Adlige Geheimnisse um Mitternacht

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Will sie sich in die Tiefe stürzen? Entsetzt beobachtet Adam, wie Suzanne, Duchess of Marsley, im Gewitter hoch auf dem Dach steht. In letzter Sekunde bringt er die durchnässte Schöne vor Blitz und Donner in Sicherheit. Und versucht dabei vergeblich, das Verlangen zu ignorieren, das ihr zarter Körper bei jeder Berührung in ihm auslöst! Das Verhalten der adligen Witwe ist ihm ein Rätsel, das er lösen will. Aber je länger Adam nach der Wahrheit sucht, desto größer wird die Gefahr für ihn selbst. Denn der Hunger nach Liebe, den die begehrenswerte Duchess in ihm geweckt hat, droht seine eigene geheime Mission in Marsley House zu gefährden …


  • Erscheinungstag 28.01.2020
  • Bandnummer 349
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749163
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Marsley House, England

September 1864

Er spürte den Blick des Dukes auf sich ruhen, sobald er den Raum betrat.

Leise schloss Adam Drummond die Flügeltür, um die Lakaien am Eingang nicht auf sich aufmerksam zu machen. An diesem Abend unterwies Thomas einen der jungen Burschen, die neu waren, im Haushalt. Wenn die beiden seine Anwesenheit in der Bibliothek bemerkten, würden sie nachsehen kommen.

Für diese Eventualität hatte er eine Erklärung parat. Er konnte nicht schlafen, was der Wahrheit ziemlich nahekam, denn wenn er aus seinen Albträumen aufschreckte, lag er oft stundenlang wach. Es war gut, dass er jahrelange Übung darin hatte, mit wenig Schlaf auszukommen.

Mit einem kragenlosen weißen Hemd und schwarzen Hosen bekleidet, hatte er seine Suite verlassen. Eine weitere Auffälligkeit, die er im Notfall würde erklären müssen. Als Majordomus von Marsley House erwartete man von ihm, stets die seiner Stellung gemäße Uniform zu tragen, selbst mitten in der Nacht. Dass er die weiße Weste, die Krawatte und den Frackrock nicht angezogen hatte, mochte ein Akt der Rebellion gewesen sein.

Dabei war er nie ein Rebell gewesen. Es musste an diesem Ort, diesem Haus, diesem Auftrag liegen.

Zum ersten Mal in sieben Jahren arbeitete er ohne einen Tarnnamen und ohne eine sorgfältig vom Kriegsministerium konstruierte Legende. Er hatte die Stellung als er selbst, Adam Drummond, Schotte und ehemaliger Soldat in der Armee ihrer Majestät, angetreten. Die Dienerschaft kannte seinen wirklichen Namen, einige sogar Teile seiner wahren Lebensgeschichte. Die Haushälterin wusste, dass er Witwer war, nannte ihn manchmal Adam, und kannte sogar sein Geburtsdatum.

Er fühlte sich ungeschützt, eine unbehagliche Position für einen Mann, der es gewöhnt war, im Hintergrund zu agieren.

Er entzündete eine der Lampen, die an Ketten von der Decke herunterhingen. Das Petroleum war mit einem Duft versetzt, der entfernt an Jasmin erinnerte. Die Welt der Whitcombs war einzigartig und hob sich durch zwei Dinge von der des gemeinen Volkes ab: Adelswürde und Reichtum.

Das blasse, gelbliche Licht erhellte nur die Umgebung des Schreibtischs. Der Rest des saalartigen Raums lag im Schatten. Die Bibliothek war tatsächlich pompös, wie eines der Hausmädchen sie kürzlich bezeichnet hatte.

„Und was soll das heißen, kannst du mir das vielleicht sagen?“, hatte sie eine der Spülmägde schnippisch gefragt.

„Es bedeutet protzig.“

„Nun, warum sagst du das dann nicht gleich?“ Das Mädchen hatte eine Grimasse gezogen.

Weil alles an Marsley House pompös war.

Die Bibliothek jedoch in besonderem Maße. Sie hatte drei galerieartige Etagen, die über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe miteinander verbunden waren. Das oberste Stockwerk war etwas größer als das zweite, sodass ein Dutzend Lampen, die an unterschiedlich langen Ketten in jede Etage herabhingen, an der Decke Platz fanden. Wenn sie alle brannten, fiel ihr Licht auf Tausende Bücher, und es war taghell in dem Raum.

Er glaubte nicht, dass die Whitcombs sie alle gelesen hatten. Einige der Werke sahen aus, als wären sie neu, das dunkelgrüne Leder und die Goldprägung glänzten, als hätte der Buchhändler sie gerade erst geliefert. Andere wiederum waren so zerlesen, dass man die Titel nicht mehr erkennen konnte, außer man zog den Band aus dem Regal und schlug ihn auf. Es gab eine große Menge Bücher über Militärgeschichte, und Adam nahm an, dass der verstorbene Duke sie gesammelt hatte.

Er wandte sich zu dem Porträt über dem Kamin um. George Whitcomb, zehnter Duke of Marsley, trug seine Paradeuniform, deren Rock in einem so grellen Scharlachrot gemalt war, dass es Adam in den Augen wehtat. Auch die Orden des Dukes glänzten, als hätte die Sonne ihre Strahlen eigens auf seine erhabene Person gerichtet. Das Bildnis zeigte den Duke mit einem Schwert an der Hüfte und den Kopf leicht zur Rechten gewandt, mit einem Blick, an den sich Adam bestens erinnerte. Hochmut lag darin, als wäre alles, was sich seinen Augen bot, unter seiner Würde – Menschen, Umstände, selbst die indische Landschaft.

Es überraschte Adam, dass Marsley sich mit ergrauendem Haar hatte malen lassen. Selbst sein Backenbart war grau meliert. In Indien hatte Whitcomb drei eingeborene Diener beschäftigt, deren Pflicht es gewesen war, sich ausschließlich und jederzeit um die Perfektion seiner Erscheinung zu kümmern. Er war gestutzt, gekämmt, gebürstet und poliert worden, damit er vor seinen Männern auf und ab stolzieren konnte als die ultimative Verkörperung britischer Macht.

Seine Augen auf dem Bildnis schienen zu glühen, ihr Braunton war so dunkel, dass sie fast schwarz erschienen. Sie waren verengt, der Blick durchdringend.

„Verdammt gute Soldaten, jeder einzelne von ihnen. Alles Mischlinge natürlich, aber Kämpfer.“

Wenigstens konnte der Duke seine Stimme, die um einiges höher gewesen war, als man erwartet hätte, nicht mehr erheben. Adam brauchte sich nicht mehr als Mischling bezeichnen zu lassen. Whitcomb hatte über die britischen Regimenter gesprochen, die für den Schutz der Niederlassungen der East India Company zuständig gewesen waren. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welche Bemerkungen der Mann über eingeborene Soldaten hatte fallen lassen.

Wie außerordentlich schade, dass Whitcomb bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen war. Er hätte ein Erschießungskommando mehr als verdient gehabt. Adam wünschte den Duke zur Hölle, wie so oft, seit er von seinem Tod erfahren hatte. Das Unwetter, das sich draußen zusammenbraute, besonders das anhaltende Donnergrollen, schien seine Gefühle gutzuheißen.

Wie um ihn erneut an Indien zu erinnern, begann es in seiner Schulter zu pochen. Jedes Mal, wenn schlechtes Wetter aufzog, meldete sich die Narbe – das Andenken an eine Schusswunde, das ausgemerzt gehörte. Es lag an dem Haus. Es rief alles in Erinnerung, was er seit Jahren zu vergessen versuchte.

Adam wandte sich um und richtete seine Aufmerksamkeit auf den schweren, reich geschnitzten Mahagonischreibtisch. Auch er war größer, als er hätte sein müssen, zudem stand er auf einem Podest, sodass er mehr wie ein Thron wirkte und nicht wie ein Platz, an dem ein Mensch arbeitete. Die ganze Inszenierung war das perfekte Abbild der Arroganz des Duke of Marsley.

Die Zimmermädchen, die für diesen Raum zuständig waren, hatten die Vorhänge offen gelassen. Wäre er ein echter Majordomus gewesen, hätte er sie sicher zurechtgewiesen für ihre Nachlässigkeit. Doch da er Soldaten geführt hatte und nicht Hausmädchen, entschied Adam sich, es nicht zu erwähnen.

Ein Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem Donnerschlag. Die Scheiben der längs unterteilten Fenster klirrten.

Vielleicht ärgerte es den Geist des Dukes, dass Adam Drummond wieder in der Bibliothek herumschlich.

Das Heulen des Windes um diesen Flügel von Marsley House klang fast wie eine Warnung. Adam ignorierte sie und hob den Blick zur obersten Galerie. Er suchte nach einem Tagebuch. Was gleichbedeutend war mit der Suche nach einem ganz bestimmten Sandkorn an einem Strand oder der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.

Dieser Einsatz war von Anfang an schwierig gewesen. Man hatte ihn beauftragt, Beweise für den Verrat des Dukes zu finden. Und obwohl er den Mann für schuldig am Tod Hunderter Menschen hielt, erwies es sich als zeitraubend, brauchbare Belege aufzutun – und bis jetzt auch als erfolglos.

Aber er würde nicht aufgeben. Dieser Einsatz war mehr als ein gewöhnlicher Auftrag für ihn. Es ging um etwas Persönliches.

Er schreckte auf, als eine der Flügeltüren geöffnet wurde.

„Sir?“

Der neue Lakai Daniel stand auf der Schwelle. Ein hoch aufgeschossener Bursche wie alle jungen Männer, die in Marsley House eingestellt wurden. Er hatte rote Haare und ein Gesicht voller Sommersprossen, fast so, als wäre Gott auf dem Weg zu ihm ausgerutscht und hätte einen Eimer Farbe verspritzt. Der junge Mann hatte klare blaue Augen und sah einen an, wie nur unverdorbene Menschen es konnten.

In Daniels Gegenwart fühlte Adam sich alt und verbraucht.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Sir?“, erkundigte sich der junge Lakai.

„Ich wollte mir etwas zu lesen holen.“ Eine Ausrede sollte stets einer Überprüfung standhalten. Er konnte immer behaupten, dass er vorhatte, die Haushaltsbücher zu inspizieren, auch wenn er das normalerweise in seinen eigenen Räumlichkeiten erledigte.

„Ja, Sir.“

„Wir hatten neulich einen Herumtreiber auf dem Gelände“, improvisierte er weiter. „Eines der Hausmädchen äußerte sich besorgt.“

„Sir?“

Daniel war ein guter Junge, die Sorte, die einen ausdrücklichen Befehl nicht infrage stellte.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie die Außentür zum Tudor-Garten im Auge behalten würden.“

„Selbstverständlich, Sir.“ Daniel nickte.

„Sagen Sie Thomas Bescheid, dass ich Sie dort brauche.“

„Ja, Sir.“ Der junge Mann nickte wieder.

Vor langer Zeit war auch Adam neu gewesen in einer Stellung, in der Armee ihrer Majestät in seinem Fall. Er war nie von dieser Unschuld wie Daniel, doch er erinnerte sich, dass er sich unsicher und angespannt gefühlt hatte in den ersten Monaten, dass er befürchtet hatte, nicht ausreichend befähigt zu sein für die Aufgaben, die ihm gestellt wurden. Aus diesem Grund hielt er den jungen Mann auf, ehe er die Bibliothek verließ.

„Sie machen Ihre Arbeit gut, Daniel.“

Der junge Mann wurde rot. „Danke, Sir.“

„Ich glaube, Sie werden sich gut einfügen in den Haushalt.“

„Vielen Dank, Mr. Drummond.“

Kurz darauf hatte sich die Tür hinter Daniel geschlossen. Adam wartete einen Moment, ehe er sich umwandte und hinaufstarrte zur dritten Etage.

Sein Auftrag lautete, ein ganz bestimmtes Tagebuch zu finden. Unglücklicherweise erwies sich diese Aufgabe als schwieriger als gedacht. Der Duke of Marsley hatte schon als Junge angefangen, Tagebücher zu schreiben. Mit dem Resultat, dass es Hunderte davon gab, die Adam allesamt würde lesen müssen.

Er erklomm die Wendeltreppe, griff sich die nächsten beiden Bände, die untersucht werden mussten, und brachte sie hinunter ins Erdgeschoss. Er bezweifelte, dass der Duke es billigen würde, wenn er an seinem Schreibtisch saß, doch genau darum tat er es. Er schlug das erste Buch auf und zwang sich, sich auf Whitcombs übertrieben verschnörkelte Handschrift zu konzentrieren.

Obwohl er dem Porträt über dem Kamin keinen einzigen Blick mehr schenkte, wurde er das Gefühl nicht los, dass der Duke ihn beim Lesen beobachtete.

Er arbeitete so konzentriert, dass er im ersten Moment dachte, es wäre das Unwetter, und im zweiten erst erkannte, dass er die Stimme einer Frau gehört hatte. In Windeseile hatte er die Lampe gelöscht, doch es herrschte keine völlige Dunkelheit. Wenn es blitzte, zuckte plötzliche Helligkeit durch die Bibliothek.

Er schlich sich zur Tür, öffnete sie einen Spalt in der Erwartung, eins der Dienstmädchen draußen stehen zu sehen oder vielleicht einen Lakaien mit seinem Liebchen. Seiner Kenntnis nach gab es drei Liebeleien unter den Bediensteten, doch er hatte nicht vor, sie zu unterbinden. Solange die Leute ihre Arbeit erledigten, kümmerte es ihn nicht, was sie in ihrer Freizeit taten. Auf diese Weise konnte er sicher sein, das sich auch keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf seine eigene Arbeit richtete.

Aber es war kein Lakai, der sich mit einem Hausmädchen abgab, sondern Marble Marsley, die verwitwete Duchess. Sie war erst vor Kurzem von ihrem Anwesen auf dem Lande zurückgekehrt, und er hatte die ganze Zeit damit gerechnet, dass sie ihn als den neuesten und wichtigsten Bediensteten im Haushalt zu sich bestellen würde. Das hatte sie nicht getan. Sie hatte ihn nicht angesprochen.

Soviel musste er dem Duke lassen – er hatte eine gute Wahl getroffen mit der Duchess. Suzanne Whitcomb, Duchess of Marsley, war mindestens dreißig Jahre jünger als der Duke und eine ausnehmend schöne Frau. An diesem Abend trug sie ihr dunkles Haar in einer Hochsteckfrisur, die ein Paar schwarzer diamantbesetzter Ohrringe enthüllte. Ihre Züge waren vollkommen, in jeder Hinsicht, angefangen von dem großzügigen Mund über die blaugrauen Augen, die an einen schottischen Winterhimmel erinnerten, bis zu den hohen Jochbeinen, die ihre aristokratische Ausstrahlung betonten. Auch ihre Figur war perfekt, was selbst der vielstufige schwarze Umhang, den der Lakai ihr abnahm, nicht verbergen konnte.

Betrauerte sie den Bastard? Hatte sie sich deswegen die letzten Monate auf ihren Landsitz zurückgezogen?

Von seinem Aussichtspunkt hinter der Tür beobachtete er, wie sie ihre Handschuhe auszog und sie dem Lakaien reichte, die Röcke ihres schwarzen Seidenkleids ausschüttelte und mit nahezu zerbrechlicher Anmut in seine Richtung kam.

Verblüfft starrte er sie an. Die Duchess weinte. Tränen rollten ihr die Wangen hinunter, und dabei blieb sie vollkommen still, als wäre sie eine Statue. Adam wartete, bis sie in Richtung der zweiflügeligen geschwungenen Treppe an der Bibliothek vorbeigegangen war, dann öffnete er die Tür ein kleines Stück weiter.

Mit einem kurzen Blick zum Vestibül vergewisserte er sich, dass Thomas, der beim Eingang stand, ihn nicht sehen konnte. Er schlich ein paar Schritte näher zur Treppe und setzte seine Beobachtung fort.

Die Duchess legte die Hand auf das Geländer, sah nach oben und erklomm die ersten Stufen.

Sein Spürsinn für Gefahr war gut ausgeprägt. Dies hatte ihm in Indien mehr als einmal das Leben gerettet. Doch im Augenblick befand er sich nicht im Krieg. Es pfiffen keine Kugeln an seinem Kopf vorbei, und obwohl der Gewitterdonner von Kanonendonner kaum zu unterscheiden war, würde man wohl bis zum Tower von London oder bis zum Buckingham Palace fahren müssen, um Kanonen zu finden.

Warum also verspürte er dann dieses merkwürdige Prickeln im Nacken? Warum hatte er plötzlich das Gefühl, dass die Duchess etwas im Schilde führte? Sie bog im oberen Stockwerk nicht in den Korridor ein, der zu ihrer Suite führte. Stattdessen ging sie in gemessenem Schritt weiter die Treppe hinauf, Stufe um Stufe, und sah dabei nach oben, als folgte sie dem Ruf eines Engels.

Er warf einen Blick zum Eingang, doch der Lakai wandte ihm den Rücken zu. Dann sah er wieder die Treppe hinauf und war einen Moment verwirrt, weil er sie nirgends entdecken konnte. Am oberen Ende vereinigten sich die beiden Treppenflügel und verschwanden in der Dunkelheit. Von dort aus konnte sie nur auf den Speicher gegangen sein, der über diesem Flügel des Hauses als Abstellraum genutzt wurde, oder auf das Dach.

Es war ihm egal, ob Thomas ihn sah oder nicht. Adam lief los.

Wo zum Teufel war die verrückte Frau abgeblieben?

Im Laufschritt brachte er die erste Treppenflucht hinter sich, dann die zweite, und fragte sich, was mit Marble Marsley nicht stimmte. Er hatte Gespräche unter den Dienern mit angehört, in denen sie Marble – Marmor – genannt worden war, und hatte angenommen, dass man sie so titulierte, weil sie kalt und mitleidlos war. Eine Frau, die für niemanden ein freundliches Wort übrig hatte. Eine Frau, der andere egal waren.

In dieser Hinsicht gaben sie und ihr Ehemann ein perfektes Paar ab.

Nur dass Marmor nicht weinte.

Er folgte dem Duft ihres Parfüms, einem blumig-würzigen Aroma, das ihn an Indien erinnerte. Auf dem obersten Treppenpodest wandte er sich nach links, zu einer unauffälligen Tür, die normalerweise verschlossen war. Jetzt stand sie offen, und der Wind peitschte Regenschwaden die zehn zum Dach führenden Stufen hinunter, ihm direkt ins Gesicht.

Er war nur ein einziges Mal hier oben gewesen, bei einem Rundgang, bei dem er sich mit dem Haus vertraut gemacht hatte. Marsley House war ein ausgedehntes Anwesen am Rande Londons, das größte Haus in der Gegend und so berühmt, dass die Londoner auf ihren Spritztouren in die Wohnbezirke der besseren Leute gaffend daran vorbeifuhren.

Nicht dass die Familie Marsley besser gewesen wäre als andere, auch wenn sie selbst davon überzeugt war. Sie hatte ihre Geheimnisse und ihre Leichen im Keller, genau wie jede andere Familie.

Er ließ die Tür zum Dach hinter sich offen, dankbar für die Blitze, die seinen Weg erhellten. Wenn es doch nur aufgehört hätte zu regnen! Doch es war zu spät für diesen Wunsch, er war bereits bis auf die Haut durchnässt.

In einer merkwürdigen Laune hatte der Erbauer von Marsley House einen schmalen Balkon zwischen zwei steilen Giebeln errichten lassen. Stühle standen darauf, wahrscheinlich damit man den Sonnenuntergang über den Dächern von London betrachten konnte.

Doch mitten in einem Unwetter würde niemand, der noch ganz richtig im Kopf war, sich an diesem Ort aufhalten. Als ob er ihm zustimmen wollte, grollte der Donner über ihm.

Dann sah er die Duchess. Sie umklammerte die Balkonbrüstung mit beiden Händen, stellte einen Fuß darauf und balancierte auf dem Geländer, als wollte sie im nächsten Moment die Schwingen ausbreiten wie ein graziler Vogel und losfliegen.

Aber Menschen hatten keine Schwingen, die sie ausbreiten konnten. Sie stürzten in die Tiefe wie Steine.

Was zum Teufel …?

Er lief los, fing sich ab, als er beinahe ausgeglitten wäre auf dem rutschigen Dach.

„Sie verrücktes Frauenzimmer!“, schrie er sie an, als er sie erreichte.

Sie wandte sich zu ihm um, die Gesichtszüge von einem zuckenden Blitz erhellt.

Was er sah, konnte unmöglich wahr sein. Wenigstens versuchte er sich das einzureden. Im Gesicht der Duchess of Marsley standen Höllenqualen zu lesen.

Er packte sie am Arm, zerrte sie zurück und wäre dabei um ein Haar vornübergestürzt. Ihr vom Regen vollgesogenes Kleid war so schwer, dass es gereicht hätte, um sie beide über das Geländer kippen zu lassen.

Dann begann die verrückte Duchess auf ihn einzuschlagen. Er stieß ein paar derbe gälische Flüche aus und versuchte, sich vor ihren Fingernägeln in Sicherheit zu bringen, als sie Anstalten machte, ihm die Augen auszukratzen. Sie hatte den Mund geöffnet, und für einen kurzen Moment sah sie aus wie eine Sturmgöttin, deren Sprache der Donner war.

Er stolperte rückwärts, riss sie mit sich zu Boden, ehe sie sich befreien konnte. Er hatte ihre beiden Arme gepackt, hielt sie fest.

Sie schrie ihn an, ohne dass er verstanden hätte, was sie sagte. Vielleicht weinte sie noch, doch genauso gut konnte die Nässe in ihrem Gesicht vom Regen herrühren.

Mit beiden Füßen stieß er sich von der Brüstung ab. Er würde sich um einiges besser fühlen, wenn er sich ein Stück weiter weg befand vom Geländer. So entschlossen wie sie war, hatte er keinen Zweifel, dass sie ohne zu zögern darüberspringen würde, sobald er seinen Griff auch nur lockerte.

Das Gewitter war direkt über ihnen, und die Vorstellung schoss ihm durch den Sinn, dass Gott in den Wolken saß und wie ein Schiedsrichter über diesen Kampf um Leben und Tod entschied. Ihr Leben, ihren Tod.

Er hatte ein paar Fuß Abstand zwischen sich und die Brüstung gebracht, und der Regen trommelte immer noch auf sie hernieder. Zweimal schaffte sie es, sich mit einem Arm loszureißen und auf ihn einzuschlagen. Einmal kam sie sogar auf die Füße, doch er packte sie an ihrem durchweichten Mieder und zerrte sie zurück auf den Boden. Sie konnte ein andermal sterben, doch er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sie es in seiner Anwesenheit tat.

Er kam auf die Knie, und wieder versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien. Es gelang ihr, sich mit einem Arm loszureißen, dann mit dem zweiten. Und genau wie er es befürchtet hatte, strebte sie mit aller Macht zur Brüstung. Er sprang auf die Füße und packte ihre Röcke. Als sie herumwirbelte und erneut mit ihren Fingernägeln auf ihn losging, riss er sie verzweifelt zurück, damit sie nicht in die Nähe des Geländers kam.

Sie stolperte und fiel um wie ein Stein.

Adam stand da, Regentropfen prasselten auf ihn hernieder wie kleine Kiesel, doch die Duchess bewegte sich nicht. Sie lag mit der Wange auf dem Dach, hatte die Augen geschlossen, und der Regen wusch ihr die Tränen vom Gesicht.

Er ging in die Hocke, hob sie auf seine Arme und machte sich auf den Weg zur Tür, während er sich gleichzeitig fragte, wie er es erklären sollte, dass er die Duchess of Marsley niedergestreckt hatte.

2. KAPITEL

Das Glück verließ Adam im oberen Stockwerk, in dem sich die Räumlichkeiten der Familie befanden. Er nickte dem Lakaien zu, der vor der Tür zur Suite der Duchess stand, und fragte sich unwillkürlich, welche Ausbildung der Mann bei seinem Vorgänger genossen hatte. Die Miene des jungen Burschen ließ keinerlei Gemütsregung erkennen, als Adam die bewusstlose Duchess an ihm vorbeitrug und eine nasse Spur auf dem purpurroten Läufer hinterließ. Der Lakai öffnete ihm die Tür und trat beiseite.

Adam ging in die Suite, in der alle Lampen brannten. Er rechnete damit, jeden Moment auf die Zofe zu treffen, doch vergebens.

Im Raum hing das Parfüm der Duchess. Er blieb unschlüssig stehen, sah über die Schulter, als die Tür leise hinter ihm geschlossen wurde.

Er hatte die Räumlichkeiten ihrer Gnaden noch nie betreten. Allein der Wohnbereich war so groß, dass er vermutlich den halben Flügel einnahm. Die Wände waren mit elfenbeinfarbener Seide bespannt, die mit Vogelmotiven in bunten Farben bestickt war.

Zwei Sofas standen auf gleicher Höhe vor dem weißen Marmorkamin an der gegenüberliegenden Wand. Auch sie waren mit elfenbeinfarbener Seide bezogen, passend zu dem purpur- und elfenbeinfarbenen Teppich, der ein Muster ähnlich dem der Tapete aufwies. Die Mahagonimöbel mit den gebogenen Beinen, die formvollendet in stilisierten Tatzen endeten, wirkten eindeutig feminin.

Die Mietwohnung in Glasgow, in der er geboren und aufgewachsen war, hätte lässig in dieses Wohnzimmer hineingepasst, und es wäre immer noch Platz gewesen. Allein von dem Geld, das die elfenbeinfarbenen Seidenvorhänge gekostet haben mussten, hätte seine Familie sich ein Jahr ernähren können.

Wie eine schwarze Wolke lag die Duchess auf seinen Armen, ihr Kopf rollte an seiner Brust hin und her. Auf ihrer Wange hatte sich an der Stelle, mit der sie auf das Dach aufgeschlagen war, ein rötliches Mal gebildet.

Sollte er sich entschuldigen? Oder eine Erklärung versuchen? Oder einfach hoffen, dass sie den Vorfall vergaß?

Weshalb hatte sie versucht, sich vom Dach zu stürzen? Hatte sie den Bastard so sehr geliebt? Der Duke of Marsley verdiente ihre Zuneigung nicht, schon gar nicht zwei Jahre nach seinem Tod.

Am liebsten hätte er dem Lakaien Anweisung gegeben, dafür zu sorgen, dass sie in ihrer Suite blieb, doch er bezweifelte, dass er damit Erfolg haben würde. Die Duchess war die Dienstherrin, eine Art Göttin in diesem kleinen Königreich namens Marsley House. Keiner der Diener würde sich gegen sie stellen aus Angst, entlassen zu werden.

Vielleicht war wenigstens das Verhältnis der Zofe zu ihrer Herrin so beschaffen, dass sie Einfluss auf ihr Verhalten nehmen konnte. Es war nicht ausgeschlossen. Und wenn nicht, kannte sie vielleicht jemanden, auf den die Duchess hörte.

Doch die Zofe war nicht da, obwohl sie eigentlich die Rückkehr der Duchess hätte abwarten sollen.

Er durchquerte den Raum, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Schuhe auf dem kostbaren Teppich vor Nässe quietschten und die tropfenden Röcke der Duchess eine nasse Spur auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer hinterließen.

Das Schlafgemach war ebenso luxuriös eingerichtet wie der Salon. Allein das Bett hatte die vierfache Größe seines eigenen im Dienerquartier und war zweifellos auch vier Mal so behaglich.

Auch hier dominierte der helle Elfenbeinton in den Bettdecken und den Vorhängen der bodentiefen Fenster. Selbst der Toilettentisch hatte einen Volant aus elfenbeinfarbener Seide.

Sein Blick streifte die Kollektion silberner Bürsten und Cremetiegel. Rebecca, seine verstorbene Frau, hätte dieses Zimmer geliebt. Seine Schwester ebenso. Er konnte sich die beiden Frauen fast bildlich vorstellen, wie sie die flauschige Puderquaste in die Hand nahmen oder dieses rosafarbene Zeug benutzten, das man, wenn er sich recht erinnerte, Rouge nannte. Ihre Augen hätten vor Entzücken gefunkelt.

Er verdrängte die Geister der Vergangenheit, ging zum Bett und ließ die Duchess auf die Tagesdecke nieder. Dann trat er einen Schritt zurück.

Er hatte sie für kalt und gefühllos gehalten, doch das war sie eindeutig nicht. Nicht mit der Qual, die er in ihren Augen gesehen hatte.

Sie hatte sterben wollen.

Er streckte die Hand aus und betätigte den Klingelzug neben dem Bett. Zusätzlich zu dem Lakaien, der für den Nachtdienst eingeteilt war, hielt sich auch ein Hausmädchen in der Küche bereit, der Duchess zu Diensten zu sein für den Fall, dass sie etwas brauchte. Nur brauchte sie im Augenblick keinen Tee und keine Vollkornkekse, sondern Ella, die Zofe, die eigentlich hätte hier, in ihren Räumlichkeiten sein sollen.

Gott sei Dank war er nicht verantwortlich für Ella, sondern die Duchess selbst oder, wenn ihr das lieber war, Mrs. Thigpen, die Haushälterin.

Er hob den Deckel der Truhe, die am Fußende der Bettstatt stand, nahm eine Decke heraus und breitete sie über die Duchess. Sie musste aus den nassen Kleidern heraus, und das schnell, ehe sie sich eine Erkältung zuzog. Doch er würde sein Sündenregister nicht noch vergrößern, indem er auch nur daran dachte, selbst Hand anzulegen.

Sie hatte unglaublich lange Wimpern, die wie Fächer auf ihren Wangen lagen. Ihr Gesicht war so blass wie das der armen Kerle, die er in Manipora gefunden hatte. Manchmal verlieh der Tod, oder der Beinahe-Tod im Falle der Duchess, Gesichtern eine fast durchscheinende Reinheit. Die Lippen der Duchess waren bläulich verfärbt, und er ertappte sich bei dem Wunsch, sie zu wärmen, ein wenig Farbe in sie zu bringen. Und sei es nur, um zu beweisen, dass sie wirklich noch lebte.

Aber auch wenn sie heute nicht den Tod gefunden hatte, was würde morgen passieren? Würde es ihr morgen gelingen?

Als die Bedienstete eintrat, wies er sie an, Ella zu holen. Das Mädchen war eine Klatschbase, doch ein warnender Blick von ihm brachte sie hoffentlich nachhaltig zur Raison. Für den Fall, dass Gerüchte die Runde machen sollten, die besagten, dass er im Schlafgemach der Duchess gestanden habe oder dass sie blass gewesen sei wie ein Leichnam, wusste er, wer sie in Umlauf gebracht hatte. Das Dienstmädchen wusste es auch, wenn er dem Blick der weit aufgerissenen Augen trauen konnte.

Das Mädchen flog förmlich aus dem Raum, um Ella zu holen, und ließ ihn wieder mit der Duchess allein.

Er blieb neben dem Bett stehen. Bequem stehen war eine Haltung, die er, kaum den Kinderschuhen entwachsen, beim Militär gelernt hatte. Er nahm sie ein, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Beine hüftbreit gespreizt, und ließ die Frau auf dem Bett nicht aus den Augen. Hätte er fortgesehen, wäre ihm das Flattern ihrer Lider entgangen.

„Sie sind also bei Bewusstsein“, stellte er nüchtern fest.

Er räusperte sich, ärgerlich auf sich selbst. Wenn er müde war oder unter dem Eindruck starker Gefühle stand, verfiel er mitunter in die Glasgower Mundart, die Sprachmelodie seiner Kindheit, die loszuwerden er sich große Mühe gegeben hatte, nachdem er aus Schottland fortgegangen war. Jetzt war sie wieder da, wie auch sein Akzent, fast so als läge es nicht zwanzig Jahre oder länger zurück, dass er das letzte Mal einen Fuß auf schottischen Boden gesetzt hatte.

Sie gab sich den Anschein, noch immer ohnmächtig zu sein, doch er fiel nicht darauf herein. Die Duchess spielte ihm etwas vor.

Sollte er sich entschuldigen oder einfach so tun, als hätte es den Vorfall auf dem Dach nicht gegeben?

Wenn er sie nicht beschwichtigte, würde er vermutlich auf der Stelle entlassen werden. Dann musste er zu seinen Vorgesetzten gehen und einräumen, dass er mit seinem Auftrag grandios gescheitert war.

Das würde nicht passieren. Langsam wandte sie den Kopf in seine Richtung, schlug zögernd die Augen auf.

Es durchzuckte ihn, als sie ihren Blick auf ihn heftete.

„Wer sind Sie?“

Er war ihr vorgestellt worden, als sie vor ein paar Tagen in London eingetroffen war. Sie hatte nicht hochgesehen, nicht einmal für einen kurzen Moment, so beschäftigt war sie gewesen, sich die Handschuhe von den Fingern zu ziehen, einen nach dem andern. Bei zwei folgenden Gelegenheiten hatte er ihr die Tür geöffnet, und sie war an ihm vorbeigeglitten wie ein Schoner unter vollen Segeln.

Es war das erste Mal, dass sie ihn wirklich ansah. Er blieb reglos stehen, gestattete sich jedoch ein kleines kühles Lächeln.

„Ich bin Ihr neuer Majordomus, Euer Gnaden“, beantwortete er ihre Frage. „Ihr Verwalter hat mich vor zwei Monaten eingestellt.“

Sie schloss die Augen und wandte den Kopf in die andere Richtung.

„Gehen Sie.“ Ihre Stimme klang spröde vor ungeweinten Tränen.

„Ich habe nach Ihrer Zofe geschickt“, erwiderte er ruhig. „Sie sollte jeden Moment hier sein.“

„Ich will sie genauso wenig sehen.“

Nicht dass er viel über die allgemeine Beziehung von Herrin und Zofe gewusst hätte, doch er nahm an, dass es ein Vertrauensverhältnis war. Immerhin ging eine Zofe ihrer Herrin beim Ankleiden zur Hand, frisierte sie und kümmerte sich um ihre Garderobe und war zweifellos in ihre Geheimnisse eingeweiht. Doch anscheinend war das bei der Duchess of Marsley und ihrer Zofe nicht so.

Er würde Ella nicht fortschicken. Im Gegenteil, er wäre beruhigt zu wissen, dass ihre Gnaden jemanden bei sich hatte, zumal wenn die Gefahr bestand, dass sie sich vom Dach stürzte.

Sie sagte nichts mehr. Auch er schwieg. Da waren sie, zwei schweigende Menschen, nur durch eine kurze Entfernung getrennt, doch in völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen. Sie hätten genauso gut an entgegensetzten Enden des Erdballs stehen können.

Er änderte seine Position, ließ die Arme sinken und atmete tief durch. Dann ging er zum Fenster, schob einen der Vorhänge mit dem Finger ein Stück zur Seite und starrte hinaus in die Dunkelheit. Es regnete immer noch. Das Gewitter tobte in einiger Entfernung, der Donner klang gedämpft. Hier in diesem Zimmer, in diesem Haus, herrschte absolute Stille.

Bis auf den klagenden Schrei einer Katze. Die Duchess hatte keine Schoßtiere, daher nahm er an, dass es sich um ein streunendes Tier handelte, das irgendwo in der Nähe vor dem Regen einen dürftigen Unterschlupf gesucht hatte. Wenn er bei der Duchess fertig war, würde er sich auf die Suche nach dem armen Geschöpf machen und ihm ein wenig Schutz gewähren. Kein lebendes Wesen verdiente es, zu frieren, durchnässt und hungrig zu sein.

Die Tür ging auf, schloss sich wieder. Dann waren Schritte zu hören. Ella kam. Einen Moment später stand sie im Türdurchgang zum Wohnzimmer, richtete den Blick auf die Duchess, dann auf ihn.

Das Alter der Zofe war schwer zu schätzen, die Blüte der Jugend lag hinter ihr, und wahrscheinlich war sie ein wenig älter als ihre Dienstherrin. Ihrer Miene nach zu urteilen schien sie ständig über alles und jeden zu richten; kerzengerade wie ein Besenstiel stand sie da, so wie meistens, die Hände in Höhe des Zwerchfells ineinander verschränkt. Sie lächelte nie, und während die anderen Mitglieder der Dienerschaft gern und oft lachten, hatte er Ella noch nie lachen gehört. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht.

Verdrossen war ein Wort, das Menschen wie Ella zutreffend beschrieb.

Er mochte die Zofe nicht. Zu diesem Urteil war er gelangt, kurz nachdem die Duchess in Marsley House eingetroffen war. Ella und er waren auf der Dienerstiege aneinander vorbeigegangen, und sie hatte ihn verächtlich gemustert.

Am liebsten hätte er sie auf der Stelle aufgehalten und gefragt, weshalb sie sich für etwas Besseres hielt als die anderen Diener. Etwa weil sie einer Duchess diente? Glaubte sie, es verliehe ihr Überlegenheit, dass sie einem Mitglied der Aristokratie die Leibwäsche wusch? Oder das Haar frisierte?

Um als Majordomus glaubwürdig zu sein, musste er über die unterschiedlichen Hierarchien innerhalb der Dienerschaft Bescheid wissen. Da er nie ein Diener gewesen und nicht mit Dienern aufgewachsen war, kannte er sich nicht gut aus in dieser absonderlichen Welt mit ihren eigenen Regeln. Er würde also Nachforschungen anstellen müssen.

Die Position der Zofe erforderte einiges an Geschick und Erfahrung. So musste die betreffende Dienerin etwa wissen – dies hatte er einem Handbuch aus der Bibliothek entnommen –, wie sie die Kleidung ihrer Dienstherrin richtig pflegte. Außerdem war sie zuständig für die Anschaffung neuer Garderobe, die Bestellung von Geschenken und anderen Bedarfsartikeln.

Doch zu Ellas Pflichten gehörte anscheinend auch, so unleidlich zu sein wie nur möglich.

Ella trug stets eine hochmütige Miene zur Schau. Sie speiste nicht mit den Dienern zusammen, sondern nahm ihre Mahlzeiten dann ein, wenn die anderen fertig waren, sodass sie das kleine Esszimmer, das dem Personal vorbehalten war, praktisch für sich hatte. Zweifellos hätte sie gern einen Wohnraum zusätzlich zu ihrer Schlafkammer gehabt, doch die beiden einzigen Suiten in den Dienerquartieren waren der Haushälterin und dem Majordomus vorbehalten.

„Ihre Gnaden braucht Hilfe“, erklärte er Ella kühl.

Bei der Bemerkung, die er nicht weiter ausführte, wandte die Duchess den Kopf in seine Richtung und sah ihn an.

Als er den Blick erwiderte, schloss sie die Augen, doch wenn ihn nicht alles täuschte, hatte ein Ausdruck von Dankbarkeit in ihnen gestanden, was allerdings keinen Sinn ergab.

Ella schlug die Decke, die er über die Duchess gebreitet hatte, zurück. Sie schüttelte den Kopf, als sie sah, in welchem Zustand sich die Garderobe ihrer Dienstherrin befand. Adam wusste nicht, ob das schwarze Seidenkleid ruiniert war, doch es war ihm egal. Die Duchess musste so schnell wie möglich aus den nassen Sachen heraus und sich aufwärmen.

Und wo er gerade dabei war, er auch.

„Ich verstehe das nicht.“ Ella schüttelte den Kopf. „Wie konnte das passieren?“

Sein Gefühl sagte ihm, dass Ella sich mit nichts anderem als der Wahrheit zufrieden geben würde. Von ihm jedoch würde sie sie nicht erfahren. Sollte die Duchess ihrer Zofe erzählen, was immer sie wollte.

Er machte sich auf den Weg zur Tür. Das Einzige, wonach ihm noch der Sinn stand, war, in sein Bett zu kommen und ungestört zu sein.

„Airson caoidh fear gun onair a tha gòrach“, sagte er zu der Duchess gewandt. Ein verständnisloser Blick beider Frauen war die Reaktion.

3. KAPITEL

Was ist passiert, Euer Gnaden? Weshalb sind Sie so durchnässt?“

Es wäre ihr wirklich lieber gewesen, wenn er Ella nicht gerufen hätte. Sie wäre ganz gut alleine zurechtgekommen, aber plötzlich hatten sich die Wände um sie gedreht. Sie sagte sich, dass sie sich zusammennehmen und den Schwindel fortblinzeln musste, doch die Zofe schob ihr den Arm unter den Rücken und bestand darauf, dass sie sich aufsetzte.

„Was ist passiert?“

Suzanne schluckte, um den säuerlichen Geschmack auf der Zunge loszuwerden. Sie hatte Wein getrunken während des Dinners bei ihrem Vater. Zu viel Wein. Wie viele Gläser waren es gewesen? Zu viele, wenn sie sich nicht mehr erinnern konnte.

„Euer Gnaden, weshalb sind Ihre Kleider durchnässt?“

Jetzt musste sie sich in Acht nehmen. Zu ihrer Überraschung hatte Drummond nicht die ganze Geschichte erzählt. Doch wenn sie nicht vorsichtig war, würde Ella ihren Vater herholen, und dann musste sie seine bohrenden Fragen und seine Predigten über sich ergehen lassen.

Sie schlug die Augen auf. Ella wirkte noch verdrießlicher als sonst.

„Das Unwetter war atemberaubend. Ich bin aufs Dach gegangen, um es mir anzusehen.“

„Auf das Dach?“, wiederholte Ella perplex.

„Ich wollte sehen, wie es blitzt.“

Na also, das musste genügen. Außerdem klang es ein bisschen dümmlich, genau wie Ella und ihr Vater es von ihr erwarteten.

„Aber auf dem Dach, Euer Gnaden?“ Die Zofe hörte sich skeptisch an.

„Es hatte gerade aufgehört zu regnen“, improvisierte sie kurzerhand.

„Ihr Kleid ist vollkommen durchnässt, Euer Gnaden.“

„Es fing wieder an zu regnen“, erwiderte sie geistesgegenwärtig, während Ella ihr das Kleid aufknöpfte. Sie war nass und fror, und endlich begann sich der Nebel, der sie ständig umgab, zu lichten.

„Wo ist Ihre Haarspange?“ Ella sah sie stirnrunzelnd an.

„Meine Haarspange?“

„Ja, Euer Gnaden.“ Ellas Ton war kurz davor, schroff zu werden. „Ihre Haarspange. Die eine der beiden, die Sie von Ihrer Mutter geerbt haben. Die, die aussehen wie Blätter, Euer Gnaden, und mit Diamanten besetzt sind.“

Suzanne hielt die Augen geschlossen. Sie wollte die Zofe nicht sehen. Sie wollte gar nichts sehen. Merkwürdig nur, dass sie vor ihrem inneren Auge noch immer den kürzlich eingestellten Majordomus in seiner Respekt einflößenden, militärischen Haltung neben dem Bett stehen sah. In seiner Miene hatte der blanke Zorn gestanden. Wie überaus merkwürdig, von den eigenen Dienern gehasst zu werden.

„Wo ist die Haarspange?“ Ella ließ nicht locker.

Suzanne hob die rechte Hand. Der Ring, den sie zum Andenken an Georgie trug, war immer noch an ihrem Finger. Dieser Ring und die Trauerbrosche waren die einzigen Schmuckstücke, die ihr im Augenblick etwas bedeuteten.

Sicher würde Ella ihrem Vater Mitteilung von ihrer Nachlässigkeit machen. Ihm gegenüber war die Zofe unterwürfig. Alles in allem keine unvorteilhafte Einstellung. Ob er Ella ermutigt hatte, sie auszukundschaften? Manchmal fühlte Suzanne sich von ihr beobachtet, fast so, als machte die Zofe sich im Geiste Vermerke, die sie zu einem späteren Zeitpunkt niederschrieb. Ob sie ebenso emsig Tagebuch führte wie George, ihr verstorbener Gatte?

Merkwürdig, dass sie es nicht wusste. Aber es interessierte sie auch nicht. Wäre es ihr möglich gewesen, sie hätte völlig auf Ella verzichtet, doch dann würde ihr Vater wahrscheinlich umgehend eine neue Zofe einstellen.

Ella war außerordentlich tüchtig bei ihrer Arbeit. Sie hatte nicht einen einzigen Kragen, keine einzige Manschette und keinen einzigen Korsettschoner verlegt, seit sie vor sechs Monaten ihre Stellung in Marsley House angetreten hatte. Auf das Waschen von Spitze verstand sie sich perfekt. Suzannes Leibwäsche wurde ausgebessert wenn nötig und ansonsten durch neue ersetzt. Ella kümmerte sich darum, dass Dienstleister und Handelsleute ins Haus kamen, von den Weißnäherinnen bis hin zu Juwelieren, und alle waren begierig, Lieferanten der Duchess of Marsley zu werden.

Hätte Suzanne sich etwas aus diesen Dingen gemacht, sie wäre gewiss zufrieden gewesen mit der Art, wie Ella ihre Pflichten erfüllte. Da sie sich aber rein gar nichts daraus machte, empfand sie nur eine dumpfe Gleichgültigkeit und hätte es begrüßt, wenn ihr auch Ella egal gewesen wäre.

Aber die Zofe war ihr unsympathisch, und dieses Gefühl schien von Tag zu Tag stärker zu werden. Wie merkwürdig. Anfangs hatte sie nichts gegen die Frau gehabt, aber zu der Zeit war sie ohnehin fast empfindungslos gewesen. Jetzt verspürte sie ihr gegenüber nur Abneigung.

Sie musterte Ella in dem Versuch, herauszufinden, welche ihrer Eigenschaften diese Aversion ausgelöst hatte.

Ihr Blick glitt über Ellas Haar, das honigblond war und einen eigenen Willen zu haben schien. Es wirkte widerspenstig und kräuselte sich, wenn es regnete. Die Augen der Zofe waren hellbraun, fast wie Whisky. Sie hatte schmale Lippen, die zu einem Strich wurden, wenn sie in mäkeliger Stimmung war, und eine leicht schiefe Nase, die aussah, als wäre sie einmal gebrochen gewesen. Vielleicht hatte der Allmächtige, nachdem er Ellas Charakter erkannt hatte, sie zur Strafe fest in die Nase gekniffen.

Suzanne hatte Ella nie nach ihrer Herkunft gefragt, ihrer Kindheit, ihren Wünschen und Sehnsüchten oder überhaupt irgendetwas Persönliches. Sie wusste nicht, ob Ella Schokolade mochte oder ob sie als Kind einen Hund gehabt hatte und welches Wetter ihr am liebsten war. Sie wusste fast nichts über Ella und wäre froh gewesen, wenn sie das Gleiche über Ellas Wissensstand über sie hätte sagen können.

Sie behielt ihre Überlegungen für sich. Wenigstens in ihre Gedanken konnte Ella nicht eindringen. Sie vertraute sich der Zofe nie freiwillig an. Stattdessen passte sie ganz genau auf, was sie in ihrer Gegenwart sagte. Was bedeutete, dass sie seit Monaten nicht mehr frei reden konnte.

Ihr Majordomus hatte sich nicht so zurückgehalten, beileibe nicht. Was hatte er zu ihr gesagt? War es Gälisch gewesen? Merkwürdig, dass ihr Verwalter einen Schotten eingestellt hatte, zumal ihr Vater eine Abneigung gegen das Land und die Leute hegte. Wie oft hatte sie sich anhören müssen, wie er sich aus dem einen oder anderen Grund über die Schotten beschwerte. Entweder waren sie ihm zu geizig, oder er warf ihnen vor, dass sie ihre Gedanken zu direkt äußerten.

Niemand forderte Edward Hackney heraus, ohne einen hohen Preis dafür zahlen zu müssen.

„Euer Gnaden?“

Sie sah Ella an.

„Die Haarspange?“

Sie wusste nicht, wo die Haarspange abgeblieben war. Es war ihr egal. Doch wenn sie das sagte, würde Ella es ihrem Vater erzählen, und dann musste sie sich eine ausführliche Predigt darüber anhören, dass man Schmuckstücke der geliebten verstorbenen Mutter in Ehren hielt. Als bräuchte sie eine Standpauke!

Wie oft in den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter hätte die Tumorerkrankung besiegt, an der sie gestorben war? Wie oft hatte sie des Nachts, wenn sie allein war, mit ihr gesprochen? Häufiger jedenfalls, als sie zu Gott gebetet hatte.

„Weshalb war Drummond in Ihrem Schlafgemach?“

Sie erinnerte sich nicht. Als sie nicht antwortete, fuhr Ella fort.

„Sie kamen früh von der Dinnereinladung zurück, Euer Gnaden.“

Hatte die Frau vor, an allem herumzunörgeln, was sie tat? Den Erfahrungen nach, die sie bisher mit ihr gemacht hatte, wohl ja.

Sie war so müde, es kümmerte sie nicht, dass sie völlig durchnässt war und die Matratze wahrscheinlich inzwischen auch. Sie ließ den Kopf hängen, das Haar klebte ihr an den Wangen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, es aus dem Gesicht zu streichen.

Schließlich kam sie auf die Füße, ein wenig schwankend, und stützte die Beine gegen die Matratze. Dann wurde sie ausgezogen, ein Kleidungsstück nach dem andern. Ella verrichtete ihre Arbeit wie im Schlaf, und alles, was sie tun musste, war, dazustehen so gut sie konnte angesichts der Tatsache, dass sich alles um sie herum drehte, und den Befehlen der Zofe zu gehorchen. Heben Sie den Fuß. Jetzt den anderen. Heben Sie den Arm. Sie können ihn fallen lassen, Euer Gnaden.

Ella führte sie ins Badezimmer, reichte ihr einen eingeseiften Leinenlappen, damit sie sich das Gesicht waschen konnte, während sie den Rest ihres Körpers wusch und abtrocknete. Früher, ehe Ella ihre Zofe gewesen war, hätte Suzanne der Dienerin gesagt, dass sie nicht mehr gebraucht wurde, und ein Bad in der polierten Marmorwanne genommen.

Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre. Wenn sie es der Mühe wert befunden hätte. Wenn sie sich nicht so überfordert fühlen würde.

Sie hob die Arme, als Ella ihr ein voluminöses seidenes Nachthemd überstreifte. Dann wurde sie zu ihrem Toilettentisch geführt, wo Ella ihr die Haarnadeln herauszog und das Haar mit einem flauschigen Handtuch zu trocknen begann.

„Ich habe Ihre Kleidung durchgesehen, Euer Gnaden, und ich kann sie nicht finden.“

Sie starrte Ellas Spiegelbild an. Worüber redete die Zofe?

„Ihre Haarspange. Die Haarspange Ihrer Mutter.“

Musste sie sich wirklich um die Haarspange ihrer Mutter Gedanken machen? Würde es ihrer Mutter etwas ausmachen, wenn sie sie verloren hatte? Waren Engeln solche Dinge wichtig?

Sie war schrecklich müde, aber sie versuchte sich zu erinnern, wie der Abend verlaufen war. Es hatte ihrem Vater nicht gefallen, dass sie sich jedes Mal, wenn der Diener vorbeigekommen war, ein Glas Wein vom Tablett genommen hatte. Sie hatte es überdies gewagt, sich vom Titel eines Gastes nicht beeindrucken zu lassen. Aber vielleicht war es auch etwas anderes gewesen, weshalb sie kurzerhand fortgeschickt worden war.

Und jetzt wollte sie einfach nur noch allein sein.

Was niemand zu verstehen schien. Ella nicht, und ganz bestimmt nicht ihr Vater. Nicht einmal der schottische Majordomus.

Sie machte die Augen auf und starrte ihr Spiegelbild an. Da war ein rotes Mal auf ihrer Wange. Wo hatte sie sich das geholt? Plötzlich fiel es ihr ein. Sie war gestürzt, und der Majordomus hatte sie hochgehoben, als wöge sie nicht mehr als eine Feder.

Unvermittelt stellte Ella ein Glas vor sie hin.

Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, was es enthielt. Eine grünliche Flüssigkeit, die nach Gras roch und Vergessen versprach.

„Ich brauche es nicht.“ Sie war genug benebelt vom Wein. Taub gegen alles.

„Ich habe Anweisung, es Ihnen zu geben, Euer Gnaden.“

Anweisung ihres Vaters. Sehen Sie zu, dass Suzanne Tag und Nacht in dem gedämpften Zustand verbleibt. Sie ist fügsamer so. Sie lächelt häufiger. Und sie stimmt allem zu.

Sie nahm das Glas, trank jedoch nicht.

Ella blieb stehen. Sie würde nicht gehen, bis Suzanne es ausgetrunken hatte. Ein Teil von ihr wollte es nicht. Ein anderer Teil, der Feigling in ihr, sehnte sich nach der Benommenheit, die sofort eintreten würde, wenn sie es trank.

Um zu vergessen, das war das Ziel. So zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Um in einem beständigen Traum zu leben. Wenn sie es nur gekonnt hätte. Wenn sie nur nicht jeden Tag aufwachen würde.

„Sie können gehen, Ella. Ich trinke es später.“

Merkwürdig, sprechen tat weh. Sie drückte die Finger auf die Wange.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Euer Gnaden, bleibe ich, bis Sie das Glas geleert haben.“

Gehen Sie. Worte, die sie nicht sagte. Aber welchen Unterschied machte es auch? Sie würde das Gebräu austrinken und schlafen. Und der morgige Tag würde genauso sein wie der heutige. Zieh dich an, Suzanne. Sei hübsch, wenn auch nichtssagend. Lächle, wenn man es von dir erwartet. Dreh dich hierhin, dorthin. Nicke oder schüttele den Kopf, je nach Anforderung der Situation. Sie war nur ein Körper, nicht unähnlich den Marionetten, die sie einmal in Covent Garden gesehen hatte. Niemanden scherte, was sie fühlte oder dachte. Weshalb sollte sie nicht in grauem Stumpfsinn leben?

Sie trank das Glas leer und reichte es Ella. Die Zofe lächelte. Triumphierend? Ach, es war ihr egal.

4. KAPITEL

Adam nahm eine der Kutschen der Marsleys und fuhr nach Schomberg House im Zentrum Londons, doch zuerst machte er einen kleinen Umweg.

Seine Wirtin, die verwitwete Mrs. Ross, vermietete an eine bestimmte Art Kostgänger, um ihre Einsamkeit zu lindern. Einsam hatte auch er sich gefühlt, als er nach London gekommen war.

„Ich komme gut klar mit Männern, die beim Militär sind“, hatte sie gesagt. „Man muss sie nicht bedienen, und es ist praktisch, sie in der Nähe zu wissen. Sie pflegen umsichtig zu sein.“

Er hatte daraufhin nur genickt, doch im Laufe der Jahre war sie oft an ihn herangetreten, damit er ein Tischbein reparierte, einen Kostgänger vor die Tür setzte, der drei Wochen lang nicht gezahlt hatte, eine Petroleumlampe auseinandernahm und reinigte, Möbelstücke rückte und sich so nützlich machte wie irgend möglich, wenn er bei ihr wohnte.

Wann immer er ankündigte, dass er für ein paar Wochen nicht da sein würde, nickte sie nur und fragte ihn, ob er wisse, wann er zurück sei. Manchmal konnte er die Frage beantworten, meistens nur ungefähr, doch da er seine Miete stets im Voraus bezahlte, hielt sie seine Zimmer sauber, bis er zurückkehrte.

Das magere schwarze Katzenjunge, das er draußen vor dem Gemach der Duchess gefunden hatte, maß sie mit einem Blick und nahm es bei sich auf.

Das arme Kätzchen hatte vor Angst gezittert, als er es schließlich gefunden hatte. Irgendwie war es unter einen Mauervorsprung gekrochen, wahrscheinlich auf der Suche nach Schutz vor dem Unwetter. Er hatte es in ein Handtuch gewickelt, gewärmt und ihm etwas von seinem eigenen Frühstück zu fressen gegeben, ehe er es zu Mrs. Ross gebracht hatte.

„Ach Gott, was für ein niedliches kleines Ding. Natürlich behalte ich es. Es kann Mäuse fangen.“

Ihn hatte sie mit der gleichen Großherzigkeit in England willkommen geheißen. Auf der Überfahrt war er erkrankt und hatte noch lange an den Nachwehen des Fiebers gelitten, doch Mrs. Ross hatte ihn gesund gepflegt. Das kleine Kätzchen würde sie mit der gleichen Güte behandeln. Dessen war er sich sicher.

Es gab großzügige, fürsorgliche Menschen auf dieser Welt. Mrs. Ross war einer von ihnen.

Was für ein Mensch war die Duchess?

Seit gestern konnte er nicht aufhören, an sie zu denken, ein Umstand, der ihn störte und beunruhigte. Was, wenn sie wieder versuchte, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Würde jemand da sein, um sie davon abzuhalten?

Die Kutsche wurde langsamer und kam vor dem Eingang von Schomberg House zum Stehen. Gerüchte besagten, dass das Haus ehedem eine Spielhölle und ein Bordell beherbergt hatte. Inzwischen befand sich die Behörde, für die er arbeitete, in dem vierstöckigen Backsteingebäude. Das Quartier war eine Art Anhängsel, das nicht weit von dem in Cumberland House untergebrachten Kriegsministerium entfernt lag, fast ein bisschen so wie ein unartiges Kind unter der Aufsicht eines strengen Erwachsenen.

Mit dem neuen Außenministerium in der King Charles Street und dem Ministerium für Indien, Prachtexemplare der üppigen Architektur des Palladianismus, war Schomberg House nicht zu vergleichen. Jeder, der diese beiden Gebäude betrat, musste erschlagen sein von dem Übermaß an Säulen, Stuck und Marmor.

In Schomberg House gab es weder Säulen noch Marmorfußböden. Nur gewöhnliche Korridore, von denen Türen abgingen, die keine Namensschilder, sondern Nummern trugen. Er bog links ab, folgte dem von Sonnenlicht erhellten Gang.

Es war so ruhig in dem Gebäude, dass er sich genauso gut mitten in der Wüste hätte befinden können. Die tiefe Stille wurde nur unterbrochen vom gedämpften Geräusch einer sich schließenden Tür im oberen Stockwerk und Schritten auf der benachbarten Treppe.

Im ganzen Haus roch es nach Staub und – starkem schwarzem Tee. Auf den Schreibtischen hinter all den Türen standen ohne Zweifel Stövchen mit vor sich hinsimmernden Teekesseln. Immerhin befand er sich im Quartier einer Regierungsbehörde.

Vor sieben Jahren, als er seinen Abschied vom Militär genommen hatte, hatte ihm Sir Richard Wells das Angebot gemacht, für ihn zu arbeiten. „Es ist eine neu eingerichtete Abteilung des Kriegsministeriums“, hatte er gesagt. „Eine, deren Arbeit Sie interessieren dürfte.“

Auf seine Fragen, um welche Abteilung genau es sich handelte, der er unterstellt war, hatte er in der Folge nur oberflächlich Auskunft erhalten, doch nach ein paar Dutzend Aufträgen hatte er eine Vorstellung gehabt.

Was er tat, war offiziell nicht legal, doch es kam dem Empire zugute. Er war Mitglied einer Gruppe, die Sir Richard den Silent Service nannte und der aus Männern bestand, deren Engagement – für das sie wahrscheinlich niemals Anerkennung ernten würden – das Land stetig sicherer machte.

Vor einer Tür mit einem Messingschild, auf der die Zahl dreißig stand, blieb er stehen und drückte die Klinke herunter. Als er eintrat, sah er Oliver Cater an seinem Schreibtisch sitzen. Oliver war Unteroffizier in seinem Regiment gewesen, ein junger Mann mit zurückhaltendem Wesen und einer Abneigung gegen Lärm. Adams langjähriger Bekannter und derzeitiger Einsatzleiter Roger Mount hatte die Rolle seines Beschützers übernommen und sichergestellt, dass der junge Mann nicht wegen Feigheit gehänselt wurde. Oliver dankte es ihm mit unverbrüchlicher Loyalität und war ihm sogar ins Kriegsministerium gefolgt.

Oliver sah auf, als Adam eintrat, und zog seine buschigen Brauen zusammen. Mit den Jahren würden die dichten Härchen wohl ergrauen, länger werden und über seinen kleinen braunen Augen wuchern wie ein Gestrüpp. Unwillkürlich fragte sich Adam, was das Alter mit den Muttermalen machen würde, die Olivers Gesicht sprenkelten.

Er zog das kleine Säckchen, zu dem er sein Taschentuch umfunktioniert hatte, aus der Rocktasche, schlug es auseinander und legte es auf Olivers Schreibtisch.

„Lakritz von Grace?“ Die Augen des jungen Mannes begannen zu leuchten.

Adam nickte. Grace, die Köchin in Marsley House, liebte Süßigkeiten und hielt immer einen Vorrat für sich und die anderen Diener bereit. Wenn er nach Schomberg House kam, um Roger Bericht zu erstatten, nahm Adam etwas zu naschen mit und gab es Oliver.

„Ist er da?“, fragte er mit einem Blick zu der geschlossenen Tür.

Oliver wählte eins der Lakritzstücke aus und steckte es sich in den Mund. Er nickte. „Er erwartet dich.“

Adam trat in das Büro, schloss die Tür hinter sich und wandte sich um.

Roger war in seinem Alter, ein wenig kleiner und korpulenter. Er hatte ein einnehmendes Lächeln, das er oft und gern einsetzte. Auch jetzt wieder, doch Adam ließ sich nichts vormachen. Er pflegte Menschen ins Gesicht zu sehen, und das berechnende Funkeln in Rogers Augen, wenn er den Nutzen seines Gegenübers für seine Pläne einschätzte, während er ihn für sich einzuspannen versuchte, war ihm von Anfang an nicht entgangen.

Rogers äußere Augenwinkel lagen ein wenig tiefer als die inneren, was ihm das Aussehen eines Bluthundes verlieh. Eines vertrauenswürdigen, freundlichen und loyalen Bluthundes.

Wobei Aussehen mitunter täuschen konnte.

Wenn es jemanden gab, der eine unkomplizierte Art hatte, Dinge anzupacken, dann war es Roger. In Indien hatte er sich den Ruf erworben, alles, was ein Soldat wollte und wofür er zu zahlen bereit war, beschaffen zu können. Die East India Company war ein Hort schwerfälliger Bürokratie, aber jeder wusste, dass Roger Mount der richtige Mann war, wenn es galt, etwas zu besorgen. Roger besorgte sogar Dinge, die unauffindbar oder unerhältlich waren. Kurzum, er wirkte Wunder.

Bis er nach Lucknow versetzt worden war, eine Garnison in der Nähe von Manipora, hatte er ein erkleckliches Vermögen gemacht.

Es hatte Adam wenig verwundert, zu erfahren, dass Roger seine Ziele im Wesentlichen erreicht hatte, als sie sich vor ein paar Jahren wieder begegnet waren. Er war kein einfacher Veteran, sondern in den Rang eines stellvertretenden Staatssekretärs für Außenangelegenheiten aufgestiegen, eine Position, die es ihm gestattete, als Bindeglied zum Außenministerium zu fungieren. Adam war sicher, dass Roger seine Beförderung der Fähigkeit verdankte, einen glücklichen Zufall nutzen zu können, wenn er sich bot. Seine vorteilhafte Eheschließung mochte das Ihre dazu beigetragen haben. Roger war, schlicht gesagt, ehrgeizig.

„Ich bin nicht der Richtige für diesen Auftrag.“ Adam ließ sich auf dem Stuhl vor Rogers Schreibtisch nieder. „Ich habe das verdammte Tagebuch noch immer nicht finden können, und wahrscheinlich bin ich in Kürze meine Stellung los.“

Roger Mount lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete Adam wie eine weise alte Eule. Seine Pose war an Adam verschwendet, denn immerhin hatten Roger und er zusammen in Indien gekämpft, und er kannte Rogers Fehler und Sünden. Sein riesiges Büro beeindruckte ihn genauso wenig wie der ausladende Schreibtisch, der aussah, als hätte er das Jahreseinkommen einer ganzen Familie verschlungen.

„Wie kommst du denn darauf?“

Kurz erwog Adam, Roger von den Geschehnissen der letzten Nacht zu berichten, entschied sich jedoch dagegen. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihm, die selbstmörderischen Absichten der Duchess zu enthüllen. Vielleicht weil er das Bild ihres vom Blitz erhellten Gesichts und von der Qual in ihren Augen nicht loswurde.

„Ich weiß einfach, dass es so ist.“

Ein Muskel in Rogers Wange zuckte, und es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder zu sprechen anfing.

„Du bist mein bester Mann für diesen Auftrag.“ Er sprach ruhig und mit Pausen zwischen den einzelnen Worten, sodass sie gewichtiger klangen.

„Weshalb? Weil ich Schotte bin?“

Verzichtbar mit anderen Worten. Leicht wegzuerklären. Ach ja, Drummond. Guter Mann, aber er war Schotte, wissen Sie.

Sie starrten einander an. Wie oft hatten sie diese Diskussion in den letzten Jahren geführt, und jetzt schon wieder.

„Nein, nicht weil du Schotte bist, verdammt! Sondern weil du dich gut anzupassen verstehst. Die Menschen mögen dich.“

„Ich bin ein lausiger Majordomus.“

„Im Gegenteil. Ich habe nur Gutes über dich gehört.“

Eine Zeit lang sagte Adam gar nichts. Als er schließlich zu sprechen ansetzte, war seine Stimme angespannt. „Hast du noch jemanden in Marsley House eingeschleust? Jemand, der mich überwacht?“

Roger beugte sich vor, die Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit in Person. Adam ließ sich von dieser Pose genauso wenig täuschen wie von allen anderen.

„Du wolltest kein Diener sein, Adam. Willst du mir das vorwerfen? Ich musste Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Der Einsatz ist wichtig.“

„Wer ist es?“

Roger schüttelte den Kopf.

Er war nicht wirklich überrascht, dass Roger jemanden abgestellt hatte, um ihn zu überwachen. Roger war ein Mensch, der einem ins Gesicht lächeln und sich, sobald man aus der Tür war, abfällig äußern konnte.

Adam hatte sich nie die Illusion gemacht, dass er und Roger Freunde waren, nicht so jedenfalls, wie Roger vorgab. Sie waren weder in Indien Freunde gewesen noch waren sie es jetzt, zumal er Roger gegenüber berichtspflichtig war, wenn auch nur zeitweise. Viel lieber hätte er Sir Richard Wells zum Vorgesetzten gehabt, so wie früher, doch Sir Richard war sich mit Roger einig gewesen, dass Adam sich am besten eignete für diesen Einsatz. Roger hatte von Anfang an jemanden in Marsley House einschleusen wollen.

„Ich weiß nicht, ob ich das verdammte Ding finde.“

„Du findest es. Wenn du nicht aufgibst.“ So wie Roger ihn ansah, schien er sagen zu wollen: „Untersteh dich, mit mir zu streiten!“

„Der Mann scheint sein ganzes Leben lang jeden Tag Aufzeichnungen gemacht zu haben. Ich habe Tagebücher aus der Zeit gefunden, als er noch ein Junge war.“

„Auch welche aus Indien?“

Adam nickte. „Ja, aber es steht nichts Brauchbares darin.“

Er hatte noch nie versagt, und die Vorstellung, dass er jetzt versagen könnte, ging ihm gegen den Strich. Aber es gab Zeiten – und er fürchtete, dass dies eine solche war –, da standen die Chancen schlecht für ihn.

„Ich brauche dich dort“, sagte Roger schlicht.

Die gleiche Litanei hatte Adam sich vor zwei Monaten angehört, als er nach Marsley House abkommandiert worden war.

Er rollte die Schultern und versuchte, eine bequemere Haltung auf dem harten Stuhl einzunehmen.

„Du musst zurückgehen und das verdammte Tagebuch finden! Wir können es uns nicht leisten, dass ein solcher Skandal öffentlich wird. Das Außenministerium bittet in Indien um Entschuldigung, Adam. Wir versuchen, die Fehler, die dort passierten, wiedergutzumachen. Kannst du dir vorstellen, was geschehen würde, wenn herauskäme, dass der Duke of Marsley seine eigenen Männer verraten hat? Die Welt würde die Ereignisse von Manipora in einem völlig anderen Licht sehen.“

„Der Himmel stehe uns bei“, sagte Adam trocken.

Er bezweifelte, dass die Bekenntnisse des Dukes jemals entdeckt würden. Die meisten der Tagebücher, die er gelesen hatte, sahen aus, als wären sie nicht mehr angefasst worden, seit man sie in das Regal in der oberen Galerie der Bibliothek eingeräumt hatte. Andererseits war es nicht an ihm, mit einem Vorgesetzten zu streiten, und sein Vorgesetzter bei diesem Einsatz war Roger.

„Weshalb sollte er den Verrat in einem Tagebuch eingestanden haben?“, fragte er dennoch.

„Weil er die Aktion vielleicht rechtfertigen wollte.“ Roger zuckte mit den Schultern. „Oder weil er Schuldgefühle hatte?“

Adam hatte keine Routine darin, seine Vorgesetzten zu verhören, doch in diesem Augenblick konnte er seine Neugier nicht unterdrücken.

Autor

Karen Ranney
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