Wie ein Hoffnungsschimmer in dunkler Winternacht

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Wenn Weihnachten naht, fühlt sich der attraktive Arzt Brad Donovan besonders verloren. Ein Flirt mit der hübschen Cassidy scheint da die perfekte Ablenkung - bis er sich heimlich verliebt. Doch wenn er ihr sein trauriges Geheimnis gesteht, ist er wieder allein, oder?


  • Erscheinungstag 06.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728281
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

30. September

Cassidy hob die Hand und klopfte an die schäbige Tür. Hinter ihr kicherte Lucy nervös. „Bist du sicher, dass das hier die richtige Adresse ist?“

Cassidy drehte sich zu ihr um. „Du hast die Sache eingefädelt. Woher soll ich es dann wissen?“ Sie warf einen Blick auf das zerknitterte Blatt Papier in ihrer Hand. „Das hier ist eindeutig die Nummer siebzehn.“ Sie lehnte sich zurück und betrachtete die Vorhänge im Sechzigerjahre-Stil vor den zweitklassigen Doppelglasfenstern, die jedes Mal rappelten, wenn ein Bus vorbeifuhr. „Vielleicht ist niemand zu Hause?“, äußerte sie hoffnungsvoll.

Es war wohl die dümmste Idee, die sie jemals gehabt hatte. Nein. Berichtigung: Es war nicht ihre Idee gewesen. In einem schwachen Moment hatte sie lediglich zugestimmt, mit ihren Kolleginnen herzukommen, um zu sehen, was all der Wirbel sollte.

„Wo hast du diese hier aufgestöbert, Lucy?“

Lucy hatte das vergangene Jahr damit zugebracht, ihre Freundinnen zu so vielen verschiedenen Wahrsagerinnen wie nur möglich zu schleppen. Nach übereinstimmenden Berichten waren einige gut, andere schlecht und wieder andere regelrecht unheimlich. Cassidy war es stets gelungen, sich aus der Affäre zu ziehen – bis jetzt.

„Das ist die Frau, die meine Cousine Fran aufgesucht hat. Sie sagt, sie sei fantastisch.“

Cassidy zog die Brauen hoch. „Cousine Fran, die in dieser Reality-TV-Show aufgetreten ist und sich dann eine Woche lang im Schrank versteckt hat?“

Lucy nickte.

„Ja, toll“, seufzte Cassidy.

„Möchte wissen, ob sie mir sagen kann, wie viele Kinder ich bekomme“, sagte Lynn verträumt. Sie stieß Cassidy ihren spitzen Ellenbogen in die Rippen. „Lizzie King hat sie Zwillinge prophezeit, und jetzt kann es jeden Tag so weit sein.“

„Ich will einfach nur wissen, ob Frank mir jemals einen Heiratsantrag macht“, seufzte Tamsin. „Wenn sie das nicht in der Zukunft sieht, mache ich Schluss mit ihm. Fünf Jahre sind genug.“

Cassidy zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf. „Du kannst doch nicht mit Frank Schluss machen, weil eine Wahrsagerin dir irgendwas erzählt hat.“

Doch Tamsin hatte dieses Gesicht aufgesetzt, das besagte: Leg dich nicht mit mir an. „Wart’s ab.“

Hinter der Tür war ein Schlurfen zu hören, dann folgte ein Knarren, und die Tür öffnete sich. „Hallo, meine Damen, treten Sie ein.“

Cassidy blinzelte. Der Geruch von Katzen überrollte sie wie eine Dampfwalze.

Sie ließ die anderen vorgehen, nahm noch einen tiefen Atemzug von der frischen Luft und schloss dann die Tür hinter sich. Eine räudig aussehende Katze strich um ihre Beine. „Husch!“, zischelte Cassidy.

„Komm schon, Cassidy!“

Sie setzte ein Lächeln auf und folgte ihren Kolleginnen ins Wohnzimmer der Stinke-Katzen-Frau.

Ihre drei Freundinnen drängten sich auf einem braunen Sofa zusammen. Hinter ihren Köpfen kroch eine weitere Katze über die Rückenlehne. Cassidys Augen begannen zu tränen, und sie wehrte sich gegen den Drang, sie zu reiben. Wenn sie einmal damit anfing, konnte sie nicht wieder aufhören. Katzenallergien brachten so etwas mit sich.

„Nun, wer möchte zuerst?“

Cassidy warf einen Blick auf ihre Uhr. Wie hatte sie sich nur zu dieser Sache breitschlagen lassen können?

„Du zuerst, Cass“, sagte Lucy und wandte sich an die Wahrsagerin. „Sie müssen Ihre Sache gut machen, Belinda. Unsere Cassidy ist eine Ungläubige.“

Die kleine, rundliche Frau musterte Cassidy von oben bis unten. Ihre Stirn war genauso zerknittert wie ihre Kleidung. „Hier entlang, meine Liebe“, brummte sie und ging durch den Flur zu einem anderen Zimmer.

Cassidy schluckte nervös. Vielleicht war es das Beste, es einfach hinter sich zu bringen. Dann konnte sie zumindest draußen im Auto auf die anderen warten.

Das Zimmer war vollgestellt mit Gerümpel. Und es wimmelte von Katzen.

Während Belinda sich an einem Tisch niederließ und Karten mischte, betrachtete Cassidy den zerdrückten Polstersessel der Frau gegenüber. Eine riesige orangerote Katze hatte dort den Ehrenplatz eingenommen, blinzelte Cassidy an, forderte sie heraus, es zu wagen und sie zu verscheuchen.

„Weg da, Lightning!“ Belinda trat gegen den Sessel, und die Katze bedachte sie mit einem strengen Blick, bevor sie die Beine reckte, von der Sitzfläche sprang und sich zu Belindas Füßen niederließ.

Belinda fixierte sie. Wie konnte eine so mollige, rundliche Frau einen derart stahlharten Blick haben? Sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Sie starrte so durchdringend, dass Cass glaubte, sie würde ein Loch in ihren Schädel bohren.

„Also, wie gehen wir vor?“, fragte sie rasch.

Belindas Gesicht hatte freundlich, reizlos gewirkt, als sie die Tür öffnete. Doch in diesem Raum, wo sie allein waren, sah sie aus wie eine kalte, durchtriebene Geschäftsfrau. Cassidy fragte sich, ob Belinda die Gedanken lesen konnte, die ihr zurzeit durch den Kopf gingen. Das wäre eine Erklärung für diesen Blick, der sie zu erdolchen drohte.

Belinda mischte noch einmal die Karten. „Wie es Ihnen am liebsten ist.“ Sie breitete die Karten verdeckt auf dem Tisch aus. „Ich kann Ihnen die Karten lesen.“ Sie griff nach Cassidys Hand. „Ich kann Ihnen aus der Hand lesen. Oder …“, sie sah sich im Zimmer um, „… ich kann ein paar Geister heraufbeschwören und hören, was die zu sagen haben.“

Die Vorstellung jagte Cassidy eine Gänsehaut über den Rücken. Irgendwie glaubte sie nicht so recht an diesen Kram, wollte aber dennoch nicht das Risiko eingehen, unerwünschte Geister zu rufen.

Die Karten waren ihr auch nicht geheuer. Bestimmt hatte sie Pech und drehte die Todeskarte um oder das Gegenstück zum Joker.

„Dann lesen Sie mir bitte aus der Hand.“ Das erschien ihr als die einfachste Lösung. Was konnte man schon in den Linien einer Hand erkennen?

Belinda beugte sich über den Tisch, ergriff Cassidys schmale Hand samt Handgelenk und umspannte beides mit ihren molligen Fingern. Es war ein beinahe wohltuendes Gefühl. Belinda forschte nicht in Cassidys Handfläche, sie hielt nur ihre Hand. Strich ein paar Minuten lang schweigend mit den Fingern über ihren Handrücken, drehte ihre Hand dann um und berührte die Innenfläche.

Ein breites Lächeln trat auf ihr Gesicht.

Die Spannung war mörderisch. Cassidy mochte ausgedehntes Schweigen nicht. „Was ist?“

Belinda ließ ihre Hand los. „Sie sind ganz schön miesepetrig, nicht wahr?“

„Wie bitte?“ Cassidy war verblüfft, hatte sie doch gehört, dass Wahrsager ihren Kunden nur Gutes berichten. Und ganz bestimmt nicht ihren Charakter einschätzen.

Belinda nickte. „Oberflächlich gesehen sind Sie der Spaßvogel für Ihre Arbeitskolleginnen. Andererseits ist für Sie das Glas immer halb leer. Sie sind sehr selbstkritisch. Lauter Zeichen von Unsicherheit.“ Sie holte tief Luft. „Aber Sie nehmen es sehr genau mit der Arbeit. Wegen Ihrer Detailversessenheit ist es nicht leicht, mit Ihnen zu arbeiten. Einige Ihrer Kolleginnen wissen Sie einfach nicht zu nehmen. Und was Männer angeht …“

„Ja?“ Im Augenblick waren Männer das Letzte, woran sie dachte. Und das Wort „Unsicherheit“ hatte einen Nerv getroffen, den sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Es war schlimm genug, wenn die Eltern ständig um die Welt jetteten, ohne dass man einen Verlobten hatte, weil der einfach auf und davon war. Das Letzte, was sie wollte, war, dass irgendeine Zufallsbekanntschaft ihr das unter die Nase rieb.

„Sie sind ein kluges Mädchen, aber manchmal sehen Sie den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Belinda schüttelte den Kopf. „Sie haben ein paar äußerst fixe Ideen, und die Kunst, Kompromisse zu schließen, liegt Ihnen nicht sonderlich. Trotzdem rückt das Weihnachtsfest näher.“

Jetzt wurde Cassidy sauer. „Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Weihnachten ist erst in drei Monaten.“

Belinda verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein selbstzufriedenes Gesicht. „Zu Weihnachten sind Sie eine Braut.“

„Wie bitte?“

Die Frau hatte eindeutig ihren Verstand verloren.

„Wie um alles in der Welt sollte ich denn zu Weihnachten eine Braut sein? Morgen fängt der Oktober an, und ich habe keinen Freund. Und es gibt auch keinen Mann, der mich nur im Entferntesten interessiert.“

Belinda klopfte sich seitlich an die Nase und zuckte auf irritierende Weise leicht mit den Schultern. „Ich sehe nur die Zukunft. Ich beschreibe Ihnen nicht den Weg dorthin.“ Sie beugte sich vor und berührte Cassidys Handteller. „Ich sehe Sie als Braut zu Weihnachten an der Seite eines sehr gut aussehenden Bräutigams, der nicht aus dieser Gegend stammt. Sie Glückliche.“

Cassidy schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Sie hatte Monate gebraucht, um über die gelöste Verlobung mit ihrem spanischen Freund hinwegzukommen, und diese Erfahrung wollte sie nicht wiederholen. „Da sind Sie völlig auf dem Holzweg. Es ist ausgeschlossen, dass ich zu Weihnachten eine Braut bin. Und schon gar nicht mit einem Bräutigam, der nicht von hier stammt. Der nächste Mann, mit dem ich mich einlasse, wird ein waschechter Schotte sein, Schotte durch und durch, wie ich.“

Belinda fixierte sie mit diesem Blick. Dem Blick, der besagte: Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.

„Das war’s dann.“

Cassidy war entgeistert. Das war’s für zwanzig Pfund? „Das war alles?“

Belinda nickte und wedelte mit der Hand. „Schicken Sie die Nächste herein.“

Cassidy zögerte eine Sekunde und wappnete sich für einen Streit mit der Frau. Doch dann strich die dicke orangerote Katze um ihre Beine und sprang auf den Sessel neben ihr, entschlossen, Tausende von orangeroten Katzenhaaren auf ihrer Samtjacke zu deponieren. Cassidy sprang auf. Immerhin hatte sie es hinter sich. Sie konnte draußen im Auto warten. Das allein war schon fast die zwanzig Pfund wert.

Sie durchquerte den Flur, brummte vor sich hin und versuchte, ein großes Büschel verfilzten Katzenhaars von ihrer Jacke zu wischen.

„Bist du schon fertig? Was hat sie dir gesagt?“

Cassidy verdrehte die Augen. „Es ist nicht einmal eine Wiederholung wert.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie den Flur hinunter. „Geh schon, Tamsin. Geh und lass dir sagen, wann du deinen Antrag bekommst.“

Tamsin hatte noch immer diesen entschlossenen Gesichtsausdruck. Sie stand auf und strich ihren makellosen, von orangeroten Katzenhaaren völlig freien schwarzen Regenmantel glatt. „Ob ich meinen Antrag bekomme, wolltest du wohl sagen.“

Lucy zog die Brauen hoch. „Gnade ihr Gott, wenn Belinda nicht sagt, was Tam hören will.“ Sie wandte sich wieder an Cassidy. „Komm schon, raus mit der Sprache. Was hat sie gesagt?“

Cassidy stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und schürzte die Lippen. Sie ärgerte sich, weil sie als miesepetrig bezeichnet worden war. Und sie war mehr als wütend, weil man ihr Unsicherheit nachgesagt hatte. „Offenbar werde ich zu Weihnachten eine Braut sein.“

„Wie bitte?“ Lucys und Lynns Stimmen entsprachen ihren schockierten Mienen.

„Nur gut, dass Tamsin das nicht gehört hat“, brummte Lucy.

„Oh, es kommt noch schlimmer. Mein Bräutigam stammt offenbar aus fremden Gefilden.“ Sie verdrehte wieder die Augen. „Wer’s glaubt, wird selig.“

Doch Lucys und Lynns Mienen veränderten sich; ein Lächeln trat auf ihre Gesichter, als ihre Blicke sich begegneten.

„Ich hab’s doch gesagt.“

„Ausgeschlossen.“

Cassidy sah bestürzt zu, wie sie einander in dem schmuddeligen Wohnzimmer abklatschten.

„Was ist los mit euch beiden? Ihr wisst selbst, wie lächerlich das ist. Als ob ich etwas mit einem ausländischen Arzt anfangen würde.“

Lynn verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum denn nicht?“ Ein merkwürdiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Als ob sie etwas wüsste, wovon Cassidy nichts ahnte.

Lucy nahm die gleiche Haltung ein, Schulter an Schulter mit Lynn. Beinahe, als würden sie sich gegen sie verbünden.

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich bin bereit zu wetten, dass Belinda recht behält.“

Cassidy konnte nicht fassen, was da vor sich ging. Die Krankheit der verrückten Katzenfrau war augenscheinlich ansteckend. Ein winziges Samenkorn, das in ihren Hirnen aufging. Das konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen. „Um was?“

Lucy runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

Cassidy lächelte. „Ich nehme die Wette an. Aber um was wetten wir?“

„Nachtschicht an Heiligabend. Oh.“ Die Worte waren ausgesprochen, bevor Lucy Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Es handelte sich um die verhassteste Schicht der Welt. Alljährlich mussten sie Hölzchen ziehen, um zu bestimmen, wer die Nachtschicht übernahm.

„Die Wette gilt.“ Cassidy streckte Lucy ihre Hand entgegen, die nickte und sie kräftig schüttelte. Es bestand kein Risiko, dass sie diese Wette verlor. Nicht das geringste Risiko.

1. KAPITEL

1. Oktober

Cassidy zog sich den marineblauen Kasack über den Kopf. Diese neumodischen Oberteile bestanden angeblich aus einem revolutionär leichten Stoff, für Bequemlichkeit und gute Passform im Berufsalltag konzipiert. In Wahrheit aber waren sie nicht für den schottischen Winter in einem zugigen alten Krankenhaus geeignet; man fror darin. Sie nahm eine Strickweste aus ihrem Spind und ging in Richtung Treppe. Ein Sprint bis in den zweiten Stock vertrieb vielleicht die Kälte aus ihren Knochen.

Zwei Minuten später kam sie auf der Station an. Sie holte tief Luft. Da war er wieder. Der Krankenhausgeruch. Manche Menschen hassten ihn und schauderten, sobald sie ein Krankenhaus betraten. Doch Cassidy liebte ihn; er war wie eine große Schmusedecke, und er hatte ihr gefehlt. Es war kurz vor sieben, und das Licht war noch gedimmt. Ruby, die Nachtschwester, lächelte ihr zu. „Schön, dass du wieder hier bist, Cassidy. Wie war die Arbeit in dem anderen Krankenhaus?“

Cassidy nickte und zog die Strickweste fester um sich. Ihre Körpertemperatur schien sich immer noch nur knapp über dem Gefrierpunkt zu bewegen. „Es war in Ordnung, aber drei Monate reichen. Ehrlich gesagt, ich bin froh, wieder hier zu sein. Das alles hier hat mir gefehlt.“

Das stimmte. Aber seinerzeit war die dreimonatige Versetzung genau das Richtige für sie gewesen. Dadurch hatte sie die Möglichkeit gehabt, all die Scherereien mit ihrer Großmutter zu regeln. Sie arbeitete zu festen Zeiten und konnte sie in dem neuen Pflegeheim unterbringen, dem zweiten in einem Jahr. Ihr Blick schweifte über das Whiteboard an der Wand, auf dem die Namen der Patienten, die Zimmernummern und zuständigen Schwestern verzeichnet waren. „Keine freien Betten?“ Sie zog die Brauen hoch.

„Doch, eines. Aber die Notaufnahme hat gerade angerufen und angekündigt, dass sie uns eine ältere Dame mit Verdacht auf Lungenentzündung schicken, deshalb habe ich ihren Namen schon auf die Tafel gesetzt. Sie müsste binnen zehn Minuten hier sein.“

Cassidy nickte. Die übrige Besetzung der Tagesschicht trudelte ein und versammelte sich zum Übergabebericht im Schwesternzimmer. Cassidy wartete geduldig und hörte sich den Überblick über die derzeit dreißig Patienten auf der Station an, bevor sie die Patienten den diensthabenden Schwestern zuwies und die Schlüssel für die Medizinschränke übernahm.

Sie hörte, wie von hinten ein Krankenbett herangerollt wurde. „Ich nehme die Patientin auf“, ließ sie ihre Belegschaft wissen. „So finde ich am besten wieder in die gewohnten Abläufe hinein.“

Sie sah Bill, einen der Pfleger, auf sich zukommen, der das Bett mit der Patientin schob. Ein Arzt lief nebenher und plauderte mit der älteren Dame. Er schickte Cassidy ein umwerfendes Zahnpastalächeln. „Das ist Elizabeth Kelly. Sie ist vierundachtzig und leidet an COPD. Die oralen Antibiotika schlagen nicht an. Der Bereitschaftsarzt hat intravenöse Antibiotika-Zufuhr angeordnet.“

Im ersten Moment brachte der starke australische Akzent sie aus dem Konzept; es kam so unerwartet. Der Himmel weiß, warum. Das Krankenhaus im Zentrum von Glasgow zog Mitarbeiter aus aller Welt an. Seine zerknitterte blaue Arztkluft und der noch stärker zerknitterte weiße Kittel sahen aus, als hätte er darin geschlafen, was, seinem blonden Haar nach zu urteilen, das in alle Himmelsrichtungen abstand, wohl tatsächlich der Fall war.

Sie kannte ihn nicht, was bedeutete, dass er einer der neuen Ärzte sein musste, die während ihrer Vertretungszeit die Arbeit aufgenommen hatten. Und er sah entschieden zu gut aus. Und das freche Glitzern in seinen Augen ärgerte sie jetzt schon.

Eine Sekunde lang glaubte sie beinahe, er schaute auf ihre Brüste, doch als sie seinem Blick abwärts folgte, erkannte sie, dass ihr Name und ihre Berufsbezeichnung vorn auf ihrer neuen Dienstkleidung aufgestickt waren.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Cassidy Rae. Medizinische Abteilung. Aber so, wie Sie auf meine Brüste gestarrt haben, wissen Sie das sicher längst.“

Mit seiner warmen Hand ergriff er ihre kalte, und seine Augen blitzten. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Drachen-Lady. Hoffentlich ist Ihr Herz nicht so kalt wie Ihre Hände.“

Sie entzog ihm ihre Hand. „Wie haben Sie mich genannt?“

„Drachen-Lady.“ Offenbar schämte er sich nicht einmal wegen der Bemerkung. „Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen, wenngleich nach allem, was ich gehört habe, gewöhnlich Sie diejenige sind, die Spitznamen vergibt.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bemühte sich zu verhindern, dass ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen. „Keine Ahnung, wovon Sie reden.“ Sie griff nach dem Kleiderbeutel der Patientin, bückte sich und fing an, Mrs. Kellys Sachen in den Schrank neben dem Krankenbett zu packen.

„Wie ich hörte, haben Sie die letzten drei Assistenzärzte Needy, Greedy und Seedy getauft.“

Sie zuckte zusammen. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, denn er hatte sich vorgebeugt und ihr die Worte ins Ohr geflüstert.

„Wer hat Ihnen das erzählt?“, fragte sie fassungslos. Sie sah auf ihre Uhr. Zehn nach sieben am ersten Morgen nach ihrer Rückkehr, und schon versuchte irgendein Schlaumeier von Arzt, sie kleinzukriegen.

„Oh, Augenblick mal.“ Der rätselhafte Arzt verzog sich aus dem Zimmer.

Es stimmte. Sie hatte den letzten drei Assistenzärzten Spitznamen verpasst – aus naheliegenden Gründen. Der eine, Greedy, hatte gegessen, wo er ging und stand, dem zweiten, Needy, hatte bei jedem Patientenbesuch jemand das Händchen halten müssen, und der dritte, Seedy, hatte sich während des Jahrs seines Aufenthalts an jedes einzelne weibliche Mitglied der Belegschaft herangemacht. Und auch wenn die Schwestern die Spitznamen kannten, hatte Cassidy doch keine Ahnung, wer sie einem von den neuen Ärzten verraten haben könnte. Das musste sie später noch in Erfahrung bringen. Sie stand auf und richtete Mrs. Kellys Sauerstoffmaske. Ihr fiel auf, wie dünn die Frau war, wie blass und pergamentartig ihre Haut wirkte. Auch so eine zerbrechliche ältere Patientin wie ihre Großmutter.

„Wie fühlen Sie sich?“ Sie maß in Mrs. Kellys Ohr Fieber und trug die Werte in die Krankenkarte ein. Mrs. Kelly schüttelte den Kopf.

Cassidy setzte sich neben das Bett. „Ich benötige ein paar nähere Informationen von Ihnen, Mrs. Kelly. Aber wie wär’s, wenn ich Ihnen zunächst einmal etwas zu essen und zu trinken besorge? Sie haben doch sicher Stunde um Stunde in der Notaufnahme gewartet. Möchten Sie Tee? Toast?“

„Ihr Wunsch ist mir Befehl.“ Eine dampfende Tasse Tee und ein Teller mit gebuttertem Toast wurden auf dem Nachttisch deponiert. „Sehen Sie, Mrs. Kelly? Ich halte mein Versprechen.“ Er sah Cassidy kopfschüttelnd an. „In der Notaufnahme gab es überhaupt nichts zu essen, und ich habe ihr versprochen, ihr Tee zu besorgen, sobald wir hier oben sind.“

„Danke, mein Junge“, sagte Mrs. Kelly, hob die Maske an und trank einen Schluck Tee. „Mein Hals ist so ausgetrocknet.“

Cassidy sah den jungen Arzt an. Hier hatte sich einiges verändert. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals gesehen zu haben, dass ein Arzt einem Patienten eine Tasse Tee servierte. Das war nahezu unvorstellbar.

Cassidy lächelte ihn an. „Da wünsche ich mir beinahe, wir könnten Sie hierbehalten“, sagte sie leise. „Augenscheinlich haben Sie eine gute Ausbildung genossen.“

Seine blauen Augen funkelten. „Und warum glauben Sie, Sie könnten mich nicht behalten?“

„In der Notaufnahme warten vermutlich eine ganze Menge Patienten auf Sie. Warum sind Sie überhaupt mit hierhergekommen? Etwa, um unsere Süßigkeiten zu klauen?“ Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das Schwesternzimmer. Der medizinischen Abteilung gingen die Süßigkeiten nie aus, und es kam durchaus vor, dass die Ärzte aus anderen Abteilungen im Vorbeigehen davon mopsten.

Er schüttelte immer noch lächelnd den Kopf und streckte Cassidy die Hand entgegen. „Ich habe vorhin versäumt, mich vorzustellen. Ich bin einer von Ihren … Tja, ich will gar nicht wissen, welchen Spitznamen Sie mir verpassen. Brad Donovan, Assistenzarzt.“

Cassidy zuckte vor Überraschung zurück. Er sah zu jung aus, um Assistenzarzt zu sein. Lag es vielleicht an dem strubbeligen Haar? Oder an seiner australischen Sonnenbräune? Womöglich spielte aber auch der Ohrring eine Rolle, der an seinem Ohrläppchen blitzte, und hinzu kamen noch die strahlend weißen Zähne. Er sah völlig anders aus als jeder Assistenzarzt, der ihr je über den Weg gelaufen war.

Irgendetwas krampfte ihr den Magen zusammen. Nein, das stimmte nicht ganz. Bobby. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte er sie an Bobby. Bobby hatte dunkles Haar, kein blondes, doch er hatte eine ähnliche Zottelfrisur gehabt und genauso strahlend weiße Zähne. Sie schob all diese Gedanken beiseite. Seit Monaten hatte sie nicht an Bobby gedacht. Warum jetzt?

Sie musste sich konzentrieren. Dieser Mann war ein Arbeitskollege, wenn auch ein frecher. Sie schüttelte ihm kräftig die Hand. „Nun, Dr. Donovan, wenn Sie einer von ‚meinen‘ sind, sollte ich Sie vielleicht mit den Regeln auf dieser Station vertraut machen.“

Er zog die Brauen hoch, sein Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an. „Sie sind tatsächlich die Drachen-Lady, wie?“

Sie überging die Frage. „Wenn es Ihnen irgendwann gelingt, sich anzuziehen, verzichten Sie bitte auf alberne Krawatten. Oder besser: auf Krawatten überhaupt und auch auf lange Ärmel. Sie stehen der Infektionskontrolle entgegen.“ Sie musterte seine zerknitterte Arztkleidung von oben bis unten. „Aber wie Sie aussehen, stellt das kein Problem dar. Und hören Sie auf das, was die Schwestern sagen. Sie verbringen die meiste Zeit mit den Patienten und kennen sie gewöhnlich zehn Mal besser als Sie.“

Er fixierte sie mit seinen blauen Augen. Ziemlich nervenaufreibend für diese Zeit am frühen Morgen. Sein Blick war offen und fest. Der Typ ließ sich in keiner Weise von ihr beeindrucken. Er wirkte zuversichtlich, selbstsicher. Sie würde abwarten müssen, ob seine Fähigkeiten als Arzt seinem Auftreten entsprachen.

„Ich arbeite seit zwei Monaten hier ohne Ihren Regelkatalog. Ihre Belegschaft wird mir mit einiger Sicherheit ein gutes Zeugnis ausstellen.“

Sie verzichtete auf eine Antwort. Natürlich würde ihre Belegschaft ihm ein gutes Zeugnis ausstellen. Er war der typische Surfer-Boy. Sie würde gutes Geld darauf verwetten, dass er ihre Belegschaft in den vergangenen zwei Monaten mit seinem lässigen Akzent, den regelmäßigen weißen Zähnen und blitzenden Augen um den Finger gewickelt hatte. Er reichte ihr Mrs. Kellys Krankenbericht und die Medikamentenliste.

Cassidy blickte auf die zerbrechliche ältere Dame auf dem Bett. Die Sauerstoffmaske baumelte jetzt auf ihrer Brust, während sie den Toast mümmelte. Ihre Lippen waren nicht mehr bläulich verfärbt, aber sogar das Kauen verstärkte ihre Atembeschwerden. Cassidy wandte sich wieder Brad zu. „Hat sie Verwandte?“

Er schüttelte den Kopf. „Ihr Mann ist vor ein paar Jahren gestorben, und zehn Jahre vorher ist ihre Tochter ausgewandert, dahin, wo ich herkomme.“ Er wies auf eine Telefonnummer im Krankenbericht. „Soll ich sie anrufen, oder wollen Sie das übernehmen?“

Cassidy tat das Herz weh. Diese arme Frau war sicher einsam. Sie hatte ihren Mann verloren, und ihre Tochter lebte Tausende von Meilen weit entfernt. Mit wem redete sie Tag für Tag? Einer der letzten älteren Patienten auf ihrer Station hatte angegeben, dass er oft tagelang mit keinem Menschen reden konnte. Einsamkeit konnte eine schreckliche Belastung sein.

Der Arzt geriet wieder in ihr Blickfeld, wollte ihre Aufmerksamkeit, und Cassidy verscheuchte die unangenehmen Gedanken aus ihrem Kopf. Dieser Mann war eindeutig zu gut, um wahr zu sein. Überstellte eine Patientin persönlich auf die Station, sorgte für Tee und Toast und bot an, die Verwandten anzurufen?

Ihr inneres Radarsystem machte Ping. Sie wandte sich an Mrs. Kelly. „Essen Sie in Ruhe auf; ich komme in ein paar Minuten zurück.“

„Was haben Sie vor?“ Sie ging durch die Tür in Richtung Schwesternzimmer.

Brad holte sie ein. „Wie meinen Sie das?“

Sie stoppte kurz auf dem Flur und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sie sind zu gut, um wahr zu sein. Was bei mir Alarmglocken schrillen lässt. Warum spielen Sie den lieben Jungen?“

Im Schwesternzimmer gab Sie Mrs. Kellys Daten in den Laptop ein.

„Wer sagt, dass ich spiele?“

Autor

Scarlet Wilson

Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...

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