Baccara Exklusiv Band 230

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DAS SINNLICHE VERSPRECHEN DES MILLIARDÄRS von SARAH M. ANDERSON
Skrupel kennt Milliardär Daniel Lee nicht, weder privat noch bei der Arbeit – bis er die Tränen der jungen Christine Murray sieht. Daniel lädt sie auf sein Luxusanwesen am Ufer des Lake Michigan ein, um seine Schuld wiedergutzumachen. Und er entdeckt, was es heißt, jemanden zu lieben …

VERBOTENES VERLANGEN NACH DIR von KAT CANTRELL
Als Grace ihre Jugendliebe Kyle wiedersieht, sind alle Gefühle sofort zurück: kalte Wut – und brennendes Verlangen. Besser, sie hält sich fern! Nur wie, wenn sie als Sozialarbeiterin für seine Zwillinge zuständig ist? Gegen jede Vernunft unterstützt sie ihn zu Hause, als sein Babysitter ausfällt …

SKANDAL GESUCHT – LEIDENSCHAFT GEFUNDEN von DANI WADE
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  • Erscheinungstag 10.03.2023
  • Bandnummer 230
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516457
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah M. Anderson, Kat Cantrell, Dani Wade

BACCARA EXKLUSIV BAND 230

1. KAPITEL

Wie immer meldete er sich beim ersten Klingeln des Telefons. „Daniel hier.“

Da ihm die auf dem Display angezeigte Nummer nichts sagte, erwartete er, eine fremde Stimme zu hören. Doch tatsächlich erkannte er den Anrufer schon beim ersten Wort.

„Hallo, Lee! Ich wusste doch, dass ich dich irgendwann finden würde.“

„Brian!“ Er war entsetzt, wollte es sich aber auf keinen Fall anmerken lassen.

Daniel Lee hatte Brian White kennengelernt, als er noch studierte. Der nur wenig ältere Mann hatte ihn vom Campus weg engagiert und ihm beinahe alles beigebracht, was er über die Beeinflussung und Manipulation von Meinungen wusste. Fast vierzehn Jahre lang hatten sie bei verschiedenen politischen Kampagnen zusammengearbeitet. Brian war skrupellos, ein Mensch ohne jede Moral. Das machte ihn unglaublich erfolgreich.

„Wie geht es dir?“, fragte Daniel, um Zeit zu gewinnen. Ihm war sogleich klar, dass Brian sich nur aus einem einzigen Grund an ihn wandte: Er wollte, dass Daniel wieder sein Partner wurde. Dabei hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich nie wieder an einer Kampagne beteiligen würde.

„Ich habe einen Job für dich“, sagte Brian.

Genau was Daniel vermutet hatte! Brians Anliegen war also keine Überraschung. Überrascht war Daniel allerdings davon, wie er auf Brians Angebot reagierte. Ihm wurde flau im Magen. Doch nicht, weil er wie so viele Politiker Angst vor Brian hatte. Was also rief dieses Unbehagen hervor? War es denkbar, dass es sich um Schuldgefühle handelte?

„Ich habe einen Job“, erklärte er.

„Du leitest die Marketingabteilung einer Brauerei. Daniel, Junge, wir wissen beide, dass du bei den Beaumonts dein Talent vergeudest.“

Unwillkürlich verdrehte Daniel die Augen. Brain hatte keine Ahnung, was Loyalität war. Deshalb würde er auch nie verstehen, dass die Tätigkeit in der Brauerei mehr war als ein Job. Daniel leitete nicht einfach eine Marketingabteilung, er bekleidete eine führende Position im Unternehmen seiner Familie. Zwar lautete sein Familienname nicht Beaumont, aber er gehörte dennoch dazu, denn er war eines der unehelichen Kinder des verstorbenen Hardwick Beaumont. Oft dachte er darüber nach, wie befriedigend es gewesen wäre, wenn sein koreanischer Großvater noch erlebt hätte, wie er den ihm zustehenden Platz in der amerikanischen Familienbrauerei einnahm.

„Ich habe dir doch klipp und klar gesagt, dass ich nichts mehr mit politischen Kampagnen zu tun haben will.“ Noch während er sprach, begann er im Internet mit der Suche nach dem Politiker, der Brian engagiert hatte.

„Stimmt, das hast du gesagt. Aber wir wissen beide, dass du es nicht ernst gemeint hast. Ich bin sicher, dass der neue Auftrag genau nach deinem Geschmack ist.“ Eine kurze Pause folgte. Dann: „Hast du es schon gefunden?“

Verdammt! Natürlich kannte Brian ihn gut genug, um seine Vorgehensweise zu kennen. „Du könntest mir verraten, worum es geht“, sagte Daniel in ebendem Moment, da er die Nachricht fand: „Senator in Missouri muss alle Ämter niederlegen, nachdem sein Liebhaber an die Öffentlichkeit gegangen ist.“

Missouri? Daniel spürte, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten. Selbst ein so skrupelloser Mann wie Brian konnte doch nicht …

„Clarence Murray möchte, dass du für ihn arbeitest“, sagte Brian mit unüberhörbarem Enthusiasmus. „Es wird eine Nachwahl geben, weil Senator Struthers in Ungnade gefallen ist und seinen Sitz im Senat räumen musste.“

Obwohl es kaum möglich war, Daniel zu schockieren, verschlug es ihm einen Moment lang die Sprache. „Du machst dich über mich lustig“, sagte er dann. Schließlich war es nicht mal zwei Jahre her, dass er und Brian gemeinsam im Auftrag des Gouverneurs von Missouri Murrays Ruf zerstört hatten. „Murray ist ein Wahnsinniger.“

„Schon möglich. Trotzdem hat er viele großzügige Unterstützer.“ Brians Stimme hörte sich jetzt nicht mehr so begeistert an – was kein gutes Zeichen war.

„Nach allem, was wir ihm und seinem Ruf vor damals angetan haben, glaubt Murray noch immer, irgendwer würde ihn wählen?“ Daniel stellte die Frage, obwohl er schon wusste, wie Brians Antwort lauten würde.

Und richtig!

„Es ist nicht meine Aufgabe zu entscheiden, ob er wählbar ist. Er und seine Geldgeber wollen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, damit er gewählt wird. Also tun wir es. Auch du.“

„Nein“, sagte Daniel, der unterdessen weiter im Internet nach Informationen gesucht hatte. Offenbar war Murray in den letzten Jahren politisch nicht in Erscheinung getreten. Vermutlich hatte er seine Energie darauf verwendet, Menschen zu finden, die bereit waren, ihm Geld zur Verfügung zu stellen, damit er zum geeigneten Zeitpunkt seine politischen Ambitionen verwirklichen konnte. Da er ein recht bekannter Prediger war – leider gehörte er zum Lager der religiösen Fundamentalisten –, hatte er wahrscheinlich eine Menge gläubiger Anhänger.

„Das meinst du nicht ernst! Die Arbeit wird dir Spaß machen“, behauptete Brian. „Die Demokraten flüstern sich bereits zu, dass der Sitz im Senat ihnen zufallen wird. Hast du etwa keine Lust, ihnen eine Lektion zu erteilen?“

Schweigen antwortete ihm. Denn Daniel hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Eine Schlagzeile und einen Artikel, den er selbst verfasst hatte. Auch ein Foto gehörte dazu. Es zeigte eine junge Frau, die aus einem Winkel aufgenommen war, der ihr ganz und gar nicht schmeichelte.

Murrays Tochter erwartet ein Baby. Wer mag der Vater sein?

Daniel schluckte.

Clarence Murray hatte wahrscheinlich ernsthaft geglaubt, Gott hätte ihn auserwählt, um sich in Missouri für eine vermeintlich christliche Politik einzusetzen. Seine Tochter jedoch hatte diesen Traum zunichtegemacht. Seine schwangere, aber nicht verheiratete Tochter.

Es war Daniel gewesen, der das Schicksal der jungen Frau für die Kampagne gegen Murray ausgenutzt hatte.

In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt, hieß es. Daniel hatte damals geglaubt, das Gleiche gelte für die Politik. Er hatte für viele Politiker gearbeitet. Und seine große Stärke hatte stets darin bestanden, die unerquicklichen Geheimnisse ihrer Gegner ans Licht zu bringen. Nie hatte er deshalb Gewissensbisse verspürt. Das war jetzt anders. Er wollte wissen, was aus Christine Murray und ihrem Baby geworden war. Hatte ihr Schicksal sich zum Guten gewendet?

Es gab eine Menge alter Artikel über sie. Daniel hatte damals den Anstoß zu einer regelrechten Hexenjagd gegeben. Man hatte kein gutes Haar an der ledigen Mutter gelassen.

„Dir ist klar, dass man sich wieder auf die Tochter stürzen wird?“, fragte Daniel. So unglaublich es war, er schien im Alter von vierunddreißig Jahren so etwas wie ein Gewissen entwickelt zu haben.

Christine Murray war vierundzwanzig gewesen, als ihr Vater sich um ein politisches Amt in Missouri beworben hatte. Damals wohnte sie schon seit Jahren nicht mehr in ihrem Elternhaus und hatte so gut wie nichts mehr mit ihrem Vater zu tun. Wie es aussah, hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter ein wildes Leben geführt. Man könnte sagen: die typische Pastorentochter. Erstaunlicherweise hatte sie dann einen guten Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Wenig später hatte sie sich verlobt und war schwanger geworden.

Nichts daran war wirklich skandalös. Doch für ihren Vater war es ein Fiasko gewesen. Er hatte einen Wahlkampf geführt, in dem sein gottgefälliges intaktes Familienleben die größte Rolle spielte. Clarence Murray konnte sich keine unverheiratete schwangere Tochter leisten.

Damals war Daniel mit dem Erfolg seiner Taktik zufrieden gewesen. Als er erfuhr, dass der Vater von Christines ungeborenem Kind sich von ihr getrennt hatte, hatte er dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit auch davon erfuhr.

„Mach dir keine Sorgen um das Mädchen“, meinte Brian. „Ich habe einen Plan. Aber damit er funktioniert, brauche ich dich. Also sag Ja!“

Daniel spürte, wie ihm übel wurde. Verdammtes Gewissen! Alles war einfacher gewesen, solange er keins gehabt hatte.

Der Bildschirm seines Computers zeigte inzwischen mehrere Fotos von Christine Murray. Sie war eine kleine Blondine mit blauen Augen und sehr weiblichen Kurven. Sie war schön. Nur, dass sie auf allen Fotos wie ein scheues Tier wirkte, das man in die Enge getrieben hatte.

„Ich kann dir nicht helfen“, erklärte Daniel. Irgendwann hatte er bemerkt, dass ihm nicht gefiel, welche Folgen seine Kampagne für Christine Murray gehabt hatte. Dass ihr Vater die Wahl verloren hatte, fand er nach wie vor richtig. Als Inhaber eines politischen Amtes wäre der Mann eine Katastrophe gewesen!

„Lee, das ist nicht witzig! Es wird ein Gemetzel geben, und ich möchte dich an meiner Seite haben. Niemand ist so gut wie du darin, Geheimnisse aufzudecken.“

„Ich wünsche dir viel Erfolg. Doch ich werde dich nicht unterstützen.“

„Weil es um Murray geht?“

„Weil ich nie wieder mit dir zusammenarbeiten werde. Bitte ruf mich nicht mehr an.“

„Ist das ein Befehl?“ Brians Stimme war gefährlich leise geworden. „Ich habe gedacht, wir wären Freunde.“

Daniel war kein Dummkopf. Er wusste, wann man ihm drohte. Außerdem hatte die Erfahrung ihn gelehrt, dass man kein Gewissen und keine Moral haben durfte, wenn man bei politischen Kampagnen zu den Siegern gehören wollte. Dennoch machte die Drohung hinter Brians Worten ihm keine Angst. Der Mann konnte ihm nichts anhaben, wenn er sich selbst nicht ebenfalls schaden wollte.

„Ich drück dir die Daumen“, sagte Daniel, während er noch immer Christine Murrays Gesicht auf dem Bildschirm betrachtete.

Schon als er die junge Frau zum ersten Mal gesehen hatte, fand er sie hinreißend. Er hatte ein starkes Verlangen verspürt, mit ihr zu schlafen. Aber natürlich hatte er sich gegen ihre Anziehungskraft gewappnet. Genau das würde er auch jetzt tun. Wünsche und Begierden machten das Leben nur unnötig kompliziert.

„Du begehst einen Fehler, Lee.“

„Ich habe genug damit zu tun, meine eigenen Geschäfte zu regeln. Mach’s gut, Brian. Es war nett, von dir zu hören.“ Damit unterbrach er die Verbindung und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Leider musste er feststellen, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Ohne es eigentlich zu wollen, rief er noch einmal die Fotos von Christine Murray auf. Und dann setzte er sogar seine Suche nach Informationen über sie fort. Er fand einen Artikel, in dem von der Geburt ihrer Tochter berichtet wurde. Entgegen alle Vernunft hoffte er, dass Murrays politische Gegner die junge Mutter und ihr Kind in Ruhe lassen würden.

Er fragte sich, wo die beiden sich wohl aufhalten mochten. Auch dazu musste das Internet ihm doch Auskunft geben können. Und richtig! Es kostete einige Mühe, doch dann fand er Christines Namen auf der Mitarbeiterliste der First City Bank of Denver. Sie war für die Vergabe von Krediten zuständig. In Denver! In der Stadt, in der auch er lebte. Wie unerwartet! Und wie gut. Denn das bewies, dass sie seit Langem nichts mehr mit ihrem Vater zu tun hatte. Vielleicht würden Clarence Murrays politische Feinde sie gar nicht finden.

Aber es war reichlich naiv, das zu glauben.

Daniel gestand sich ein, dass es sinnlos war, sich etwas vorzulügen. Er hatte Christine gefunden. Also würden auch andere sie finden. Ein paar Mausklicks genügten. Dann würde man ihr wieder nachstellen und ihr Privatleben an die Öffentlichkeit zerren.

Er verabscheute es, Schuldgefühle zu haben. Außerdem ging Christine Murray ihn nichts an. Trotzdem konnte er den Blick nicht von dem Foto wenden, das sie an ihrem Arbeitsplatz zeigte. Ihre blauen Augen waren unverkennbar. Allerdings sah sie – anders als auf den anderen Bildern – nicht verängstigt aus.

Wenn ihr Vater wirklich ein christlich denkender Mann gewesen wäre, hätte er sicher versucht, seine Tochter zu schützen. Doch Daniel wusste genau, dass Murray nichts unternehmen würde, um Christine zu helfen. Brian würde auch gar nicht zulassen, dass der Vater sich vor seine Tochter stellte. Im Gegenteil, er würde dafür sorgen, dass Murray sich öffentlich vom Lebensstil seiner Tochter distanzierte, um so zu beweisen, wie weit seine Frömmigkeit ging.

Daniel griff nach dem Telefon und wählte die Nummer seines Halbbruders Zeb, der vor einiger Zeit die Beaumont-Brauerei übernommen hatte.

„Du hast die Verkaufszahlen?“, fragte Zeb.

„Nein.“ Daniel zweifelte nicht daran, dass er einen Fehler machte. Dennoch konnte er nicht anders. Er musste verhindern, dass die Meute der Journalisten sich auf Christine Murray stürzte. „Du wirst dich noch ein wenig gedulden müssen, Zeb. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen und werde eine Zeit lang nicht im Büro sein.“

Diese Mitteilung war so untypisch, dass Zeb gleich fragte: „Ist alles in Ordnung, Daniel?“

Aber er dachte nicht daran, Zeb einzuweihen. Sie standen sich nicht besonders nahe, obwohl sie Halbbrüder waren und seit einiger Zeit zusammenarbeiteten. „Ich gebe dir Bescheid, wenn ich Hilfe brauche.“

„Das beruhigt mich. Dann bleibt mir wohl nur, dir viel Glück zu wünschen.“

„Glück hat damit nichts zu tun.“ Trotzdem würde er ein bisschen Glück brauchen können.

Ohne wirklich etwas zu sehen, starrte Christine Murray auf den Bildschirm ihres Computers. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Wie anders hätte alles sein können, wenn Doyle zu ihr gestanden hätte, als die Reporter über sie herfielen, weil ihr Vater in die Politik gehen wollte. Sie und Doyle hätten heiraten und Marie ein richtiges Familienleben bieten können.

Träume … sie führten zu nichts, und doch schienen sie manchmal notwendig. Was wäre, wenn …? Das war eine Frage, die Christine sich oft stellte. Wenn ihre Mom nicht viel zu früh gestorben wäre … Wenn sie selbst in einer normalen Familie aufgewachsen wäre … Wenn ihr Vater realistisch genug gewesen wäre, um zu erkennen, dass er nicht die Qualifikation für ein verantwortungsvolles politisches Amt mitbrachte …

Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Grübeleien. „First City Bank of Denver“, meldete sie sich. „Christine am Telefon. Was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag, Miss Murray.“

Die Stimme des Mannes jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

„Wir sind einander bisher nicht offiziell vorgestellt worden. Mein Name ist Brian White. Ich rufe Sie wegen Ihres Vaters Clarence Murray an.“

Ohne nachzudenken, unterbrach sie die Verbindung. Niemals würde sie den Namen des Mannes vergessen, der ihr Leben ruiniert hatte. Niemals würde sie vergessen, dass Brian White seinerzeit die Kampagne gegen ihren Vater geleitet hatte.

Das Telefon läutete erneut. Es konnte nur White sein. Das spürte sie. Sie wollte nicht abnehmen! Aber sie befand sich an ihrem Arbeitsplatz. Deshalb musste sie jeden Anruf annehmen. Schließlich konnte es trotz allem ein Bankkunde sein, der sie sprechen wollte.

„Miss Murray? Wir sind anscheinend getrennt worden.“

Ihr drehte sich der Magen um. „Was wollen Sie?“

„Sie brauchen keine Angst zu haben, Miss Murray. Ihr Vater hat mich gebeten, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.“

„So? Warum kann er mich dann nicht selbst anrufen? Immerhin bin ich seine einzige Tochter.“ Sie hoffte, dass ihre Stimme einigermaßen gefasst klang.

„Ihr Vater will sich um einen Sitz als Senator bewerben und …“

Sie hörte den Rest des Satzes nicht, weil sie gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfen musste.

„… Sex-Skandal“, sagte Brian. „Deshalb wollen die Einwohner von Missouri einen moralisch gefestigten Mann als Struthers Nachfolger. Einen Mann wie Ihren Vater, Miss Murray.“

Das konnte doch nicht wahr sein! Bestimmt war sie eingeschlafen und hatte einen schrecklichen Albtraum. Wach auf, Christine!

„Wir möchten Sie in unsere Kampagne einbinden. Reue und Vergebung … Sie verstehen?“

Oh ja. Sie verstand genau, was er wollte. „Niemals!“, schleuderte sie ihm entgegen. Um nichts in der Welt wäre sie bereit, öffentlich ihre Sünden zu bekennen und dann, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun, auch noch in allen möglichen Talkshows und bei Wahlkampfveranstaltungen aufzutreten. Wahrscheinlich hatte er bereits ein langweiliges Mitglied seiner Gemeinde ausgesucht, das sie heiraten und Maries Vater werden sollte.

Ihr Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete, ihre Kollegen und Kolleginnen könnten es hören. Sie fühlte sich elend. Doch irgendwie fand sie die Kraft, zu White zu sagen: „Mein Vater hat seitdem kein Wort mit mir gesprochen. Und jetzt, wo er etwas von mir will, bringt er es nicht einmal über sich, mich selbst darum zu bitten. Das ist erbärmlich!“

Brian lachte. „Ich merke schon, dass ich den falschen Zeitpunkt für meinen Anruf gewählt habe. Denken Sie in Ruhe über mein Angebot nach. Sie sind ein wichtiger Baustein unserer Kampagne. Ich melde mich in ein paar Tagen noch mal. Ich denke, Sie werden froh sein, dass Ihr Vater und ich Ihnen helfen wollen. Denn ohne unsere Hilfe …“

Sie holte tief Luft. Drohte dieser Kerl ihr jetzt auch noch? Hatte sie nicht genug gelitten, als alle Welt sich auf sie und ihren Lebenswandel stürzte, damals, als ihr Vater sich um das Amt des Gouverneurs beworben hatte? In allen Zeitungen war ihr Bild gewesen. Reporter hatten sie auf Schritt und Tritt bedrängt. In Diskussionsrunden hatte man sich über ihre angeblich zweifelhafte Moral gestritten. Und dann hatte Doyle sie und ihr gemeinsames Baby im Stich gelassen. Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen.

Nun, sie hatte es überlebt. Und sie hatte Marie, die – wenn sie nicht gerade zahnte – das süßeste und liebste Mädchen der Welt war.

Christine legte auf und ging mit weichen Knien zur Damentoilette.

Kurz nach ihr trat ihre Kollegin Sue ein. „Christine? Was ist passiert?“

„Alles in Ordnung“, stieß sie hervor. Doch noch während sie sprach, begannen die Tränen zu fließen.

Sue schloss Christine in ihre Arme.

In Christines Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn die Hexenjagd wieder losging, würde man ihr bestimmt kündigen. Aber wie sollte sie irgendwo anders neu anfangen können? Mit einem kleinen Kind und ohne Ersparnisse?

Was, um Himmels willen, soll ich tun?

Sie war nach Denver gekommen, weil hier kaum jemand wusste, wer sie war. Und sie wollte, dass das so blieb.

„Marie zahnt, und ich bekomme bald meine Regel“, erklärte sie Sue. Beides stimmte, doch das Wichtigste hatte sie verschwiegen.

„Warte, ich hole rasch meine Schminktasche. Dann kann ich dich ein bisschen herrichten.“ Sue eilte zurück an ihren Schreibtisch.

Die beiden Frauen verkörperten den gleichen Typ. Daher konnten sie dasselbe Make-up benutzen. Da Christine zudem nur wenige Zentimeter kleiner war als Sue, hatten sie hin und wieder sogar ihre Kleidung getauscht.

Christine seufzte. Am liebsten hätte sie die Toilette überhaupt nicht mehr verlassen. Sie wünschte, sie könnte sich vor der ganzen Welt verstecken. Aber bald musste sie Marie aus der Krippe abholen. Vorerst allerdings war ihre Arbeitszeit noch nicht zu Ende.

„An deinem Tisch wartet ein sehr gut aussehender Mann“, berichtete Sue, während sie Christines Eyeliner erneuerte. „Er ist absolut heiß! Jung, attraktiv und irgendwie … sympathisch.“

Das bedeutete zumindest, dass es sich nicht um Brian White handelte. Christine wusste, dass er weder besonders attraktiv noch irgendwie sympathisch war.

„Ich würde ihn nicht unnötig warten lassen“, fuhr Sue fort. „Bestimmt ist er ein Schauspieler.“

Christine zuckte die Schultern. Sie brauchte keinen attraktiven Kunden. Sie brauchte jemanden, der ihr half. Irgendwer musste Marie und sie selbst vor ihrem Vater und White beschützen. Leider hätte sie sich ebenso gut ein weißes Einhorn wünschen können …

Nun, versuchte sie sich Mut zu machen, ich habe schon Schlimmeres überstanden als ein Kundengespräch mit einem gut aussehenden Mann.

Sie würde jetzt an ihren Schreibtisch zurückkehren und ihre Arbeit tun, auch wenn sie gerade das Gefühl hatte, die Welt ginge unter.

Ja, das würde sie!

2. KAPITEL

Christines Kampfgeist kehrte zurück, als sie sich im Spiegel betrachtete. Dank Sues Make-up sah man ihr nicht an, wie wenig Schlaf sie in den letzten Nächten bekommen hatte und wie schockiert sie über Whites Anruf war. Sie straffte die Schultern und ging zurück an ihren Arbeitsplatz.

Der Gentleman, der dort wartete, war – genau wie Sue gesagt hatte – umwerfend. Er hatte perfekt geschnittenes dunkles Haar, ein männlich anziehendes Gesicht und eine athletische Figur. Und er trug einen Anzug, der allem Anschein nach maßgeschneidert war.

Entspannt saß er auf dem Kundenstuhl vor ihrem Schreibtisch. Dennoch wirkte er irgendwie gefährlich. So wie ein Schnappmesser, das gefährlich blieb, auch wenn man es gerade nicht benutzte.

„Miss Murray, guten Tag.“ Höflich erhob er sich.

Sein Blick war forschend auf sie gerichtet.

Himmel, weiß er etwa, wer ich bin?

„Guten Tag, Sir. Willkommen bei der First City Bank.“ Sie reichte ihm die Hand wie all ihren Kunden. „Was kann ich für Sie tun?“

Der Ausdruck seiner Augen hatte sich verändert. Er starrte Christine an, als hielte er sie für einen Geist.

Christine wiederum bewunderte sein Haar, das aus der Nähe betrachtet nicht wirklich schwarz war. Es hatte einen leicht rötlichen Schimmer. Sehr ungewöhnlich. Und sehr sexy.

Zu ihrem Ärger spürte Christine, wie ihr Körper auf die Ausstrahlung des Fremden reagierte. Sie wünschte sich, ihm zu gefallen. Hoffentlich war ihre Bluse nicht mit Baby-Brei bekleckert.

Jetzt endlich ergriff er ihre Hand. Aber er schüttelte sie nicht, sondern hielt sie nur kurz fest.

Ihr Herz schlug plötzlich schneller.

„Lee“, stellte er sich vor. „Daniel Lee.“

Hätte sie wissen müssen, wer er war? Wartete er darauf, dass sie auf seinen Namen reagierte? Vielleicht war er ein Filmstar. Gut genug sah er jedenfalls aus. Andererseits hätte sie seinen Namen dann wahrscheinlich irgendwann einmal gehört oder gelesen. Verflucht, er war so attraktiv, dass es ihr schwerfiel, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es wäre klüger gewesen, auf der Toilette zu bleiben.

„Was kann ich für Sie tun?“, wiederholte sie.

Er stand regungslos vor ihr und schaute auf sie hinunter. Christine wusste natürlich, dass sie klein war. Jetzt allerdings kam sie sich besonders klein vor. Und hilflos. Denn Daniel Lee vermittelte ihr das Gefühl, ein sehr, sehr mächtiger Mann zu sein. Ja, er gehörte eindeutig zu denen, die immer bekamen, was sie wollten.

Um solche Männer machte sie im Allgemeinen einen großen Bogen. Denn sie kümmerten sich nicht um Frauen, die sich ihren Unterhalt als Bankangestellte verdienten. Zudem mochten sie keine Babys. Aber der wichtigste Mensch in Christines Leben war nun mal ihre Tochter.

Christine bedeutete Lee, er solle wieder Platz nehmen. Die Furcht, dass er mächtig und gefährlich war, ließ sich nicht abschütteln.

„Ich denke“, sagte er, als er sich setzte, „es geht weniger darum, was Sie für mich tun können, Miss Murray, als darum, was ich für Sie tun kann.“

„Daran bin ich nicht interessiert“, stieß sie hervor. Ein paar Sekunden lang bedauerte sie, kein Pfefferspray in ihrer Schreibtischschublade aufzubewahren.

Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig. Aber ein richtiges Lächeln war es nicht. „Woher wollen Sie das wissen? Ich habe Ihnen doch noch gar nicht gesagt, worum es geht.“

Sie war froh, dass Sue ihr Make-up erneuert hatte. Oder wäre es besser gewesen, wenn sie übernächtigt und verängstigt ausgesehen hätte? Dann hätte dieser Daniel Lee vielleicht Mitleid mit ihr gehabt. Unwillkürlich nahm sie eine aufrechtere Haltung ein. Sie wollte überhaupt kein Mitleid! Sie war nicht mehr das hilflose Wesen, über das die Reporter vor fast zwei Jahren ohne Vorwarnung hergefallen waren. Damals hatte sie in ihrer Panik viele Fehler gemacht. Seitdem hatte sie eine Menge dazugelernt.

Es gelang ihr, nach außen hin völlig ruhig zu wirken. „Wer schickt Sie, Mr. Lee?“, fragte sie. „Mein Vater?“

Das Lächeln verschwand.

Ha, dachte Christine, damit hat er nicht gerechnet!

„Nein“, antwortete er. „Ich vermute, Sie glauben das, weil Sie einen Anruf erhalten haben, wahrscheinlich von Brian White.“

Sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Er wusste, wer Brian White war!

„Ich habe gehofft, ich könnte schneller sein als er.“

Lag da etwa Mitgefühl in seiner Stimme? Sicher nicht! Er musste zu jenen gehören, die ein Interesse am Sieg oder an der Niederlage ihres Vaters hatten. Ein Mann, der skrupellos jede Schwäche seiner Mitmenschen ausnutzte. „Für wen arbeiten Sie?“, verlangte Christine zu wissen.

In seinen Augen blitzte kurz etwas auf, das beinahe schuldbewusst wirkte. Dann erklärte er: „Ich arbeite als Marketing-Leiter für die Beaumont-Brauerei, also weder für einen Unterstützer noch für einen Gegner Ihres Vaters. Mir liegt nichts daran, Sie und Ihr Leben in die Öffentlichkeit zu zerren. Auch beabsichtige ich nicht, Ihnen irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Ich will Ihnen in keiner Weise Schaden zufügen.“

Gut. Er hatte zumindest nicht behauptet, dass es eine Sünde sei, ein uneheliches Kind zu haben. Und seine Behauptung, für die Beaumont-Brauerei zu arbeiten, hörte sich glaubhaft an.

Halt! Die Beaumonts! Über Hardwick Beaumonts Söhne war vor einiger Zeit in den Medien viel berichtet worden. Jetzt fiel Christine auf, dass Lee eine gewisse Ähnlichkeit zu den Beaumonts aufwies, deren Bilder in der Presse und im Fernsehen gezeigt worden waren. Vielleicht war er einer der unehelichen Beaumont-Söhne. Aber warum hatte er sie in der Bank aufgesucht? Irgendetwas stimmte nicht. Nun, sie würde in keine Falle tappen!

„Was wollen Sie von mir?“

„Wir wissen beide, was auf Sie zukommt“, wich er aus. „Brian White hat bereits Kontakt zu Ihnen aufgenommen. Und er wird nicht lockerlassen.“

Ihr schlimmster Albtraum schien wahr zu werden. Doch sie würde sich nicht kampflos geschlagen geben. Christine biss die Zähne zusammen.

Daniel Lee erhob sich. Er sah besorgt aus und ein wenig so, als litte er echte Qualen. Aus der Tasche seiner Anzugjacke zog er eine Visitenkarte, um sie Christine zu reichen. Da sie aber keine Anstalten machte, die Karte entgegenzunehmen, legte er sie auf ihren Schreibtisch.

„Ich kenne White und seine Skrupellosigkeit“, sagte er. „Und schlimmer als das: Ich war es, der damals herausfand, dass Sie schwanger waren.“ Er ignorierte den kleinen Laut des Entsetzens, den Christine ausstieß. „Ich trage die Verantwortung dafür, dass die Medien sich auf Ihre Geschichte gestürzt haben. Deshalb trage ich auch die Verantwortung für das, was jetzt auf Sie zukommt. Ich möchte Ihnen helfen, Miss Murray. Ich weiß, wozu Ihr Vater fähig ist. Glauben Sie mir, Sie werden Hilfe brauchen.“

„Gehen Sie!“ Ihre Stimme war leise, aber entschlossen. Er war derjenige, der ihr Leben ruiniert hatte! Er und Brian White hatten anscheinend zusammengearbeitet. Sie würde sich übergeben, wenn er nicht bald aus ihrem Blickfeld verschwand. „Lassen Sie mich und meine Tochter in Ruhe! Wenn ich Sie in der Nähe der Kleinen entdecke, werde ich die Polizei informieren.“

„Wie Sie wünschen.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Mein Angebot steht. Ich kann Sie und Ihre Tochter beschützen. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie haben ja meine Karte.“ Mit der Fingerspitze berührte er leicht den silbernen Rahmen des Kinderfotos, das mit dem Rücken zu ihm auf dem Schreibtisch stand. Dann wandte er sich ab und ging.

Mit heftig klopfendem Herzen und trockenem Mund blieb Christine zurück.

Zum Glück verging der restliche Tag recht ruhig. Christine fand sogar Zeit, ein wenig im Internet nach Berichten über die Ambitionen ihres Vaters zu recherchieren. Whites Name tauchte in diesem Zusammenhang auf, aber Daniel Lee wurde nirgends erwähnt.

Lees Verhalten hatte sie verwirrt. Er hatte die Verantwortung für die Hexenjagd übernommen, die sie hatte über sich ergehen lassen müssen. Und er hatte ihr seine Hilfe angeboten. Wenn das Angebot ernst gemeint war, stellte es so etwas wie eine Entschuldigung dar.

Sie gab seinen Namen in die Suchleiste ein und stieß auf ein Foto, das ihn und Zeb Richards an dem Tag zeigte, als Richards eine Pressekonferenz gab, um über seine Verwandtschaft mit Hardwick Beaumont und seine Stellung als neuer Besitzer der Beaumont-Brauerei zu sprechen. Dann gab es noch einen Hinweis darauf, dass Lee an politischen Kampagnen beteiligt gewesen war. Ansonsten fand sie absolut nichts über ihn.

Er war ein Phantom. Sie wollte seine Hilfe nicht. Sie wollte überhaupt keine Hilfe! Jemandem zu vertrauen würde nur zu neuen Enttäuschungen führen. Und sie war schon zu oft enttäuscht worden. Am schlimmsten war, dass Doyle, den sie hatte heiraten wollen, nicht nur sie, sondern auch Marie im Stich gelassen hatte.

Es war naiv zu glauben, irgendwer würde sich um sie und Marie sorgen. Ebenso naiv war es anzunehmen, dass man sie und ihre Tochter in Ruhe lassen würde, jetzt, da ihr Vater sich erneut um ein politisches Amt bewarb. Was also sollte sie tun?

Da sie es nicht wusste, unternahm sie gar nichts.

„Um wen geht es?“, fragte Porter Cole, der als Privatdetektiv schon mehrfach für Daniel gearbeitet hatte.

„Christine Murray.“

„Wollen Sie etwas Bestimmtes über sie wissen?“

Zu wenigen Menschen hatte Daniel so viel Vertrauen wie zu Cole. Dennoch sollte der Detektiv nicht einmal ahnen, dass er diesen Auftrag erhielt, weil Daniel von Gewissensbissen geplagt wurde. „Sie sollen nichts über sie herausfinden.“

„Sondern?“

„Sie sollen auf sie achtgeben. Vermutlich wird sie überwacht. Ich möchte wissen, wer sie beschattet und wer den Auftrag dazu gegeben hat. Außerdem sollen Sie eine Strategie entwickeln, um Miss Murrays Verfolger auf eine falsche Spur zu locken oder sie ganz von ihrer Aufgabe abzubringen. Vielleicht haben diese Leute Schulden oder …“

„Verstehe“, nickte Cole. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr Lees seltsames Interesse an der jungen Frau ihn erstaunte. Nie zuvor – dessen war er sich sicher – hatte Lee einem anderen Menschen so intensive Gefühle entgegengebracht wie dieser jungen Frau. Was umso verwirrender war, da Lee sich die größte Mühe gab, diese Gefühle zu verbergen. „Manchmal hilft es, die Hintergründe für einen Auftrag zu kennen“, meinte Cole.

„In diesem Fall brauchen Sie sich nicht mit den Hintergründen zu beschäftigen. Wichtig ist, dass Sie nur dann eingreifen, wenn eine für Miss Murray oder ihre Tochter bedrohliche Situation entsteht.“

„Sie soll mich also nicht bemerken.“

„Richtig. Überhaupt soll alles so unauffällig wie möglich geschehen.“

„Natürlich.“ Cole gab Daniel ein paar Fotos und Schriftstücke zurück und erhob sich. „Ich dachte, Sie hätten sich zurückgezogen von allem, was mit Politik zu tun hat.“

„Dieser Auftrag hat nichts mit Politik zu tun.“

„Ich lasse von mir hören“, versprach Cole und verließ spöttisch lächelnd Daniels Büro.

Dabei hatte Daniel diesmal tatsächlich die Wahrheit gesagt. Dass er etwas für Christine Murray tun wollte, hatte allein persönliche Gründe.

Ungeduldig wartete Daniel auf Neuigkeiten. Das war ungewöhnlich. Im Allgemeinen konnte er gut warten. Das hatte er schon als kleiner Junge von seinem Großvater in Seoul gelernt. Auch etwas anderes hatte der alte Mann ihm beigebracht. Daniel erkannte den Wald, wenn er die Bäume anschaute, während die meisten Menschen nur die einzelnen Bäume sahen. Anders ausgedrückt: Er glaubte, Zusammenhänge durchschauen und die Reaktion von Menschen voraussehen zu können.

Was nun Christine Murray betraf, so rechnete er mit zwei möglichen Reaktionen. Entweder würde sie ihn in panischer Angst anrufen, sobald die ersten Berichte über sie im Internet auftauchten. Oder sie würde versuchen unterzutauchen.

Obwohl … Vielleicht würde sie gar nicht in Panik geraten. Während des Gesprächs in der Bank war sie erstaunlich gefasst gewesen. Sie hatte sogar kampfbereit gewirkt. Dafür bewunderte er sie – was wiederum für ihn selbst ein Risiko darstellte. Er wünschte, er würde sich nicht so heftig zu ihr hingezogen fühlen. Er wollte sich nicht zu Handlungen verleiten lassen, die er später bereuen würde. Bewunderung und sexuelle Anziehung ergaben eine gefährliche Mischung.

Nun, dass er zu ihrem Schutz einen Privatdetektiv engagiert hatte, bereute er zumindest nicht. Cole hatte ihm bereits einen ersten Bericht zugesandt. Offenbar hatte jemand versucht, in Christines Wohnung einzubrechen. Cole hatte so getan, als wohne er im selben Haus. Sein Erscheinen hatte den Einbrecher aufgehalten. Leider konnte das nur als vorläufiger Erfolg gelten. Wer auch immer in Christines Wohnung eindringen wollte, würde es aufs Neue versuchen, zweifellos um das, was er dort fand, gegen sie zu verwenden.

Dennoch bereitete eine andere Tatsache Daniel größere Sorgen. Laut Cole hielt sich eine Frau häufig in der Nähe der Krippe auf, in der Christines Tochter betreut wurde. Die Unbekannte beobachtete das Haus und vor allem den dazugehörigen Spielplatz. Cole nahm an, dass es ihr in erster Linie darum ging, Fotos von Marie zu machen. Allerdings ließ sich nicht ausschließen, dass eine Entführung geplant war.

Daniel rief sich das Bild in Erinnerung, das auf Christines Schreibtisch gestanden hatte. Er hatte einen Blick darauf geworfen, während er auf Christine wartete. Das kleine Mädchen hatte hellbraunes Haar und genauso blaue Augen wie die Mutter. Augen, die voller Hoffnung und Lebensfreude in die Welt blickten, während Christine ständig auf der Hut zu sein schien.

Die beiden brauchten Hilfe, auch wenn Christine das nicht einsehen wollte. Aber er konnte sie kaum zwingen, ihm zu vertrauen. Himmel, wenn sie sich doch aus eigenen Stücken an ihn wenden würde! Sie könnten dann gemeinsam einen Plan entwickeln, um ihre Privatsphäre zu schützen.

Würde sie sich wenigstens an ihn wenden, wenn erste böse Gerüchte über sie im Internet kursierten? Bisher hatte sie von ihm keine Hilfe annehmen wollen. Und zuvor schon hatte sie Brian abgewimmelt. Sie musste sich in den vergangenen zwei Jahren verändert haben. Sie war selbstbewusster geworden. Und solange sie nicht in Panik geriet, würde sie wahrscheinlich versuchen, das Ganze auszusitzen. Das war sicher tapfer. Aber gleichzeitig ziemlich dumm.

Daniel ließ sich verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen. Und kam zu dem Schluss, dass es noch etwa eine Woche dauern würde, bis Clarence Murray offiziell verkündete, dass er für den freien Sitz im Senat von Missouri kandidieren würde. Spätestens dann würden die Medien über Murrays Tochter und seine Enkelin herfallen.

Das ist der Zeitpunkt, an dem Christine entweder untertauchen oder sich mit mir in Verbindung setzen wird.

Was sein Großvater wohl dazu gesagt hätte, dass sein einziger Enkel alles tat, um eine alte Schuld zu begleichen? Sein ganzes Leben lang war er enttäuscht von Daniel gewesen. Daniel war nicht ehrgeizig genug, er war nicht klug genug, und vor allem war er nicht koreanisch genug. Weder hatte er Südkorea zu seinem ständigen Wohnsitz machen noch in das Unternehmen seines Großvaters einsteigen wollen. Er hatte sich sogar geweigert, eine passende Koreanerin zur Frau zu nehmen.

Tatsächlich kamen in Daniels Zukunftsplänen weder eine Ehefrau noch Kinder vor.

In einem allerdings war er mit seinem Großvater einer Meinung: Wer Einfluss darauf hatte, welche Informationen an die Öffentlichkeit drangen oder geheim blieben, der hatte Einfluss auf den Lauf der Welt.

Daniel liebte es, Einfluss zu haben. Und er hasste es, die Kontrolle abgeben zu müssen.

Seine Gedanken wandten sich wieder Christine zu. Dass er ihr seine Hilfe angeboten und Cole mit ihrem Schutz beauftragt hatte, hätte genügen sollen, um sein Gewissen zu beruhigen. Leider hatte sich das als Trugschluss erwiesen.

Was sollte er tun, wenn Christine sich nicht bei ihm meldete? Hatte er eine Möglichkeit, sie trotzdem zu unterstützen?

Ja! Er griff nach seinem Handy und suchte eine bestimmte Telefonnummer.

Gleich darauf meldete sich eine Frauenstimme. „Daniel, hallo! Ist dies ein privater oder eher ein geschäftlicher Anruf?“, fragte Natalie Wesley.

„Beides“, gab er zurück. „Wie geht es dir und CJ?“

CJ Wesley war genau wie Daniel und Zeb einer der unehelichen Söhne Hardwick Beaumonts. Allerdings wollte CJ nichts mit der Beaumont-Brauerei zu tun haben. Er lebte und arbeitete auf einer Ranch nördlich von Denver und legte großen Wert auf seine Privatsphäre. Das ließ es umso erstaunlicher erscheinen, dass er ausgerechnet eine bekannte Fernsehmoderatorin geheiratet hatte.

Natalie Baker hatte eine eigene Vormittagsshow moderiert, als sie CJ kennenlernte. Sie war entschlossen gewesen, ihn ihrem Publikum als einen der Beaumont-Bastarde vorzustellen. Es hatte sie mit Stolz erfüllt, dass sie ihn eher als all ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten gefunden hatte. Doch dann war alles anders gekommen, weil sie sich in ihn verliebt hatte.

„Uns geht es gut“, sagte sie jetzt zu Daniel. „Du solltest uns wirklich einmal besuchen.“

„Das werde ich“, versprach er, „aber nicht in den nächsten zwei oder drei Wochen. Ich habe hier nämlich ein Problem, bei dessen Lösung ich deine Hilfe brauche, Natalie.“

Sie seufzte. „Okay. Worum geht es?“

„Was weißt du über Christine Murray?“

„Über wen?“

Daniel brauchte ungefähr zwanzig Minuten, um ihr alles Wichtige zu erzählen. Er schloss mit den Worten: „Bisher hat sie meine Hilfe abgelehnt, doch ich bin ziemlich sicher, dass sie es sich noch einmal anders überlegt. Und dann müssen wir bereit sein, ihren Ruf zu schützen.“

„Ich könnte dafür sorgen, dass in den Suchmaschinen die positiven Artikel über sie als erste erscheinen.“

„Sehr gut, danke.“

„Außerdem könnte ich selbst Artikel verfassen. Noch besser wäre es, wenn sie mir ein Interview geben würde.“

„Hm …“

Natalie schwieg einen Moment, ehe sie das Thema wechselte. „Wir machen uns Sorgen um dich, Daniel.“

Sorgen? Er war gesund, wohlhabend und im Großen und Ganzen mit seinem Leben zufrieden. Er verstand sich gut mit seinem Halbbruder Zeb, besaß Wohneigentum in Denver, Chicago und Seoul und nannte einen großen Teil von Lee Enterprises sein Eigen.

„Warum, Natalie?“

Sie überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Ach, lass nur. Ich werde mich um Christine Murray kümmern. Mach’s gut, Daniel.“ Damit beendete sie das Gespräch.

Verwundert stellte Daniel fest, dass er enttäuscht darüber war, dass sie in Bezug auf die Sorge um ihn nicht deutlicher geworden war.

3. KAPITEL

Plötzlich passierte alles gleichzeitig.

Christine war mit Routinearbeiten in der Bank beschäftigt und bemühte sich, weder an die politischen Ambitionen ihres Vaters noch an Daniel Lee zu denken, dessen männliches Gesicht sie ebenso wenig vergessen konnte wie seinen muskulösen Körper, als sich plötzlich auf dem Bildschirm ihres Computers ein Fenster öffnete.

Clarence Murray hatte sich offiziell um den freien Sitz im Senat von Missouri beworben.

Im selben Augenblick läutete Christines Telefon. Sie wusste sofort, dass es einer der vielen Journalisten war, die sie von nun an belästigen würden, um zu erfahren, wie sie zu der Erklärung ihres Vaters stand.

Es gelang ihr, professionell zu reagieren. Während sie den Artikel auf dem Bildschirm las, nahm sie einen Anruf nach dem anderen entgegen. Ihre Antwort auf die Fragen der Journalisten war stets die gleiche: „Kein Kommentar.“

Auf dem Bildschirm erschien der Hinweis auf einen weiteren Artikel. Die Überschrift lautete: Wird Clarence Murray seiner Enkelin wegen eine Niederlage erleiden?

Das war schlimm genug. Doch dann überlief Christine ein Schauer. Sie hatte das Foto entdeckt. Es zeigte sie und Marie vor ihrem Auto. Verflucht! Zwar war es eine schlechte Aufnahme. Dennoch konnte Christine es nicht ertragen, dass ihre Tochter plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Ihre Hand zitterte, als sie die Schreibtischschublade öffnete und Daniel Lees Visitenkarte herausnahm. Entgegen ihrem ersten Impuls hatte sie sie nicht weggeworfen. Vielleicht würde Lee ihr tatsächlich helfen.

Sie kam nicht dazu, seine Nummer zu wählen, weil ihr eigenes Telefon schon wieder läutete.

„Miss Murray …“

O Gott, sie kannte diese Stimme. Brian White! Wenn es der Teufel persönlich gewesen wäre, hätte sie keine größere Angst verspüren können.

„… ich wollte mich noch einmal bei Ihnen melden, nun da …“, hörte sie White sagen.

Sie unterbrach die Verbindung.

Doch das Telefon gab keine Ruhe.

Christine griff nach ihrem privaten Handy und floh auf die Toilette.

Ihre Hände zitterten jetzt so heftig, dass sie drei Versuche brauchte, ehe sie Lees Nummer eingetippt hatte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie das Richtige tat. Doch dann dachte sie wieder an jenen Artikel, dessen Überschrift den Lesern einreden wollte, ein kaum vierzehn Monate altes Kind könnte über den Ausgang einer Wahl entscheiden.

In diesem Moment kam die Verbindung mit Lee zustande. Daniel meldete sich schon nach dem ersten Klingelton.

„Hallo“, stammelte Christine, „ich … Sie …“

„Ist alles in Ordnung, Christine?“ Er klang aufrichtig besorgt.

Sie holte tief Luft. Oh nein, es war absolut nichts in Ordnung. Aber jetzt gelang es ihr immerhin, einen verständlichen Satz zu äußern. „Ich möchte wissen, ob Sie es ernst gemeint haben, als Sie mir Ihre Hilfe anboten.“

„Sie haben einige der Artikel gesehen?“

Es gab also mehr als zwei! Tränen stiegen Christine in die Augen, und einen Moment lang wurde ihr so schwindelig, dass sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren.

Daniel wartete schweigend. Doch schließlich sagte er: „Wir müssen dafür sorgen, dass Sie und Ihre Tochter in Sicherheit gebracht werden. Also sollten wir uns so schnell wie möglich treffen und uns auf ein Vorgehen einigen.“

Das hörte sich gut an! Jemand sorgte sich um ihre und Maries Sicherheit. Wenn Lee es ernst meinte, konnte er ihre Rettung sein. Aber durfte sie ihm tatsächlich vertrauen?

„Wie kann ich sicher sein, dass nicht Sie selbst einen dieser Artikel geschrieben haben?“, fragte sie. „Vielleicht ist das alles nur ein Trick, um mehr über mich herauszufinden.“

„Es ist kein Trick. Aber das kann ich Ihnen nicht beweisen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Das war keine Vertrauen einflößende Bemerkung.“

„Es war eine ehrliche Bemerkung. Ich könnte Ihnen natürlich alles Mögliche erzählen. Aber würde das Ihre Zweifel zerstreuen?“

Er hatte recht. Sie musste ihm vertrauen. Oder sie musste das Problem allein lösen – was bedeutete, dass sie sich jedes Mal einer Horde Journalisten gegenübersehen würde, wenn sie Marie von der Krippe abholte. Und in der Bank würde ständig ihr Telefon klingeln, selbst wenn kein einziger Kunde sie sprechen wollte. Sie würde Denver verlassen müssen. Aber wohin konnte sie fliehen?

„Okay.“ Sie seufzte. „Was schlagen Sie vor?“

„Wir müssen uns treffen.“

„Ich will nicht, dass Sie zu mir nach Hause kommen. Bitte, missverstehen Sie das nicht. Es ist nur …“

„Schon gut. Ich wäre sowieso nicht zu Ihnen gekommen. So ziemlich das Schlimmste, was Ihnen jetzt passieren könnte, wäre, dass Fotos von einem neuen Mann auftauchen, mit dem Sie sich privat treffen. Aus ebendiesem Grund können wir uns auch nicht in meiner Wohnung treffen. Bestimmt werden Sie beschattet.“

„Hm …“ Jetzt konnten kaum noch Zweifel daran bestehen, dass er ihr gegenüber ehrlich war. „Sie wollen sich also an einem öffentlichen Ort mit mir treffen?“ Das war sicher keine gute Idee.

„Nein, das würde den Journalisten erst recht gefallen.“

Sie spürte, dass ihre Geduld zu Ende ging. „Wenn wir uns weder bei mir noch bei Ihnen noch in einem Café oder so treffen können, was sollen wir dann machen?“

„Sie besuchen den Gottesdienst in der Red Rock Church, nicht wahr?“

„Oh … Ich sollte mich wohl kaum darüber wundern, dass Sie das wissen.“

Sie hatte es als Glücksfall empfunden, dass sie diese Gemeinde gefunden hatte. In der Red Rock Church wurde ein Glaube vertreten, der dem ihrer Kindheit ähnelte, aber weit weniger dogmatisch war. Außerdem gab es dort eine gute Kinderbetreuung. Sonntags am Gottesdienst teilzunehmen und Marie in sicherer Obhut zu wissen war etwas, das Christine sehr genoss.

„Besuchen Sie den Gottesdienst um neun Uhr oder den um elf?“

„Um elf.“ Die Vorstellung, Daniel dort zu treffen, gefiel ihr nicht. Er gehörte nicht zu ihren Freunden. Welchen Freunden? Und möglicherweise war er sogar ein Spion. Selbst wenn er ihr Verbündeter war, erschien der Treffpunkt falsch. Doch leider fiel ihr keine Alternative ein.

„Sitzen Sie im Allgemeinen rechts oder links?“

„Seltsam, dass Sie das nicht wissen“, fauchte sie. Gleich darauf aber entschuldigte sie sich. „Tut mir leid, ich bin sehr nervös.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Also: Wo sitzen Sie? Ich kann Sie leichter finden, wenn ich das weiß. Ich möchte nämlich nicht, dass den Leute dort auffällt, wie wir nacheinander Ausschau halten. Wir wollen uns nicht heimlich treffen, doch es wäre gut, wenn Sie einen ruhigen Ort wüssten, an dem wir uns unterhalten können, ohne Aufsehen zu erregen.“

„Die Kirche hat über zweitausend Mitglieder. Da gibt es keinen ruhigen Ort.“

„Wir wollen uns ja nicht verstecken“, wiederholte er geduldig. „Wir wollen nur nicht auffallen.“

Sie runzelte die Stirn. „Ich sitze links, denn von dort kann ich den Raum, in dem die Kinder betreut werden, am schnellsten erreichen.“ Sich in Anwesenheit anderer Menschen mit Daniel zu treffen erschien ihr inzwischen als einigermaßen gute Lösung. Schließlich wollte sie nicht mit ihm allein sein. „Ich muss darüber nachdenken, wo wir ungestört sind und nicht auffallen.“

„Gut. Ich trete nach dem Gottesdienst in Kontakt zu Ihnen. Sollte vorher etwas geschehen, was Sie beunruhigt, rufen Sie mich bitte unbedingt sofort an.“

„Ja.“ Es war Freitag. Am Samstag musste sie weder arbeiten noch Marie in die Krippe bringen. Da würde es wohl möglich sein, bis Sonntag durchzuhalten.

„Falls Ihnen irgendwelche verdächtigen Personen auffallen, fotografieren Sie die wenn möglich mit dem Handy. Und dann informieren Sie mich, bitte!“

„Was könnten Sie tun, was die Polizei nicht kann?“

Eine kurze Pause folgte, ehe Daniel sagte: „Wir sehen uns am Sonntag. Verhalten Sie sich bis dahin möglichst unauffällig.“

Das brachte sie zum Lachen. „Ich benehme mich seit einer halben Ewigkeit unauffällig. Ich erledige meine Arbeit in der Bank und kümmere mich um meine Tochter und meinen Haushalt. Ich gehe nie aus und habe keine Liebhaber. Ein langweiligeres Leben kann man kaum führen. Und was hat es mir genutzt? Ich bin noch immer der kleine schutzlose Fisch im Haifischbecken. Und das ist Ihre Schuld!“

Sie merkte, dass sie geschrien hatte. Wie würde Daniel reagieren? Würde er zurückschreien? Oder würde er sich entschuldigen? Ihr Vater hatte in ähnlichen Situationen immer behauptet, sie selbst trage die Schuld an allem, was ihr zustieß.

Daniels Antwort überraschte sie.

„Ich weiß“, sagte er einfach. Und dann: „Vergessen Sie nicht, dass Sie nicht allein sind. Rufen Sie mich an, und ich komme Ihnen zu Hilfe.“

Hatte er gerade zugegeben, dass sie recht hatte? Sie war so verwirrt, dass sie einen Moment lang brauchte, um festzustellen, dass er aufgelegt hatte.

Ihr war klar, dass sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren musste. Sie konnte nicht den Rest des Tages auf der Toilette verbringen. Aber im Augenblick war sie unfähig, sich zu rühren.

Sie sind nicht allein, hatte Daniel gesagt. Aber sie vertraute ihm nicht. Eigentlich vertraute sie niemandem. Trotzdem war da der Wunsch, nicht allein zu sein. Wie wundervoll wäre es, wenn Daniel sie nicht enttäuschen würde.

Schon früh hatte Daniel gelernt, sich unauffällig zu verhalten. In Chicago war sein Leben als Schuljunge noch einfach gewesen, denn mehrere Kinder südkoreanischer Herkunft besuchten dieselbe Schule wie er. Zudem sah er nicht besonders asiatisch aus.

Deshalb fiel er in Südkorea umso mehr auf. Schon mit zehn war er größer als seine Mutter und mit zwölf größer als sein Großvater. Auch durch seine Haar- und seine Augenfarbe unterschied er sich von den Einheimischen. Sein Großvater hatte extra einen Privatlehrer engagiert, der ihm beibringen sollte, sich wie ein Koreaner zu benehmen. Daniel war ein eifriger Schüler. Zunächst, weil er hoffte, seinen Großvater zufriedenstellen zu können. Dann, als er erkannte, dass das unmöglich war, hatte er dem alten Mann beweisen wollen, dass er sich verwandeln konnte wie ein Chamäleon.

Und das konnte er wirklich. Als er an diesem Sonntagvormittag das Gebäude der Red Rock Church betrat, hielten ihn alle, die ihn sahen, für ein neues Gemeindemitglied. Er trug einen dicken Wollpullover mit Zopfmuster und hatte eine Strickmütze tief über die Ohren gezogen. Vervollständigt wurde seine Erscheinung durch eine Brille, die nur Fensterglas enthielt. Selbst Menschen, die ihn häufig sahen, hätten ihn so nicht erkannt.

Er hatte vor, Christine unauffällig zu beobachten. Sein Entschluss, ihr zu helfen, stand fest. Doch da er ihren Vater kannte, war er sich nicht ganz sicher, ob sie womöglich ebenso verrückt war wie er. Manchmal lag es in den Genen …

Damals, als er versucht hatte, alles über sie herauszufinden, hatte er erfahren, dass sie ein rebellischer Teenager gewesen war. Aber dann hatte sie zu studieren begonnen und war mehr oder weniger zur Ruhe gekommen.

Bis er ihr Leben zerstört hatte.

Daniel betrat die Kirche und ließ sich vom Strom der Gottesdienstbesucher mitziehen. Dabei hielt er Ausschau nach verdächtigen Gestalten. Porter hatte ihm die Beschreibung von drei Männern geliefert, die Christine zu verschiedenen Zeiten gefolgt waren. Keiner von ihnen schien sich in der Kirche aufzuhalten. Daniel entdeckte auch sonst niemanden, den er für gefährlich hielt. Das war gut.

Und dann ging Christine dicht an ihm vorbei. Sie trug das kleine Mädchen auf dem Arm und redete mit ihm.

Das ist Marie, korrigierte Daniel sich, nicht irgendein kleines Mädchen. Er musste dieses Kind beschützen. Ebenso wie Christine. Himmel, sie sah bezaubernd aus, wenn sie lächelte!

Ihre Tochter hatte von der Kälte gerötete Wangen. Die blauen Augen, die so sehr denen der Mutter glichen, strahlten. Marie wirkte glücklich.

In diesem Moment fiel ihr Blick auf Daniel. Sie warf ihm ein sonniges Lächeln zu.

Ihm jedoch war, als hätte er einen Schlag in den Unterleib erhalten. Die Kleine glich Christine wie ein Ei dem anderen. Nur, dass er Christine nie so entspannt und glücklich gesehen hatte. Sie musste unwiderstehlich sein, wenn weder Angst noch Sorgen sie plagten.

Dann verschwanden die beiden inmitten anderer Mütter und ihrer Kinder in Richtung des Raums, in dem die Kinder betreut wurden.

Daniel beschloss, sich einen Sitzplatz zu suchen. Als Kind hatte er mit seiner Mutter die koreanische Kirche in Chicago besucht, aber er war nicht besonders religiös. Vielleicht, weil er zu viel über machthungrige Menschen wusste, zu denen auch religiöse Führer gehörten.

Trotzdem bedrückte es ihn, dass er sich nur deshalb in der Kirche aufhielt, weil er Christine beobachten wollte. Sie kam erst, als die Band bereits zu spielen begonnen hatte. Rock-’n’-Roll-Musik hatte es in den Gottesdiensten seiner Kindheit nicht gegeben. Man hatte auch keine Gospels gesungen. Hier jedoch gab es von allem etwas. Es wurde sogar ein Video gezeigt. Vermutlich wollte der Pastor all seinen Gemeindemitgliedern gerecht werden.

Daniels Aufmerksamkeit galt in erster Linie Christine. Sie hatte ein paar Leute mit einem Kopfnicken und einem Lächeln gegrüßt. Doch Freunde schienen diese Menschen nicht zu sein. Man kannte sich, weil man sich einmal wöchentlich in der Kirche traf. Mehr nicht. Das war vermutlich gut, denn so würde kaum jemand hier sie mit dem Mann in Verbindung bringen, der sich in Missouri um einen Sitz im Senat bewarb.

Während der Predigt dachte Daniel über das nach, was Natalie bereits unternommen hatte. Es war ihr gelungen, ein paar Artikel ins Netz zu stellen, in denen Christine in einem positiven Zusammenhang erwähnt wurde. Auch hatte sie die Suchmaschinen so beeinflussen können, dass diese Artikel als erste genannt wurden.

Wie schön wäre es, wenn das genügen würde, um Christine aus der Schusslinie zu holen! Leider – das wusste Daniel nur zu genau – würde das nicht passieren. Sowohl Murray als auch seine politischen Gegner hatten ein viel zu großes Interesse daran, Christines und Maries Schicksal für ihre Zwecke auszuschlachten.

Der Gottesdienst endete mit einem Lied, in das alle einfielen. Die Leute klatschten in die Hände und wiegten sich im Takt. Dann verklang der letzte Ton, und einige Eltern machten sich eilig auf den Weg zum Kinderbetreuungsraum. Christine gehörte nicht zu ihnen. Sie unterhielt sich mit einer Frau, die in der Bank vor ihr gesessen hatte, schaute sich dabei allerdings immer wieder suchend um.

Vollkommen unerwartet überkam Daniel der Wunsch, von ihr bemerkt zu werden. Er wollte, dass sie ihn sah und sich darüber freute.

Welch ein Unsinn, schalt er sich selbst.

Und dann sah sie ihn tatsächlich. Ihre Augen weiteten sich ein wenig. Aber sie wirkte ganz und gar nicht froh. Notgedrungen akzeptierte sie seine Anwesenheit.

Nun, etwas Besseres hatte er auch nicht verdient.

Er senkte leicht den Kopf und ging dann hinaus in den Vorraum. Dort blieb er stehen und gab sich den Anschein, von all den neuen Eindrücken überwältigt zu sein. Niemand schenkte ihm besondere Beachtung.

Endlich erschien Christine, die Marie abgeholt hatte und sie nun liebevoll kitzelte. Das kleine Mädchen quietschte vor Glück.

In diesem Moment überkam Daniel der unwiderstehliche Wunsch, das Kind zu beschützen. Marie war vollkommen unschuldig. Und dennoch gab es Menschen, die ihr und ihrer Mutter schaden wollten. Das konnte er unmöglich zulassen!

Christine hatte den Blick durch den sich langsam leerenden Raum schweifen lassen und Daniel entdeckt. Ein harter Zug lag um ihren Mund. Das hätte ihn bei kaum einem Menschen gestört, doch von Christine wünschte er sich einen anderen Ausdruck.

Verdammt!

„Süße“, sagte sie so laut zu Marie, dass Daniel jedes Wort verstehen konnte, „wir haben deine Mütze unten vergessen.“ Damit drehte sie sich um und steuerte auf die Treppe zum Untergeschoss zu.

Daniel folgte ihr in einigem Abstand. Erleichtert stellte er fest, dass niemand auf dem Weg nach unten war.

Vor dem Raum, in dem die Kinder betreut wurden, gab es eine Sitzecke. Auf dem Tisch lagen ein paar Kinderbücher, und in einer Ecke auf einem Teppich stand eine Kiste mit Spielzeug. Alles sah aus, als sei es von verschiedenen Gemeindemitgliedern gespendet worden, nachdem sie es selbst nicht mehr gebrauchen konnten. Aber immerhin war es hier ruhig. Sie würden ungestört reden können.

Christine ließ sich aufs Sofa fallen. Marie hielt sie fest an sich gedrückt. „Ich war mir nicht sicher, ob Sie kommen würden“, sagte sie zu Daniel.

„Ich habe es versprochen.“

Sie runzelte die Stirn.

Er wünschte, er könnte die Sorgenfalten fortwischen und Christine zum Lächeln bringen. Ein Lächeln, das nur ihm galt. Verdammt, was war bloß mit ihm los?

„Ich habe gelernt, dass Versprechen keine allzu große Bedeutung haben“, stellte Christine fest.

Sie war tatsächlich eine Kämpferin! Das gefiel ihm. „Ich verstehe, was Sie meinen. Aber wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch.“

Sie schwieg und musterte ihn forschend. „Was wollen wir unternehmen?“, fragte sie schließlich.

Noch während sie sprach, begann ihre Tochter zu zappeln. Christine stellte das kleine Mädchen auf die Füße, und sogleich lief Marie, sich am Tisch festhaltend, los.

„Zunächst habe ich ein paar Fragen. Dann mache ich Ihnen den einen oder anderen Vorschlag, der dazu beitragen kann, dass Ihr und Maries Leben so wenig wie möglich beeinträchtigt wird durch die Kandidatur Ihres Vaters.“

Sie holte tief Luft und nickte. „Was könnte es geben, was Sie nicht über mich wissen? Sie waren doch derjenige, der als Erster herausfand, dass ich schwanger war.“

Da war es wieder, dieses unangenehme Schuldgefühl! Doch gleichzeitig verspürte Daniel so etwas wie Befriedigung. Dass Christine sich nicht einfach in ihr Schicksal ergab, war sehr, sehr gut. Sie war verletzlich, ja. Aber sie würde kämpfen.

„Ich entschuldige mich noch einmal dafür. Es tut mir wirklich leid.“

Sie zuckte die Schultern.

Er suchte ihren Blick. „Wie intensiv ist der Kontakt zu Maries Vater?“

„Er zahlt Unterhalt, dafür hat mein Vater gesorgt. Und ich schicke ihm ab und zu ein Foto von Marie. Reagiert hat er darauf nie.“

„Und wie oft haben Sie mit Ihrem Vater zu tun?“

„Er will mich nicht sehen. Und er will auch nicht mit mir telefonieren. Seiner Meinung nach bin allein ich dafür verantwortlich, dass er bei der Wahl vor zwei Jahren gescheitert ist.“

„Sie teilen diese Ansicht nicht?“

Sie verzog das Gesicht. „Wir werden es nie genau wissen, nicht wahr? Für ihn aber ist die Sache klar. Denn seine Welt ist vollkommen schwarz-weiß. Er würde niemals eine andere Überzeugung als die seine akzeptieren. Er hat recht, und alle anderen haben unrecht. Ich konnte ihm nie etwas recht machen.“

Daniel spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Hatte nicht auch er in den Augen seines Großvaters immer alles falsch gemacht? „Ich bin sicher“, erklärte er mit fester Stimme, „dass nicht Sie für seine Niederlage verantwortlich sind.“

„Nett, dass Sie das sagen. Aber wollten wir nicht eigentlich darüber reden, wie Sie mir und Marie helfen können?“

Er nickte. „Ich betrachte es als meine Verantwortung, Ihnen und Marie beizustehen.“ Fasziniert hatte er beobachtet, wie Marie Schritt für Schritt machte und sich dabei an der Tischkante festhielt. Jetzt hatte sie ihre Runde fast vollendet und stand vor ihm. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie zu ihm aufschaute. Dann ließ sie die Tischkante los und fiel gegen Daniels Beine.

Instinktiv streckte er die Arme aus und fing die Kleine auf. Obwohl er mehrfacher Onkel war – einige seiner Halbbrüder hatten bereits Familien gegründet –, hatte er wenig Erfahrung mit Kindern. Es fühlte sich merkwürdig an, als er das zappelnde Kind auf seinen Schoß zog. „Hallo, Marie“, sagte er.

Sie kicherte und lehnte sich an ihn.

O Gott, sie war so süß!

Dann gab sie ein paar unverständliche Worte von sich und zeigte auf den Tisch.

„Sie möchte Ihnen ein Buch vorlesen“, erklärte Christine. Ihr Gesicht verriet größte Vorsicht.

„Nun gut.“ Er beugte sich vor, nahm eines der Bilderbücher vom Tisch und drückte es Marie in die kleinen Hände.

Marie schlug es auf und gab weitere unverständliche Laute von sich. Dann verstummte sie und sah Daniel aus großen blauen Augen an.

„Sie wartet auf Ihre Reaktion.“

„Wirklich?“, sagte er, mehr zu Marie als zu Christine.

Es schien genau das zu sein, worauf die Kleine gehofft hatte. Mit neuer Begeisterung fuhr sie fort, ihre unverständliche Geschichte zu erzählen.

Nach einer Weile blätterte Daniel die Seite für sie um, was ihm ein weiteres strahlendes Lächeln eintrug.

Dennoch fühlte er sich unwohl. Es kam ihm unnatürlich vor, im Untergeschoss einer Kirche zu sitzen, ein kleines Mädchen auf dem Schoß zu halten und dem Gebrabbel des Kindes zuzuhören. Gleichzeitig aber vermittelte ihm diese absurde Situation ein seltsames Glücksgefühl. Es war, als sei Marie der Beweis dafür, dass nicht die ganze Welt schlecht war. Es gab auch unschuldige Freude und Lebenslust.

Deshalb ist es so wichtig, dass ich dieses Kind und seine Mutter beschütze, fuhr es ihm durch den Kopf.

4. KAPITEL

Christine gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen. Sie hatte erwartet, sich mit einem Mann zu treffen, der vage Versprechungen machte und von dem sie nicht wirklich Hilfe erwarten konnte. Doch so war es nicht.

Daniel Lee schien sich wirklich für ihr und Maries Schicksal zu interessieren. Das war erstaunlich. Noch erstaunlicher aber war, wie sehr er sich seit ihrem ersten Treffen verwandelt hatte. Der smarte Anzugträger war verschwunden. An seine Stelle war ein unauffälliger Mann in einem Pullover mit Zopfmuster getreten. Doch selbst so wirkte er unglaublich sexy. Himmel, Sue hatte recht: Dieser Mann war heiß.

Und nicht nur das! Er hielt Marie auf dem Schoß, hörte ihr zu und wirkte überhaupt nicht gelangweilt oder ungeduldig. Es war fast, als sei ihr schönster Traum wahr geworden. Allerdings hatte sie nie so schöne Träume.

Christine rief sich selbst zur Ordnung. Es würde nicht lange dauern, bis irgendwer auf sie und Daniel aufmerksam wurde. Zwar wusste sie noch immer nicht, ob sie ihm trauen konnte. Aber sie musste das Risiko wohl eingehen. Denn sie und Marie brauchten dringend jemanden, der sie unterstützte.

Warum also tat sie nichts weiter, als schweigend zuzuschauen, wie Marie zufrieden auf dem Schoß dieses Mannes saß und ihm eine Geschichte vorlas? Es war wirklich unfassbar. Marie tat, als kenne sie Daniel schon lange. Und Daniel tat, als störe es ihn überhaupt nicht, dass Marie seine Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchte.

„Wirklich?“, sagte er gerade, so als hätte Marie ihm eine interessante Neuigkeit erzählt. Dabei war er der Marketing-Leiter der Beaumont-Brauerei. Und außerdem der Mann, der während jener politischen Kampagne gegen ihren Vater ihr Leben zerstört hatte.

Noch immer konnte Christine keinen Blick von den beiden wenden. Daniel sah Marie an, als bedeute sie ihm tatsächlich etwas. Nicht einmal Doyle hatte die Kleine je so angeschaut. Er hatte seine Tochter nie in den Armen gehalten. Er hatte nicht einmal auf das Foto reagiert, das Marie zeigte, wie sie mit leuchtenden Augen ihre Geburtstagsgeschenke auspackte.

Hilflose Wut erfüllte Christine. Sie konnte nichts tun, damit Doyle seiner Tochter ein wenig Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenbrachte. Für ihn war Marie – genau wie für Clarence Murray – nichts weiter als eine unerwünschte Person.

Aber Daniel ist um nichts besser! Er war es, der dafür gesorgt hat, dass das Unheil über Marie und mich hereinbrach.

Das war allerdings nicht ganz fair. Sie selbst hatte – das konnte sie nicht leugnen – auch Fehler gemacht.

„Oh, wirklich?“ Daniel erwiderte Maries Lächeln.

Und Christine hatte plötzlich Mühe, gleichmäßig zu atmen. Es war so überwältigend zu sehen, wie freundlich er ihre Tochter behandelte. Für ihn war sie kein Fehltritt. Keine Schande. Keine unerwünschte Person, sondern einfach ein vierzehn Monate altes Kind.

Jetzt beugte er sich ein wenig nach vorn, sodass sein Gesicht Maries Haaren ganz nah kam. Christine wusste, was jetzt geschehen würde: Er würde Maries süßen Baby-Duft einatmen und hingerissen sein. Ja, er stieß einen kleinen Seufzer aus, und sein Gesicht veränderte sich. Mit einem Mal wirkte es viel weicher als zuvor.

Er war nicht mehr nur ein attraktiver Mann – er war der perfekte Mann.

Aber vielleicht war das alles ja nur Schauspielerei. Christine konnte sich nicht vorstellen, dass Daniel sich wirklich für sie und Marie verantwortlich fühlte. Sie durfte sich nicht von seiner scheinbaren Herzenswärme täuschen lassen.

Marie klappte das Buch zu und wand sich aus Daniels Armen. Kaum berührten ihre Füßchen den Boden, da begann sie auch schon wieder um den Tisch herumzulaufen. Daniel beobachtete sie einen Moment lang und wandte sich dann Christine zu. Ihre Blicke trafen sich – und Christine wurde heiß. Die Sehnsucht, Daniel zu berühren, wurde beinahe übermächtig.

Was, zum Teufel, ist bloß los mit mir?

Laut sagte sie: „Wo waren wir stehen geblieben?“ Dann fiel es ihr ein. „Ach ja, mein ehemaliger Verlobter und mein Vater. Zu beiden habe ich keinen Kontakt.“

Alles Weiche und Warme verschwand aus Daniels Gesicht. Er war gefährlich, daran konnte kein Zweifel bestehen.

„Haben Sie Interesse an einer Aussöhnung mit Ihrem Vater?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er will doch nur, dass ich öffentlich meine Fehler bereue und aller Welt sage, dass ich das Licht gesehen und erkannt habe, dass er in allem recht hat. Er wird darauf bestehen, dass ich einen Mann seiner Wahl heirate. Und dann wird er Marie wie ein kleine Prinzessin ausstaffieren und sie für seinen Wahlkampf benutzen.“ Ein Schauer überlief sie. „Ich werde nicht zulassen, dass er Marie das antut.“

Daniel betrachtete sie nachdenklich. „Eine Aussöhnung mit ihm würde Sie vor den schlimmsten Angriffen bewahren.“

Er wollte sie dazu überreden, ihren Vater zu unterstützen? Zorn stieg in ihr auf. „Mein Vater ist ein grausamer, selbstgerechter Mann. Und ich werde niemals – hören Sie: niemals – seine Ziele unterstützen! Ich hoffe inständig, dass er nicht gewählt wird. Wenn er eine Niederlage erleidet, wird er wieder mir die Schuld daran geben. Sollten wir uns tatsächlich versöhnen, so wird er sich vermutlich schon während des Wahlkampfes von mir abwenden, weil ich irgendeines seiner Gesetze gebrochen habe. Sie müssen wissen, dass ich immer irgendeines seiner Gesetze breche.“

Schweigend schaute Daniel sie an. Und Christine wünschte, sie hätte ein dickeres Fell. Sie wollte nicht, dass er sah, wie verletzlich sie war!

„Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, nie gut genug zu sein“, sagte sie bitter. „Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn ich als Junge zur Welt gekommen wäre. Als Mädchen war ich natürlich von Anfang an mit der Erbsünde belastet. Aber das verstehen Sie nicht.“

Dann wurde ihr klar, was sie gesagt hatte und zu wem sie es gesagt hatte. Daniel Lee war einer von Hardwick Beaumonts unehelichen Söhnen. Sein Vater hatte sich nie um ihn gekümmert. Vielleicht verstand er doch, wovon sie gesprochen hatte. „Es tut mir leid“, stammelte sie.

Er lächelte. „Schon gut. Ich habe meinen Vater nie gekannt. Das Verhältnis zu meinem Großvater war schwierig und spannungsgeladen. Ich war auch nie gut genug.“

Sein Ton war so beiläufig, als hätte all das ihn nie belastet. Doch Christine wusste, dass ein solches Schicksal jeden Menschen prägte.

Auch Marie würde ohne Vater aufwachsen. Sie würde weder Doyle noch dessen Eltern kennenlernen. Sie würde auch zu ihren Großeltern mütterlicherseits keinen Kontakt haben. Denn ihre Großmutter war schon seit vielen Jahren tot, und für ihren Großvater war sie das sichtbare Zeichen für Christines Sünden.

„Es tut mir leid“, wiederholte Christine. „Bitte, verzeihen Sie mir. Ich weiß praktisch nichts über Sie. Sie hingegen wissen beinahe alles über mich. Das macht mich … nervös.“

Er zuckte die Schultern.

Und wieder fand Christine, dass er viel zu attraktiv war. Er sah umwerfend aus, er zeigte Geduld im Umgang mit kleinen Kindern, und er hatte ihr seine Hilfe angeboten. Sie musste wirklich aufpassen, damit sie sich nicht in ihn verliebte.

Schon als Teenager hatte sie Jungen gemocht. Und je mehr Vorwürfe ihr Vater ihr wegen ihrer Kleidung und ihres Verhaltens machte, desto mehr hatte sie sich zu wilden Jungen hingezogen gefühlt. Es war eine halbe Ewigkeit her, aber sie hatte sich mehr als einmal heimlich aus dem Haus geschlichen, um sich mit irgendeinem ihrer Freunde zu treffen. Sie hatte mit fünfzehn angefangen zu rauchen und mit sechzehn bereits Alkohol getrunken. Und ihre Jungfräulichkeit hatte sie an einen Jungen verloren, der …

Sie starrte Daniel an. Keiner ihrer Freunde hatte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Daniel aufgewiesen. Keiner war auch nur annähernd so attraktiv gewesen.

Es war also nicht erstaunlich, dass sie sich zu Daniel hingezogen fühlte. Doch dafür war nicht nur sein Äußeres verantwortlich. Er war groß, muskulös und männlich. Vor allem aber war er jetzt bei ihr, weil er ihr helfen wollte. Keiner ihrer früheren Freunde hatte ihr zur Seite gestanden, wenn sie in Schwierigkeiten geriet. Nun ja, Doyle hatte zunächst eine Art Beschützerrolle übernommen. Er hatte sich gemeinsam mit ihr über ihren verrückten Vater lustig gemacht. Er hatte, wenn sie ausgingen, die Rechnung bezahlt. Er hatte sie sogar gebeten, ihn zu heiraten.

Besonders spannend war das Leben mit ihm nicht gewesen. Das galt auch für den Sex. Dennoch hatte sie seinen Antrag angenommen. Sie hatte geglaubt, an Doyles Seite sei sie erwachsen geworden.

Jetzt allerdings fragte sie sich, was langweiliger Sex und ein langweiliges Leben mit Erwachsensein zu tun hatten. Vielleicht war sie damals nur erschöpft gewesen von all den Abenteuern zuvor.

Es war nur allzu natürlich, Daniel Lee zu begehren. Doch es passte nicht in ihren Lebensplan. „Mr. Lee …“, begann sie.

„Nennen Sie mich Daniel“, unterbrach er sie.

Ihn beim Vornamen zu nennen fühlte sich irgendwie zu intim an. Schließlich hatte sie gerade beschlossen, ihn nicht zu begehren. Zu ihrem Ärger spürte sie, wie sie errötete.

In diesem Moment meldete Marie sich zu Wort. „Daniel Tiger!“, verkündete sie begeistert.

Nur dass es sich anhörte wie „Anal grrr!“.

Erneut schoss Christine das Blut in die Wangen. Denn wer außer ihr selbst konnte das Kauderwelsch ihrer Tochter deuten?

Marie schlug mit beiden Händen auf den Tisch und wiederholte in voller Lautstärke: „Anal grrr!“

„Was sagt sie?“, fragte Daniel leicht schockiert. Gleichzeitig musste er sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.

„Daniel Tiger“, übersetzte Christine. „Sie liebt die Fernsehsendung.“

„Oh …“ Offensichtlich kannte er die Sendung nicht.

„Eine Zeichentrickfigur“, erklärte Christine.

„Anal grrr!“, quiekte Marie.

Daniels Augen wurden immer größer. Er hob die Hand vor den Mund. Vermutlich wollte er nicht, dass Marie glaubte, er lache sie aus. Schließlich stellte er fest: „Kinder sagen wirklich die komischsten Dinge.“

Zu ihrem Erstaunen erkannte Christine, dass Marie ihn ziemlich aus der Fassung gebracht hatte. Das machte ihn noch sympathischer. Gern hätte sie sich ein wenig länger über seine Verlegenheit amüsiert. Doch dazu fehlte ihr die Zeit.

„Honey“, wandte sie sich an Marie, „willst du mir nicht eine Geschichte vorlesen, während ich mich ein wenig mit Mr. Lee unterhalte?“

Marie zögerte. Dann aber griff sie nach einem Buch, auf dessen Umschlag ein Häschen abgebildet war, und kam um den Tisch herum zu Christine.

„Tut mir leid, dass wir unterbrochen wurden“, entschuldigte die sich bei Daniel. „Das Leben mit einem Kleinkind verläuft eigentlich nie wie geplant.“

Um Daniels Mundwinkel zuckte es noch immer. Seine Stimme allerdings klang ruhig, als er sagte: „Wir müssen unbedingt verhindern, dass Marie das während des Wahlkampfes in irgendein Mikrofon sagt.“

Wenn das Wort Wahlkampf sie nicht an den Grund ihres Treffens erinnert hätte, wäre Christine in lautes Lachen ausgebrochen. So jedoch fragte sie: „Halten Sie mich für eine schlechte Mutter, weil ich Marie erlaube, Kindersendungen im Fernsehen anzuschauen?“

„Nein. Jede Mutter braucht hin und wieder ein bisschen Ruhe. Zum Beispiel wenn sie sich ums Mittagessen kümmert. Es gibt Schlimmeres, als ein Kind eine Kindersendung ansehen zu lassen.“

Marie hob den Blick vom Buch und schaute ihre Mutter an.

„Wirklich?“, fragte diese und blätterte die Seite um.

„Ich hoffe sehr, dass ich meine Arbeit bei der Bank nicht wegen dieses Wahlkampfs aufgeben muss“, sagte Christine dann.

„Gibt es derzeit einen Mann in Ihrem Leben?“

Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. „Ich habe so viel Freizeit, dass ich mich mit mehreren Männern treffe“, sagte sie bitter und setzte hinzu: „Es gibt nur sehr wenige Männer, die sich für eine alleinerziehende Mutter mit einem Kleinkind interessieren. Sie wollen mir doch nicht etwa vorschlagen, mir einen Freund zu suchen?“ Glaubt er etwa, die Medien würden mich in Ruhe lassen, wenn er die Rolle meines Freundes übernähme?

„Jede Romanze würde die Neugier der Journalisten vergrößern“, entgegnete er. „Ich halte es für das Beste, wenn Sie – solange das möglich ist – Ihr ganz normales Leben weiterführen.“

„Ich soll also langweilig sein?“

Seine Augen verdunkelten sich. Und Christines Herz machte einen Sprung.

„Sie sollen die langweiligste Person auf diesem Planeten sein. Dann wird man schnell das Interesse an Ihnen verlieren. Bestimmt gibt es bald irgendeine Neuigkeit, auf die die Journalisten sich stürzen.“

„Verstehe. Ich darf also auf keinen Fall Spaß haben.“

„Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen nicht gefallen.“

„Bisher hat mir nichts von dem gefallen, was Sie gesagt haben.“

„Ich habe bereits ein paar Schritte unternommen, um Sie vor dem Schlimmsten zu schützen.“

Marie begann zu zappeln, und Christine beschäftigte sich kurz mit ihr. Als sie wieder zu Daniel hinschaute, durchfuhr das Verlangen nach ihm sie mit geradezu schmerzhafter Stärke. Verdammt!

„Eine meiner Bekannten kümmert sich darum, dass im Internet positive Berichte über Sie zu lesen sind und dass die negativen Artikel auf den Suchlisten erst weit unten erscheinen. Außerdem habe ich eine Rufumleitung geschaltet, damit die Journalisten Sie nicht ständig in der Bank anrufen. Das Gleiche habe ich mit Ihrer E-Mail-Adresse gemacht. Außerdem habe ich eine Art Leibwächter für Sie engagiert.“

„Was?“ Ungläubig starrte sie ihn an.

„Es gibt ein paar Leute, die Sie beschatten. Deshalb wollte ich sichergehen, dass keiner davon Ihnen oder Marie Schaden zufügen kann.“

Christine zitterte jetzt vor Wut. Sie wusste nicht recht, was sie unverschämter fand: dass Daniel so viele Dinge über ihren Kopf hinweg entschieden hatte oder dass es Menschen gab, die sie beschatteten und ihr Böses wollten.

„Sie haben mich nicht einmal um Erlaubnis gefragt!“, stieß sie hervor.

Er nickte.

„Und trotzdem erwarten Sie, dass ich Ihnen vertraue?“ Sie zog Marie an sich und erhob sich.

Daniel stand ebenfalls auf. „Sie brauchen mich“, sagte er einfach.

Am liebsten hätte sie wie ein trotziges Kind mit dem Fuß aufgestampft und ihn angebrüllt. Aber sie brauchte ihn wirklich. Also stieß sie einen langen Seufzer aus und sagte: „Ich bin es so leid, dass Menschen über mich entscheiden.“ Damit wandte sie sich zur Treppe.

Daniel hielt sie am Oberarm fest. „Christine …“

„Hören Sie auf, meinen Namen so auszusprechen“, fauchte sie.

„Wie?“, fragte er verwirrt.

„So, als ob ich Ihnen etwas bedeuten würde. Das tue ich nämlich nicht. Marie und ich sind Ihnen vollkommen gleichgültig. Sie wollen nur Ihr schlechtes Gewissen beruhigen.“ Sie riss sich von ihm los und entfernte sich mit großen Schritten.

Marie schaute ihr über die Schulter, winkte Daniel zu und rief: „Anal grrr!“

Tränen traten Christine in die Augen, sodass sie kaum sah, wohin sie ihre Füße setzte. Sie musste aufpassen, damit sie nicht mit Marie auf dem Arm stolperte! Außerdem wollte sie nicht, dass Daniel bemerkte, wie sehr er sie aus der Fassung gebracht hatte.

Er ist so vollkommen! Dabei hat er so viel falsch gemacht. Wie passt das zusammen? Er ist verantwortlich dafür, dass ich in diesem Schlamassel stecke. Dafür sollte ich ihn hassen. Aber stattdessen hoffe ich, dass er mir und Marie hilft. Ich muss ein kompletter Idiot sein!

Einen Moment lang hoffte sie, dass sie Daniel nie wiedersehen würde.

5. KAPITEL

Während der gesamten nächsten Woche bemühte Daniel sich, nicht an Christine zu denken. Doch es war zwecklos. Immer wieder tauchte ihr Bild vor seinem inneren Auge auf. Auch Marie konnte er nicht vergessen. So wenig es ihm auch gefiel: Er spürte, dass er den beiden helfen musste.

Würde er mit der Situation besser umgehen können, wenn er die Mutter und ihre Tochter als seine Auftraggeber betrachtete und nicht als zwei Menschen, die durch seine Schuld in eine äußerst unangenehme Lage geraten waren?

Er versuchte es. Und scheiterte erneut.

Es war einfach unglaublich. Denn im Allgemeinen gelang es ihm sehr gut, Privates von Geschäftlichem zu trennen.

Autor

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