Betörende Whitney

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Die junge Engländerin Whitney Allison Stone erblüht unter der Obhut ihrer eleganten Pariser Tante zu einer der begehrtesten Schönheiten am Hof Napoleons. Doch sie weist jeden Bewerber ab - auch Clayton Westmoreland, den stolzen und leidenschaftlichen Herzog von Claymore. Gekränkt von ihrer Zurückhaltung und getäuscht von einer bösen Intrige, entführt er sie auf sein Schloss. Erst dort erkennt er, dass die betörende Whitney keine Trophäe für ihn ist - sondern die einzige Frau, die er je geliebt hat. Wird es ihm nach allem, was geschah, gelingen, ihr Herz doch noch zu gewinnen?


  • Erscheinungstag 30.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736668
  • Seitenanzahl 300
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der elegante Reisewagen holperte und schwankte über die mit Schlaglöchern übersäte Landstraße. Lady Anne Gilbert lehnte den Kopf gegen die Schulter ihres Ehemannes und seufzte tief. „Noch eine Stunde bis zu unserer Ankunft. Ich bin so neugierig, wie Whitney jetzt wohl als Erwachsene ist.“

Sie schaute durch das Fenster auf die hügeligen Wiesen und versuchte, sich an ihre Nichte zu erinnern, die sie seit beinahe elf Jahren nicht mehr gesehen hatte.

„Hübsch wird sie sein, wie ihre Mutter. Bestimmt hat sie deren Lächeln geerbt, ihre Sanftmut, ihr liebliches Wesen …“

Lord Edward warf seiner Frau einen skeptischen Blick zu. „Liebliches Wesen?“, wiederholte er ungläubig. „Ihr Vater hat das Mädchen in seinem Brief aber ganz anders beschrieben.“

Als Diplomat und Angehöriger des britischen Konsulats in Paris beherrschte Lord Gilbert die Kunst, Anspielungen zu machen, doch privat bevorzugte er schonungslose Offenheit. „Erlaube mir, dein Gedächtnis aufzufrischen“, meinte er und zog den Brief von Whitneys Vater aus der Tasche.

„Whitneys Benehmen ist unerhört“, las er laut vor. „Sie ist ein eigensinniger Wildfang, der alle zur Verzweiflung und mich immer wieder in Verlegenheit bringt. Ich bitte euch inständig, nehmt sie mit nach Paris. Ich hoffe, ihr werdet mehr Erfolg haben mit der dickköpfigen Göre als ich.“

Edward lachte. „Wo steht, dass sie sanftmütig ist?“

Lady Anne sah ihn verdrießlich an. „Martin Stone ist ein kalter, herzloser Mensch, der Sanftmut und Güte selbst dann nicht erkennen würde, wenn sie Whitneys einzige Wesenszüge wären! Erinnere dich nur daran, wie er die Kleine gleich nach der Beerdigung meiner Schwester anschrie und auf ihr Zimmer schickte.“

Edward kannte den kampfeslustigen Ausdruck in den Zügen seiner Frau und legte ihr versöhnlich einen Arm auf die Schulter. „Ich mag ihn auch nicht mehr als du. Doch du musst zugeben, dass es ziemlich peinlich war, als seine Tochter ihm vor fünfzig Anwesenden vorwarf, er sperre ihre Mama in eine Kiste ein, damit sie nicht entkommen könne.“

„Aber Whitney war damals kaum fünf Jahre alt!“, warf Anne heftig ein.

„Stimmt. Außerdem wurde sie, wie ich mich erinnere, nicht wegen dieses Vergehens in ihr Zimmer verbannt. Das war später, nachdem sich alle im Salon versammelt hatten. Sie stampfte mit dem Fuß auf und wollte uns alle bei Gott anzeigen, wenn wir ihre Mama nicht augenblicklich freiließen.“

Anne lächelte. „Wie temperamentvoll sie war, Edward. Und die Sommersprossen auf ihrer Nase … Gib zu, du mochtest sie ebenfalls.“

„Nun ja“, gestand Edward. „Ich fand sie reizend.“

Während sich die Kutsche unablässig Stones Landsitz näherte, wartete eine kleine Gruppe junger Leute auf der Wiese hinter dem Haus und schaute ungeduldig zu dem knapp hundert Meter entfernten Stall. Eine zierliche Blondine strich ihren rüschenbesetzten rosa Rock glatt und seufzte. „Was, glaubst du, hat Whitney vor?“, fragte sie den gut aussehenden blonden Mann neben sich.

Paul Sevarin sah Elizabeth Ashton in die blauen Augen und schenkte ihr ein Lächeln, für das Whitney alles gegeben hätte. „Wir werden sehen, Elizabeth“, antwortete er.

„Keiner von uns hat die geringste Ahnung, was sie da ausheckt“, bemerkte Margaret Merryton spitz. „Aber du kannst sicher sein, dass es etwas Dummes und Unerhörtes ist.“

„Margaret, wir alle sind heute Whitneys Gäste“, unterbrach Paul sie tadelnd.

„Ich weiß wirklich nicht, warum ausgerechnet du sie verteidigst, Paul“, entgegnete Margaret gehässig. „Es ist ein Skandal, wie Whitney dir nachläuft!“

„Margaret!“, fuhr er auf, „es reicht jetzt.“ Finster blickte er zu Boden. Es fiel tatsächlich unangenehm auf, wie Whitney ihm nachstellte, und fast jeder sprach davon.

Anfangs hatte er die schmachtenden Blicke und das bewundernde Lächeln der Fünfzehnjährigen amüsant gefunden. Doch in letzter Zeit stellte Whitney ihm mit der Entschlossenheit und taktischen Brillanz eines weiblichen Napoleon nach, was Paul manchmal als lästig empfand.

Wenn er sein Gut verließ, konnte er sich fast darauf verlassen, dass er sie auf dem Weg zu seinem Zielort treffen würde. Es war, als hätte sie einen Beobachtungsposten, von dem aus sie jeden seiner Schritte überwachte. Und dennoch, dachte Paul gereizt, stehe ich hier in der Aprilsonne und versuche aus unerfindlichen Gründen, Whitney vor der verdienten Kritik in Schutz zu nehmen.

Ein hübsches Mädchen, das einige Jahre jünger war als die anderen in der Gruppe, wandte sich an Paul. „Ich werde einmal nachschauen, was Whitney aufhält“, sagte Emily Williams und eilte über die Wiese zum Stall. Sie stieß die große Doppeltür auf und schaute den breiten finsteren Gang hinunter, der auf beiden Seiten von Boxen gesäumt war. „Wo ist Miss Whitney?“, fragte sie den Stalljungen, der gerade einen rotbraunen Wallach striegelte.

„Da drin, Miss.“ Er deutete auf eine Tür, und selbst in dem gedämpften Licht bemerkte Emily, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

Verwirrt klopfte sie an die von ihm bezeichnete Tür und trat ein. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erstarren: Whitney Allison Stones lange Beine steckten in einer derben braunen Reithose, die sich aufreizend eng um die schmalen Hüften schmiegte und in der schlanken Taille von einem Stück Tau festgehalten wurde. Am Oberkörper trug Whitney ein dünnes Hemdchen.

„So gekleidet wirst du doch nicht da hinausgehen wollen?“, brachte Emily hervor.

Whitney warf ihrer Freundin einen Blick über die Schulter zu. „Natürlich nicht. Eine Bluse werde ich auch noch anziehen.“

„Aber … aber warum?“, wollte Emily fassungslos wissen.

„Weil ich es nicht für anständig halte, im Unterhemd zu erscheinen, du Dummerchen“, entgegnete Whitney fröhlich, zerrte das saubere Hemd des Stalljungen von einem Haken und schlüpfte hinein.

„Anständig? Es ist absolut unanständig, Männerhosen zu tragen, und das weißt auch du ganz genau.“

„Stimmt. Aber ich kann das Pferd nicht gut ohne Sattel reiten und dabei riskieren, dass mir die Röcke über den Kopf geblasen werden, nicht wahr?“, widersprach Whitney unbekümmert und steckte ihre lange Haarpracht im Nacken zu einem Knoten fest.

„Ohne Sattel? Du meinst doch nicht etwa, dass du im Herrensitz reiten willst? Dein Vater wird dich enterben, wenn du das noch einmal tust.“

„Keine Sorge, so dumm bin ich nicht. Obwohl ich nicht verstehe“, gab Whitney zu bedenken, „weshalb Männer breitbeinig auf einem Pferd sitzen dürfen, während wir, angeblich das schwächere Geschlecht, auf einer Seite hängen und um unser Leben fürchten müssen.“

Emily ließ sich nicht ablenken. „Was hast du dann vor?“

„Ich wusste gar nicht, was für eine neugierige junge Lady Sie sind, Miss Williams“, scherzte Whitney. „Aber um deine Frage zu beantworten: Ich werde auf dem Rücken des Pferdes stehen. Ich habe das auf dem Jahrmarkt gesehen und seitdem ständig geübt. Wenn Paul sieht, wie gut ich das kann, wird er …“

„Für verrückt wird er dich halten, Whitney! Und er wird glauben, dass du keinen Funken Anstand hast und nur wieder mal versuchen willst, seine Beachtung zu gewinnen.“ Als Emily sah, wie ihre Freundin eigensinnig das Kinn vorschob, änderte sie ihre Taktik. „Whitney, bitte … denke doch mal an deinen Vater.“

Whitney blickte aus dem kleinen Fenster zu den jungen Leuten auf der Wiese hinüber. „Vater wird sagen, dass ich ihn wie gewöhnlich enttäuscht habe“, bemerkte sie müde, „dass ich ihm und dem Andenken meiner Mutter nur Schande mache, und wie froh er ist, dass sie nicht erleben musste, was aus mir geworden ist. Dann wird er mir stundenlang erzählen, dass ich endlich eine perfekte Lady wie Elizabeth Ashton werden sollte.“

„Nun, wenn du Paul wirklich beeindrucken möchtest, könntest du es ja versuchen …“

Verzweifelt rang Whitney die Hände. „Ich habe mich ja bemüht. Ich habe diese fürchterlichen Rüschenkleider angezogen und mich darin geübt, stundenlang zu schweigen. Ich habe mit den Wimpern geklimpert, bis mir die Lider schlapp wurden.“

Emily unterdrückte ein Lächeln über Whitneys wenig schmeichelhafte Beschreibung von Elizabeth Ashtons sittsamem Gehabe. „Ich gehe und sage den anderen, dass du gleich kommst.“

Als Whitney erschien und das Pferd zu den Zuschauern führte, wurde sie mit entrüsteten Blicken und verächtlichem Kichern begrüßt. In einer stolzen Geste hob sie den Kopf, sah dabei allerdings verstohlen zu Paul hin. Missbilligend ließ er den Blick über ihre bloßen Füße und hosenbekleideten Beine hinauf bis zu ihrem Gesicht wandern. Obwohl Whitney bei diesem offensichtlichen Missfallen unsicher wurde, schwang sie sich resolut auf den Rücken des wartenden Pferdes.

Der Wallach fiel in den eingeübten Trab, und Whitney arbeitete sich langsam in eine stehende Haltung, wobei sie balancierend die Arme zur Seite streckte. Sie ritt immer wieder im Kreis herum, und obwohl sie ständig Angst hatte zu stürzen, wirkte sie sicher und anmutig.

Nach der vierten Runde wagte sie einen Blick auf die Zuschauer und registrierte deren schockierte und verächtliche Mienen. Paul stand halb im Schatten eines Baumes, und Eli­zabeth Ashton hing an seinem Arm. Doch Whitney sah das kaum merkliche Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckte. Als sie wieder vorbeiritt, grinste Paul ihr fröhlich zu. Plötzlich schien ihr, das wochenlange Training, der Muskelkater und die blauen Flecken seien nicht umsonst gewesen.

An einem Fenster des zweiten Stocks stand Martin Stone und beobachtete wie erstarrt die Vorführung, die seine Tochter gab. Hinter ihm meldete der Butler die Ankunft von Lord und Lady Gilbert.

Stone begrüßte seine Schwägerin und deren Gatten mit einem kurzen Nicken.

„Wie schön, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen, Martin“, log Lady Anne. Da Martin eisig schwieg, fuhr sie fort: „Wo ist denn Whitney? Wir freuen uns sehr darauf, sie zu treffen.“

Schließlich fand Martin die Sprache wieder. „Sie zu sehen?“, brauste er auf. „Madame, Sie brauchen nur aus diesem Fenster zu schauen.“

Verwirrt folgte Anne seiner Aufforderung. Unten auf der Wiese stand eine Gruppe junger Leute und sah einem schmalen Jungen zu, der anmutig auf einem trabenden Pferd balancierte.

„Was für ein geschickter junger Mann“, stellte sie fest und lächelte.

Martin Stone kehrte auf dem Absatz um und eilte zur Tür. „Wenn ihr eure Nichte begrüßen wollt, kommt mit.“

Anne bedachte ihn mit einem bitterbösen Blick und hängte sich dann bei ihrem Ehemann ein. Gemeinsam folgten sie Martin ins Freie.

Von ihrem Pferd aus beobachtete Whitney ihren Vater, wie er mit großen Schritten auf sie zueilte. „Bitte, mache keine Szene, Vater“, flehte sie, sobald er in Hörweite kam.

„Ich … eine Szene machen?“, schrie er zornig. Er griff nach den Zügeln und riss das trabende Pferd so plötzlich herum, dass Whitney das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Als sie sich hochrappelte, fasste ihr Vater sie grob am Arm und zerrte sie an seine Seite, „Dieses … Ding hier“, sagte er und schubste sie zu den Verwandten hin, „muss ich euch leider mitteilen, ist eure Nichte.“

Whitney hörte das Kichern der sich rasch zerstreuenden Gruppe und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Wie geht es Ihnen, Tante? Onkel?“ Wie gewohnt griff Whitney nach ihrem Rock, wurde sich bewusst, dass er nicht da war, und führte ohne ihn einen komisch anmutenden Knicks aus. Sie sah die gerunzelte Stirn ihrer Tante und reckte trotzig das Kinn vor. „Sie können versichert sein, dass ich mich während der Woche Ihres Besuchs bemühen werde, nicht mehr unangenehm aufzufallen.“

„Für die Woche unseres Besuchs?“, wiederholte Lady Gilbert. Doch Whitney war zu sehr damit beschäftigt, Paul zu beobachten, wie er Elizabeth in seinen Einspänner half, um die Überraschung ihrer Tante zu bemerken.

„Auf Wiedersehen, Paul“, rief sie und winkte ungestüm. Er wandte sich um und hob wortlos den Arm zum Abschied.

Anne folgte Whitney zum Haus, wobei sie mit den widersprüchlichsten Gefühlen kämpfte. Sie war wütend auf Martin Stone, weil er seine Tochter vor den anderen gedemütigt hatte, und ein wenig benommen vom Anblick ihrer Nichte, die auf dem Rücken eines Pferdes Kunststückchen vollführte und dabei Männerhosen trug … Und sie stellte staunend fest, dass das Mädchen eine Schönheit zu werden versprach.

Sie war noch ein wenig dünn, doch selbst in diesem Augenblick der Schande hielt sie die Schultern gerade, und ihr Gang war von natürlicher Anmut. Anne lächelte in sich hinein, als sie die sanft gerundeten Hüften und die schlanke Taille betrachtete, die von der derben braunen Reithose so unanständig und doch vorteilhaft betont wurden. Whitneys Augen leuchteten je nach Laune in den schönsten Grüntönen und waren von langen, seidigen Wimpern umrahmt. Und das Haar … dicht, lang und von sattem Mahagonibraun. Es brauchte nur vernünftig geschnitten und gebürstet zu werden, um wie Kupfer zu schimmern.

Sobald sie das Haus betraten, murmelte Whitney eine Entschuldigung und flüchtete in ihr Zimmer, wo sie sich auf einen Stuhl hockte und verdrießlich über die entwürdigende Szene nachdachte, deren Zeuge Paul eben geworden war. Zweifellos waren Onkel und Tante ebenso entsetzt über ihr Benehmen wie ihr Vater, und Whitneys Wangen glühten vor Scham bei der Vorstellung, wie sehr sie sie verachten mussten.

„Whitney?“, flüsterte Emily und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. „Ich bin über die Hintertreppe heraufgekommen. Ist dein Vater ärgerlich?“

„Bitterböse“, bestätigte Whitney. „Ich glaube, heute habe ich alles kaputtgemacht, nicht? Alle haben mich ausgelacht, und Paul hörte es. Nun, da Elizabeth siebzehn ist, wird er wohl um ihre Hand anhalten, bevor er überhaupt erkannt hat, dass er mich liebt.“

„Dich liebt?“, wiederholte Emily verblüfft. „Paul meidet dich wie die Pest! Und wer könnte es ihm auch verübeln nach all den peinlichen Situationen, in die du ihn schon gebracht hast?“

„Es muss einen Weg geben … aber entführen kann ich ihn nicht. Ich …“ Die Unverfrorenheit ihrer Idee brachte sie selbst zum Lachen. „Ich könnte ein Rad an Pauls Kutsche lockern, weißt du, so, dass es sich erst später löst. Dann würde ich ihn bitten, mich irgendwohin zu bringen. Bis wir dann zurückgelaufen wären oder Hilfe käme, wäre es spät in der Nacht. Ich wäre kompromittiert, und er müsste mich heiraten.“ Ohne Emilys entsetzten Gesichtsausdruck zu beachten, fuhr Whitney fort: „Stell dir nur mal den Skandal vor! Junge Lady entführt Gentleman, ruiniert dadurch seinen und ihren Ruf, sodass sie gezwungen sind zu heiraten! Was für einen Roman man darüber schreiben könnte“, fügte sie, ziemlich beeindruckt von ihrer eigenen Genialität, hinzu.

„Ich gehe jetzt“, meinte Emily. An der Tür zögerte sie und drehte sich noch einmal zu Whitney um. „Dein Onkel und deine Tante haben alles gesehen. Wie willst du ihnen das mit den Hosen und dem Pferd erklären?“

Whitneys Miene verfinsterte sich. „Gar nichts werde ich sagen, es nützt ja doch nichts. Aber für die Dauer ihres Aufenthalts hier werde ich das sittsamste, kultivierteste, zarteste weibliche Wesen sein, das man sich nur vorstellen kann.“ Emily blickte sie zweifelnd an. „Zudem beabsichtige ich, außer zu den Mahlzeiten unsichtbar zu bleiben“, fügte Whitney deshalb hinzu. „Ich denke, drei Stunden am Tag kann ich mich so perfekt wie Elizabeth benehmen.“

Whitney hielt ihr Versprechen. Beim Abendessen, nachdem Lord Gilbert eine haarsträubende Geschichte über das Leben in Beirut erzählt hatte, bemerkte sie nur: „Wie interessant, Onkel.“ Dabei hätte sie ihn am liebsten mit Fragen überhäuft. Am Schluss des Berichts ihrer Tante über das aufregende Leben in Paris murmelte sie erneut: „Wie inte­ressant, liebe Tante.“ Kaum war die Mahlzeit beendet, entschuldigte sich Whitney und verschwand.

Ihre Bemühungen, entweder sittsam oder abwesend zu sein, waren so erfolgreich, dass Anne sich nach drei Tagen zu fragen begann, ob sie sich in ihrer Nichte grundlegend getäuscht hatte.

Am vierten Tag, nachdem Whitney gefrühstückt und das Haus verlassen hatte, bevor die anderen Bewohner überhaupt aufgestanden waren, wollte Anne die Wahrheit wissen.

Sie durchsuchte das Haus, konnte Whitney jedoch nirgends entdecken. Weder war sie im Garten, noch hatte sie ein Pferd aus dem Stall geholt. Anne sah sich um und versuchte sich vorzustellen, wo eine Fünfzehnjährige den Tag verbringen würde.

Auf dem Kamm eines Hügels, der das Gut überragte, erkannte sie einen leuchtend gelben Fleck. „Da bist du ja!“, murmelte sie vor sich hin, öffnete ihren Sonnenschirm und machte sich auf den Weg.

Whitney sah ihre Tante erst, als es zu spät war, um zu entkommen. Hätte sie sich nur ein besseres Versteck ausgesucht! Worüber sollte sie sich bloß mit ihr unterhalten? Kleider? Sie hatte keine Ahnung von Mode und interessierte sich nicht im geringsten dafür. Was sie auch trug, Whitney sah immer gleichermaßen unattraktiv darin aus. Was konnte ein Kleid auch schon am Aussehen eines Mädchen verbessern, das Katzenaugen, schmutzig braunes Haar und Sommersprossen auf der Nase hatte? Außerdem war sie zu groß, zu dünn, und wenn sie einen Busen bekommen sollte, dann ließ sich die Natur jedenfalls viel Zeit damit.

Außer Atem erklomm Anne den steilen Pfad und ließ sich, oben angekommen, neben Whitney auf die Decke fallen. „Ich hatte Lust auf … einen gemütlichen Spaziergang“, schwindelte sie. Dann fiel ihr das ledergebundene Buch auf, das mit dem Deckblatt nach unten auf der Decke lag, und entschied sich für Literatur als Gesprächsthema. „Ist das ein Liebesroman?“, fragte sie.

„Nein, Tante“, antwortete Whitney bescheiden, nahm das Büchlein und verdeckte den Titel sorgfältig mit der Hand.

„Ich habe gehört, die meisten jungen Damen schwärmen für Liebesromane“, versuchte es Anne noch einmal.

„Ja, Tante“, stimmte Whitney höflich zu.

„Einmal habe ich einen gelesen“, bemerkte Anne, während sie im Geist nach einem anderen Thema suchte, das sie mit Whitney ins Gespräch bringen konnte. „Ich mag keine Heldin, die zu vollkommen ist, und auch keine, die ständig in Ohnmacht fällt.“

Whitney war so verblüfft, dass sie offenbar nicht die einzige Frau in England war, die diese seichten Romane nicht verschlang, dass sie augenblicklich ihren Entschluss vergaß, nur einsilbige Antworten zu geben.

„Und wenn die Heldinnen nicht in Ohnmacht fallen“, ergänzte sie, und ihr Gesicht leuchtete auf, „dann liegen sie irgendwo mit einer Flasche Riechsalz unter der Nase und schmachten nach einem zaghaften Gentleman, der nicht den Mut aufbringt, um sie anzuhalten. Ich könnte nie einfach nur daliegen und nichts tun.“

Whitney warf ihrer Tante einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob sie schockiert war, doch die betrachtete sie lächelnd. „Könnte dir ein Mann etwas bedeuten, der vor dir auf die Knie fällt und sagt: ‚Oh Clarabel, deine Lippen sind rot wie Rosen, und deine Augen leuchten wie zwei Himmelssterne?‘ Spätestens in dem Augenblick würde ich mich auf das Riechsalz stürzen!“, endete Whitney mit einem verächtlichen Schnauben.

„Ich auch“, stimmte Lady Anne zu und lachte. „Was liest du denn?“ Sie zog das Buch unter Whitneys flacher Hand hervor und starrte auf den goldgeprägten Titel. „Die Odyssee?“, fragte sie ungläubig. „Aber das ist Griechisch! Du liest doch bestimmt nicht Griechisch?“

Whitney nickte und wurde rot vor Verlegenheit. Nun musste ihre Tante sie auch noch für einen Blaustrumpf halten. „Außerdem Latein, Italienisch, Französisch und ein bisschen Deutsch“, gestand sie.

„Du meine Güte“, flüsterte Anne. „Wo hast du denn das gelernt?“

„Entgegen der Meinung meines Vaters bin ich nicht dumm, und ich plagte ihn so lange, bis er mir Hausunterricht in Sprachen und Geschichte erlaubte.“ Whitney schwieg. Wie sehr hatte sie damals gehofft, ihr Vater würde sie vielleicht lieben, wenn sie fleißig studierte und mehr wie ein Sohn würde.

„Du scheinst dich für deine Bildung zu schämen, obwohl du vielmehr stolz darauf sein solltest.“

„Es wird doch für Zeitverschwendung gehalten, eine Frau in diesen Fächern zu unterrichten“, entgegnete Whitney „Und außerdem habe ich keine weiblichen Talente, auf die ich stolz sein könnte. Ich kann keinen geraden Stich nähen, und wenn ich singe, fangen die Hunde im Stall zu heulen an. Mr Twittsworthy, der Musiklehrer, sagte zu meinem Vater, dass er von meinem Klavierspiel Magenschmerzen bekommt. Ich kann nichts von dem, was man von Mädchen erwartet, und was noch schlimmer ist, ich verabscheue es auch.“

Nun hatte sie sich die Zuneigung ihrer Tante endgültig verscherzt, das wusste Whitney. Sie sah Anne ängstlich an. „Vater hat dir bestimmt schon alles von mir erzählt. Ich bin eine große Enttäuschung für ihn. Er möchte mich reizend und sittsam und still wie Elizabeth Ashton. Ich versuche ja, so zu sein, aber es gelingt mir einfach nicht.“

Anne schloss das liebenswerte, lebhafte, verunsicherte Kind ihrer Schwester sofort ins Herz. Sanft legte sie Whitney die Hand an die Wange. „Dein Vater wünscht sich eine Tochter, die wie ein Halbedelstein ist – empfindlich, blass, leicht zu formen. Stattdessen ist seine Tochter wie ein Diamant, voll Funken sprühenden Lebens, und damit kann er nichts anfangen. Statt den Wert und die Seltenheit seines Juwels zu würdigen, statt es ein wenig zu polieren und dann glitzern zu lassen, beharrt er darauf, sie in einen gewöhnlichen Halbedelstein zu verwandeln.“

Whitney selbst neigte eher dazu, sich als ein Stückchen Kohle zu betrachten. Nachdem sich ihre Tante verabschiedet hatte, nahm sie ihr Buch wieder auf, doch bald wanderten ihre Gedanken zu Paul.

Als Whitney an dem Abend ins Speisezimmer kam, war die Atmosphäre eigenartig gespannt. Niemand achtete auf sie. „Wann beabsichtigst du ihr zu sagen, dass sie mit uns nach Frankreich kommt, Martin?“, verlangte ihr Onkel ärgerlich zu wissen. „Oder hast du vor, bis zum Tag unserer Abreise zu warten und das Kind dann einfach zu uns in die Kutsche zu stecken?“

Die Erde schien sich plötzlich zu drehen, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte Whitney, sie würde ohnmächtig. „Verreise ich, Vater?“, fragte sie möglichst gleichgültig.

Alle fuhren herum und starrten sie an. Die Miene ihres Vaters drückte Ärger aus. „Nach Frankreich“, erwiderte er grob. „Du wirst bei Onkel und Tante leben, die sich bemühen werden, eine Lady aus dir zu machen.“

Whitney mied die Blicke der anderen, damit sie nicht in Tränen ausbrach. „Hast du meinen Onkel und meine Tante über das Risiko aufgeklärt, das sie eingehen?“, fragte sie und konzentrierte ihre ganze Kraft darauf, ihren Vater nicht merken zu lassen, was er ihr gerade angetan hatte.

„Er hat vielleicht vergessen zu erwähnen, dass ihr euren guten Ruf aufs Spiel setzt, wenn ihr mich in euer Haus aufnehmt. Wie er euch erklären wird, habe ich einen schlechten Charakter und fürchterliche Manieren.“

Ihre Tante beobachtete sie mitleidvoll, doch der Gesichtsausdruck ihres Vaters war hart wie Stein. „Oh Papa“, flüsterte sie verzweifelt, „verachtest du mich tatsächlich? Hasst du mich so sehr, dass du mich nicht mehr in deiner Nähe ertragen kannst?“ Whitney kämpfte mit den Tränen. „Wenn ihr … mich bitte entschuldigen wollt … Ich habe heute Abend keinen Hunger.“

„Wie konntest du nur!“, rief Anne aus, nachdem Whitney fort war, und starrte Martin Stone wütend an. „Du bist der herzloseste, gefühlloseste … Es wird uns ein Vergnügen sein, das Kind aus deinen Klauen zu befreien.“

„Du bemühst dich um eine zu kultivierte Ausdrucksweise, Anne“, entgegnete Martin. „Ich versichere dir, was sie so erschreckte, war nicht die Aussicht, von mir getrennt zu werden. Ich habe lediglich ihren Plänen, sich weiterhin wegen Paul Sevarin zum Narren zu machen, ein vorzeitiges Ende bereitet.“

Die Neuigkeit, dass Martin Stones Tochter nach Frankreich geschickt wurde, breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Whitney Stone hatte den Landadeligen der Gegend immer wieder Stoff für neuen Klatsch geliefert. Nun frischte man die alten Geschichten noch einmal auf und mutmaßte über den Grund, weshalb sich Martin Stone zu diesem Schritt entschlossen hatte. Einig war man sich darüber, dass Paul Sevarin ungemein erleichtert sein würde, das Mädchen endlich loszuwerden.

Während der nächsten drei Tage kamen immer wieder Nachbarn von Martin Stone vorbei, unter dem Vorwand, sich von Whitney verabschieden zu wollen.

Am Abend vor der Abreise nach Frankreich saß Anne Gilbert im Salon und ließ einen dieser Besuche über sich ergehen. Ihr Lächeln war eher formell als freundlich, als sie den drei Damen und ihren Töchtern zuhörte, wie sie mit krankhaftem Vergnügen von Whitneys jugendlichen Missetaten erzählten. Unter dem Vorwand freundschaftlicher Sorge machten sie ihrer Meinung Luft, dass Whitney in Paris Schande über sie bringen, Annes geistige Gesundheit zerstören und wahrscheinlich auch Edwards Diplomatenkarriere ruinieren würde.

Als sie sich endlich verabschiedet hatten, sank Anne erleichtert in einen Sessel. Martin Stone hatte seine Tochter zur Zielscheibe öffentlichen Spotts gemacht, indem er sie ständig in Gegenwart anderer tadelte. Anne brauchte Whitney nur von diesen engstirnigen, gehässigen Nachbarn fortzubringen und nach Paris mitzunehmen, wo die Atmosphäre nicht so erstickend war und sich ihre Nichte frei entfalten konnte.

Am Eingang zum Salon räusperte sich der Butler. „Mr Sevarin ist hier, Mylady.“

„Führen Sie ihn bitte herein“, verlangte Anne. Ihre Freude über Pauls Besuch erfuhr jedoch einen Dämpfer, denn er erschien in Begleitung einer reizenden Blondine. Anne fand es ziemlich gefühllos von dem jungen Mann, zum Abschied von Whitney ein anderes Mädchen mitzubringen.

Sie musterte Paul Sevarin kritisch. Er war groß, sah gut aus und hatte den Charme eines reichen, wohlerzogenen Landedelmanns. „Guten Abend, Mr Sevarin“, begrüßte sie ihn mit kühler Förmlichkeit. „Whitney ist im Garten.“

Paul schien den Grund ihrer Reserviertheit zu ahnen. „Das weiß ich“, erwiderte er, „doch hatte ich gehofft, Sie würden sich mit Elizabeth unterhalten, während ich mich von Whitney verabschiede.“

Anne war beschwichtigt. „Mit großem Vergnügen.“

Whitney starrte missmutig vor sich hin. Ihre Tante war im Salon, wo man sie zweifellos mit Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Nichte und düsteren Voraussagen für die Zukunft bombardierte. Emily hielt sich mit ihren Eltern in London auf, und Paul … Wahrscheinlich feierte er Whitneys Abreise mit seinen Freunden.

Als hätte sie ihn herbeigeschworen, hörte sie plötzlich seine tiefe Stimme hinter sich. „Hallo, hübsches Mädchen.“

Whitney fuhr herum. Er stand lässig an einen Baum gelehnt. Im Mondlicht hob sich sein schneeweißes Hemd deutlich von der fast tiefdunklen Jacke ab. „Wie ich höre, verlässt du uns“, sagte er leise.

Stumm nickte Whitney. Sie versuchte, sich jeden Zug seines schönen, ebenmäßigen Gesichts für immer einzuprägen. „Wirst du mich vermissen?“, fragte sie geradeheraus.

„Natürlich“, erwiderte er lachend. „Ohne dich wird es hier sehr langweilig werden, junge Lady.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen“, flüsterte Whitney und senkte den Blick. „Wer wird aus dem Baum purzeln und dein Picknick mit einer jungen Dame ruinieren, wer wird dein Pferd so erschrecken, dass es dich abwirft und du dir das Bein brichst, wer …“

Paul unterbrach ihre Selbstanschuldigungen. „Niemand.“

„Wirst du auf mich warten?“, fragte Whitney hoffnungsvoll.

„Bei deiner Rückkehr werde ich hier sein“, antwortete er ausweichend.

„Du weißt, dass ich nicht davon spreche!“, beharrte Whitney. „Ich meine, könntest du vielleicht mit dem Heiraten warten, bis ich …“ Verlegen brach sie ab. Warum musste sie sich ihm gegenüber immer so benehmen? Weshalb konnte sie nicht kühl flirten, wie es die älteren Mädchen taten?

„Whitney“, sagte Paul bestimmt, „du wirst fortgehen und mich vergessen. Eines Tages wirst du dich fragen, warum du mich nur gebeten hast, auf dich zu warten.“

„Das frage ich mich jetzt schon“, gab sie kläglich zu.

Paul fasste sie sanft am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Ich werde hier sein“, versicherte er lächelnd, „und neugierig darauf sein, wie du als Erwachsene bist.“

Fasziniert schaute Whitney ihn an – und dann beging sie den letzten, den größten Fehler: Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn auf den Mund. Leise fluchend befreite Paul sich aus der Umklammerung. Tränen stiegen Whitney in die Augen. „Es tut mir so leid, Paul. Das … das hätte ich nicht tun sollen.“

„Nein“, stimmte er zu, „das hättest du nicht tun sollen.“ Ärgerlich zog er ein Schächtelchen aus der Tasche und schob es ihr unsanft in die Hand. „Ich habe dir ein Abschiedsgeschenk mitgebracht.“

Augenblicklich hob sich ihre Stimmung. „Wirklich?“ Mit zitternden Fingern ließ sie den Deckel aufschnappen und schaute verzückt den kleinen Jadeanhänger an, der an einem dünnen Goldkettchen baumelte. „Oh Paul“, flüsterte sie, und ihre Augen strahlten, „das ist das schönste, das wundervollste … ich werde es ewig in Ehren halten.“

„Es ist ein Andenken“, meinte er vorsichtig. „Mehr nicht.“

Whitney hörte ihn kaum, als sie ehrerbietig den Anhänger berührte. „Hast du ihn selbst ausgesucht?“

Paul runzelte unentschlossen die Stirn. Tatsächlich hatte er den Juwelier im Dorf gebeten, etwas für eine Fünfzehnjährige auszuwählen. Bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, was sich in dem Etui befand. Doch weshalb sollte er Whitney das verraten? „Ich habe es selbst ausgesucht, als freundschaftliches Geschenk“, sagte er schließlich.

„Aber ich möchte dich nicht nur als Freund“, platzte Whitney heraus, riss sich dann aber wieder zusammen. „Deine Freundin zu sein, ist in Ordnung … vorerst“, fügte sie seufzend hinzu.

„Für Freunde ist es wohl vollkommen anständig, einen Abschiedskuss auszutauschen“, meinte er fröhlich.

Whitneys Gesicht leuchtete freudig auf. Sie presste die Augen fest zu und spitzte erwartungsvoll die Lippen, doch Paul streifte nur ihre Wange. Als sie die Augen öffnete, verließ er bereits den Garten.

„Paul Sevarin“, flüsterte sie entschlossen, „in Frankreich werde ich mich völlig verändern, und wenn ich heimkehre, wirst du mich heiraten.“

FRANKREICH 1816 – 1820

Das eindrucksvolle Pariser Zuhause von Lord und Lady Gilbert lag hinter schmiedeeisernen Toren. Große Bogenfenster ließen viel Licht in die weitläufigen Räume; zarte Pastellfarben verliehen ihnen sonnige Eleganz. „Und das hier sind deine Zimmer, meine Liebe“, sagte Anne, als sie die Tür zu einer mit zartblauem Teppich ausgelegten Suite im Obergeschoss öffnete.

Wie gebannt stand Whitney auf der Schwelle und ließ den Blick über die herrliche Satinbettdecke mit einem Muster aus gelben, rosa und blauen Blumen zu der zierlichen Polsterbank gleiten, die mit dem gleichen Stoff überzogen war. In feinen Porzellanvasen standen Blumen in ähnlichen Farbtönen. Sprachlos sah Whitney ihre Tante an.

Anne wandte sich an den Diener, der Whitneys schweren Schrankkoffer auf der Schulter trug. „Hier hinein“, sagte sie und nickte in Richtung auf das wunderbare blaue Zimmer.

Glücklich seufzend nahm Whitney ihren Hut ab und setzte sich vorsichtig auf das blumengemusterte Sofa. In Paris, entschied sie, würde es himmlisch sein.

Die Parade der Besucher begann drei Tage später pünktlich um halb zwölf mit der Ankunft von Annes Kleidermacherin. Sie kam in Begleitung von drei Näherinnen, die unablässig über Mode und Stoffe redeten und Whitney von Kopf bis Fuß abmaßen.

Dreißig Minuten später marschierte Whitney mit einem Buch auf dem Kopf vor den kritischen Blicken einer molligen Dame auf und ab. Anne hatte ihr die fürchterliche Aufgabe übertragen, Whitney „gute Umgangsformen“ beizubringen.

„Ich bin schrecklich ungeschickt, Madame Froussard“, erklärte Whitney und errötete vor Verlegenheit, als ihr das Buch zum dritten Mal vom Kopf fiel.

„Aber nein!“, widersprach Madame Froussard. „Mademoiselle Stone hat natürliche Anmut und eine ausgezeichnete Haltung. Doch muss Mademoiselle lernen, nicht so zu gehen, als nehme sie an einem Wettlauf teil.“

Von dem Tanzlehrer, der Madame Froussard auf den Fersen folgte, wurde Whitney im Takt zu einem imaginären Walzer durchs Zimmer gewirbelt. „Nicht völlig hoffnungslos“, urteilte er dann. „Mit viel Übung.“

Der Französischlehrer, der zur Teezeit erschien, ließ gegenüber Lady Gilbert verlauten, er halte Whitney für „geeignet, mich zu unterrichten.“

Einige Monate lang kam Madame Froussard fünfmal pro Woche für zwei Stunden. Unter ihrer Anleitung arbeitete Whitney fleißig, um sich alles anzueignen, das helfen konnte, Pauls Gunst zu gewinnen. „Was lernst du eigentlich bei Madame Froussard?“, erkundigte sich Lord Edward eines Abends beim Essen.

Whitney sah ihn ratlos an. „Sie lehrt mich zu schlendern, statt zu galoppieren.“ Ihr Onkel lächelte ihr aufmunternd zu. Glücklich plapperte Whitney weiter. „Weißt du, ich habe immer geglaubt, zum richtigen Gehen benötige man lediglich zwei gesunde Beine!“

Von diesem Tag an wurden Whitneys lustige Anekdoten beim Abendessen ein erfreulicher Brauch. „Hast du jemals bemerkt, Onkel“, fragte sie ihn eines Abends munter, „dass es eine Kunst ist, sich in der Hoftracht umzudrehen?“

„Ich habe dabei nie Schwierigkeiten gehabt“, gab er gut gelaunt zurück.

„Wenn man es falsch macht“, erklärte sie mit gespieltem Ernst, „findet man sich in die Schleppe gewickelt wieder, die sich nämlich in eine Bandage verwandelt hat.“

Einen Monat später ließ sich Whitney auf ihren Stuhl gleiten und wedelte mit einem Fächer, wobei sie über seinen Rand hinweg ihren Onkel forschend ansah. „Ist dir zu heiß, meine Liebe?“, fragte Edward und freute sich schon auf das unvermeidliche Vergnügen.

„Ein Fächer ist nicht dazu da, sich zu kühlen“, erläuterte Whitney und klimperte so übertrieben kokett mit den Wimpern, dass Anne in Lachen ausbrach. „Mit einem Fächer flirtet man und beschäftigt die Hände auf anmutige Weise. Und man schlägt damit einem Gentleman auf den Arm, wenn er zu vorwitzig wird.“

Das Lachen verschwand aus Edwards Gesicht. „Welcher Gentleman hat sich zu viel herausgenommen?“, verlangte er zu wissen.

„Keiner, ich kenne doch noch gar keine Herren“, antwortete Whitney.

Anne beobachtete die beiden und lächelte zufrieden. Ihre Nichte hatte sich bei Onkel und Tante den Platz erobert, der einer Tochter gebührte.

Im folgenden Mai, dem Monat vor Whitneys offiziellem Debüt in der Gesellschaft, zog Edward eines Tages drei Eintrittskarten für die Oper hervor. Lässig warf er sie vor Whitney auf den Tisch und schlug vor, dass sie – falls ihr Stundenplan es zuließ – ihn und ihre Tante begleite. Vor einem Jahr noch wäre Whitney vor Freude ungestüm durchs Zimmer gehüpft, doch sie hatte sich verändert. Sie lächelte ihren Onkel strahlend an. „Nichts würde ich lieber tun.“

Als die drei an diesem Abend auf dem Weg ins Theater waren, bemerkte nur Anne die jüngeren Herren, die Whitney mit Blicken streiften und dann nochmals länger hinschauten. Whitneys Schönheit war noch nicht völlig aufgeblüht, doch schon jetzt zogen ihre lebhaften Züge die Aufmerksamkeit aller auf sich. Sie hatte eine Ausstrahlung, die ihr Temperament und ihre Lebenslust verrieten, und ihre Haltung drückte ruhige Gelassenheit aus.

In der konsulatseigenen Loge breitete Whitney den Rock ihres weißen Kleides mit den eisblauen Samtbändern an der hohen Taille und dem rüschenbesetzten Saum um sich. Dann nahm sie ihren elfenbeinfarbenen Fächer und beschäftigte ihre Hände, wie sie es von Madame Froussard gelernt hatte. Auf welch törichte Art sie doch früher versucht hatte, Paul und ihrem Vater zu gefallen!

Die Oper begann, und sofort vergaß Whitney alles um sich herum und verlor sich in der fesselnden Musik. Als sich die schweren Vorhänge schlossen, um einen Wechsel des Bühnenbildes zu gestatten, fand Whitney nur schwer in die Wirklichkeit zurück. Freunde der Gilberts waren in die Loge gekommen, und ihre Stimmen vermischten sich mit den Gesprächsfetzen und dem Lachen der anderen Theaterbesucher.

„Whitney“, sagte Lade Anne und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wende dich doch um, damit ich dich unseren lieben Freunden vorstellen kann.“

Gehorsam stand Whitney auf und wurde mit Monsieur und Madame DuVille bekannt gemacht. Sie begrüßten sie herzlich, doch ihre Tochter Therese, eine reizende Blondine in Whitneys Alter, musterte sie nur aufmerksam. Unter dem durchdringenden Blick des Mädchens fühlte Whitney ihre Sicherheit schwinden. „Gefällt dir die Oper?“, brachte sie schließlich hervor.

„Nein“, erwiderte Therese und zeigte zwei hübsche Grübchen beim Lachen, „weil ich kein Wort verstehe.“

„Whitney schon“, verkündete Lord Edward stolz. „Sie kann Italienisch, Griechisch, Latein und ein bisschen Deutsch!“

Am liebsten wäre Whitney im Boden versunken, denn die Prahlerei ihres Onkels hatte sie in den Augen der DuVilles wahrscheinlich zum Blaustrumpf abgestempelt. Sie musste sich zwingen, Thereses erschrockenem Blick nicht auszuweichen.

„Ich hoffe, du kannst nicht auch noch Klavier spielen und singen?“ Die zierliche Blondine zog einen bezaubernden Schmollmund.

„Oh nein“, versicherte Whitney hastig, „keines von beidem.“

„Wunderbar!“, erklärte Therese und setzte sich auf den Stuhl neben Whitney. „Das sind nämlich die einzigen Dinge, die ich gut kann. Freust du dich auf dein Debüt?“, plauderte sie munter.

„Nicht sehr“, gestand Whitney wahrheitsgemäß.

„Aber ich. Obwohl es für mich nur eine Formalität ist. Meine Ehe wurde schon vor drei Jahren vereinbart. Aber das macht überhaupt nichts, denn so kann ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, dir bei der Suche nach einem Ehemann zu helfen. Ich werde dir sagen, welche Herren akzeptabel sind und welche nur gut aussehen, aber kein Geld und keine Zukunftsaussichten haben. Wenn du dann eine hervorragende Partie gemacht hast, werde ich zu deiner Hochzeit kommen und allen sagen, dass ich dafür verantwortlich bin!“, endete sie mit einem unwiderstehlichen Lächeln.

Verwirrt von Thereses vorbehaltlosem Freundschaftsangebot lächelte Whitney zurück, doch das war alles, was Therese DuVille zur Ermutigung brauchte. „Meine Schwestern haben sich alle prächtig verheiratet. Nur ich bin noch übrig. Und natürlich mein Bruder Nicolas.“

Whitney unterdrückte die Frage, ob Nicolas DuVille in die Rubrik „akzeptabel“ oder „nur gut aussehend“ fiel, doch Therese gab ungefragt Auskunft. „Nicki ist überhaupt nicht akzeptabel. Das heißt doch, denn er ist sehr reich und sieht schrecklich gut aus. Die Sache ist nur, er ist nicht verfügbar, was meine ganze Familie zur Verzweiflung bringt. Nicki ist nämlich der einzige männliche Erbe und das älteste von uns fünf Geschwistern.“

„Er ist hoffentlich nicht leidend?“, fragte Whitney sittsam, obwohl die Neugier sie quälte.

„Nein“, antwortete Therese und kicherte. „Es sei denn, man betrachtet ungeheure Arroganz als Leiden. Nicolas hat natürlich jedes Recht, so zu sein, zumal die Frauen ihm ständig nachlaufen. Mama sagt, wenn die Frauen um die Hand eines Mannes anhalten dürften, dann hätte Nicolas mehr Heiratsanträge als wir vier Mädchen zusammen!“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, bemerkte Whitney lachend. „Mir scheint er völlig abscheulich.“

„Charme“, erklärte Therese ernst, „Nicolas hat Charme.“ Nachdenklich schwieg sie einen Augenblick. „Schade, dass Nicki so schwierig ist“, fügte sie hinzu, „denn wenn er an deinem Debüt teilnehmen und dir besondere Aufmerksamkeit zeigen würde, wärst du augenblicklich ein Erfolg!“ Therese seufzte. „Aber nichts in der Welt kann ihn dazu bringen, einen Debütantinnenball zu besuchen. Trotzdem werde ich ihm von dir erzählen. Vielleicht hilft er uns.“

Nur die Höflichkeit hielt Whitney davon ab, zu sagen, sie hoffe, dass sie Thereses arrogantem Bruder niemals begegnen werde.

2. KAPITEL

Am Tag vor Whitneys offiziellem Debüt traf ein Brief von Emily Williams ein. Sie berichtete, Paul habe sich Besitz auf den Bahamas gekauft und plane, dort ein Jahr zu verbringen. Whitney konnte sich nicht vorstellen, dass Paul eine dunkelhäutige Einheimische zur Frau nahm. Das bedeutete, sie hatte ein Jahr Zeit, sich auf ihre Heimkehr vorzubereiten. Ein ganzes Jahr ohne die Sorge, Paul könne inzwischen heiraten.

Whitney machte es sich auf einem rosa Satinsofa im Salon gemütlich und las glücklich noch einmal Emilys Brief. Sie war so versunken, dass sie nicht bemerkte, wie jemand sie beobachtete.

Nicolas DuVille stand in der Tür und hielt die Notiz in Händen, die er im Auftrag seiner Schwester Therese unbedingt persönlich überbringen sollte. Da Therese im vergangenen Monat auf unzählige Arten versucht hatte, ihn mit Miss Stone bekannt zu machen, zweifelte er keinen Augenblick lang, dass es sich bei dem Briefchen um eine zwischen den beiden Mädchen abgemachte Sache handelte.

Da Nicki Erfahrung in solchen Dingen hatte, wusste er, dass er Whitneys romantische Träume in Bezug auf ihn im Keim ersticken konnte, indem er das junge Mädchen so einschüchterte, dass es schließlich froh sein würde, ihn wieder gehen zu sehen.

Ungerührt betrachtete er die ergreifende Szene, die Miss Stone offensichtlich im Voraus geplant hatte. Sonnenlicht strömte durch das Fenster neben ihr und ließ ihr dunkles Haar aufleuchten. Eine Locke hatte sie um den Zeigefinger gewickelt, während sie vorgab, in ihren Lesestoff vertieft zu sein. Ihr gelbes Vormittagsgewand war in anmutige Falten gelegt, die Füße hatte Whitney untergeschlagen. Sie hatte ein klares Profil, die langen Wimpern vibrierten kaum merklich, und ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. Nicolas trat ins Zimmer. „Ein sehr charmantes Bild, Mademoiselle, mein Kompliment“, stellte er in unverschämtem Tonfall fest.

Erschrocken schaute Whitney auf und legte Emilys Brief zur Seite, bevor sie sich erhob. Unsicher blickte sie den knapp dreißigjährigen Mann an, der sie ausgiebig betrachtete. Er war unbestreitbar gut aussehend mit seinem schwarzen Haar und den goldgefleckten braunen Augen.

„Haben Sie sich genügend an meinem Anblick erbaut?“, erkundigte er sich grob.

Whitney erkannte, dass sie ihn tatsächlich angestarrt hatte, und riss sich zusammen. „Wollen Sie zu meiner Tante?“, fragte sie und deutete auf den Umschlag in seiner Hand.

Zu Whitneys Erstaunen reichte er ihr das Papier. „Ich bin Nicolas DuVille, und Sie haben mich ja wohl erwartet. Deshalb können wir auf Ihre gespielte Überraschung ruhig verzichten, meinen Sie nicht auch?“

Starr vor Schrecken stand Whitney da, während der Mann sie gemächlich von Kopf bis Fuß taxierte. Bildete sie sich das nur ein, oder ließ er den Blick tatsächlich auf ihrem Busen verweilen? Ungeniert spazierte er nun um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten, als wäre sie ein Pferd, das er zu kaufen erwog. „Das können Sie sich sparen“, meinte er, als Whitney nervös das Briefchen öffnete. „Darin steht, dass Therese ihr Armband hier vergessen hat, doch Sie und ich wissen, dass das nur ein Vorwand ist, damit wir uns kennenlernen.“

Whitney war gleichzeitig verwirrt, verlegen, belustigt und beleidigt. So abscheulich hatte sie sich Thereses Bruder nun doch nicht vorgestellt.

„Tatsächlich“, kommentierte er, indem er vor ihr stehen blieb, „sind Sie ganz anders, als ich erwartet habe.“ Dabei schwang so etwas wie zögernder Beifall in seiner Stimme.

„Nicolas!“ Tante Annes freudige Begrüßung enthob Whitney einer Antwort. „Wie schön, Sie zu sehen. Ich habe Sie schon erwartet. Eines unserer Mädchen hat Thereses Armband unter einem Sofakissen gefunden. Der Verschluss ist beschädigt. Ich hole es Ihnen“, sagte sie und eilte aus dem Zimmer.

Ersehrocken blickte Nicki zu Whitney hinüber. Diese genoss sein Unbehagen sichtlich. In Anbetracht seiner vorherigen Grobheit fand Nicki, dass nun höfliche Konversation von ihm erwartet wurde. Er griff nach einem Büchlein, das auf dem kleinen Beistelltisch lag, und überflog den Titel des Anstandsbuches. „Lernen Sie gutes Benehmen, Mademoiselle?“, erkundigte er sich.

„Ja“, entgegnete Whitney schlagfertig, „möchten Sie sich das Buch vielleicht ausleihen?“

Nicki bedachte sie mit einem bewundernden Lächeln. „Ich gebe zu, dass mein Verhalten eine Entschuldigung erfordert, Mademoiselle“, gab er zu. „Würden Sie mich morgen Abend mit einem Tanz beehren?“

Whitney zögerte überrascht.

Nicolas missdeutete ihr Schweigen als Eitelkeit und zuckte die Schulter. „Aus Ihrer Unschlüssigkeit entnehme ich, dass alle Ihre Tänze bereits versprochen sind“, vermutete er. „Vielleicht ein andermal.“

Whitney verstand, dass er seine Einladung wieder zurückzog, und kam zu dem Schluss, dass er noch viel scheußlicher war, als sie ihn zu Anfang eingeschätzt hatte. „Keiner meiner Tänze ist vergeben“, erläuterte sie mit schonungsloser Offenheit. „Wissen Sie, Sie sind der erste Gentleman, den ich in Paris kennenlerne.“

Ihre absichtliche Betonung des Wortes „Gentleman“ entging Nicki nicht, und er begann plötzlich zu lachen.

„Hier ist das Armband“, sagte Lady Gilbert, die in diesem Moment zurückkam. „Und Nicolas, erinnern Sie bitte Therese daran, dass der Verschluss repariert werden muss.“

Nicki nahm das Schmuckstück und verabschiedete sich. Er stieg in die Kutsche und befahl dem Diener, ihn zu seiner Mutter zu fahren. Dann lehnte er sich in die Lederpolster zurück.

Er konnte nicht begreifen, wie Whitney Stone und seine klatschhafte Schwester dicke Freundinnen hatten werden können, denn sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Therese war ein hübsches, süßes Ding, hatte aber keine verborgenen Tiefen, womit sie einen Mann hätte faszinieren können.

Whitney Stone dagegen war voller Kontraste und schien ihm sehr verheißungsvoll. Für eine Siebzehnjährige hatte sie seinen Spott erstaunlich gefasst über sich ergehen lassen.

In ein paar Jahren wird sie eine faszinierende Frau sein, dachte Nicolas. Es wäre eine Schande, ein so rares Juwel wie sie auf dem überfüllten Debütantinnenball in den Hintergrund zu verbannen, nur weil sie in Frankreich niemand kannte.

Prächtige Wandteppiche schmückten eine Seite des riesigen Ballsaals; die gegenüberliegende Wand war spiegelverkleidet und warf das Licht unzähliger Kerzen in den glitzernden Kronleuchtern an der Decke zurück. Nervös studierte Whitney ihre Erscheinung in einem Spiegel.

Ihr Ballkleid aus weißer Seide war mit breiten Rüschen besetzt, die stellenweise zusammengerafft und mit blassroten Seidenrosen verziert waren. Ebensolche Rosen steckten in ihrer Lockenpracht. Ich sehe bedeutend ruhiger aus, als ich mich fühle, dachte Whitney.

„Es wird wundervoll, du wirst schon sehen“, meinte Tante Anne.

Davon war Whitney gar nicht überzeugt. Wie konnte sie sich mit den strahlend schönen Blondinen und Brünetten messen, die sich gewandt mit aufmerksamen jungen Herren unterhielten?

Therese und ihre Mutter trafen erst kurz vor dem musikalischen Auftakt ein. „Ich habe eine großartige Neuigkeit“, verkündete Therese, die in ihrem weißen Spitzenkleid und mit dem elegant gelockten, hochgesteckten blonden Haar wie ein Zuckerpüppchen aussah. „Nicki kommt heute Abend und bringt drei seiner Freunde mit. Er setzte in einem Würfelspiel fünfhundert Francs gegen zwei Stunden ihrer Zeit, und sie haben verloren. Jetzt müssen sie mit dir tanzen …“ Sie brach ab und hob entschuldigend eine Hand, bevor sie einen anmutigen Knicks vor dem jungen Mann machte, der sie zum Tanz aufforderte.

Whitney hatte sich noch nicht von ihrer Verlegenheit über diese Bemerkung erholt, als die Musiker zum ersten Tanz aufspielten und die Debütantinnen von ihren Partnern auf die Tanzfläche geführt wurden. Jedoch nicht alle … Whitney spürte, wie ihr Blut in die Wangen schoss. Sie hatte gewusst, dass sie möglicherweise nicht sofort um einen Tanz gebeten würde, doch hatte sie nicht erwartet, sich so elend auffällig vorzukommen, wie sie da bei ihrer Tante und Madame DuVille einfach stehen gelassen wurde.

Therese tanzte auch die zweite und dritte Runde, doch Whitney wurde immer noch nicht aufgefordert. Als die vierte Runde begann, konnte sie die Demütigung nicht länger ertragen. Eben wollte sie sich bei Tante Anne erkundigen, wo sie sich frisch machen konnte, als es einen Tumult gab und sie, wie alle anderen, neugierig wurde.

Nicolas DuVille und drei weitere Herren standen unter dem Bogen am Saaleingang, ohne sich um die Aufmerksamkeit zu kümmern, die man ihnen entgegenbrachte. Voll banger Ahnung beobachtete Whitney, wie Nicolas DuVille die kichernden Debütantinnen und jungen Dandys musterte, bis sein Blick schließlich an ihr hängen blieb. Er nickte leicht zur Begrüßung und kam mit seinen Freunden auf sie zu.

Am liebsten hätte sich Whitney hinter ihrer Tante versteckt. Sie wollte keine zweite Konfrontation mit Nicolas DuVille riskieren. Ihr Stolz und Selbstvertrauen lagen bereits in Scherben, und es vergrößerte ihr Unbehagen nur, dass Nicolas in seinem schwarzen Abendanzug so ungemein weltmännisch und elegant wirkte.

Madame DuVille lachte überrascht, als ihr Sohn sie begrüßte. „Nicki, ich könnte nicht erstaunter sein, wenn der Teufel persönlich hereinspaziert käme!“

„Dankeschön, Mama“, entgegnete er trocken, indem er sich knapp verbeugte. Dann wandte er sich Whitney zu. „Schauen Sie nicht so verblüfft drein, weil ich Sie mit meiner Aufmerksamkeit beehre, Mademoiselle“, meinte er ein wenig spöttisch, indem er ihre Hand ergriff und zu einem formellen Kuss an die Lippen hob. „Sie sollten so tun, als hätten Sie nichts anderes erwartet.“

Erneut setzte die Musik ein, und ohne Whitney zu fragen, nahm Nicki sie einfach am Arm und geleitete sie zur Tanzfläche. Gewandt führte er sie durch den wirbelnden Walzer, während sie sich auf die mit ihrem Lehrer eingeübten Schritte konzentrierte.

„Mademoiselle.“ Ein Lachen schwang in Nickis tiefer Stimme mit. „Wenn Sie mich ansehen würden, könnten Sie feststellen, dass ich Sie mit einem Ausdruck der Bewunderung anblicke. Falls Sie jedoch weiterhin die Falten meines Halstuchs studieren, werde ich bald nicht mehr betört, sondern gelangweilt dreinschauen. Dann bleiben Sie ein Mauerblümchen, statt heute Abend glanzvoll in die Gesellschaft eingeführt zu werden.“

„Ein Mauerblümchen!“, fuhr Whitney auf und schaute Nicki empört an. Doch da sah sie sein verschmitztes Zwinkern, und ihr Ärger verflog. „Ich fühle mich so auffällig“, gestand sie. „Alle im Saal scheinen uns zu mustern …“

„Sie beobachten nicht uns“, widersprach er, „sondern mich, und versuchen herauszufinden, ob Sie der Grund sind, der mich zu dieser faden Versammlung tugendhafter Unschuldiger gelockt hat …“

„… und fort von Ihrem sonstigen Weg des Lasters und der Verruchtheit?“, neckte Whitney.

„Genau“, stimmte Nicki zu.

„Wird dann nicht dieser Walzer“, dachte sie laut nach, „meinen Ruf gefährden, bevor ich überhaupt einen habe?“

„Nein, aber er wird meinen ruinieren.“ Nicki sah ihren Schreck und fuhr leichthin fort: „Es ist sonst nicht meine Art, auf Debütantinnenbällen zu erscheinen, Mademoiselle. Noch nie hat man gehört, dass es mir Spaß machte, mit einem so jungen Ding wie Ihnen zu tanzen.“

Whitney riss den Blick von Nicolas DuVilles markanten Gesichtszügen los und ließ ihn über die jungen Dandys in ihren farbenprächtigen Satinwesten gleiten. Sie starrten Nicki gereizt an, und das war auch kein Wunder. Neben ihm wirkten sie wie übertrieben ausstaffierte Schuljungen.

„Beobachten sie uns immer noch?“, erkundigte sich Nicki.

Um nicht in Lachen auszubrechen, biss sich Whitney auf die Lippen. „Ja, aber das kann man ihnen nicht verdenken … Sie sind wie ein Falke unter lauter Kanarienvögeln.“

„Das bin ich tatsächlich“, murmelte er leise, und ein bewundernder Ausdruck huschte über seine Züge. „Sie lächeln ganz bezaubernd“, fuhr er fort und fügte dann hinzu, „Cherie.“

Plötzlich blickte er Whitney finster an. „Ist … ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie bestürzt.

„Ja“, erwiderte er barsch. „Lassen Sie sich nie von einem Mann, mit dem Sie nicht verlobt sind, ‚Cherie‘ nennen.“

„Ich werde ihm einen so bösen Blick zuwerfen, dass er die Fassung verliert“, versprach Whitney prompt.

„Viel besser“, lobte er und setzte kühn hinzu: „… Cherie.“

Am Ende des Walzers führte er Whitney zu ihrer Tante. Dort wartete er und wandte kaum die Augen von ihr, während sie der Reihe nach mit seinen drei Freunden tanzte.

Whitney fühlte sich herrlich und fast ein bisschen verwegen. Schon hatte eine beachtliche Anzahl von Herren um Einführung bei ihr gebeten. Zwar wusste Whitney, dass dies auf Nicolas DuVilles und seiner Freunde Interesse an ihr zurückzuführen war, doch war sie zu erleichtert und dankbar, um sich deswegen Gedanken zu machen.

Nicki, der sich die nächste Runde ausbat, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann am Rand der Tanzfläche. „Andre Rousseau“, meinte er, „gäbe einen wunderbaren Ehemann für Sie ab.“

Gespielt ärgerlich sah Whitney ihn an. „So etwas sollten Sie wirklich nicht sagen.“

„Ich weiß.“ Er grinste jungenhaft. „Nun, haben Sie mir meine Unhöflichkeit von gestern verziehen?“

Whitney nickte glücklich. „Ich würde sagen, ich wurde ebenso wunderbar ‚vom Stapel gelassen‘ wie ein englisches Schiff.“

Nicki lächelte warm, als er ihre Hand an seine Lippen führte. „Gute Reise, Cherie“, sagte er. Und dann war er auch schon verschwunden.

In dem Jahr nannte man Whitney „das Original“. Zu einer Zeit, da junge Damen reizend zerbrechlich wirkten und ständig kokett erröteten, war Whitney fröhlich und lebhaft. Während sich die anderen Damen ihres Alters schüchtern gaben, war Whitney klug und direkt.

Während des darauffolgenden Jahres beobachtete Anne, wie Whitneys jugendliche Züge nach und nach die frühere Ahnung von lebhafter Schönheit erfüllten. Lange dunkle Wimpern umgaben ihre ausdrucksvollen Augen, deren Farbe sich von Meeresgrün zu dunklem Jadegrün verändern konnte. Die dunklen Brauen waren anmutig geschwungen. Glänzendes mahagonifarbenes Haar umrahmte üppig das wohlgeformte Gesicht mit den vollen Lippen und der seidenglatten Haut. Whitney war immer noch schlank, in dem man sie „die Unvergleichliche“ nannte.

Sie erinnerte Anne an einen bunten Tropenvogel, der überrascht und erfreut über seine eigene Anziehungskraft war und versuchsweise hier und da landete. Doch sobald einer der Verehrer nach ihr griff und sie fangen wollte, zog sie sich zurück.

Whitney war schön, aber die Männer verließen die Seite ebenso schöner junger Frauen, um sich um sie zu scharen. Sie wurden von ihrer Fröhlichkeit und ihrem natürlichen Liebreiz angelockt.

Zu Beginn ihres dritten Jahres in der Gesellschaft war Whitney für weltgewandtere, erfahrenere Männer zur Herausforderung geworden. Sie wollten beweisen, dass sie erfolgreich sein konnten, wo andere gescheitert waren – um sich dann ziemlich unerwartet in Whitney zu verlieben, die nicht die geringste Neigung hatte, ihre Gefühle zu erwidern.

Man wusste, sie würde bald heiraten müssen, schließlich war sie bereits neunzehn Jahre alt. Selbst Lord Gilbert begann sich Sorgen zu machen. Doch als er seiner Gattin gegenüber bemerkte, Whitney sei übertrieben wählerisch, lächelte Anne nur.

Denn ihr schien, dass Whitney in letzter Zeit eine deutliche Vorliebe für Nicolas DuVille entwickelt hatte.

Schon zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten hatte Whitney den Faden in dem Gespräch verloren und sah die Mädchen, die ihr einen Vormittagsbesuch abstatteten, schuldbewusst an. Glücklicherweise waren sie alle so von Thereses begeisterter Schilderung ihres neuen Lebens als Ehefrau fasziniert, dass sie Whitneys mangelnde Aufmerksamkeit nicht bemerkten.

Unruhig drehte sie den neuesten Brief von Emily in den Händen und fragte sich, ob er wohl die gefürchtete Nachricht brachte, dass Paul eine Ehefrau gewählt hatte. Da sie die Spannung unmöglich noch länger ertragen konnte, öffnete sie das Schreiben und begann zu lesen:

„Liebste Whitney, von nun an erwarte ich, dass du mich mit ‚Lady Emily Baronin Archibald, glücklichste Frau auf Erden‘ anredest. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, sollst du dich ehrfürchtig verbeugen und mit den Füßen scharren, damit ich glauben kann, dass es wirklich alles wahr ist.“

Die folgenden zwei Seiten waren ein einziges Loblied auf Emilys frischgebackenen Ehemann und voller Einzelheiten über die Hochzeit. Dann fuhr Emily fort:

„Was du über Frankreich sagst, trifft genauso auf England zu. Wie überspannt ein Gentleman auch sein mag, wenn er einen Titel besitzt, wird er als gute Partie betrachtet. Aber wenn du meinen Ehemann triffst, wirst du zustimmen, dass er auch ohne Titel wunderbar wäre. Doch nun genug von mir. Ich muss dir noch etwas erzählen, was ich in meinem letzten Brief zu erwähnen vergaß. Sechs von uns Mädchen waren zusammen bei einer großen Abendgesellschaft, wo uns die Gastgeberin einen Herrn vorstellte, an dem die Damen augenblicklich Gefallen fanden. Whitney, es war Monsieur Nicolas DuVille! Ich fragte ihn, ob er mit dir bekannt wäre. Als er das bejahte, scharten sich Margaret Merryton und die anderen Mädchen um ihn, um ihm ihr ‚Mitgefühl‘ auszudrücken.

Wie du gelacht hättest! Er quälte sie mit Erzählungen von deinen vielen Verehrern in Paris und deutete sogar an, dass er selbst ziemlich von dir eingenommen sei, was die Mädchen eifersüchtig und zornig machte. Stimmt das, was er sagt? Und warum hast du mir nicht erzählt, dass dir ganz Paris zu Füßen liegt?“

Whitney lächelte. Nicki hatte zwar erwähnt, dass er Emily in London kennengelernt hatte. Aber seine Begegnung mit Whitneys Erzfeindin aus Kindertagen, Margaret Merryton, hatte er verschwiegen.

Fast drei Jahre lang war er nur von Zeit zu Zeit an Whitneys Seite aufgetaucht, um einen Tanz von ihr zu fordern oder sie wegen ihrer vielen Verehrer zu necken.

Vor ein paar Monaten hatte sich das plötzlich geändert. Sie waren sich im Theater begegnet, und Nicki hatte sie ganz unerwartet zu einer Oper eingeladen. Nun begleitete er Whitney zu Bällen und Abendgesellschaften, zu Konzerten und Schauspielen. Von allen Männern ihrer Umgebung war sie am liebsten mit ihm zusammen. Doch die Vorstellung, dass er tatsächlich ernste Absichten haben könnte, gefiel ihr gar nicht.

Nachdenklich starrte Whitney auf den Brief in ihrer Hand.

Falls Nicki um sie anhielt und sie ablehnte – woran es keinen Zweifel gab – gefährdete sie die Freundschaft ihrer Tante und ihres Onkels mit den älteren DuVilles sowie ihre eigene mit Nicki und seiner Schwester Therese.

Autor

Judith Mc Naught
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