Zweite Chance unterm Mistelzweig?

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Er war der Star der Schule – beliebt, sportlich, der Schwarm aller Mädchen. Sie war die kluge, stille Außenseiterin, die heimlich von ihm träumte. Jahre später stehen sich Cassandra und der charmante Herzensbrecher Rayce Ryan im verschneiten Ski-Resort ihrer Familie in den kanadischen Bergen wieder gegenüber – er als neuer Skilehrer, sie als erfolgreiche Managerin. Und beide erinnern sich überraschend gut an diesen einen sinnlichen Moment damals auf dem Abschlussball. Gibt es jetzt eine zweite Chance für ihr Glück?


  • Erscheinungstag 11.11.2025
  • Bandnummer 232025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751535212
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michele Renae

Zweite Chance unterm Mistelzweig?

1. KAPITEL

Cassandra Daniels fotografierte begeistert das gewaltige Blumenarrangement in der Lobby des Cobalt Lake Resorts. Es war gerade geliefert worden, und zwei Lieferanten waren nötig gewesen, um die schwere Vase hereinzutragen, die von weißen und roten Weihnachtssternen, tiefroten Rosen, glitzerndem Schleierkraut und grünen Zweigen überquoll. Ein rotes Samtband, das kunstvoll in die Blumen verwoben war, verstärkte noch den weihnachtlichen Zauber des Buketts.

„Wundervoll!“ Sie betrachtete die Aufnahmen und postete das beste Foto auf den Internetseiten des Resorts. „Mom wäre hingerissen.“

Tatsächlich hatte Cynthia Daniels, ihre Mutter, das Prädikat „wundervoll“ nur ganz besonderen Dingen verliehen: einer perfekten Dekoration, einem köstlichen Abendessen – oder frisch gefallenem Schnee am Weihnachtsmorgen.

Cassandra seufzte. Zwei Jahre waren seit dem Tod ihrer Mutter vergangen. Eine Lawine hatte sie während einer spontanen Skifahrt viel zu früh aus dem Leben gerissen. Die Trauer setzte Cassandra noch immer zu und schien immer dann aufzuwallen, wenn sie sie am wenigsten erwartete. Aber Tränen vor den Gästen? Niemals! Sie unterdrückte sie, bis sie sich in ihre Suite zurückzog. Aber die unsichtbaren Tränen in ihrem Herzen schienen kein Ende zu nehmen.

Weihnachten war die Zeit, die ihre Mutter am meisten geliebt hatte. Als Managerin des Resorts hatte Cynthia Daniels die Dekoration sehr ernst genommen. Jedes Jahr hatte sie ein Team von Zeitarbeitern angeheuert, die eine Woche lang alles auf Vordermann brachten. Von den Gästezimmern bis zur Lobby, dem Wellnessbereich, der Fassade und dem weitläufigen Außengelände. Kein Flecken des gesamten Besitzes blieb vom festlichen Glanz unberührt.

Im letzten Jahr hatte Cassandra es nicht fertiggebracht, mehr als ein paar Girlanden aufzuhängen. Die fehlende Weihnachtsdekoration hatte sie schmerzlich daran erinnert, wie sehr ihre Mutter ihr fehlte. In diesem Jahr war sie entschlossen, sich aus dem Tal der Trauer herauszukämpfen und ein Fest auszurichten, das ihre Mutter „wundervoll“ gefunden hätte.

Die Dekorationen im Freien hatte ein Team aus dem Ort übernommen. In den Bäumen und am Geländer des Seewegs hingen unzählige Lichterketten. Im Innern des Hotels funkelte, glitzerte und wimmelte alles vor hübsch verpackten Geschenken, mit Schnee besprühten Figuren, Weihnachtssternen, Stechpalmen und dem unverzichtbaren Mistelzweig. Das würzige Aroma von Zimt, Orange und Muskat empfing die Gäste in der Lobby. Jedes Gästezimmer hatte einen weihnachtlichen Touch erhalten. Und an der riesigen Blautanne in der Lobby, die die Gäste bei ihrer Ankunft willkommen hieß, wurde gerade der letzte Baumschmuck befestigt.

Cassandra hörte, wie jemand ihren Namen rief. Eines der Zimmermädchen hatte sie bestürmt, beim Schmücken helfen zu dürfen.

„Fertig!“, verkündete Kay mit vergnügtem Händeklatschen und wies stolz wie eine Fernsehmoderatorin auf den riesigen Baum.

„Er sieht umwerfend aus“, schwärmte Cassandra.

Sie ging zum Baum und musterte ihn zufrieden. Sie hatte genaue Anweisungen erteilt, wie der Schmuck angebracht werden sollte. Die Schleifen bitte kunstvoll binden. Lametta sparsam verwenden. Keine ähnlichen Stücke zu dicht beieinander aufhängen. Der Christbaumkugeln aus rotem Glas in regelmäßigen Abständen anbringen …

Ja, sie war Perfektionistin. Aber Cassandra verlangte nie Unmögliches. Ihr Vater hatte ihr einmal anvertraut, dass das Personal sie zwar für anspruchsvoll hielt, es ihnen jedoch nichts ausmache, weil Cassandra ihnen stets freundlich und mit Respekt begegne.

Freundlichkeit fiel ihr niemals schwer. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Wenn man warm und herzlich mit Menschen umging, bekam man das Gleiche doppelt zurück.

Flüchtig berührte sie einen mundgeblasenen Glasschlitten, den ihr Vater ihr vor Jahren geschenkt hatte. Dann ließ sie ihre Finger durch das schimmernde Lametta gleiten. Der Duft nach brennendem Zedernholz entstieg dem Kamin dem Baum gegenüber. Dicht daneben versüßten drei Pfefferminzkerzen die Luft. Dazu kamen Zimtstangen, die da und dort zwischen den Tannenzweigen hingen. In der Lobby duftete es köstlich nach Weihnachten.

Cassandra trat zurück und stemmte die Hände in die Hüften. Der Baum war eines Postings auf Instagram würdig. Dann waren sie also wirklich schon mit dem Schmücken fertig?

„Warten Sie.“ Ihr Blick schweifte noch einmal über den Baum. Den Weihnachtsschmuck hatten ihre Eltern in den achtundzwanzig Jahren ihrer Ehe gesammelt. Ein ganz bestimmtes Teil aber konnte sie nirgends finden. Dabei hatte sie Kay eigens gebeten, es ganz vorn aufzuhängen. „Kay?“

„Ja, Miss Daniels?“

„Wo ist der Stern, von dem ich Ihnen erzählt habe? Es war das Lieblingsstück meiner Mutter. Ich habe ihn für sie gebastelt, als ich acht war.“

„Ich habe den Stern nirgends gefunden. Er ist aus Holz, nicht wahr?“

„Ja, ein Stern aus Zweigen, die ich im Wald gesammelt hatte. In der Mitte steckt ein Foto von mir und meiner Mutter. Den Stern haben wir jedes Jahr ganz vorn im Baum aufgehängt. Er muss in der Kiste mit dem Weihnachtsschmuck sein.“

„Die Kisten sind dort drüben.“ Kay wies auf einen Rollwagen, auf dem einige Plastikkisten aufgestapelt standen. Sie waren leer. „Die Pagen haben die Kisten gestern Abend gebracht. Soll ich sie noch einmal in den Lagerraum schicken und dort suchen lassen?“

„Ja. Oder nein, ich mache es selbst.“ Die Angestellten hatten ihren Teil erledigt. Außerdem kannte niemand so gut wie sie den fehlenden Gegenstand. „Ohne den Stern fehlt etwas. Sonst … ist nicht Weihnachten“, sagte sie, und ihre Stimme bebte. All der Mut, den sie gesammelt hatte, um die Trauer um ihre Mutter hinter sich zu lassen, geriet ins Wanken. „Weihnachten ohne diesen Stern geht nicht“, wiederholte sie.

Sie sah, wie jemand sich hinter dem Baum zielstrebig nach unten beugte. „Nein!“

Der Angestellte, der gerade den Lichtschalter für die Beleuchtung am Baum einschalten wollte, erstarrte und warf Cassandra einen verwunderten Blick zu.

„Kein Licht! Nicht bevor alles perfekt ist“, sagte sie ein bisschen zu laut. Sie saugte an ihrer Unterlippe.

„Aber sollten wir nicht prüfen, ob die Lichter funktionieren?“, fragte der Mann.

Cassandra schüttelte den Kopf. „Nicht, ehe der Stern an seinem Platz hängt. Ich werde ihn suchen. Sie können derweil aufräumen und die leeren Kisten zurück in den Lagerraum bringen. Aber niemand schaltet die Beleuchtung ein, ehe ich Ihnen grünes Licht gebe. Haben Sie das verstanden?“

Das halbe Dutzend Angestellte in der Lobby murmelte zustimmend.

Entschlossen zupfte Cassandra am Saum ihres Pullovers. Weihnachten würde schlicht und ergreifend nicht stattfinden, bis der Stern seinen Ehrenplatz am Baum eingenommen hatte.

Jemand schien äußerst aufgebracht zu sein über ein fehlendes Schmuckstück im Christbaum.

Rayce Ryan spürte deutlich die angespannte Stimmung in der Lobby. Niemand hatte ihn eintreten sehen, doch das entsprach seiner Absicht. Er hatte sich extra neben ein Arrangement aus Tannenzweigen, Schleifen und glitzernden Schneeflocken gestellt. Weihnachtliche Tarnung. Die drei Stockwerke hohe Empfangshalle war nicht nur weihnachtlich mit Lichtern, Sternen und Kränzen dekoriert – sie duftete sogar nach Weihnachten.

Es war lange her, dass er das letzte Mal ein traditionelles Weihnachtsfest gefeiert hatte. Erinnerungen an behagliche Flanellpyjamas, heiße Schokolade am Kamin und liebevoll eingepackte Geschenke kamen ihm in den Sinn und entlockten ihm ein seltenes, aufrichtiges Lächeln. Er hatte eine wundervolle Kindheit gehabt. Aber im Teenageralter hatte sich sein Leben verändert. Als er die einzige Familie verloren hatte, die er je gekannt hatte.

Eigentlich träumte Rayce davon, eines Tages wieder eine Familie zu haben. Und damit auch wieder ein echtes Zuhause.

Doch manche Träume waren unerfüllbar. Und abgesehen davon hatte er das süße Leben ja einst gehabt. Er hatte kein Recht, sich zu beklagen, so kaputt er auch war. Rayce war entschlossen, sich ein neues Leben aufzubauen. Hier im Cobalt Lake Resort würde er damit anfangen.

Rayce wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Lobby zu. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und es schien mit der zierlichen Blondine in dem weißen Pullover zusammenzuhängen. Ihr Haar schimmerte silbrig weiß und ließ ihn an eine Zuckerfee denken. Nein, eher an die Eiskönigin.

Plötzlich erkannte er die bleiche Schönheit, und sein Herz zuckte zusammen. Es war Jahre her, dass er Cassandra Daniels das letzte Mal gesehen hatte, aber er hatte oft an sie gedacht. Dass ein fehlender Weihnachtsschmuck sie aus der Fassung brachte, wunderte ihn nicht. Sie war schon immer eine Perfektionistin gewesen.

„Ehrgeizig und unerreichbar“, murmelte er.

Ein weiteres Grinsen trat auf sein vom Reisen müdes Gesicht. Sein Flug aus Florida hatte Verspätung gehabt und an Bord waren zwei schreiende Babys gewesen. Jetzt war es Nachmittag, und er hatte ein Nickerchen nötig. Oder ein Bier. Vermutlich beides. Als alpiner Skirennfahrer war er einst mit sechs Stunden Schlaf und achtzehn Stunden Training, Ski und Party ausgekommen. Aber heute? Er war in seinem Leben tief gefallen und hatte sich noch immer nicht davon erholt.

Nachdem die Eiskönigin den Leuten verboten hatte, die Beleuchtung einzuschalten, schnappte sie sich ein Klemmbrett – und dann fiel ihr Blick auf ihn. Erkennen zeigte sich auf ihrem Gesicht. Da war eine Mischung aus Überraschung, Neugier und … War das womöglich Enttäuschung?

Dieser Ausdruck war Rayce inzwischen allzu vertraut. Hatten nicht alle seinen kolossalen Sturz bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr gesehen? Hatte nicht wirklich jeder gesehen, wie sich beim Riesenslalom sein Ski verkantet hatte? Wenn nicht im Fernsehen, dann mit Sicherheit in den Memes im Internet. Sein Scheitern in Endlosschleife, mit alberner Musik unterlegt. Und das alles, weil Rochelle, die Frau, die er liebte, ihn betrogen hatte.

Dummes Herz!

Nein, er konnte die Miene der Eiskönigin nicht deuten. Sie war mit ihren Angelegenheiten beschäftigt. Immer in Bewegung. Unerreichbar.

Er winkte trotzdem. Sicher wusste sie, dass er heute ankam. Das Einstellungsgespräch hatte er mit ihrem Vater, Brad Daniels, geführt. Brad hatte ihn persönlich vom Flughafen abgeholt. Sie hatten über die hoffentlich guten Bedingungen fürs Skifahren geplaudert und über den Lehrplan, den Rayce entwickeln wollte. Vor dem Hotel hatte Cassandras Vater ihn dann mit einer aufrichtig klingenden Entschuldigung abgesetzt, weil er noch zurück in die Stadt musste, um etwas zu besorgen.

Also war es ihm selbst überlassen, sich zurechtzufinden. Kein Problem. Rayce war Alleingang gewöhnt und fand sich schnell zurecht. Hier sollte er leichtes Spiel haben. Dank der vielen Jahre harten Trainings war er diszipliniert. Doch sein Herz war es nicht …

Und genau deshalb stand er jetzt hier im Hotel des Cobalt Lake Resorts. Er war für diese Saison als Skilehrer für die Gäste angeheuert worden. Ob es ihm gefiel oder nicht.

Noch war er nicht sicher, ob es ihm gefiel. Aber es war eine Möglichkeit, sich wieder an die Pisten zu gewöhnen. Und über seinen nächsten Schritt nachzudenken. Einmal im Leben konnte er ein normaler Mensch sein. Kein Mann, der fünfzehn Jahre seines Lebens dem Training gewidmet hatte, den Wettkämpfen, den Medien und der Bereitschaft, zweihundert Prozent zu geben. Und die meiste Zeit hatte er ohne Familie verbracht, die ihm Halt und Liebe gab.

Rayce vermisste seine Großeltern. Konnte ihm irgendwer dort draußen eine derart immense Liebe entgegenbringen wie damals Roger und Elaine Ryan? Wenn es solche Menschen gab, wollte er sie finden!

Mit einem Nicken zu Cassandra schnappte er sich seinen Koffer und ging auf sie zu, während sie sich bereits von ihm entfernte und ihm dabei gleichzeitig gestikulierend zu verstehen gab, er solle ihr folgen. Er erinnerte sich gut an sie. Sie hatten dieselbe Highschool in Whistler besucht. Er war die Sportskanone gewesen, sie die Intellektuelle. Das Mädchen, das er nicht haben konnte.

Das wusste er, weil er es versucht hatte. Und gescheitert war.

Aber musste er deshalb den Traum aufgeben? Nein, Rayce Ryan gab nie auf.

Cassandra war so schön wie eh und je. Vielleicht sogar noch hübscher, weil sie irgendetwas mit ihrem Haar angestellt hatte. Es war schneeweiß statt des sonnigen Blondtons von einst. Ihre Lippen waren zartrosa. Und ihr Haar schwang mit jedem Schritt und streifte dabei ihre Ellbogen …

Rayce wusste, dass sein Herz nicht vor Anstrengung in wilden Sprüngen schlug.

„Rayce Ryan!“ Sie blieb stehen, um ihm die Hand zu schütteln. „Dad muss dich hier abgesetzt haben.“

„Ja, und er hat gesagt, ich solle mich umsehen und einrichten. Die Pisten kenne ich ja. Als Kind habe ich jeden einzelnen Winter hier verbracht.“

„Allerdings. Und wie oft musste mein Vater die Skirettung losschicken, um dich nach Mitternacht von der Piste zu holen?“

„Zu oft, um zu zählen.“ Er lächelte. „Einen echten Skijunkie bekommt man nun mal nicht vom Schnee weg.“

„Nein, wohl nicht. Aber ich denke, du solltest hier als Profi, nicht als Junkie auftreten.“

„Nun ja. Ein Junkie werde ich immer bleiben. Ich lebe für den frischen Schnee, in den ich meine Linien ziehe.“

Sie musste lächeln, hatte sich aber gleich wieder im Griff. „Wir haben inzwischen Überwachungskameras installiert. Das ist nur eine Warnung, falls du irgendwelche mitternächtlichen Abfahrten planst. Es ist im Interesse der Sicherheit unserer Gäste. Ist das dein ganzes Gepäck?“

„Ich habe meine Skier und die Ausrüstung beim Seiteneingang gelassen.“

„Perfekt. Du bekommst gleich einen Spind, in den der Großteil deiner Ausrüstung passen sollte. Bitte komm mit.“ Sie ging am Empfangstresen vorbei und einen Gang hinunter. Was für einen sinnlichen Schwung diese schlanken Hüften hatten! Die Frau war sichtlich Skiläuferin. Sie wusste, wie man sich bewegte. „Ich habe im Moment leider viel zu tun“, rief sie ihm über ihre Schulter zu.

Ihr helles, welliges Haar reizte ihn, es zu berühren. Bewunderung aus der Ferne war alles, was er bei Cassandra Daniels bisher geschafft hatte. Jetzt, da er sie nach bald zehn Jahren wiedersah, fragte er sich, ob die Distanz sich nicht doch überwinden ließ.

„Ich bringe dich zu deiner Hütte, da kannst du dich einrichten“, fuhr sie fort. „Die Anlage ist dir ja vertraut. Viel hat sich nicht verändert. Wir haben allerdings einen neuen Lift und etwa doppelt so viele Anlagen. Hast du für nächste Woche einen Zeitplan vorbereitet?“

„Noch nicht. Dein Vater hat gesagt, ich könnte mir ein paar Tage Zeit lassen, um mich mit den Pisten vertraut zu machen und meinen Plan aufzustellen.“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, fällte ein vernichtendes Urteil. Rayce war solche Blicke gewohnt. Alle Welt erwartete so viel von einem Olympiateilnehmer. Und er hatte alle enttäuscht.

Mit abschätzendem Nicken sagte sie schließlich: „In ein paar Tagen reden wir noch mal, dann gebe ich deinen Lehrplan in unsere Datenbank ein.“

Cassandra schob eine Tür auf und betrat einen Fußweg, der um eine hohe, schneebedeckte Hecke herumführte. Es mussten an die zwölf Grad minus herrschen, doch die Kälte ließ sie nicht einmal zusammenzucken. Rayce hingegen hatte sich in dem Jahr seiner Genesung an das warme Wetter in Florida gewöhnt.

„Das ist der Weg für die Angestellten“, sagte sie. „Du darfst gern durch den Gästebereich gehen, aber auf diesem Weg ist es schneller und effizienter.“

„Vermutlich ist Effizienz deine Superheldenkraft.“

Wieder traf ihn ein urteilender Blick. Oder war es diesmal Neugier?

Die Frau hatte sich seit der Highschool kaum verändert. Immer noch hübsch, immer noch gepflegt in Kleidung und Make-up. Und sie hielt ihren Kopf immer noch ein Stück höher als andere. Weil sie clever war oder weil sie sich dazu berechtigt fühlte? Die Familie Daniels besaß dieses Resort, solange er denken konnte, und hatte in der Gemeinschaft von Whistler ihren festen Platz.

Während Rayce ihr folgte, fragte er sich, ob er die Eiskönigin vom Thron stoßen könnte, um nachzusehen, ob hinter dem kühlen silbernen und weißen Äußeren ein warmes, gefühlvolles Geschöpf steckte.

Was zum Teufel geht dich das an? Und hör auf, ihr auf die Hüften zu starren!

„Soweit ich mich erinnere“, nahm er den Faden wieder auf, „warst du schon in der Highschool sehr ehrgeizig.“

„Und du warst ein Star.“ Sie stieg ein halbes Dutzend hölzerne Stufen zu einer kleinen Hütte mit schneebedecktem Spitzdach hinauf. An der Tür gab sie einen Code ein. „Das ist also dein zweites Zuhause für diesen Winter. Der Code lautet 5489.“

Ein zweites Zuhause? Rayce hatte kein richtiges Zuhause mehr gehabt, seit er bei seinen Großeltern ausgezogen war, um Skirennen zu fahren. Seitdem hatten ihm Hotels und Flughäfen als Unterschlupf gedient. Diese Hütte war nur ein weiterer Ort, wo er schlafen und essen konnte, während er sich erneut am Leben versuchte.

Cassandra zog die Tür auf, und er folgte ihr. Ehe er über die Schwelle trat, blieb er stehen, und als er ihren Blick suchte, wirkte sie auf einmal nervös. Sie vermied es, ihn anzusehen und schob sich ihr Haar hinters Ohr.

„Ist es … in Ordnung für dich, dass ich hier arbeite?“, fragte er.

Sie schaute ihn fast ein wenig erschrocken aus ihren hellblauen Augen an. Ihre weichen, rosigen Lippen öffneten sich. „Warum … denn nicht?“

Er zuckte die Schultern. Erinnerte sich, wie sie ihn einst hatte stehen lassen. Es war zehn Jahre her. Sie waren Teenager gewesen, umgeben von Freunden und Bekannten. Seltsamerweise tat der Gedanke noch immer weh. Zurückweisung verursachte schlimmere Wunden als Scheitern.

„Das Cobalt Lake Resort freut sich, Rayce Ryan in dieser Saison als Profiskilehrer vorzustellen“, erklärte sie mit fester Stimme, als lese sie aus einer Werbebroschüre vor.

„Und du?“, versuchte er es noch einmal. „Freust du dich auch, dass ich hier bin?“

„Ich … Ja, natürlich freue ich mich.“

„Sagst du das nur so, oder meinst du das auch so?“

„Diese Frage verstehe ich nicht.“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Es tut mir wirklich leid, aber ich habe Arbeit zu erledigen.“

„Musst du den fehlenden Weihnachtsschmuck suchen?“ Allzu dringend schien das nicht zu sein, aber was wusste er schon?

„Genau.“

Sie gab ihm die Hand. Trotz der eisigen Temperaturen war ihre Haut warm, und er konnte noch ein paar Sekunden in ihrer Gegenwart verbringen. Ihre Schönheit in sich aufnehmen. Und sich fragen, was ihr im Kopf herumging. Wer war er in ihren Augen? Eine hirnlose Sportskanone? Ein gutaussehender Fremder? Ein Angestellter? Ein gescheiterter Olympionike?

Ihr Handy klingelte.

„Das ist Dad. Wir sprechen dann später. Ach so, ja. Du kannst dich im Resort frei bewegen. Aber sag jemanden von der Wachmannschaft, er soll dir eine Anstecknadel für Angestellte geben, ehe du auf die Piste gehst. Das GPS in der Nadel sendet Signale ins Büro der Wachmannschaft, falls es einen Unfall gibt …“

„Mache ich.“

Dann ging sie, hielt das Handy ans Ohr und redete mit ihrem Vater.

Das Déjà-vu traf Rayce mit erstaunlicher Präzision. Während der Party in der Highschool war sie auch vor ihm weggelaufen. In dem Moment, als er sie küssen wollte. In dem einen kostbaren Moment, als die Welt stillstand und sein Herz nach den Sternen griff.

Und schmerzhaft zu Boden stürzte.

Mit den Fingern fuhr er sich durchs Haar und blickte Cassandra nach, die hinter den Hecken verschwand.

Er musste verdammt aufpassen, dass ihm sein dummes Herz nicht wieder einen Streich spielte!

2. KAPITEL

„Ich weiß, aber dieser Baumschmuck bedeutet mir so viel“, sagte Cassandra zu ihrem Vater am Telefon. Brad Daniels hatte sie aus der Stadt angerufen und gefragt, ob er ihr etwas mitbringen sollte. Sie hatte erwähnt, dass der Baum so gut wie fertig für die Beleuchtung war. Aber nur so gut wie fertig.

„Cassie, der Baum ist der wichtigste Willkommensgruß des Resorts. Wir müssen die Beleuchtung einschalten.“

„Lass mich erst diesen Stern finden. Bitte. Es wird nicht lange dauern. Gib mir ein paar Tage, um das Resort zu durchkämmen.“

Sein Seufzen erinnerte sie daran, dass er in den letzten Jahren viel durchgemacht hatte. Brad war immer da gewesen, hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt und sie auf den Kopf geküsst, sobald die Erinnerung an ihre Mutter sie schmerzlich einholte. Er hatte die gleiche Trauer erlebt wie sie. Doch vor Kurzem war seine alte Highschoolliebe Faith wieder in sein Leben getreten. Sie hatten gerade ihre Verlobung bekannt gegeben.

„Okay. Ich gebe dir eine Woche Zeit“, sagte er. „Eigentlich ist das aber viel zu lange, um den Baum im Dunkeln zu lassen.“

„Ich verspreche, ich finde den Stern früher.“ Und jetzt musste sie schnell das Thema wechseln! „Kannst du mir bitte ein paar von diesen göttlichen Zimtschnecken mitbringen?“

„Gute Idee. Ich liebe diese Zimtschnecken.“ Obwohl der Familie Daniels Gesundheit und Fitness wichtig waren, gönnten Vater und Tochter sich diese Leckerei immer zur Weihnachtszeit. „Ach, übrigens – bist du Rayce Ryan begegnet?“

„Ja, ich habe ihn kurz eingewiesen und ihm seine Hütte gezeigt.“

„Kümmere dich ein bisschen um ihn, Cassie. Als Profiskilehrer wird er das Geschäft ankurbeln. Und der Kerl sieht verdammt gut aus, oder?“

„Dad, ich glaube, ich höre eine Zimtschnecke nach dir schreien. Wir sprechen uns später.“

Sie beendete das Telefonat und rollte mit den Augen. Warum erwähnte er Rayce Ryans Aussehen? Und warum um alles in der Welt deutete ihr Vater an, sie fände Rayce attraktiv?

Nun ja. Sexy war Rayce Ryan wirklich.

Sie öffnete die Hintertür und setzte ihren Kontrollgang fort, der durch das Debakel mit dem fehlenden Schmuckstück unterbrochen worden war. Umsichtig sorgte Cassandra dafür, dass alle Dekorationen perfekt waren.

Vor zehn Jahren war sie Rayce zuletzt begegnet. Natürlich hatte sie ihn in den Nachrichten gesehen. In der Bar im Hotel lief immer mindestens ein Sportsender. Im letzten Jahrzehnt war Rayces Gesicht überall zu sehen gewesen. Der Goldjunge. Das Wunderkind des Skisports. Die Hoffnung auf olympisches Gold.

Der Mann, der gestürzt war.

Letztes Jahr, bei Rayces erstem Lauf im olympischen Riesenslalom hatte etwas ihn abgelenkt, und er war gestürzt. Das Fernsehpublikum sah zu, wie er auf einer Trage davongebracht wurde. Tage später gab er bekannt, dass seine Verletzungen allzu schwer waren. Er würde vielleicht wieder Ski laufen können, aber nicht mehr als Profi.

Cassandra erinnerte sich, wie ihr bei diesem Interview das Herz gesunken war. Sie hatte sogar geweint. So hart für etwas gearbeitet zu haben und dann zu erleben, wie es einem innerhalb von Sekunden entrissen wurde! Es musste Rayce schrecklich zugesetzt haben.

Als ihr Vater vorgeschlagen hatte, Rayce als Profiskilehrer einzustellen, hatte sie nicht geglaubt, dass etwas daraus werden würde. War er überhaupt bereit, wieder Ski zu laufen? Wollte er mit dem Sport weitermachen, wenn auch nur noch als Lehrer? Und würde ihn ein solcher Job ausfüllen? Für einen Mann, der als Held den Sport regiert hatte, war das ein Schritt abwärts, und es war keine Frage, wie es sich auf sein Ego auswirken würde. Frech, charmant und selbstbewusst, so hatten die Medien ihn früher gern beschrieben. 

Sie hatte ihrem Vater nicht gesagt, dass Rayce der Junge war, den sie nie hatte haben können. Die ganze Highschoolzeit hindurch hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Jedes Mädchen mit Augen im Kopf und fühlendem Herzen war von seinem charmanten Auftreten fasziniert gewesen. Er war eine Sportskanone, ein selbstbewusster, hübscher Typ. Er wusste, dass die Mädchen auf ihn standen, und hatte das weidlich ausgenutzt hatte. Rayce musste mit der Hälfte aller Mädchen in ihrem Abschlussjahr ausgegangen sein.

Cassandra aber hatte er nie einen Blick geschenkt.

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