Aufregende Stunden in Schloss Vincennes

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Schloss Vincennes, Frankreich, 1325. Die junge Mathilde Gosselin ist selig: Als neue Hofdame der Königin erfährt sie endlich Respekt und Wertschätzung. Auch ihr Herz frohlockt, denn sie lernt in dem Palast den charmanten Henry Wright kennen. Er umwirbt sie galant, warnt sie jedoch vor den Intrigen bei Hofe und vor der Königin selbst. Mathilde ist hin- und hergerissen – zwischen dem Mann ihrer Sehnsucht und ihrer royalen Gönnerin. Sind heimliche Zärtlichkeiten alles, was Henry und sie jemals miteinander teilen können?


  • Erscheinungstag 14.11.2023
  • Bandnummer 390
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516006
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Schloss Vincennes, Frankreich – Sommer 1325

Eure Hoheit!“

Mathilde fuhr erschrocken hoch, als ein Junge, einem kleinen, grinsenden Attentäter gleich, in das Gemach der Königin stürmte und damit bei den anwesenden Ladys einen Chor erstickter Schreie auslöste. Wären wir in London, dachte sie, hätte man ihn geradewegs in den Tower befördert, weil er einen solchen Aufruhr ausgelöst hat. Doch zu seinem Glück befanden sie sich an einem regnerischen, ereignislosen Nachmittag in einem Schloss am östlichen Rand von Paris, von England weit entfernt.

Die Wangen des Jungen waren gerötet, und er keuchte, ganz außer Atem, doch sein Gesicht strahlte vor Aufregung, als wüsste er, dass man sein Eindringen begrüßte. Zur Überraschung beinahe aller im Raum behielt er damit sogar Recht. Er sagte kein weiteres Wort, sank nur auf ein Knie, und dennoch hob Königin Isabella den Blick von dem mit Goldschnitt versehenen Buch über die Artussage, in welches sie bis eben vertieft war, und lächelte.

Isabella, geborene Prinzessin von Frankreich und nun gekrönte Königin Englands, lächelte. Nicht bloß ein schwaches, königliches Krümmen der Lippen, sondern ein echtes, seltenes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht veränderte und ein glühendes Funkeln in ihre sonst so unergründlichen, blauen Augen zauberte.

Mathilde betrachtete sie wie gebannt. Schon seit ihrer ersten Begegnung hielt sie die Königen für die schönste Frau der Welt, doch in diesem Augenblick übertraf sie sich selbst; wie eine Lilie, die im Sonnenschein ihre Blütenblätter öffnete und sich von einer zarten, hübschen Knospe zu einer selbstbewussten, flammenden Schönheit wandelte. Ein Eindruck, der noch verstärkt wurde, als sich die Königin in gebieterischer Anmut erhob, und sich das Licht von dutzenden Kerzen in ihrem blassgelben Surcot fing, dass er schimmerte wie geschmolzenes Gold. Es war unmöglich, jemand so Strahlendes nicht anzustarren.

„Madame Baudin ist eingetroffen?“ Als der Bote nickte, von der Anstrengung noch immer ganz außer Puste, hob Isabella eine ihrer fein geschwungenen Brauen. „Gut. Du kannst draußen warten.“ Mit einem Wink entließ sie ihn.

Rückwärts gehend wich der Junge aus dem Raum, und die Königin richtete den Blick auf Mathilde, die Augen abwägend verengt. „Du. Dein Name ist Mathilde, nicht wahr?“

„Ja, Eure Hoheit.“ Nervös legte sie ihre Stickarbeit beiseite und sank in einen Knicks. In zwei Monaten hatte die Königin kaum einmal ihre Anwesenheit bemerkt, geschweige denn sie beim Namen genannt, und behandelte sie stets mit derselben reizbaren Verachtung, mit der sie all ihre neueren Gefolgsdamen bedachte. Mathilde konnte ihr das nicht gänzlich verdenken. Sie waren nur hier, weil der König ihre loyalen französischen Hofdamen eingesperrt und selbige durch englische Spioninnen ersetzt hatte. Wenngleich sie selbst keine Spionin war. Sie war ein Niemand, die Tochter eines Mannes, dem der König einen Gefallen schuldete, weiter nichts, nur ein im letzten Moment hinzugefügtes Anhängsel an Isabellas Tross, ehe jene zu ihrer diplomatischen Mission nach Frankreich aufgebrochen war. Sie war neu und jung, was die anderen Ladys sie fortwährend spüren ließen. Zudem vernahm sie deren Tonfall, dass man sie für unbedeutend und verarmt hielt, was durchaus der Wahrheit entsprach, wenn das auch nicht ihr Verschulden war. Ihre Familie war weder angesehen, noch wohlhabend, noch in irgendeiner Weise geadelt, es war die Loyalität ihres Vaters, die ihr eine Stellung am Hofe gesichert hatte. Es war eine große Ehre, eine, von der sie tagtäglich wünschte, sie wäre jemand anderem zuteil geworden.

„Tritt näher.“ Die Königin winkte sie mit einer eleganten Handbewegung heran, der sie sogleich gehorchte. Aus den Augenwinkeln sah sie Lady Berthe, das Haupt der Spioninnen, ebenfalls näherrücken, als wolle sie sich zu ihnen gesellen, doch Isabella wies sie mit einem scharfen Blick zurück.

„Cecily?“ Ihr Ausdruck milderte sich, als die Königin eine ihrer älteren, englischen Hofdamen anrief, die schon zu ihrem Gefolge zählten, seit sie vor siebzehn Jahren als junge Braut zum ersten Mal nach London gekommen war. Aus dieser Zeit waren ihr nur zwei geblieben, Lady Cecily d’Abernon und Katharine Sykes, beide überaus warmherzig.

„Eure Hoheit?“ Lady Cecily sank in einen Knicks.

„Ich wünsche heute Abend das fliederfarbene Kleid zu tragen, jenes mit der silbernen Borte, doch ich fürchte, es hat einen kleinen Riss in einem Ärmel.“

„Da könntet Ihr recht haben, Eure Hoheit.“ Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, Lady Cecily trug eine Unschuldsmiene zur Schau. „Es befinden sich einige Kleidungsstücke in Eurer Garderobe, die etwas Zuwendung bedürften. Wir hätten gerade Zeit, sie auszubessern, wenn Ihr gestattet.“

„Gewiss.“ Isabella neigte das Haupt, als hätte sie ihr soeben einen großen Wunsch gewährt. „Mathilde wird bleiben und mir Gesellschaft leisten. Kat ebenfalls.“

Lady Cecily knickste erneut, dann scheuchte sie die Spioninnen aus der Kammer, ehe die noch Gründe ersinnen konnten zu bleiben.

„So ist es besser.“ Die Königin wartete, bis die Tür ganz geschlossen war, dann stieß sie einen langen Seufzer aus, als hätte sie bis eben die Luft angehalten. „Wie alt bist du, Mathilde?“

„Siebzehn, Eure Hoheit.“

„So alt? Und mit solch schönen Augen. Und dennoch unvermählt?“

„Ja, Eure Hoheit.“ Sie errötete, trotz der darin mitschwingenden Spitze schmeichelte sie dieses Kompliment. Ihre Schwester Harwise hatte immer gesagt, das Schönste an ihr seien ihre Augen, tief dunkelbraun, wie die ihrer Mutter gewesen waren, wenn sie, Mathilde, auch, was den Rest betraf, recht gewöhnlich war. Hübsch, jedoch keine große Schönheit, und dazu ohne Mitgift. Deshalb war sie noch unvermählt. Und es war der Grund dafür, einer jedenfalls, aus dem man sie an den Hof geschickt hatte. Daheim war sie nur ein weiterer Mund, der gefüttert werde musste, hier konnte sie ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen.

„Sieh nicht so beschämt drein. Es gibt Schlimmeres, als unvermählt zu bleiben, nicht wahr, Kat?“ Isabella tauschte einen wissenden Blick mit Katharine, die nur leise schnaubte. „Sag, was zögest du vor, einen schlechten Gemahl oder gar keinen?“

Mathilde zögerte, eine Antwort scheuend. Darüber hatte sie nie zuvor nachgedacht, doch die Königin sah sie erwartungsvoll an, die ganze Kraft ihrer durchdringend blauen Augen war auf sie gerichtet. „Wohl gar keinen Gemahl, Eure Hoheit.“

„Dann könntest du das Mädchen sein, nach dem ich suche.“ Isabellas Blick wurde wärmer. „Du stammst aus dem Norden Englands, wenn ich mich recht entsinne?“

„Ja, Eure Hoheit. Aus Rudstone Manor, nahe Scarborough.“

„Ah, nun erinnere ich mich. Dein Vater half meinem Gemahl während der Rebellion.“

„Ganz recht.“ Sie nickte eifrig. Selbst nach vierzehn Jahren noch, wurde ihr Vater nicht müde, von jenem Tag zu erzählen, an dem König Edward II. auf der Flucht vor Thomas of Lancesters Streitkräften auf ihren Hof geritten kam. „Er gab ihm Proviant und frische Pferde und ritt an seiner Seite bis nach York. Er sagt immer, es sei die größte Ehre seines Lebens gewesen.“

„Das war es … damals.“ Ein Schatten huschte über das Gesicht der Königin, so flüchtig, dass sie den Grund dafür unmöglich benennen konnte. Ungeduld? Grimm? Mathilde senkte den Blick auf den Teppich, besorgt darüber, womöglich etwas Falsches gesagt zu haben. „Und nun vergütete es ihm mein Gemahl, indem er dir eine Stellung in meinem Haushalt gab?“

„Ja, Eure Hoheit. Mein Vater nahm mich mit nach London, um darum zu bitten.“ Und ließ mich dann dort zurück, dachte sie und biss sich auf die Zunge, um die Worte nicht laut auszusprechen.

„Du hast also keine weiteren Verbindungen zum König … oder dessen Freunden?“

„Keine, Eure Hoheit“, antwortete sie ehrlich. Sie hatte nur aus der Entfernung einen Blick auf den König erhascht und wusste nichts von seinen Vertrauten.

„Gut. Was denkst du, Kat? Ist sie vertrauenswürdig?“

„Wenn nicht, wird sie mir Rede und Antwort stehen müssen.“

„Ich bin vertrauenswürdig“, entgegnete Mathilde auf einmal, empört über jede anderweitige Vermutung.

„Ich glaube dir, Mädchen.“

Isabellas Tonfall war besänftigend, und zum ersten Mal, seit Mathilde ihre Familie verlassen hatte, fühlte sie sich mit jemandem verbunden. Nein, berichtigte sie sich schnell, das ist das falsche Wort. Sie könnte nie mit der Königin verbunden sein, doch durch ihre Worte fühlte sie sich weniger ausgeschlossen.

„Komm hierher.“ Isabella nahm in einer Fensternische Platz, so weit von der Tür entfernt wie möglich, und ließ eine Hand auf einem kastanienroten Samtkissen ruhen, das neben ihr lag.

„Ich danke Euch, Eure Hoheit.“ Mathilde warf einen flüchtigen Blick zu Katharine, die einem Wächter gleich die Arme vor der Brust verschränkt hatte, ehe sie der Aufforderung der Königin mit aufgeregt pochendem Herzen und zittrigen Knien Folge leistete. Sie war froh, sich setzen zu können, ehe ihre Beine noch gänzlich unter ihr nachgaben, wenngleich es ein seltsames Gefühl war, jemandem so Außergewöhnlichen wie der Königin so nah zu sein. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug nur dreizehn Jahre, doch Isabella war alles, was Mathilde niemals sein würde, niemals sein könnte.

„Ich möchte dich um etwas bitten, Mathilde, etwas, das ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben muss.“ Isabella machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ich brauche jemanden wie dich, der meine Nachrichten überbringt. Cecily ist seit einiger Zeit unpässlich, und Kat kann nicht mehr so lange und so schnell laufen wie früher.“ Sie presste die Lippen zusammen, als von Katharine ein lautes „Tsts“ herandrang. „Glaubst du, du könntest mir helfen, Mathilde?“

„Es wäre mir eine Ehre, Eure Hoheit.“

„Das dachte ich mir.“ Isabella zog einen goldenen Ring mit rotem Rubin von ihrem Finger. „Ich wusste, du bist nicht wie die anderen. Öffne deine Hand.“

Mathilde keuchte auf, als die Königin den glitzernden Ring in ihre Handfläche legte. Er sah kostbar aus, womöglich von solchem Wert wie daheim die Ernte mehrerer Jahre.

„Der Junge wird dich nun zu jemandem führen, einem Gast. Zeige ihm diesen Ring und sage ihm, er soll mich unverzüglich in den Privatgemächern des französischen Königs aufsuchen.“

„Ja, Eure Hoheit, doch …“ Mathilde zog die Brauen zusammen. Der Junge hatte von einer Madame Baudin gesprochen …

„Eine notwendige Täuschung.“ Isabella verstand offenbar ihre Verwirrung und warf einen vielsagenden Blick in Richtung ihres Ankleidezimmers. „Wenn die anderen fragen, was sie gewiss tun werden, dann sage ihnen, meine alte Zofe aus Kindertagen sei gekommen, mir einen Besuch abzustatten. Es ist unwichtig, ob sie dir Glauben schenken oder nicht. Es zählt einzig, dass sie die Wahrheit nicht herausfinden. Das hier muss unser Geheimnis bleiben, verstehst du?“

„Ja, Eure Hoheit.“

„Ich danke dir.“ Die Königin legte eine Hand auf Mathildes Wange, eine beinahe mütterliche Geste, wie sie fand, und von einer Zärtlichkeit, die ihr Herz erwärmte. „Traue niemandem außer mir, Katharine oder Lady Cecily.“

Mathilde nickte und erhob sich, sank in einen Knicks, ohne weitere Details zu erfragen. Die Identität dieses Gastes war nicht ihr Belang, und der strenge Ausdruck auf dem Gesicht der Königin warnte sie davor, zu neugierig zu werden. Doch die Wahrheit war, dass es sie nicht kümmerte, wer dieser Gast war. Isabella, die Königin, hatte ihre Wange berührt und sie um Hilfe gebeten. Das allein war nun wichtig.

2. KAPITEL

Zeige ihm diesen Ring …“, wiederholte Mathilde leise vor sich hinmurmelnd die Anweisung der Königin, während sie dem Jungen eine Wendeltreppe hinab und durch zahlreiche schwach erleuchtete Korridore folgte, dann über einen Hof und schließlich noch mehr Korridore entlang. Sie rannten fast, und doch schienen ihre Füße viel zu langsam, unfähig, mit ihren aufgewühlten Gefühlen Schritt zu halten. Sie hatte den Verdacht, etwas Wichtiges sei im Gange, etwas Bedeutsames und Verstohlenes. Sie hatte keine Vorstellung, worum es sich handeln könnte, doch im Augenblick wollte sie vor allem eines: die Anerkennung der Königin erlangen. Wenn sie ihren Wert nicht durch Schönheit oder Reichtum unter Beweis stellen konnte, dann durch Unerschütterlichkeit und Loyalität.

Die Spioninnen würden mir ein Vermögen bezahlen, erzählte ich ihnen hiervon, überlegte sie mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit. Nicht, dass sie gedachte, das zu tun. Sie wurde in deren geheime Unterhaltungen nicht einbezogen, doch sie wusste, sie schickten regelmäßig Briefe nach England, um über die Angelegenheiten der Königin zu berichten: wen sie traf, mit wem sie Zeit verbrachte, worüber sie sprachen und wie lange. Mathilde konnte nicht nachvollziehen, womit ihre Herrin eine solche Behandlung verdient hatte, doch die Spioninnen schienen sehr stolz auf diese gründliche Überwachung zu sein. Das war nichts, an dem sie teilhaben wollte.

Sie ging langsamer, als sie einen Bereich des Schlosses betraten, der ihr fremd war. Das Mauerwerk wirkte sehr alt, vermutlich gehörte es zum ursprünglichen Teil des Bauwerks, weit ab von der Pracht der großen Halle und der königlichen Gemächer. Wer immer der Gast der Königin war, er wollte ganz offensichtlich unbemerkt bleiben. Hier war es stiller und dunkler, es gab nur wenige Fenster, und sie begegneten kaum einem Bediensteten, bald schon gar keinem mehr, sodass Mathilde, entgegen aller Entschlossenheit, ein kaltes Schaudern überkam.

Der Junge reichte ihr eine Laterne, welche er zuvor schon bereitgestellt haben musste. Sie hielt den Griff fest umklammert, während sie den Korridor weiter entlanggingen, und ihre Angst wuchs mit jedem Schritt, als befände sie sich auf einem gefährlichen Pfad und wüsste nicht, wie sie zurückfinden sollte. Einen Moment wurden ihr die Nerven schwach, und sie wünschte sich wieder in die Sicherheit des Gemachs der Königin und von ihr unbeachtet, doch gleich darauf tadelte sie sich für diese Feigheit. Sie würde nicht verzagen, noch ehe die Aufgabe überhaupt richtig begonnen hatte.

Schließlich blieben sie vor einer Eichentür stehen, so dick und solide, dass Mathilde glaubte, es bräuchte schon einen Rammbock, um sie zu öffnen. Ganz bestimmt war es unmöglich, etwas hindurch zu hören, sollte jemand versucht sein, zu lauschen. Der Junge klopfte, und dann, noch ehe sie ihm sagen konnte, er solle bleiben, noch ehe sie sich überhaupt sammeln konnte, rannte er davon, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Von Panik ergriffen, öffnete sie den Mund, um ihn wieder herzurufen, doch es war längst zu spät. Ein dumpf schabendes Geräusch zeugte davon, dass der Riegel zurückgeschoben wurde, dann schwang die Tür ein Stück auf.

„Ja?“ Die Silhouette eines Mannes erschien im Türspalt.

„Ich …“ Sie zögerte, sprachlos ob dieses sonderbaren Augenblicks, und hob die Laterne, um den Mann besser sehen zu können. Er war hochgewachsen und schlank, und obwohl er gerade ein paar Jahre älter als sie sein konnte, fühlte sie sich unter seinem harten Blick jünger und unbedeutender denn je. Und trotz dieser finsteren Miene sah er atemberaubend gut aus. Seine Gesichtszüge schienen wie aus Granit gemeißelt, scharfe Wangenknochen, ein markantes Kinn, bedeckt von rauen Stoppeln. Er strahlte Selbstsicherheit aus, wenngleich seine Kleidung verknittert und schlammbespritzt war, als hätte er eine lange Reise hinter sich. Sein lockiges, dunkles Haar fiel ihm zerzaust in die Stirn. Es war beinahe schwarz, wie sie bemerkte, von einem viel dunkleren Braun als ihr eigenes, und seine Augen schimmerten in eisigem Blau, hell und stechend selbst in diesem düsteren Korridor.

„Kann ich Euch behilflich sein, Mylady?“ Er klang misstrauisch, als glaubte er, wie auch Katharine, sie sei nicht vertrauenswürdig, und versperrte ihr mit seinem Körper die Sicht auf die Kammer.

„Sir.“ Sie wusste nicht, ob ein Knicks angemessen war oder nicht, also sank sie zur Sicherheit einfach nur ein Stückchen nieder, dann hielt sie ihm den Ring entgegen und leckte sich über die Lippen, wie um sie zu lockern. „Die Königin wies mich an, Euch dies zu zeigen und Euch zu ersuchen, sie in den Privatgemächern des Königs von Frankreich zu treffen.“

„Mich gewiss nicht.“

Seine Züge entspannten sich leicht, und sein Mund zuckte, ehe er sich umwandte und mit jemandem im Raum sprach, wobei er ihr demonstrativ den Rücken zuwandte. Ihr blieb nichts, als ihn anzustarren und sich zu ärgern, dass er sich auf ihre Kosten amüsiert hatte. Sie mochte ein Niemand sein, doch sie war von der Königin gesandt, und man sollte ihr ein wenig Respekt entgegenbringen.

Schließlich beendete er den Wortwechsel und öffnete die Tür weiter, als hätte er beschlossen, ihr schließlich doch zu trauen. Sich mit einer Schulter an den steinernen Türbogen lehnend senkte er den Blick zu ihren Füßen und ließ ihn langsam aufwärts gleiten.

„Wir sind uns bisher nicht begegnet, Lady.“

Ein kleines, schalkhaftes Lächeln umspielte seine Lippen, und Mathildes Groll wuchs ums Zehnfache. Weil es keine Frage war, sondern einfach eine Feststellung, wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte. Er klang, als hätte er ihr bereits begegnet sein müssen, als wäre er mit allen Ladys am Hofe der Königin bekannt, doch wie er sie so prüfend betrachtete, wurde ihr ganz unbehaglich zumute. Sie war es nicht gewohnt, auf eine solche Weise angesehen zu werden. Sie war es überhaupt nicht gewohnt, angesehen zu werden. Die meisten Männer blickten einfach über sie hinweg. Er dagegen wirkte, als wolle er sich jeden Zoll ihres Körpers einprägen.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf, um ihre Verlegenheit zu verbergen, doch sein Lächeln wurde nur noch breiter. Es brachte das Eis in seinen Augen ein wenig zum Schmelzen und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seine langen, dunklen Wimpern. Sogar die verübelte sie ihm.

„Das glaube ich auch nicht. Ich könnte mich erinnern.“ Eine seiner Brauen fuhr hoch. „Ihr müsst nicht nervös sein. Ich beiße nicht.“

„Ich bin nicht nervös“, entgegnete sie, regelrecht entrüstet, wie leicht er sie doch lesen konnte. Sie musste lernen, ihre Gefühle zu verbergen, doch das war leichter gesagt, als getan. Es gab so viele Aspekte des Lebens bei Hofe, die sie noch nicht beherrschte, allen voran, andere zu täuschen. Eine Fähigkeit, die sie sich so rasch wie möglich aneignen sollte.

„Ah, ein Irrtum meinerseits.“ Seine Stimme ließ Zweifel daran erkennen. „Dann verratet mir Euren Namen.“

„Meinen Namen?“ Unweigerlich spannte sie sich an und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Die Königin hatte sie gewarnt, sie solle niemandem trauen, und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, wollte Mathilde diesem Mann gegenüber gar nichts über sich preisgeben. Sie wollte nicht einmal hier sein und diese Unterhaltung führen. Zudem schienen seine hellen Augen eine merkwürdige Wirkung auf ihre Atmung zu haben, schienen sie zu behindern, als zöge ihr etwas die Brust zusammen, und ihr Herz schlug auf eine Weise gegen ihre Rippen, wie sie es nie zuvor gespürt hatte. „Ich kenne Euch kaum gut genug, um ihn Euch mitzuteilen, Sir.“ Sie bedachte ihn mit einem hochmütigen Blick und ahmte Katharines verächtlichen Tonfall nach, in welchem diese stets mit den Spioninnen sprach.

„Sehr weise.“ Er neigte sich ihr leicht entgegen, seine Stimme verdunkelte sich. „Doch wie wollen wir dann Freunde werden?“

„Weshalb wohl sollte ich mich mit Euch anfreunden wollen?“ Hastig wich sie einen Schritt zurück. „Ich muss nun gehen.“

„Dann können wir zusammen gehen.“

Nein! Ich meine, vielleicht sollte man uns lieber nicht zusammen sehen.“

„Aber wer führt uns dann zu den königlichen Gemächern?“

Er richtete sich wieder auf und wirkte mit einem Mal furchtbar groß und breitschultrig, und eine neuerliche Furcht keimte in ihr auf. Es bereitete ihr schon genug Sorge, selbst den Weg zurück durch dieses Labyrinth von Gängen finden zu müssen, doch gewiss wollte sie nicht auch den Gast der Königin im Kreis herumführen. Erwartete man von ihr, ihn zu begleiten? Sie beide? Isabella hatte nichts dergleichen gesagt. Ihr kam die vage Vermutung, dass er bloß mit ihr spielte, doch noch ehe sie ihn damit konfrontieren konnte, schwang die Tür weiter auf und ein anderer, älterer, Mann erschien auf der Schwelle.

Das, nahm sie an, war der eigentliche Gast der Königin, wenn sie auch immer noch nicht wusste, wer er war. Er hatte die Haltung eines Lords, doch seine Kleider waren schlicht, ohne Wappen oder Insignien, nichts, was auf seine Identität hingedeutet hätte. Er hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, doch im schwachen Lichtschein erkannte sie dicke Brauen, einen sorgsam gestutzten Bart und das gleiche Braun und Blau wie bei ihrem Peiniger. Die Gesichtszüge dieses Mannes allerdings wurden durch eine gewisse Arroganz verunziert. Er lächelte knapp, als er den Ring in ihrer Hand erblickte, und sie trat schnell beiseite, abermals ihrer Stimme beraubt.

„Nun müsst Ihr uns wohl begleiten.“ Ihr junger Peiniger neigte sich dicht zu ihr und flüsterte ihr diese Worte ins Ohr, worauf ihr Innerstes erst einen gehörigen Satz machte, um sich gleich darauf zu verkrampfen. Nicht, dass ihr nie zuvor jemand etwas zugeflüstert hätte, mit drei Brüdern und einer Schwester war sie an kindische Dreistigkeiten gewohnt, doch das nun fühlte sich anders an. Nie zuvor war sie einem Mann so nah gewesen, der nicht zu ihrer Verwandtschaft zählte, und als sein Atem auf ihren Hals traf, wo ihre Haut von ihrem langen Zopf unbedeckt war, wurde ihr ganz schwindelig, als hätte sie zu lange getanzt. Keineswegs eine unangenehme Empfindung, doch hier und jetzt und besonders in Gegenwart dieser Männer, wer immer sie sein mochten, vollkommen unerwünscht. Sie hoffte nur, es möge vergehen, ehe sie auf die Königin trafen. Isabella hatte etwas an sich, das Mathilde glauben ließ, sie durchschaue alles.

„Erlaubt mir.“ Er griff nach der Laterne, die ihr darauf beinahe aus der Hand glitt, weil seine Finger die ihren streiften und sie jäh den Griff losließ. Glücklicherweise war er schnell genug und fing sie so sacht auf, dass die Talgkerze darin kaum flackerte.

Ein stummes Lachen erschien auf seinem Gesicht, und sie wandte sich erzürnt ab. Wäre er einer ihrer jüngeren Brüder gewesen, Laurent oder Dicun, selbst Aland, hätte sie ihm zur Vergeltung vors Schienbein getreten, doch ihr gesunder Menschenverstand siegte über ihre Laune. So gerne sie ihm auch irgendeine körperliche Pein zugefügt hätte – aber schließlich könnte er ein Baron sein.

Es war ihr Glück, dass sie als Führerin nicht benötigt wurde. Entgegen seiner vorherigen Stichelei kannte ihr Peiniger sich im Schloss gut aus und führte sie unter spannungsgeladenem Schweigen sicher zu den königlichen Gemächern. Noch zwei weitere Männer begleiteten sie, Wachen, nach deren furchteinflößender Erscheinung zu urteilen, wenngleich sie, soweit sie sehen konnte, keine Waffen bei sich trugen. Allerdings käme dies in den Mauern des Königspalasts auch einer Beleidigung gleich, und offenbar wussten die Männer darum.

Mathilde folgte unsicher, während ein Teil von ihr überlegte, ob es nicht klüger wäre, sich zu entschuldigen und zurück in die Gemächer der Königin zu gehen, war der andere zu neugierig, um sich davonzumachen. Es kam ihr vor, als wandelte sie immer weiter voran auf diesem gefährlichen Pfad, und doch konnte sie nicht umkehren, so, als treibe eine unsichtbare und unwiderstehliche Macht sie immer weiter. Nicht zum ersten Mal wünschte sie, ihr Vater hätte sie besser auf das Leben bei Hofe vorbereitet, doch er war selbst nie ein Höfling gewesen und wusste nichts über die hiesigen Regeln. Er hatte sie nur gemahnt, gehorsam und respektvoll und pflichtgetreu zu sein, was sie stets war, und dennoch fühlte sie sich hoffnungslos überfordert. Immer wieder hörte sie in all dem Geflüster die Andeutung eines Skandals, immer in Verbindung mit einem Namen, Despenser, doch nichts davon verstand sie. Vielleicht war dies nun die Gelegenheit, mehr zu erfahren …

Ein Page öffnete die Tür, als sie die Gemächer erreichten, und als Mathilde hineinlugte, fand sie zu ihrer Überraschung Isabella darin vor. Sie hatte nicht erwartet, sie so bald hier anzutreffen, gleich gar nicht sofort an der Tür, nicht nach all ihren Bemühungen um Geheimhaltung, doch die Königin wirkte gespannt, aufgeregt beinahe. Als ihr Blick auf ihren Gast fiel, lächelte sie, das gleiche atemberaubende Lächeln von vorher, nur blendete es Mathilde dieses Mal nicht so sehr. Dieses Mal hatte es etwas Beunruhigendes an sich. Es schien zu persönlich, zu intim, nahezu triumphierend, nicht die Art von Lächeln, die eine Frau einem Mann, welcher nicht ihr Gemahl war, schenken sollte.

Mathilde blieb vor der Tür stehen, jäh von dem Bedürfnis ergriffen, sich zurückzuziehen, als der Gast seine Kapuze zurückschlug und die Gemächer betrat. Der junge Mann folgte ihm, einen Blick über die Schulter werfend, als wolle er ihre Reaktion prüfen, doch nun war kein Spott in seinen Augen zu finden. Er wirkte sogar nachgerade mitfühlend, sein Blick dunkler und überschattet, als bereue er nun, sie mit hergebracht zu haben. Seine Miene verriet ihr, dass er dieses Lächeln auch bemerkt hatte, nur wusste er vielleicht, im Gegensatz zu ihr, was es bedeutete.

„Ich danke Euch, für Eure Begleitung.“ Er sagte es, als hätte er ihre Hilfe wirklich gebraucht, um den Weg zu finden, und reichte ihr die Laterne so, dass sie nicht wieder Gefahr lief, seine Finger zu berühren. „Verirrt Euch nicht auf dem Rückweg.“

Sie nickte wortlos, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon, fest entschlossen, das eben Erlebte zu vergessen. Und was ihren hübschen Peiniger anbelangte, so wollte sie ihn niemals wiedersehen.

Henry blickte dem Mädchen nach, als es den Korridor entlangschritt. Die Laterne in ihrer Hand warf einen schwachen Lichtkegel um ihre schlanke Gestalt und ließ einige Strähnen ihres kastanienbraunen Haares feurig rot erglühen. Er war ihr gegenüber zunächst misstrauisch gewesen – es war seine Aufgabe, wachsam zu sein –, doch er war schnell zu dem Schluss gekommen, dass diese wunderschönen braunen Augen – doch gewiss die größten, die er je sah? – der Täuschung nicht fähig waren. An einem Hof voller Intrigen und Ruhmsucht hatten sie etwas erfrischend Offenes und Ehrliches an sich. Sie strahlten, ohne auch nur eine Spur von Zynismus oder Berechnung. Sie gefielen ihm. Sie gefiel ihm. Es kam nicht oft vor, dass er Menschen vertraute, und niemals gleich nach der ersten Begegnung, doch wenn sie diese Unschuld nur vorgab, dann war es die größte schauspielerische Leistung, derer er je Zeuge geworden war.

Es hatte der Versuchung einfach nicht widerstehen können, sie zu necken, obgleich er, das sei zu seiner Verteidigung gesagt, nicht davon ausgegangen war, dass sie seine Worte so ernst nehmen würde. Anders als die meisten Ladys bei Hofe. Sie hätten ihn ihrerseits geneckt, hätten die langen Wimpern niedergeschlagen und obendrein lasziv die Hände an die Hüften gelegt. Jedoch wären die meisten auch nicht in solch altmodische Gewänder gehüllt, in denen sie aussahen, wie statt einem königlichen Haushalt irgendeinem hinterwäldlerischen Nest entsprungen. Wer war sie nur? Und weshalb sollte Isabella einer so jungen und offenbar unerfahrenen Person vertrauen? Das Mädchen war regelrecht schockiert gewesen ob des Lächelns, das die Königin seinem Herrn geschenkt hatte, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. Als wünschte sie, sie hätte es niemals gesehen. Wozu es auch nie gekommen wäre, hätte er sie nicht dazu gebracht, sie zu begleiten.

Nun, für diesen Fehler wurde er nun bestraft. Nach dem langen Ritt von Hainault her hätte er in der Kammer bleiben und ein Schläfchen halten können, stattdessen aber war er lieber an der Seite dieses Mädchens gegangen, und nun saß er hier fest, bemüht, das hinter ihm stattfindende Wiedersehen diskret zu ignorieren.

„Kein Zeichen vom Bruder der Königin zu sehen.“ Fitz, einer der flämischen Leibwächter, gesellte sich zu ihm, die Stimme gesenkt. „Unser französischer König macht sich rar, was?“

„Er wurde womöglich aufgehalten“, murmelte Henry nichtssagend.

„Vielleicht möchte er auch beim Stelldichein nicht stören?“ Fitz schmunzelte. „Wie lange bleiben wir dieses Mal?“

„Nicht lange. Einen Tag höchstens.“

„Es kursieren Gerüchte, trotz aller Geheimhaltung.“ Fitz sah sich um, als am anderen Ende des Raumes eine Tür geschlossen wurde. „Sie spielt ein gefährliches Spiel, deine Königin. Früher oder später wird der König von England vom Treiben seiner Gemahlin erfahren.“

„Wahrscheinlich.“ Henry zuckte die Schultern und blickte wieder aus dem Fenster. Zweifellos würde Edward davon hören, glauben würde er es dennoch nicht. Das war stets sein Dilemma – zu glauben, niemand würde es je wagen, ihn zu hintergehen. Trotz einer beinahe geglückten Rebellion, trotz jahrelanger Unruhen, trotz all der Anzeichen, die so offensichtlich vor ihm lagen, würde er es niemals glauben und stets erwarten, jeder folge seiner Herrschaft, ganz gleich wie niederträchtig und habgierig er sein mochte und wie viele Versprechen er auch brach.

Dieser Mangel an Vorstellungskraft kam Blindheit gleich. Es würde sein Niedergang sein. Besser früher als später, wenn es nach Henrys eigenem Herrn ging, von der Königin ganz zu schweigen. Vielleicht würde England dann zu einem gerechteren Land, einem Ort, an dem ein Mann – jeder Mann – eine Position und Wohlstand erlangen konnte, nicht durch Geburtsrecht, sondern durch Fähigkeit und harte Arbeit, wo selbst ein unehelicher Bastard wie er jemand von Bedeutung werden konnte.

Eine kleine Heckenbraunelle landete auf dem Steinsims vor dem Fenster, und die hübsche, unaufdringliche Erscheinung des Vögelchens ließ ihn wieder an das Mädchen denken. Sein Leben war viel zu hektisch und unstet, um für Frauen im Allgemeinen allzu viele Gedanken erübrigen zu können, doch an ihr faszinierte ihn etwas. Ihr ansprechendes, schmales Gesicht war ihm noch klar vor Augen, von der Sonne leicht gebräunt, mit einigen Sommersprossen auf dem Nasenrücken und doch viel zu offen, als seien ihre Augen wahrlich das Fenster zu ihrer Seele. Er fragte sich, ob sie wusste, worin sie da verwickelt war. Vermutlich nicht, nahm er an, und zu ihrem Wohl hoffte er, die Königin möge sie nicht abermals als Botin einsetzen. Und zu seinem Wohl wünschte er, ihre Wege würden sich erneut kreuzen und dann … nun, dann würde er zumindest ihren Namen in Erfahrung bringen.

3. KAPITEL

August 1325

Mathilde kam schon vor der Frühmesse in die Palastküche, um der Königin eine Schale Früchtekompott zum Frühstück zu holen. Es gehörte zu ihren Aufgaben, früher aufzustehen als die übrigen Hofdamen, aber das machte ihr nichts. Der französische Palast war die meiste Zeit über ein geschäftiger Ort voller Trubel und Lärm, doch bei Tagesanbruch konnte sie in aller Ruhe durch die Innenhöfe spazieren, sich an den Düften des Kräutergartens und an der frischen, klaren Luft erfreuen. Es war einer der wenigen Augenblicke des Tages, an denen sie eine Weile ihren Frieden fand.

Inmitten eines Hofes blieb sie stehen und nahm einen tiefen Atemzug, sog den Duft von Lavendel, Thymian und Rosmarin ein, der sie zurück in ihre Heimat in Yorkshire versetzte. Das waren bittersüße Augenblicke, obgleich sich ihr Leben bei Hofe in den letzten Monaten bedeutend verbessert hatte. Isabella war nicht länger kühl und unnahbar, sondern behandelte sie wie ein getreues, ja geschätztes Mitglied ihres inneren Kreises. So sehr sie auch gelegentlich unter Heimweh und Herzschmerz litt, fühlte Mathilde sich doch nicht mehr länger allein.

Allein. Bei dem Gedanken rann ihr plötzlich ein Schauer über den Rücken, der sie aufmerken ließ. Zuerst war es ihr nicht aufgefallen, doch nun überkam sie das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sie brauchte einen Moment, um die Quelle genauer auszumachen, dann aber sah sie ihn. Nur einige Fuß von ihr entfernt stand er, halb verborgen hinter einem Pfeiler, und zwirbelte müßig einen Lavendelzweig zwischen den Fingern.

Erschrocken holte sie Luft. Sie erkannte ihn sofort, obwohl seit ihrer ersten und zugleich letzten Begegnung ganze vier Monate vergangen waren und sie seither kein Lebenszeichen von ihm gesehen und es glücklicherweise auch keine weiteren Machenschaften gegeben hatte. Sie hatte angenommen, er habe den französischen Hof verlassen, was also tat er nun wieder hier? Er sah beinahe genauso aus wie in ihrer Erinnerung, das lockige Haar, das ihm wild in die Stirn fiel, und in eine dunkle Tunika gehüllt, als wolle er nach wie vor so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen. Nur seine Augen wirkten anders. Wärmer, weniger eisig, wenngleich das womöglich – ganz bestimmt sogar – nur das Licht vortäuschte.

„Ich dachte mir, dass Ihr es seid.“ Lächelnd näherte er sich, katzengleich, mit langsamen, bedachten Schritten. „Die mysteriöse Ringträgerin der Königin. Können wir nun Freunde sein, Lady, oder fürchtet Ihr noch immer, ich könnte beißen?“

„Nein!“ Sie wandte sich scharf zu einer Tür am anderen Ende des Hofes um. Sollte sie auch nur entfernt erfreut darüber gewesen sein, ihn zu sehen, und darüber, dass er sich an sie erinnerte, dann war sie es nun nicht mehr. Sie würde gewiss nicht erneut dastehen und sich von ihm verspottet lassen.

„Verzeiht.“ Sein neckender Tonfall schwand, als er zu ihr aufschloss und mit ihr Schritt hielt. „Unsere erste Begegnung verlief nicht zum Besten. Ich war an jenem Tag sehr erschöpft und benahm mich unangemessen. Dafür bitte ich Euch um Verzeihung.“

„Nun, gut.“

„Nun, gut?“, echote er. „Bedeutet das, Ihr vergebt mir?“

„Wir sind angehalten zu vergeben, also tue ich es.“ Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Das bedeutet nicht, dass wir Freunde sein können.“

„Verratet mir zumindest Euren Namen.“ Er griff nach ihr, um sie aufzuhalten, doch sie wehrte seine Hand ab und schritt in einem Bogen um ihn herum. „Meiner lautet Henry.“

„Danach fragte ich nicht.“ Sie sagte das so scharf es ihr möglich war, doch er lachte nur.

„Ihr lernt also endlich, wie man sich bei Hofe beträgt? Gut. Bei unserer letzten Begegnung fürchtete ich, es könnte zu viel Ländliches in Euch stecken.“

Sie schob alles beiseite, was ihr Vater sie je über Manieren und maßvolles Benehmen gelehrt hatte, und warf ihm über die Schulter einen finsteren Blick zu, nur mit Mühe eine der undamenhaften Gesten zurückhaltend, die sie von ihren Brüdern gelernt hatte. Seine Worte waren weniger eine Bekundung seiner Sorge um sie, denn eine Beleidigung, eine Art ihr zu sagen, für wie unwissend und unreif er sie an jenem Tag gehalten hatte. Beides mochte zutreffend gewesen sein – vielleicht war es das noch immer –, doch sie zog es vor, nicht daran erinnert zu werden. Sie stach ohnehin schon viel zu sehr zwischen all den kultivierten Damen hervor, wie eine Gans in einem Pferch eleganter Schwäne.

„Henry Wright!“, rief er ihr nach. „Aus Ludlow!“

Obwohl sie das überraschte, ging sie weiter. Nur Henry Wright, ohne jeden Titel? Vielleicht war er gar nicht von so hoher Geburt, vielleicht sogar von geringerer als sie, doch sie würde ihm nicht die Genugtuung verschaffen, Interesse daran zu bekunden. Zudem wollte sie nicht mit ihm alleine gesehen werden, besonders nicht, solange noch so wenig Leben im Schloss herrschte. Einem zufälligen Beobachter könnte es wie ein Stelldichein erscheinen, und sie wusste, die Königin wäre nicht erfreut, erführe sie davon.

In ihrer Hast verschüttete sie beinahe das Kompott, als sie zurück in Isabellas Gemächer eilte, wo sie ihre Herrin bereits im Bett sitzend vorfand, gegen die Kissen gelehnt, das goldene Haar in glänzenden Wellen über die Schultern fallend.

„Ah, da bist du ja.“ Isabella begrüßte sie lächelnd, und Mathildes Stimmung hob sich augenblicklich. Sie erstarrte nicht länger bei jedem Lächeln der Königin. Über die Monate hinweg waren diese immer häufiger geworden, sodass es Mathilde inzwischen einzig überraschte, wenn es jemandem wie ihr galt. Doch ihre Herkunft schien die Königin nicht zu kümmern, noch dass sie, wie Lady Berthe verlauten ließ, sprach wie eine Kleinbäuerin aus dem Norden. Was immer Mathilde selbst auch beobachtet haben mochte oder was die Spioninnen behaupteten – und die murrten mehr und mehr, je länger sie in Frankreich weilten –, sie weigerte sich, schlecht von Isabella zu denken.

„Es ist ein herrlicher Morgen, nicht wahr?“ Isabella deutete zu den geöffneten Fensterläden.

„Ja, Eure Hoheit.“ Sie reichte ihr ein Tablett, darauf die Schale Kompott. „Und mild. Ich vergaß meinen Umhang, doch mir war nicht einmal kühl.“

Abrupt schloss sie den Mund, denn ein schlichtes Ja hätte genügt, doch Isabella stieß nur einen zufrieden klingenden Seufzer aus.

„Dann verspricht es, ein guter Tag zu werden. Mein Sohn setzte heute von England herüber, ich muss mich auf unser Treffen vorbereiten.“ Ihre Miene wurde nachdenklicher. „Vielleicht benötigst du einen neuen Umhang? Einen besonderen, auf dass du ihn nicht wieder vergisst.“

Hastig senkte Mathilde den Blick. Von einer solchen Schönheit derart kritisch beäugt zu werden war nur schwer zu ertragen und gab ihr das Gefühl, noch gewöhnlicher zu sein.

„Ich glaube, Rot würde dir schmeicheln.“ Isabella nickte entschieden, dann winkte sie Lady Berthe heran. „Bring meinen roten Umhang mit der samtenen Kapuze her.“

„Eure Hoheit?“ Protestierend hob Mathilde die Hände. „Ich kann nicht …“

„Du kannst, wenn deine Königin es befiehlt.“ An Isabellas Tonfall war nichts Drohendes, und doch waren ihre Worte bestimmt. „Berthe wird natürlich den Hermelinbesatz abtrennen müssen, doch er wird dir gutstehen. Du verdienst ein Geschenk, und alle meine Ladys müssen sich von ihrer besten Seite präsentieren.“

„Habt Dank, Eure Hoheit.“ Mathilde verneigte sich und spürte, dass ihre Wangen eine ganz ähnliche Farbe angenommen haben dürften, wie der Umhang. Sie hatte wohl erkannt, dass die Worte ein dezenter Verweis auf ihre Kleidung waren, auf die alten Leinenkotten und Wollröcke, die einst ihrer Mutter gehört hatten. Sie waren das Beste, mit dem ihr Vater sie hatte ausstatten können, doch sie waren inzwischen furchtbar altbacken und trotz ihrer Nähkünste stellenweise fadenscheinig.

„Auch ich werde heute früh Rot tragen, auf dass es Glück bringe.“ Isabella lächelte, sodass sie, so unmöglich es sein mochte, noch schöner erstrahlte. „Dies ist eine wichtige Zeit für mich, Mathilde. Wir alle müssen uns bereit machen.“

Später am Nachmittag brachte Lady Cecily ihr den Umhang. Vermutlich, wie Mathilde dachte, weil Lady Berthe es nicht ertragen kann, etwas so Erlesenes einer Person wie mir zu überreichen. Doch sie war viel zu entzückt über das Geschenk, um sich weiter darum zu scheren. Sie hätte Stunden damit zubringen können, ihre Wange an den Stoff zu schmiegen. Die wollene Außenseite war mit Samt gefüttert und eingefasst und prächtiger als alles, was sie je zuvor getragen hatte.

„Ich habe einen grünen Surcot, den du dir heute Abend borgen kannst, wenn du möchtest?“, bot Cecily an und führte sie in eine andere Kammer, fort von den Spioninnen. Sie hatte über die Sommermonate ihr frostiges Gebaren ihr gegenüber ebenfalls abgelegt, so weit sogar, dass Mathilde sie und auch Katharine nun als Freundinnen betrachtete. Als Familie geradezu, wie zwei ältere Tanten. „Wir haben ungefähr die gleiche Größe, also wird es nur einiger weniger Änderungen bedürfen. Die Königin forderte außerdem etwas Leinen für dich an, damit du neue Kleider bekommst.“ Gutmütig drückte sie Mathildes Arm. „Sie meint es nicht beleidigend, vielmehr ist es ein Geschenk, für deine Dienste.“

„Ich danke Euch.“ Mathilde lächelte, dankbar und gleichsam verlegen.

„Ist dies von deiner Mutter?“ Cecily deutete auf das Gewand, welches Mathilde gerade trug.

„Ja. Es war eines ihrer liebsten, doch sie hat keine Verwendung mehr dafür.“ Sie hüstelte und strich unbeholfen über ihre Röcke. Das war alles, was sie je über ihre Mutter äußern konnte. Manchmal wünschte sie, sie könnte über sie sprechen, doch auch nach sechs Jahren schmerzte es noch zu sehr, wie eine eiternde Wunde, die nicht heilen wollte. Zeitweilig dachte sie, diese Wunde habe sich geschlossen, doch dann brach die Narbe wieder auf, und der Schmerz und die Schuld fühlten sich frisch und beißend an wie eh und je.

„Ich verstehe.“ Cecily schaute sie verständnisvoll an. „Ich könnte dir auch das Haar machen?“

„Ich weiß nicht …“ Unsicher tastete sie nach ihrem Haar. Seit fünf Jahren trug sie es jeden Tag auf die gleiche Weise, zu einem einzelnen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. „Mein Vater mahnte mich zur Sittsamkeit.“

„So soll es auch sein. Doch Sittsamkeit bedeutet nicht, jeden Tag gleich aussehen zu müssen. Du kannst wenigstens Bänder hineinflechten. Grüne vielleicht, passend zum Kleid …“

„Rote“, unterbrach Katharine von ihrem Platz neben dem Kamin her, wo sie Perlen auf ein Mieder nähte. „Die Königin hat recht, Rot wird ihr stehen. Es bildet einen hübschen Gegensatz zu dem Grün.“

„Vielleicht beides?“ Cecily ging zu einer Truhe und stöberte darin herum.

Mathilde ließ sich auf einer anderen Truhe nieder, ganz hingerissen von dem Gedanken an einen neuen Surcot, wenn der auch nur geliehen war. Daheim hatten sie sich niemals hübsche Sachen leisten können, und es ging das Gerücht, das geplante Fest zum Aufbruch der Königin nach Boulogne, wo sie ihren ältesten Sohn Edward treffen würde, solle spektakulärer werden als je eines zuvor. Sie hoffte nur, es bezeichne auch das Ende ihres Aufenthalts in Frankreich. Isabella hatte gesagt, der Prinz käme, um der Gascogne im Namen ihres Gemahls seine Ehrerbietung zu erweisen, doch von einer darauffolgenden Rückkehr nach England hatte sie bisher nichts verlauten lassen. Eine Ungewissheit, die Mathildes Heimweh nur noch verstärkte.

„Lady Cecily …“ Sie nahm die ausgeglichene Stimmung wahr, um zu fragen: „Denkt Ihr, wir werden bald wieder nach England zurückkehren?“

„Zurückkehren?“ Unschlüssig verharrte sie, gerade dabei, ein Band aus der Truhe zu ziehen. „Das weiß ich nicht.“

„Wir sind bereits sechs Monate hier. Gewiss will die Königin doch zurück zu ihrem Gemahl?“

„Manche Fragen bleiben besser ungefragt.“ Mit Bedacht schloss Cecily den Deckel. „Und einige Antworten besser ungegeben.“

Mathilde seufzte stumm. Im Sommer war sie achtzehn geworden, und dennoch behandelte man sie hier wie ein Kind.

„Wir sollten es ihr sagen.“ Zu ihrer Überraschung war es Katharine, die sich für ihr Anliegen aussprach. „Da sie nun mit uns zusammen in diesem Netz gefangen ist.“

Netz? Mathilde sah im Raum umher, das plötzliche Bild von ihnen allen umsponnen mit seidenen Spinnweben vor Augen.

„Wir sollten sie nicht darin verwickeln.“

Cecilys Worte waren bestimmt, Katharine aber beachtete sie gar nicht, legte ihre Näharbeit beiseite und erhob sich unheilverkündend. Sie war eine stolz erscheinende Frau, grauhaarig, hager, mit stets strengem Blick.

„Vielleicht sollten wir ihr die Entscheidung überlassen, ob sie die Wahrheit hören will oder nicht?“

Katharine beäugte sie scharf, und Mathilde fragte sich zögernd, ob Cecily nicht Recht hatte und sie es lieber gar nicht wissen wollte. Der gefährliche Pfad, auf dem sie sich vier Monaten zuvor gesehen hatte, erschien erneut vor ihrem inneren Auge, dunkel und abschreckend, nur dieses Mal mit einer Wegkreuzung, einer Möglichkeit zu entfliehen, wenn sie sich denn dafür entschied.

„Kat …“ Cecily versuchte es mit einer neuerlichen Warnung, doch Katharine deutete nur mit dem Kopf in Richtung des Privatgemachs der Königin, in dem all die Spioninnen versammelt waren.

„Und warum nicht? Wir wissen, dass sie keine von denen ist. Sie bewies bereits, dass sie fähig ist zu schweigen. Nun, Mädchen, was bevorzugst du, die Wahrheit oder Unkenntnis?“

Mathilde straffte sich. So gesagt, gab es nur eine mögliche Antwort. „Ich möchte die Wahrheit hören.“

„Gut. Dann sag mir, was denkst du von einem Gemahl, einem König, dem es Vergnügen bereitet, seine Gemahlin zu demütigen, der ihr Vermögen an seine Günstlinge verteilt, ihre Wünsche missachtet und ihre Sicherheit bedroht?“

„Kat!“, rief Cecily mahnend. „Hör auf.“

„Womit? Sie sagte, sie wolle die Wahrheit hören.“

„So ist es.“ Mathilde schluckte, fest entschlossen, ihre Weltgewandtheit unter Beweis zu stellen, wie schockierend diese Wahrheit auch sein mochte.

„Was Kat zu sagen versucht, ist, dass der König der Königin das Leben in England zur Qual macht“, erklärte Cecily mit etwas milderer Stimme. „Solange sie in Frankreich weilt, ist sie in Sicherheit und wird mit Respekt behandelt, wenn wir auch unter Spionen leben müssen.“

„Ihr meint, die Königin will gar nicht zurück nach England?“ Das entsetzte sie nun wahrhaftig. Und verängstigte sie. England war ihre Heimat, ihr Land, doch wenn Isabella nicht zurückkehrte, galt selbiges auch für sie.

„Nein. Nicht, solange er sein Verhalten ihr gegenüber nicht abändert.“ Cecily schien ihrem Blick auszuweichen.

„Pah!“ Katharine schnaubte verächtlich. „Wie viele Gelegenheiten braucht dieser Narr?“

Mathilde sog scharf die Luft ein. Den König einen Narren zu nennen war Hochverrat, doch Katharine schien vollkommen reuelos.

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