen Medien. Dann müsste sie Paris verlassen und irgendwo anders neu anfangen. Das würde jedoch Geld kosten und ihren großen Traum in immer weitere Ferne rücken.

Doch die Möglichkeit, dass sie enttarnt wurde, war denkbar gering. Zumal das Personal für die meisten Leute schlicht unsichtbar war. Sie sahen nur die Uniform, nie die Person dahinter.

Noch ein letzter prüfender Blick … Der Mann starrte aus dem Fenster auf die Stadt hinunter, die von funkelnden Weihnachtslichtern erhellt war. Chloe sah seine Reflektion in der dunklen Scheibe.

Fassungslos stieß sie seinen Namen hervor.

„James?“

Es war nur ein Flüstern, aber es reichte aus, um seine Aufmerksamkeit weg von den romantischen Lichtern der Stadt auf Chloes Spiegelbild zu lenken.

Einen Moment lang starrten sie einander stumm an. Ihr Herz setzte beinahe aus. Würde er sie überhaupt erkennen? Sich an sie erinnern?

Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da schnellte der Mann zu ihr herum, und sie verlor vor Schreck das Gleichgewicht. Instinktiv streckte sie einen Arm aus, und in der nächsten Sekunde wurde sie von starken Händen aufgefangen und gestützt.

Nicht von einem Geist, sondern von dem Mann, mit dem sie vor einer Ewigkeit für wenige Monate eine intensive und leidenschaftliche Romanze verbunden hatte. Eine Beziehung, die zum Scheitern verurteilt gewesen war, doch das hatte sie in seinen Armen und in ihrer grenzenlosen Naivität einfach ausgeblendet. Ihre ehrgeizigen Eltern hatten andere Pläne für sie geschmiedet.

Und jetzt stand er vor ihr und hielt sie fest – es war kaum zu glauben! Dabei betrachtete er sie wie ein Wesen von einem anderen Stern. Seine tiefgründigen graugrünen Augen hatten sie jahrelang in ihren Träumen verfolgt, genauso wie seine sinnlichen Lippen, die sie schmerzlich vermisst hatte. Für einen Sekundenbruchteil gab sie ihrer Schwäche nach und lehnte sich an ihn.

„Chloe …“ Er hauchte ihren Namen in ihr Haar. So sanft, wie er sie auch zum ersten Mal geküsst hatte … wie er sie zum ersten Mal geliebt hatte.

Das gleiche aufregende Zittern wie damals durchfuhr sie, und für einen Herzschlag, vielleicht auch zwei, war sie wieder das verliebte Mädchen in seinen Armen.

Und dann sagte er noch einmal ihren Namen, voller Unglauben und mit gerunzelter Stirn.

Sie klammerte sich an ihn und wartete auf seinen Kuss, während er anscheinend versuchte, die Prinzessin aus der Schulzeit, in die er sich verknallt hatte, mit einem Zimmermädchen in Verbindung zu bringen.

Seine Verwirrung brachte sie zur Besinnung.

James Harrington … das war ein wunderbarer Traum gewesen. Vor allem in den unvergesslichen Tagen, als ihre Eltern geglaubt hatten, sie würde bei einer ihrer aristokratischen Schulfreundinnen unterkommen. Er hatte ein Häuschen an der Küste gemietet. Sie waren im kalten Meer geschwommen, hatten mitten in der Nacht köstliches Essen gekocht, sich vor dem Feuer geliebt und waren völlig in ihrer Leidenschaft aufgegangen.

Glückselige, kostbare Tage, an denen sie sich nicht verstecken mussten, sondern ihren Traum gelebt und das Leben geplant hatten, das sie eines Tages zusammen in Paris führen würden. Eine Fantasiewelt, in der sie nichts und niemand stören konnte.

Aber dann war die Realität über sie hereingebrochen.

James hatte sein Bestes getan, um Chloe davon zu überzeugen, dass er für sie und ihr Baby sorgen konnte. Sie hatte ihm glauben wollen, aber alles hatte sich geändert, als sie jemand bei der Schulleitung verpfiff.

„Chloe?“ James hielt ihre Hand fest, als sie einen Schritt zurückwich.

„Nein!“

Wut, Verzweiflung und harte Arbeit hatten ihren Tribut gefordert … sie war nicht mehr die alte Chloe. Seine Chloe.

Sie ertrug es nicht, dass er sie auf diese Weise musterte, und entriss ihm ihre Hand, während sie zurück zur Tür stolperte.

„Nein!“, wiederholte sie energischer, als er einen Schritt auf sie zu machte.

Die Heftigkeit ihrer Reaktion hielt ihn auf und gab ihr die Zeit zu fliehen.

„Chloe, warte!“

Seine Unsicherheit war jetzt weg. Alle Zweifel verschwunden. Es war wirklich Chloe! Zehn Jahre älter und ohne die mädchenhafte Energie von früher. Und sie nannte ihn James, nicht Jay, wie es eigentlich jeder andere Mensch tat.

Eine Fremde hätte sich nicht an ihn geklammert, die Lippen geöffnet und ihn auf einen Kuss eingeladen.

Jay war in einem Hotel aufgewachsen und kannte sich hinter den Kulissen aus. Es würde kein Versteck geben, in dem Chloe vor ihm sicher war. Sie schnappte sich hastig Mantel, Tasche und Stiefel und floh in die schmale Gasse hinter dem Gebäude. Die dünnen Sohlen ihrer flachen Arbeitsschuhe rutschten über die eisigen Pflastersteine.

Auf der Hauptstraße verschwand sie schnell zwischen den unzähligen Passanten, die mit glänzenden Tragetaschen aus den weihnachtlich geschmückten Designerläden in der Rue Saint-Honoré beladen waren. Aber Chloe wurde nicht langsamer.

Sie rannte weiter, bis sie die Metro erreicht hatte, wo sie in den ersten Zug stieg, der ankam. Mit klopfendem Herzen tauchte sie in der Menge der Mitfahrenden unter und zitterte mehr vor Schock als vor Kälte.

Es war früher Abend, und das Abteil war voll mit Leuten, die nach einem anstrengenden Tag zurück zu ihren Familien nach Hause wollten, wo sie Wärme, Liebe und ein gutes Essen erwartete.

Chloe sah niemanden direkt an und tauchte stattdessen tief in die Erinnerungen an das letzte Mal ein, als sie in James’ Armen aufgewacht war. Sie dachte an sein Versprechen, dass er immer für sie da sein würde. An den letzten Kuss, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass er für ein wichtiges Cricket-Spiel in einem anderen Teil des Landes aufgestellt worden war.

Keinem von ihnen war in den Sinn gekommen, was nun folgen sollte. Es war ein ganz normaler Schultag gewesen, bis sie in das Büro des Schulleiters gerufen worden war. Dort hatten ihre Eltern sie erwartet, weil ihnen die Schwangerschaftsgerüchte zu Ohren gekommen waren. Irgendjemand hatte heimlich Chloes Sachen gepackt, und innerhalb von wenigen Minuten war sie von der Schule verbannt worden.

Man hatte ihr keine Möglichkeit gegeben, eine Nachricht für James zu hinterlassen.

Selbst wenn er versucht hätte, ihr zu folgen, wäre ihm das nicht gelungen. Denn ihre Eltern brachten sie weder zu ihrem Hampshire-Anwesen noch nach London. Erschrocken hatte sie ihre Mutter gefragt, wohin sie fahren würden. Statt zu antworten, hatte ihre Mutter sich ein Taschentuch fest vor die Augen gepresst und sich von ihrer Tochter abgewandt.

Jay Harrington war fassungslos und konnte sich für einen Moment kaum rühren.

Zusätzlich musste er noch die plötzliche Wende in seinem Leben verdauen, die das Wiederauftauchen seines älteren Bruders nach siebzehn Jahren des Schweigens mit sich brachte. Die Erkenntnis, dass Hugo tatsächlich der neue Besitzer des Harrington Park Hotels war.

Nachdem Jay sich von dem ersten Schock erholt hatte, war er begeistert, dass sein entfremdeter älterer Bruder Hugo ihn um Hilfe bat, um das Hotel wieder zu dem Juwel zu machen, das es einmal gewesen war. Jay und seine Zwillingsschwester Sally sollten die desaströsen Jahre ungeschehen machen, in denen ihr Stiefvater Nick Wolfe das Traditionshaus unter seiner Kontrolle gehabt hatte.

Aber seine Rückkehr hatte brutale Erinnerungen in Jay geweckt … an jenen schrecklichen Weihnachtsmorgen, als er und Sally aufgewacht waren und festgestellt hatten, dass ihr großer Bruder Hugo einfach weg war. Niemand hatte ihnen gesagt, wo er geblieben war oder wann er nach Hause zurückkehren würde.

Ihre Mutter hatte ihr Bestes getan, um die Lücke zu füllen, die Hugos Abwesenheit hinterließ. Sie hatte das Hotel sogar an ihren zweiten Mann Nick übergeben, um mehr Zeit mit ihren verbliebenen Kindern verbringen zu können. Doch dann starb sie bei diesem fürchterlichen Autounfall, und Nick Wolfe hatte sich schnell von der Last seiner ungeliebten Stiefkinder befreit.

Sally hatte das Ganze besonders hart getroffen, und als Hugo plötzlich aus heiterem Himmel aufgetaucht war und sich mit seinen Geschwistern versöhnen wollte, war ihr das anfangs zu viel gewesen. Sie konnte nicht akzeptieren, dass Hugo gezwungen gewesen war, sich von ihnen fernzuhalten, und sich nicht in das hineinversetzen, was er durchgemacht hatte. Jay verstand seine Schwester gut.

Schließlich hatte er selbst endlose Nächte damit verbracht, sich nach denen zu sehnen, die er im Laufe seines Lebens verloren hatte.

Seine Eltern.

Hugo.

Chloe und ihr Baby.

Sie war vor zehn Jahren praktisch vom Erdboden verschwunden. Als er hier gerade unerwartet ihr Spiegelbild im Fenster neben sich gesehen hatte, war sie ihm wie ein Phantom vorgekommen. Doch dann hatten sich ihre Blicke getroffen.

Und er hatte Chloe aufgefangen, als sie schwankte. Er konnte immer noch die Wärme ihrer Hand fühlen, wo er ihre Finger ergriffen hatte. Doch dann war sie geflohen.

Glaubte sie etwa, er würde sie ablehnen?

„Niemals!“

Entschlossen riss Jay die Tür auf und eilte zur Personaltreppe, die direkt zu einem Teil des Hotels führte, den die Gäste nie zu Gesicht bekamen. Er war schon mehrere Stufen nach unten gesprungen, bevor ihn die Realität ausbremste.

Wenn er ein Zimmermädchen verfolgte, das vor ihm geflüchtet war, würde das unwillkommenes Aufsehen erregen. Schließlich war er kein Unbekannter. Er hatte eine große Fernsehshow gewonnen und war der jüngste Koch, der jemals mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde. Sein Restaurant L’Étranger hatte er dank seines Fernsehruhms aufmachen können.

Sein Gesicht war auf dem Cover mehrerer Lifestyle- und Lebensmittelmagazine zu sehen gewesen, besonders hier in Paris, wo Essen praktisch eine Religion war.

Es war ihm egal, was man über ihn redete, aber er wollte Chloe nicht in Schwierigkeiten bringen. Bevor er nicht wusste, weshalb sie hier im Housekeeping arbeitete, musste er sich in Diskretion üben. Denn irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

Die Forbes Scotts waren alter Geldadel. Die Sorte Menschen, die auf ihren eigenen riesigen Landgütern hinter hohen Sicherheitszäunen lebten. Oder in einer Penthouse-Wohnung, die nur über einen privaten Aufzug erreichbar war. Die ihre Ferien auf den privaten Inseln ihrer Freunde verbrachten.

Mächtig, reich wie Krösus und für Leute von außen praktisch unerreichbar. Das hatte er selbst herausgefunden, als er versucht hatte, Chloe zu kontaktieren, und auf eine Mauer des Schweigens gestoßen war.

Sie hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst, während er auf der anderen Seite des Landes gelangweilt als Ersatzmann am Spielfeldrand seiner Mannschaft zugeschaut hatte.

Nach seinem Ruhm in der Show und der Verleihung des Michelin-Sterns hatte er eine Weile in der Hoffnung gelebt, dass Chloe eines Tages im L’Étranger auftauchen würde. Dass sie dort die Club-Atmosphäre im Erdgeschoss genießen und einen Cocktail bestellen würde, um dann nach dem Küchenchef zu fragen. Oder dass sie ihm wenigstens eine Karte mit Glückwünschen schicken würde. Irgendetwas. Vielleicht hätte sie sein Erfolg gefreut, und sie hätte sich an eine zum Scheitern verurteilte, jugendliche Leidenschaft erinnert …

War sie inzwischen mit jemandem verheiratet, den ihre Eltern akzeptierten? Dann würde sie definitiv nicht wollen, dass ihr Leben dadurch komplizierter wurde, dass er plötzlich Antworten verlangte.

Was auch immer in den Jahren seit ihrem Verschwinden von der Schule passiert war, er würde es herausfinden. Oder hatte sie jemanden geheiratet, den ihre Eltern missbilligten? Das könnte sein, denn laut Chloe akzeptierten sie niemanden, der kein Multimillionär war.

Hat sie jetzt eine eigene Familie?

Er lehnte sich gegen die Wand und erinnerte sich an den wütenden Schmerz des jungen Mannes, der er damals gewesen war. An die Probleme einer jugendlichen Schwangerschaft … an seine eigene Unfähigkeit.

Jay schlug mit der Faust gegen die Wand.

Glaubt sie, dass ich ihr Vorwürfe machen würde? Sie hatte ihn vor der Kontrollsucht ihrer Eltern gewarnt, aber in seiner unreifen Arroganz hatte er ihre Ängste abgetan und sich auf das Geld berufen, das ihm sein Vater hinterlassen hatte. Nicht viel, verglichen mit dem Wohlstand ihrer Familie, aber genug, um ein gemeinsames Leben mit Chloe zu beginnen und eine Familie zu gründen.

Fluchend warf er einen Blick auf sein Telefon, das ihn mit einem Hinweiston an das Vorstellungsgespräch mit dem zukünftigen Hotelkoch erinnerte. Jay drehte sich auf der Treppe um – und hielt inne, als etwas auf den Stufen über ihm funkelte. Er streckte die Hand aus und hob ein Stück verbogenes Silber auf. Es war eine verzierte, antike Haarspange. Er wusste das genau, weil er selbst sie Chloe zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte.

Momentan war Chloe außerhalb seiner Reichweite, und die Vorbereitungszeit wurde allmählich knapp, wenn Hugo das Hotel wirklich Heiligabend eröffnen wollte. Eine Terminverschiebung war also nicht drin.

Hastig steckte er die Spange in seine Tasche, um sich später darum zu kümmern.

Dies war gerade eine verrückte arbeitsreiche Zeit für seine Geschwister und ihn, und das Familienhotel in London hatte allerhöchste Priorität.

Trotzdem würde er Paris erst verlassen, nachdem er mit Chloe gesprochen hatte.

Als er das Café erreichte, in dem er sich mit Louis treffen wollte, holte er sein Handy aus der Tasche. Ihm blieben noch ein paar Minuten. Er schrieb seiner Schwester eine SMS.

Sally, ich bin gerade in Paris angekommen und habe Chloe getroffen! Sie arbeitet in meinem Hotel als Zimmermädchen, ist aber sofort weggelaufen, als ich sie erkannt habe. Ich konnte nicht hinterher, weil ich den Termin mit Louis Joubert habe. Morgen versuche ich, mit ihr zu reden. Wie läuft es in Singapur? J x

Ihre Antwort folgte prompt.

OH, MEIN GOTT! Was, um alles in der Welt, macht sie als Zimmermädchen in einem Hotel? Ihre Familie ist doch superreich! Kein Wunder, dass sie geflohen ist. Bestimmt schämt sie sich vor dir. Sei vorsichtig, Jay, du reißt dort wieder alte Wunden auf! S x

Nur Sekunden später kam eine zweite Nachricht von ihr:

Singapur ist übrigens viel wärmer als Paris. Und total inspirierend!

Sally hatte ihrem zweiten Text ein Emoji hinzugefügt, was darauf hindeutete, dass sie ihren Aufenthalt zumindest genoss. Das war eine große Erleichterung nach den letzten anstrengenden Wochen. Aber seine Zwillingsschwester kannte Chloe und wusste, was ihr Verschwinden bei ihm ausgelöst hatte.

Menschen zu verlieren war gewissermaßen zum Fluch ihres Lebens geworden. Es hatte sie zu den Menschen gemacht, die sie heute waren.

„Jay! Es tut mir leid, dass ich zu spät komme. Der Verkehr war mörderisch!“

Louis’ Entschuldigung riss Jay in die Gegenwart zurück, ehe er sich in den Gedanken an die wunderbare, sinnliche Woche mit der Chloe von damals verlieren konnte. Es dauerte einen Moment, bis er sich gesammelt hatte und aufstand, um seinen alten Freund mit einer Umarmung zu begrüßen. Und doch ließ ihn die Vergangenheit nicht los. Die meisten Leute nannten ihn Jay, nur seine Mutter und Chloe hatten James zu ihm gesagt.

Chloe hatte vor ihren Eltern behauptet, sie würde bei einer Schulfreundin übernachten. Und wo er seine Zeit verbrachte, hatte sowieso niemanden interessiert. In jener Woche war das Wetter herrlich gewesen. An ihrem letzten Abend waren sie beide nackt im Meer geschwommen, ohne zu ahnen, dass sie sich bald trennen mussten.

„Kein Problem, Louis. Schön, dich zu sehen.“

„Ist es das wirklich? Du warst gerade meilenweit weg, mein Freund“, lachte der andere Mann und setzte sich.

„Mir geht viel durch den Kopf“, seufzte Jay. „Es ist grad eine verrückte Zeit in unserem Geschäft.“

„In jedem Geschäft“, korrigierte Louis ihn. „Trotzdem hast du bestimmt nicht über die Verbannung des Feigenpuddings aus dem Weihnachtsmenü nachgedacht, oder? Dieser schwermütige Gesichtsausdruck hat doch meistens mit einer Frau zu tun.“

Jay brachte ein schwaches Lächeln zustande. „In dieser Abteilung hast du weitaus mehr Erfahrung als ich.“

Louis hob beide Hände in einer wortlosen Geste, bevor er der Kellnerin mit einem Augenzwinkern ein Zeichen gab und einen Kaffee bestellte.

„Also, wer ist sie?“, wandte er sich danach wieder an Jay.

„Ein Mädchen, das ich vor langer Zeit gekannt habe. Es war ein Schock, ihr hier in Paris in die Arme zu laufen.“

„Ein angenehmer Schock?“

„Angenehm? Es hat mich getroffen wie ein Blitz, wenn ich ehrlich bin.“ Jay hatte immer noch Mühe, die Begegnung zu realisieren. „Das alles ist lange her. Wir waren noch sehr jung.“

„Die bittersüße Erinnerung an die erste große Liebe?“ Louis zuckte mit den Schultern. „Dein Herz bricht, aber nur so wirst du zum Mann.“

„Klingt ziemlich französisch“, spottete Jay, und Louis grinste.

„Was soll ich sagen? Die Welt ist voller schöner Frauen, und in meinen Augen ist Essen das verführerischste Vergnügen im Leben. Es betört alle Sinne: Geruch, Geschmack, Berührung … Na, dir muss ich das nicht erklären, du bist selbst ein Meister dieser Kunst.“

Vor seinem inneren Auge sah Jay, wie er Chloe damals einen Löffel hingehalten hatte, um etwas zu probieren, was er für sie gekocht hatte. Mit geschlossenen Augen hatte sie vor Genuss geseufzt, nachdem sie den Löffel abgeleckt hatte, und war dann in seine Arme gesunken.

„Warum verschwendest du Zeit mit mir, wenn du mit ihr zusammen sein könntest?“, wollte Louis wissen.

„Es ist kompliziert“, antwortete Jay und versuchte, sich auf den Grund zu konzentrieren, weshalb er überhaupt nach Paris gekommen war. „Und diesen Termin mit dir zu vereinbaren war schwierig genug, da wollte ich ihn nicht in letzter Minute absagen.“

Das Harrington Park Hotel war jahrelang heruntergewirtschaftet worden, und nun brauchte es eine Rundumsanierung. Jay hatte Hugo versprochen, ihm einen Koch zu besorgen, der einen der sagenumwobenen Michelin-Sterne mit ins Restaurant bringen konnte. Er hatte schon mit Louis zusammen in Paris gearbeitet, als sie beide noch grün hinter den Ohren gewesen waren.

Es würde eine Herkulesaufgabe werden, Louis zu überreden, mit ihm nach London zu kommen und dem Hotel zu neuem Glanz zu verhelfen. Morgen würde er Chloe suchen, mit ihr sprechen und herausfinden, was vor all den Jahren passiert war und warum sie inzwischen als Dienstmädchen in einem Hotel arbeitete.

Er wagte kaum zu glauben, dass sie ungebunden war. Hatte ein Ring an ihrem Finger gesteckt? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Und trotz Sallys Warnung klammerte er sich an die Hoffnung, dass Chloe Single war.

In dem Wissen, dass Louis ihn nachdenklich betrachtete, konzentrierte Jay sich auf Hugos Pläne für die bevorstehende Hoteleröffnung. Sein großer Bruder brachte diesbezüglich reichlich Erfahrung mit, da er bereits eine äußerst erfolgreiche Kette von Nobelhotels in New York etabliert hatte.

„Also, wie sieht eure Vision für das neue Restaurant aus?“, fragte Louis mit wachsender Neugier.

Wie Jay gehofft hatte, änderte sich die gesamte Körpersprache seines Freundes bei der Erwähnung einer vielversprechenden Verbindung nach New York und der Aussicht, London als Karrieresprungbrett zu nutzen.

Er hatte die Angel ausgeworfen, nun musste er den Fisch nur noch an Land ziehen. „Es wird nicht unsere Vision sein, Louis …“, erwiderte er und machte eine dramatische Pause. „… sondern deine.“

Ich hätte die totale Kontrolle?“ Louis rückte auf seinem Stuhl vor. „Aber du willst doch bestimmt selbst Chefkoch in deinem Familienhotel sein?“

„Das Hotel ist Hugos Leidenschaft, Louis. Ich freue mich sehr, dass es wieder in Familienbesitz ist, und ich helfe gerne, wo ich kann. Doch ich habe meine eigenen Ambitionen.“

„Mehr Restaurants?“

„Ich habe ein paar Ideen“, gab er zu. „Zuerst werde ich eine Essenskolumne für eines dieser angesagten Lifestyle-Magazine schreiben. Und ich arbeite zusammen mit einem Verlag an einem Buch, das sich aus dem Blog speisen wird, den ich schon seit Beginn meiner Karriere schreibe.“

„Dein Blog liest sich wie ein einziger Liebesbrief an das Essen.“

Jay hatte den Blog in seinem ersten Winter in Paris begonnen, nachdem er aus London geflohen war. Insgeheim war es seine Art gewesen, mit Chloe zu korrespondieren. Ihr mitzuteilen, wo er lebte, was er tat und was er dachte – ohne den heiligen Zorn ihrer Familie zu wecken.

Nach zwei Jahren bekam er dann seine große Chance in einer Fernsehshow.

Allerdings hatte er so gut wie kein soziales Leben. Nicht aus Mangel an Möglichkeiten, sondern wegen seines Ehrgeizes. Er wollte der Welt zeigen, was er zu erreichen imstande war: Nick Wolfe, Chloes Eltern und auch allen anderen. Als müsste er sich deren Anerkennung und Respekt verdienen.

Hugo und Sally waren gleichermaßen getrieben. Es war ihr Vermächtnis, die Auswirkung ihrer tragischen Familiengeschichte.

Louis wirkte deutlich interessiert. „Mit wem triffst du dich noch, solange du in Paris bist?“

Es war Zeit, die Leine einzuholen.

„Ich habe Hugo versprochen, ihm einen Küchenchef zu suchen, der ihm innerhalb von zwölf Monaten einen Stern für sein Hotel schenkt. Die Konkurrenz in London ist groß, aber ich glaube, du bist der beste Mann für diesen Job, Louis. Die Frage ist: Bist du bereit, dich dieser Herausforderung zu stellen?“ Jay wartete nicht auf eine Antwort, sondern schilderte schnell noch die Einzelheiten des sehr großzügigen Vertrages, den Louis bekäme.

„Wann kannst du in London sein, um mit der Rekrutierung deines Teams zu beginnen?“, fragte er anschließend.

„Bist du dir so sicher, dass ich Ja sage?“

Jay antwortete nicht.

„Es ist ein großer Schritt, alles hinter sich zu lassen.“ Als sein Freund immer noch nichts sagte, fügte Louis hinzu: „Du hast es damals trotzdem getan.“

„Ich hatte nichts zu verlieren, sondern nur etwas zu gewinnen.“

Für Jay war der Umzug nach Paris eine Flucht gewesen. Eine Chance, alles zurückzulassen, was ihn an die Menschen erinnerte, die er verloren hatte.

„Das ist eine seltene Gelegenheit, Louis. Du kannst dich international profilieren, aber wir stehen unter Zeitdruck und müssen Nägel mit Köpfen machen. Bis morgen brauche ich eine Antwort von dir.“

„Ich müsste erst kündigen.“

„Aus Erfahrung weiß ich, dass man keinen Koch zum Bleiben überredet, der mit dem Kopf schon anderswo ist.“ Jay entspannte sich ein wenig, weil er seinen Freund offenbar schon überzeugt hatte. „Hast du keinen Souschef, der für dich einspringen kann?“

Louis lächelte reumütig. „Doch. Einen frühreifen, talentierten Burschen, der mich ziemlich an dich erinnert. Ich spüre jeden Tag seinen heißen Atem in meinem Nacken.“

„Dann ist dies sowohl sein großer Moment als auch deiner.“

„Vielleicht. Er wird billiger sein als ich, und die Zeiten sind hart. Ich werde später mit meinem Chef sprechen. Was auch immer er sagt, ich rufe dich auf jeden Fall morgen an und gebe dir meine Antwort.“

Hugo wollte das Hotel unbedingt am Heiligabend mit einer großen Party eröffnen. Alle standen unter Zeitdruck, um diesen engen Termin zu halten … ein Event, das für Gäste, Mitarbeiter und vor allem für die Familie immer ein ganz besonderes Ereignis gewesen war.

Jay sah heute noch vor sich, wie sein Vater die kleine Sally hochhob, damit sie ihren Weihnachtsschmuck an die riesige Tanne in der Eingangshalle hängen konnte. Er konnte wieder das freudige Kribbeln im Bauch spüren und hatte den Geruch von Tannennadeln in der Nase … dieses stolze Gefühl, wenn er seinen eigenen Schmuck aufhängen durfte. Das lächelnde Gesicht seiner Mutter, während Hugo an die Reihe kam. Und dann die atemlosen Sekunden, bevor der Schalter umgelegt wurde und der Baum in einen glanzvollen Schimmer aus tausend winzigen weißen Lichtern getaucht wurde.

„Das Erstellen und Ausprobieren einer völlig neuen Menükarte braucht Zeit, Jay“, holte Louis ihn aus seinen Erinnerungen zurück.

„Ja, aber du wirst nicht allein sein. Meine Mitarbeiter werden dich unterstützen, bis du dir ein eigenes Team zusammengestellt hast.“ Die Harrington-Geschwister forderten einen Teil ihres Lebens zurück, den sie für immer verloren geglaubt hatten. Es musste einfach ein Erfolg werden. „Außerdem hast du als Profi bestimmt ein ganzes Notizbuch voller Ideen in petto, oder?“

„Danke, Jay.“ Louis stand auf und reichte ihm die Hand. „Mir ist klar, dass dies eine große Chance ist, und ich weiß dein Vertrauen in mich zu schätzen. Falls meine Kündigung angenommen wird, werde ich dich nicht im Stich lassen. Ich konnte sofort aufbrechen. Meine Mutter kann sich um die Untervermietung meiner Wohnung kümmern.“

„Und du könntest vorerst im Hotel unterkommen“, schlug Jay vor, legte etwas Bargeld auf den Tisch und ging mit Louis zur Tür. „Hast du Sally eigentlich schon kennengelernt?“

„Sie kam einmal vorbei, als du hier gearbeitet hast. Ihr seid Zwillinge, oder?“

Jay nickte. Dabei war sie so viel zerbrechlicher als er und hatte die verheerenden Verluste in ihrem Leben kaum verkraftet. Er hatte sich um sie gekümmert, nachdem ihr Stiefvater sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Kaum, dass ihre Mutter verstorben war, hatte er Jays und Sallys Status auf der St. Mary School von Tagesschülern zu Internatsschülern geändert. Doch dann hatte Jay die Schule verlassen, weil Chloe plötzlich verschwunden war.

Das Personal in Chloes Familiensitz in Hampshire und der Londoner Wohnung hatte ihm nichts über Chloes Aufenthaltsort verraten. Er hatte sich nicht zurück ins Internat gewagt und stattdessen in der Küche eines Hotels gejobbt. Auch wenn er nur wenige Minuten älter als seine Schwester war, hatte Jay sich immer für sie verantwortlich gefühlt. Und doch hatte er sie im Stich gelassen – wegen Chloe.

„Sally ist inzwischen eine sehr talentierte Innenarchitektin“, sagte er. „Hugo hat sie gebeten, die Neugestaltung des Hotels zu übernehmen, und sie ist gerade in Singapur, um dort nach Inspirationen zu suchen. Du könntest mit ihr zusammenarbeiten, damit Restaurantinterieur und Menü zusammenpassen.“

„Du denkst an Fusion ?“, fragte Louis mit einem Stirnrunzeln. „Konzeptküche?“

„Ich denke an internationale Küche mit inspirierenden vegetarischen und veganen Gerichten. Wäre das ein Problem?“

„Überhaupt nicht, ich habe dazu viele Ideen, die ich einem Restaurant mit klassischer französischer Küche nie vorstellen konnte. Viele sind sogar von dir inspiriert. Wie lange bleibst du eigentlich noch in Paris?“

Das hing davon ab, ob Louis sein Angebot wirklich annahm. Es war eine arbeitsreiche Zeit im Jahr, und er wurde in seiner eigenen Küche gebraucht. Trotzdem würde er erst abreisen, nachdem er mit Chloe gesprochen hatte.

„Ich werde die Gelegenheit nutzen, mir ein paar Restaurants anzusehen, solange ich hier bin. Hättest du eine Empfehlung für mich?“

Sie blieben in der Tür stehen, wo Louis ihm erst mehrere Lokale vorschlug und dann eine Hand auf Jays Arm legte. „Das Leben ist mehr als Arbeit, Jay. Vergib mir, aber du siehst aus wie ein Mann, der Urlaub braucht. Paris ist die Stadt der Liebe. Finde dein Mädchen, und lass die alten Zeiten wiederaufleben, mein Freund!“

Gedankenverloren sah Jay ihm nach. Louis hatte recht. Er war erschöpft von den vielen emotionalen Besprechungen mit Hugo und Sally in den letzten Tagen. Todmüde, um genau zu sein, aber er wusste, dass er jetzt nicht schlafen könnte.

Anstatt ins Hotel zurückzukehren, machte er einen Spaziergang durch die Kälte und blieb erst stehen, als er in der Ferne die Lichter auf dem Eiffelturm tanzen sah, während eine Glocke in einem nahe gelegenen Kirchturm die Stunde läutete.

Chloe schreckte hoch, als der Zug anhielt, und merkte erst jetzt, wo sie war. Hastig kämpfte sie sich durch die Menge, um auszusteigen. Auf ihrem Telefon waren schon mehrere Nachrichten von Augustin eingegangen, dem das Bistro gehörte, in dem sie abends arbeitete. Er flehte sie an, so bald wie möglich in den Laden zu kommen.

Ihr Kopf pochte schmerzhaft, und am liebsten wäre sie einfach nach Hause gefahren, hätte sich im Bett zusammengerollt und die Decke über den Kopf gezogen. Aber Augustin war immer sehr gut zu ihr gewesen, und sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Außerdem blieb ihr auf diese Weise keine Zeit zum Nachdenken. Beim Servieren setzte sie ein professionelles Lächeln auf und dachte ausschließlich an den Job. Und gerade jetzt brauchte sie etwas, um sich von den Gedanken an das abzulenken, was sie verloren hatte.

James. Ihr Baby …

Ihn wiederzusehen brachte all diesen Schmerz zurück. Für einen Moment war sie so überwältigt von Trauer, dass sie sich an das Treppengeländer des Metroschachts klammerte. Jemand blieb stehen, um zu fragen, ob sie Hilfe brauchte, aber sie schüttelte nur den Kopf und zwang ihre Beine, sich vorwärtszubewegen.

Auf dem Bürgersteig empfing sie eisige Kälte, und Tränen traten ihr in die Augen – auch Tränen der Trauer. Sie blinzelte sie weg, als sie das Bistro erreichte, dankbar für die Wärme und den überschwänglichen Empfang durch Augustin, der sie erleichtert in seine Arme schloss.

Sie schluckte eine Tablette gegen die Kopfschmerzen, band sich das Haar wieder fester zusammen und stellte dabei fest, dass sie ihre silberne Spange verloren hatte. Das antike Schmuckstück, das James ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte.

Das war der Punkt, an dem sie ihren Gefühlen endgültig nachgab und auf den Boden sank, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Chloe? Geht es dir gut?“, erkundigte sich Augustin erschrocken. „ Chérie , was ist los?“

Sie rappelte sich hoch und fuhr mit dem Handrücken über ihr Gesicht. „Nichts. Ich ärgere mich nur, weil ich etwas Kostbares verloren habe. Echt blöd. Ich bin gleich da. Gib mir eine Minute!“

Zweifelnd betrachtete er sie, nickte dann und ließ sie allein. Ein paar Minuten später war sie wieder in ihrem Element, hatte ihre Schürze umgebunden und nahm Bestellungen von ungeduldigen Gästen entgegen.

Der Lohn war nicht der Rede wert, aber das Trinkgeld stimmte. Chloe sparte jeden Cent und hoffte, sich eines Tages eine Zukunft aufbauen zu können. Ein Leben, in dem ihr niemand vorschreiben konnte, was sie zu tun und zu lassen hatte – und wen sie liebte.

Aber sie war schrecklich nervös … Jedes Mal, wenn sich die Tür hinter ihr öffnete, zuckte sie zusammen und erwartete fast, eine vertraute Stimme zu hören.

„Alles in Ordnung bei dir, Chloe?“, fragte der Barmann und ließ gerade den Deckel von einer Bierflasche ploppen.

„Es war nur ein langer Tag.“ Seufzend streckte sie ihren schmerzenden Nacken. „Wir sind im Hotel unterbesetzt, und ich arbeite praktisch für zwei.“

Außerdem hatte sie noch ein großes Problem: Sie wusste nicht, wie lange James im Hotel bleiben würde. Also musste sie ihm geschickt aus dem Weg gehen.

Jay gab den Versuch zu schlafen auf, lange bevor es hell wurde.

Wenigstens hatte er jetzt schon eine Nachricht von Louis erhalten, der bestätigte, dass er den Job annehmen und umgehend nach London abreisen würde. Und trotz der frühen Stunde rief Jay Hugo an, um ihm die frohe Botschaft zu überbringen.

„Danke, Jay. Das ist ein wichtiger Punkt, den ich endlich von der Liste streichen kann. Kommst du mit ihm zusammen zurück?“

Er sollte nach London zurückkehren, aber sein eigener Souschef war mehr als fähig, während seiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Und Jay konnte erst abreisen, nachdem er Chloe gefunden und mit ihr gesprochen hatte.

„Es gibt ein paar Dinge, die ich hier regeln muss“, erwiderte er ausweichend. „Louis soll gern mein Büro anrufen, wenn er Hilfe bei der Rekrutierung von Mitarbeitern benötigt. Wir haben eine Warteliste mit wirklich guten Leuten, denen ich sofort einen Job geben würde, wenn ich eine Stelle in meinem eigenen Restaurant frei hätte.“

„Gut, alles klar. Wir sehen uns dann, wenn du zurück bist.“

Nach einer kurzen Dusche bestellte Jay Croissants und Kaffee beim Zimmerservice. Es war immer noch ziemlich früh, und er hängte vorsichtshalber das Schild mit der Aufschrift Bitte Zimmer aufräumen an die Tür. Anschließend setzte er sich mit seinem Laptop zum Arbeiten an den Schreibtisch.

Es war schon später Nachmittag, als es endlich an der Tür klopfte. Die Stimme, die lautstark das Housekeeping ankündigte, war nicht Chloes. Eigentlich keine Überraschung.

Jay hatte gehofft, sie würde sich ihm stellen, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte. Dass sie ihn zumindest anrufen und sich an einem neutralen Ort mit ihm treffen würde.

Doch das hatte sie nicht getan, und nun stand ein fremdes Zimmermädchen im Raum, das überrascht zu sein schien, ihn dort zu sehen. Mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie sich an die Arbeit machen könne, und wartete eine Weile, ehe er beiläufig fragte: „Wo ist Chloe denn heute?“

„Chloe?“ Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

„Das englische Mädchen, das gestern auf dieser Etage Dienst hatte. Sie war mit meiner Schwester zusammen auf einer Schule“, erklärte er wahrheitsgemäß. „Hat sie ihren freien Tag?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nein. Sie hat sich heute krankgemeldet. Hier grassiert gerade die Grippe.“

„Tut mir leid, das zu hören. Ich hatte gehofft, sie noch zu treffen, bevor ich abreise.“

Das Mädchen hörte auf, die Kissen aufzuschütteln, und sah ihn misstrauisch an.

Er bemerkte den Namen auf ihrem Hotelausweis und schlug einen schmeichelnden Tonfall an. „Meine Schwester reißt mir den Kopf ab, wenn ich mich nicht bei ihrer Freundin melde. Sie haben nicht zufällig Chloes Telefonnummer, Julianne? Oder, noch besser, ihre Adresse?“

„Unten im Büro bestimmt“, murmelte die junge Frau.

Daraufhin verzog er das Gesicht und zückte einen Fünfzig-Euro-Schein. „Das ist mir zu umständlich“, sagte er lächelnd, und eine Minute später hatte er, was er wollte.

Eine Dreiviertelstunde später checkte Jay aus, kaufte unterwegs einen Strauß Blumen und nahm die Metro zum Stadtrand von Paris.

Es wurde bereits dunkel, als er die schäbige Kopfsteinpflasterstraße erreichte, in der Chloe lebte. Ihre Wohnung lag ganz oben im Haus, und er schleppte seinen Laptop und seine Reisetasche die Treppen hinauf. Um ihn herum sahen die feuchten Wände aus, als hätten sie seit einem halben Jahrhundert keinen Anstrich mehr gesehen.

Sein Klopfen blieb unbeantwortet, aber ein Lichtspalt unter der Wohnungstür verriet ihm, dass jemand da war.

„Chloe!“, rief er und klopfte erneut.

Nichts.

Wütend hob er die Stimme. „Komm schon, Chloe! Ich gehe nicht wieder weg, bevor ich nicht mit dir gesprochen habe. Also kannst du mich genauso gut reinlassen.“

2. KAPITEL

Chloe lehnte sich von innen gegen die Tür und kämpfte gegen den verzweifelten Drang an, sie zu öffnen … James noch einmal zu sehen.

Sie war heute mehrmals im Hotel gewesen, um mit ihm zu reden, hatte sich dann aber doch nicht getraut, ihm gegenüberzutreten. Im Gegensatz zu ihr hatte er seine Lebensziele schon erreicht und konnte auf eine aufregende und erfolgreiche Karriere zurückblicken. Seine jugendliche Verliebtheit war bestimmt nicht viel mehr als eine flüchtige Erinnerung für ihn.

Während sie seinen Aufstieg in den Medien verfolgt hatte, war sie dankbar und zufrieden gewesen – weil sie ihm seinen Erfolg gönnte. Weil sie wollte, dass er glücklich war.

Ihm so unerwartet gegenüberzustehen hatte dieses Bild der Selbstlosigkeit jedoch zerstört. Jetzt war sie wütend auf ihn, weil er Gast in einem Luxushotel war, während sie ihm sein Bett machen musste. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien, wie sehr sie hatte leiden müssen. Gleichzeitig dachte sie an diesen magischen Frühsommer von damals …

„Bitte, Chloe“, bat er und brachte sie damit tatsächlich zum Umdenken.

Zögernd drehte sie den Schlüssel im Schloss, und Sekundenbruchteile später standen sie sich schweigend gegenüber. Dann streckte James die Hand aus und streifte ihre Wange mit seinen kalten Fingern. Ohne nachzudenken, schmiegte sie sich an seine Hand wie ein ausgesetztes Kätzchen.

Er zog sie an sich, zog ihren Kopf gegen seine Brust, gegen sein schlagendes Herz. Und sie schlang ihre Arme um seine Schultern, die breiter waren, als sie es in Erinnerung hatte.

James trat einen Schritt vor und nahm Chloe über die Türschwelle mit. Die Blumen, die er in der Hand gehalten hatte, fielen zu Boden. Die Tasche rutschte von seiner Schulter. Wortlos klammerten sie sich aneinander, als wollten sie sich niemals loslassen.

Nach einer Weile hob er den Kopf, sah Chloe an und strich ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. Dann küsste er eine andere weg, und sie schmeckte das Salz, als seine Lippen zurück zu ihren fanden.

Es war lange her, dass sie geküsst worden war – dass sie sich begehrt und schön fühlte. Sie hatte von diesem Moment geträumt und sich immer wieder vorgestellt, wie es sein würde, James endlich wiederzusehen.

Damals war sie knapp siebzehn gewesen und hatte sich in den Armen ihres ersten Geliebten wie eine Prinzessin gefühlt. Sie hatten fast ein Jahr damit verbracht, sich auf intimste Weise kennenzulernen. James kannte alle empfindsamen Stellen, an denen sie gern von ihm berührt wurde.

Sie stöhnte vor Sehnsucht, als er den Kuss vertiefte. Mit einer Hand stahl er sich unter ihren Pullover, liebkoste die Spitzen ihrer Brust sanft mit seinem Daumen.

Die unausgesprochenen Probleme waren vergessen. Es gab nur noch dieses heiße, verzweifelte Bedürfnis, einander nah zu sein. Gemeinsam durchquerten sie die kleine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung, ohne ihren Kuss zu unterbrechen.

Ihre Hände waren einfach überall. Sie wollten sich berühren, sich schmecken, sich gegenseitig Vergnügen bereiten, sich von ihrer Kleidung befreien, um sich von der Realität abzulenken, die ihnen beiden eine Heidenangst einjagte. Sie ließen sich aufs Bett fallen und liebten sich … wild, ungestüm und intensiv.

Danach lag Chloe mit klopfendem Herzen da, ihre Brüste gegen seinen muskulösen Oberkörper gedrückt.

Es war nur ein einziges Wort gefallen, seit James durch die Tür gekommen war. Warte! Und zwar, als sie ihm vor wenigen Augenblicken die Hose geöffnet hatte. Ein letzter Versuch, zu Sinnen zu kommen.

Jetzt war das einzige Geräusch im Zimmer der schwere Atem zweier Menschen, die gerade aus dem Nirvana köstlicher Ekstase zurückkehrten. Und damit war die Realität nicht länger aufzuhalten.

Chloe schluckte. Sie hatte gerade Sex mit einem Mann gehabt, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Etwas Derartiges hatte sie noch nie getan.

Als Teenager war sie dumm und leichtsinnig gewesen, und sie beide hatten einen hohen Preis dafür bezahlt. Und heute? Wie konnte sie so dermaßen die Kontrolle über sich verlieren? Was hatte sie sich dabei gedacht?

Die einfache Antwort war, dass sie überhaupt nicht nachgedacht hatte. Zumindest nicht in den vergangenen Minuten.

Ging es hier nur um Lust? Und was hatten sie sich nach zehn Jahren eigentlich zu sagen?

James drehte den Kopf in ihre Richtung.

„Hallo“, sagte er.

Das war es. So einfach war das? Wohl kaum.

Sie musste sich zu einer Antwort zwingen, weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. Nicht vor Verlegenheit oder Unbeholfenheit, sondern vor Freude darüber, dass ein Wunder geschehen war. Sie beide hatten sich wieder … wenn auch nur für einen gestohlenen Augenblick der Leidenschaft. Einer Leidenschaft, die genauso intensiv und überwältigend war wie damals.

„Hallo.“ Das Wort war kaum hörbar, aber James lächelte und bewegte seinen Arm, damit sie bequemer an seiner Schulter liegen konnte. „Wir brauchen ein größeres Bett.“

Trotz der emotionalen Turbulenzen in ihrem Kopf musste sie lachen.

Früher hatte er einmal genau den gleichen Satz gesagt, als sie zusammen für eine Biologieprüfung lernen wollten und sich stattdessen für die praktische Variante entschieden hatten.

„Du erinnerst dich daran“, stellte er grinsend fest.

„Wie könnte ich das vergessen? Dein Lieblingsfilm war Der weiße Hai , und du hast darauf bestanden, dass ich ihn mit dir ansehe. Ich war geschockt“, gab sie zu und lachte wieder. „Und heute? Was ist heute dein Lieblingsfilm, jetzt, wo du ein berühmter Koch mit Michelin-Stern bist?“

„Es wird immer Der weiße Hai sein.“ Er hob eine Hand, um kurz ihre Wange zu streicheln. „Bist du hungrig?“

Entsetzt sah sie auf die Uhr. „Ach du Schande, ich komme zu spät zur Arbeit!“ Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und lief nackt zur Kommode, um die Schublade nach frischer Unterwäsche zu durchwühlen.

„Arbeit?“

Er setzte sich auf und strich sich sein dunkles Haar mit den Fingern glatt. Das Bett quietschte unter ihm, als er aufstand.

Gleich darauf spürte Chloe seine Körperwärme dicht hinter sich.

„Ich dachte, du hast dich heute krankgemeldet“, murmelte er.

Sie drehte sich zu ihm um. „Ich arbeite abends noch als Kellnerin in einem Bistro.“

James sah sich um und begutachtete das winzige Studio-Apartment. Die Küche war kaum mehr als ein Schrank. In einer Ecke war der Regen durch das Dach gekommen, und die Tapete an der Wand darunter löste sich wegen der Feuchtigkeit.

„Du brauchst zwei Jobs, um so zu leben?“ James war fassungslos.

„Drei. Ich übernehme extra Reinigungsarbeiten, wenn ich sie bekommen kann. Paris ist teuer, und ich werde für den Tag heute nicht bezahlt“, erklärte sie.

„Das können die doch nicht machen“, protestierte er.

„Es ist eine Zeitarbeitsfirma. Die können machen, was sie wollen.“

„Ich kümmere mich darum.“ Er verstummte, als er realisierte, wie überheblich das klang. „Wir müssen uns unterhalten, Chloe.“

„Es gibt nichts zu reden.“ Sie musste dringend duschen, aber als sie sich abwandte, hörte sie plötzlich die Kirchenglocken läuten. „Oh, heute ist ja Sonntag.“

„Den ganzen Tag lang“, bestätigte er trocken.

„Ich …“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Manchmal weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht.“

Um etwas Zeit zu gewinnen, floh sie ins Badezimmer. Das Wasser in der Dusche war leider nur lauwarm, sonst wäre sie sicher dortgeblieben, bis James von allein wieder verschwand.

Allerdings war das unwahrscheinlich. Er ging bestimmt nirgendwo hin, bis er Antworten auf alle Fragen hatte, die ihn jahrelang verfolgt haben mussten. Je früher sie mit ihm sprach, desto eher konnte sie zur Normalität zurückkehren.

Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, war sie angezogen. James machte sich gerade an seinen Hemdknöpfen zu schaffen, von denen einer nur noch an einem Faden hing. Eine Erinnerung an den Moment, als sie sich hektisch gegenseitig ausgezogen hatten.

„Zeig mal her“, bat Chloe. „Ich nähe ihn für dich an.“ Wenigstens hatte sie dann etwas, womit sie sich während ihrer unangenehmen Aussprache beschäftigen konnte. „Und die Antwort auf deine Frage ist: Ja, ich habe Hunger.“

„Ich kenne ein paar gute Adressen. Vielleicht kann ich irgendwo einen Tisch bekommen“, sagte er und legte ihr den abgerissenen Knopf in die Hand. Anschließend schlüpfte er aus seinem Hemd.

Der Junge, den sie geliebt hatte, war ein schlanker, anmutiger Jugendlicher gewesen. Aber die vergangenen Jahre hatten seinem Körper Kraft und Reife verliehen. Er war viel männlicher geworden, und sie musste sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht gleich wieder zurück ins Bett zu locken und die Welt da draußen zu vergessen.

Selbstkontrolle wurde jetzt zum Überlebensinstinkt. Sie musste ihre Gefühle auf Distanz halten und der Versuchung widerstehen, die dieser unglaublich anziehende Mann darstellte. Zwischen ihnen war in der Vergangenheit zu viel vorgefallen.

Unter der Dusche hatte sie sich an all die Gründe erinnert, warum es nie wieder passieren durfte. Es hatte sie beide schon einmal ins Unglück gestürzt!

Mit zitternden Händen zog sie ihren Nähkorb unter dem Bett hervor und suchte nach einer Nadel und dem passenden Faden.

„Tee oder Kaffee?“, wollte er wissen und hielt den Wasserkocher hoch.

„Tee, bitte“, antwortete sie zögernd und konzentrierte sich darauf, den Faden einzufädeln. Doch es gelang ihr nicht.

Wortlos nahm James ihr die Nadel ab und half ihr. Danach kochte er Wasser, goss Tee auf und stellte einen der Becher auf dem Nachttisch neben Chloe ab.

Er setzte sich neben sie.

„Wie lange brauchst du zum Packen?“

„Was? Wieso zum Packen?“ Sie stach sich mit der Nadel und hinterließ dabei einen winzigen Blutfleck auf seinem Hemd. „Ich will nirgendwohin“, murmelte sie.

„Hier kannst du nicht bleiben.“

Na ja, könnte sie schon. Sie müsste ihn nur wegschicken und davon überzeugen, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten.

„Es tut mir leid, James. Das war eine nette Reise in die Vergangenheit, aber lassen wir uns davon lieber nicht mitreißen.“

„Schau mich an, Chloe!“

Seine Stimme war leise und weich, aber sie hatte auch eine unbestreitbare subtile Härte in sich. Chloe gehorchte sofort.

„Sieh mir in die Augen, Chloe, und sag mir noch einmal, dass das nur ein bisschen Spaß für dich war! Dass du so etwas dauernd tust, wenn ein Mann mit einem Blumenstrauß in der Hand an deine Tür klopft!“

Sie wimmerte leise, was sie sofort verriet.

„Glaubst du etwa, ich habe damals nicht nach dir gesucht?“, fragte er rau. „Ich bin mehrfach bei eurem Familienlandsitz gewesen, habe mich unzählige Male mit dem Sicherheitspersonal von eurem Londoner Penthouse angelegt und alle deine Freunde kontaktiert, um etwas über dich herauszufinden. Die haben Hunde auf mich gehetzt!“

„Bist du verletzt worden?“

„Eure Bodyguards haben damit lediglich ihren Standpunkt ziemlich gründlich dargelegt, aber das war nicht das Schlimmste. Ich bekam eine Vorladung in das Büro von Nick Wolfe, wo ein Anwalt mir gedroht hat, mich vor Gericht zu zerren, sollte ich weiterhin deine Familie und Freunde belästigen . Kannst du dir diese Demütigung vorstellen? Diese Hilflosigkeit?“

„Das tut mir leid …“

„Ich will dein Mitleid nicht. Ich will dich , Chloe. Ich habe niemals aufgehört, dich zu wollen, und was gerade passiert ist, haben wir beide gewollt. Bitte, komm mit mir nach London zurück!“

„Nach London?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“

Ihre Emotionen spielten verrückt. Hatte sie sich nicht danach gesehnt, James wiederzusehen? Es war doch sowieso niemals richtig vorbei gewesen zwischen ihnen …

„Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass du eines Tages Kontakt zu mir aufnehmen wirst, Chloe. Es war schon okay, dass wir uns eine Weile nicht sehen konnten, das habe ich schnell begriffen. Aber ich wollte wissen, ob es dir gut geht. Wo warst du denn eigentlich die ganze Zeit?“

„Man hat mich lange in einer Klinik …“

Erschrocken unterbrach er sie. „Warst du krank?“

„Psychisch. Nachdem sie mir unser Baby weggenommen haben.“

Als seine Arme sich dieses Mal um sie schlossen, hielt er sie so fest, dass sie kaum atmen konnte. Sie kannte den Schmerz, den er jetzt fühlte. Ein Stich durch das Herz, den keine Worte jemals heilen konnten.

„Ich … ich habe geahnt, dass sie auf einer Abtreibung bestehen würden“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Aber irgendwo, tief in meinem Inneren, habe ich euch beide zusammen gesehen.“

Sie löste sich von ihm und sah ihn an. Seine Wangen waren feucht, und als sie mit ihrem Finger leicht darüberfuhr, zitterte er. Für einen Moment war sie versucht, ihm zu erzählen, was wirklich passiert war, aber dann würde er auch mit ihrem Kummer belastet sein.

„Es tut mir so leid, James.“

„Entschuldige dich nicht bei mir. Ich bin derjenige, der es vermasselt hat. Ich hätte bei dir sein sollen.“

„Was hättest du denn tun können?“

„Ich hätte versuchen können, dir irgendwie zu helfen. Dich aus den Händen deiner Familie befreien, zum Beispiel.“

Diese heldenhafte Vorstellung rang ihr ein trauriges Lächeln ab. „Und ich hätte so gern deine Mailbox angerufen, nur um deine Stimme zu hören, als ich frei war.“

„Frei?“

„Besser gesagt, als ich mich erholt hatte“, korrigierte sie sich. „Allerdings hat man mir eine Sache sehr deutlich gemacht: Ein guter Ruf ist eine fragile Sache. Wenn ich versucht hätte, dich in irgendeiner Weise zu kontaktieren, wäre das nicht nur für dich, sondern auch für Sally zu einem Skandal geworden. Und sie hatte schon genug gelitten.“

„So sehr waren deine Eltern dagegen, dass wir zusammen sind?“

„Wir waren zu jung, um zu wissen, was wir tun.“ Sie hörte sich Worte aussprechen, die man ihr ständig gesagt hatte, wieder und wieder. Chloe hasste diesen Satz, wusste aber, dass er schlichtweg stimmte.

„Vielleicht waren wir es“, gestand James mit einer wütenden Handbewegung. „Trotzdem hätten wir es zusammen schaffen können.“

„Meinst du? Siebzehnjährig und mit einem Baby? Wärst du dann dort, wo du jetzt bist?“, fragte sie zweifelnd. „Meine Eltern hatten konkrete Pläne für mich, und die schlossen keinen Jungen ohne Familie ein.“

In voller Absicht nährte sie seine Wut, denn die war leichter auszuhalten als seine Zuneigung...

Autor

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In einer absolut malerischen Gegend voller Burgen und Schlösser, die von Geschichten durchdrungen sind, lebt Liz Fielding – in Wales

Sie ist seit fast 30 Jahren glücklich mit ihrem Mann John verheiratet. Kennengelernt hatten die beiden sich in Afrika, wo sie beide eine Zeitlang arbeiteten. Sie bekamen zwei Kinder, die...

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Susan Meier wuchs als eines von 11 Kindern auf einer kleinen Farm in Pennsylvania auf. Sie genoss es, sich in der Natur aufzuhalten, im Gras zu liegen, in die Wolken zu starren und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Dort wurde ihrer Meinung nach auch ihre Liebe zu Geschichten und zum Schreiben...
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