Zwischen Vernunft und Verlangen

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Lady Anne erschauert, als Jason Martell sie stürmisch küsst. Ein unerklärliches Verlangen erfasst sie und erschreckt sie zugleich. Sie kann sich doch unmöglich von diesem Mann angezogen fühlen - oder etwa doch? Schließlich heiratet sie den arroganten Emporkömmling nur, weil ihr skrupelloser Vater sie als Bezahlung für seine Spielschulden angeboten hat …


  • Erscheinungstag 12.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788322
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ladywell, the Tyne Valley, Frühling 1813

Die ungeduldige Männerstimme, aus der keinerlei Bemühen um Höflichkeit herauszuhören war, unterbrach Lady Anne Dunstans sorgfältig vorbereitete Begrüßung.

„Sie wünschen mich zu sehen? Weniger als zwei Stunden vor der Hochzeit? Warum? Was ist der Grund für diese außerordentliche Dringlichkeit, Madam?“

„Meine Schwester … das heißt …“ Noch fester umklammerte Anne ihr mit schwarzen Perlen besticktes Retikül und ließ ihren Blick auf Jason Martells gepflegten Händen ruhen, anstatt weiter auf seine zu langen Haare und seine vollen Lippen zu starren. Ihre Schwester hatte zweifellos recht. Diesen Mann konnte man kaum als Gentleman bezeichnen. Ihm als Überbringerin der Hiobsbotschaft entgegenzutreten, erwies sich als noch schwieriger, als sie zunächst angenommen hatte.

Aber schließlich musste ihn jemand benachrichtigen. Ihre Stiefmutter hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und hütete das Bett, ihr Vater schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen und war unfähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen – geschweige denn Erklärungen abzugeben –, und ihre Schwester, die Verursacherin des Debakels, war weit weg und lag wahrscheinlich gerade in den Armen des von ihr geliebten Mannes. Also blieb einzig sie selbst übrig. Anne wusste, dass sie richtig handelte, auch wenn sie nicht glücklich darüber war, es tun zu müssen.

Wie ließ sich einem Mann eine solche … Situation … zu dieser Morgenstunde in dessen Bibliothek erklären? Und dann auch noch ausgerechnet jemandem wie Jason Martell, einem Mann, der nicht gerade für seine Nachsichtigkeit bekannt war?

Er hatte sein Vermögen aus dem Nichts heraus aufgebaut und war einer der reichsten Menschen Northumberlands geworden. Wenn es um Wohlstand ging, konnte er es sogar mit dem Earl of Strathmore aufnehmen. Es kursierten Gerüchte, dass sein Ritterschlag kurz bevorstand. Die eheliche Verbindung mit ihrer Schwester stellte den Höhepunkt in seinem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung dar, zumindest hatte ihre Stiefmutter ihr das anvertraut. Aber jetzt … Anne starrte unruhig auf die schmale Bordüre ihres linken Handschuhs.

„Das heißt … Cressida bat mich …“, begann sie erneut.

„Ihre Schwester Cressida, meine Braut.“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung, wodurch die Breite seiner Schultern besonders deutlich zutage trat. „Offensichtlich mache ich Sie nervös. Ich bedaure, dass wir uns bislang noch nicht richtig unterhalten haben, Lady Anne, aber dafür wird gewiss Zeit bis nach der Zeremonie sein. Was auch immer für eine Lappalie …“

„Das ist ja gerade das Problem. Es wird heute keine Hochzeit stattfinden“, sagte Anne rasch, bevor sie weiche Knie bekam. „Und auch sonst nicht.“

Anne merkte, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Obwohl Cressy überzeugt war, dass sie ihm nichts bedeutete, schien die Nachricht eindeutig ein schwerer Schlag für ihn zu sein. Doch noch bevor Anne richtig durchatmen konnte, hatte er sich erstaunlicherweise wieder gefasst.

„Sollte Ihre Schwester nicht persönlich hier sein, um mir das zu sagen?“ Seine tiefe Stimme ließ Annes angespannte Nerven flattern. „Steht es mir nicht wenigstens aus Gründen des Anstands zu, dies aus ihrem eigenen Mund zu hören?“

„Sie ist nicht hier. Sie ist … weg.“ Anne biss sich auf die Unterlippe und hoffte, er würde nicht nachfragen.

„Ich verstehe.“ Er klopfte mit den Fingern auf den Schreibtisch und lehnte sich vor, sodass er ihr bedrohlich nahe kam. „Ihre Schwester ist ganz plötzlich am Tag unserer Hochzeit verschwunden. Kennen Sie den Grund, oder erwartet man von mir, ihn zu erraten?“

„Sie lief in den frühen Morgenstunden mit Lord Hazeltons jüngerem Sohn davon. Die beiden lieben sich“, redete sie darauflos und zuckte zusammen, als sie sich selbst die Worte aussprechen hörte.

„Fortgelaufen? Mit Hazeltons Sohn? Mit diesem affektierten Stutzer?“

„Es ist wahre Liebe“, erwiderte Anne entrüstet, beherrschte sich wieder und sah sich in ihren Ansichten bestärkt. Möglicherweise war Hazelton nicht so wohlhabend wie Mr Martell, aber sie hatte das Paar zusammen erlebt und wusste, dass Hazelton den Boden verehrte, den Cressy betrat. Wer war dieser Mann, dass er sich solche Urteile erlaubte? „Cressy hat einen Brief geschrieben, in dem sie alles erklärt. Allerdings hielt ich es für besser, die Nachricht selbst zu überbringen. Es steht Ihnen zu, es wenigstens von einem Familienmitglied zu hören. Hier ist die Nachricht, die sie für mich hinterlassen hat. Sie können sie gern lesen, wenn Sie möchten.“

Er wies das Papier von sich. „Warum? Es ist nicht an mich gerichtet.“

„Weil ich es als notwendig erachte.“ Anne schob sich die Brille ein Stück nach oben und widerstand dem Bedürfnis, an der Halskrause ihres altmodischen Kleides zu ziehen. Sie ärgerte sich über sein Verhalten und verstand nun vollkommen, warum Cressy ihn nicht hatte heiraten wollen. Rätselhaft blieb lediglich, warum sie zunächst in die Verbindung eingewilligt hatte, und weshalb ihr Vater die Eheschließung so hartnäckig vorangetrieben hatte. „Es schien mir eine Geste der Höflichkeit, Ihnen das Schreiben zu zeigen.“

„Mit Höflichkeit hat die ganze Angelegenheit nichts zu tun.“

„Doch, sehr wohl“, widersprach Anne scharf. „Ohne Höflichkeit und Anstand ist unsere Zivilisation am Ende.“

„Lady Anne, während wir hier miteinander reden, ist alles in der Kirche für die Trauung vorbereitet. In Kürze werden die Gäste eintreffen. Sicherlich wusste Ihre Familie von dieser … Lossagung schon früher. Jemand muss es zumindest geahnt haben. Und dennoch ließ man mich bis jetzt im Unklaren. Halten Sie mich für jemanden, den man zum Narren halten kann? Ein Stück Dreck, das man einfach benutzen und nach Belieben wegwerfen kann, wenn man bessere Beute gewittert hat? Worin liegt da der Anstand?“

Anne schloss die Augen und wünschte, sie wäre geschickter vorgegangen. Sie hatte die falschen Worte gewählt.

Ihr Unbehagen wuchs. Teilweise war die Sache ihre Schuld. Als sie vom Besuch ihrer Großtante aus Cumberland zurückgekommen war, ließ sich die Verliebtheit ihrer Schwester nicht übersehen. Mit leuchtenden Augen hatte Cressy von Benedict Hazelton gesprochen, und sie war verzweifelt gewesen, weil ihr Vater stur daran festhielt, sie müsse Martell heiraten. Anne konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Cressy zu einer Ehe mit jemandem, den sie sich nicht ausgesucht hatte, gezwungen werden sollte. Also hatte sie ihre Schwester dazu gedrängt, das Richtige zu tun und fortzulaufen. Sobald ein wenig Gras über die Sache gewachsen war, würden alle einsehen, dass Cressy nicht anders hatte handeln können. Aber bis dahin musste Anne mit den Unannehmlichkeiten fertig werden, die daraus erwuchsen.

„Mein Vater und meine Stiefmutter wussten nichts von ihren Plänen, und ich habe den Brief erst heute Morgen entdeckt. Cressida ist vor Anbruch der Dämmerung aufgebrochen, während alle noch schliefen.“

„Sie und ihr Liebhaber werden mittlerweile ein gutes Stück auf dem Weg nach Gretna Green – oder wohin auch immer er sie bringen will – zurückgelegt haben. Vorausgesetzt sie haben schnelle Pferde, können die beiden miteinander verheiratet sein, bevor jemand sie aufhalten kann“, sagte er und schaute sie an.

„Ich weiß es nicht, ich bin noch nie fortgelaufen.“ Unter seinen bohrenden Blicken fühlte sich Anne nicht wohl in ihrer Haut. „Es wäre falsch von Cressy gewesen, Sie zu heiraten, obwohl ihr Herz einem anderen gehört.“

„Das Herz Ihrer Schwester interessiert mich nicht.“ Ein spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Keiner von uns hat je vorgegeben, dass es sich um eine Liebesheirat handelte. Die Verbindung kam uns beiden gelegen. Und plötzlich passt sie ihr nicht mehr. Sehr bedauerlich.“

Autor

Michelle Styles
Obwohl Michelle Styles in der Nähe von San Francisco geboren und aufgewachsen ist, lebt sie derzeit mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Hunden, zwei Katzen, Enten, Hühnern und Bienenvölkern unweit des römischen Hadrianswalls im Norden Englands. Als begeisterte Leserin war sie schon immer an Geschichte interessiert, darum kann sie sich...
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