Bianca Extra Band 100

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DIE KLEINE FARM IN DEN BERGEN von ALLISON LEIGH
Der Ort, an dem tiefes Glück wohnt, wo er Ruhe und Vergessen findet: Das ist die kleine Farm in den Bergen für Jed. Weshalb er die Bauexpertin April am liebsten davonjagen würde! Auf der anderen Seite sehnt er sich danach, dass die lebhafte Schönheit bleibt – und zwar für immer …

MIT DIR SIND WIR KOMPLETT von TARA TAYLOR QUINN
Sie wird Mami! Amelia ist bereit für ihr neues Leben – ganz ohne Mann. Bis ein gut aussehender Fremder vor ihr steht: Dr. Craig Harmon, der biologische Vater ihres Kindes. Zuerst macht sein Anliegen Amelia Angst. Oder soll sie hoffen, dass sie doch eine Familie zu dritt werden?

KÜSSE SIND DIE BESTE MEDIZIN von KATHY DOUGLASS
„Du musst mir helfen.“ Es fällt der jungen Witwe Rose nicht leicht, sich an ihren Ex Paul zu wenden. Aber nach einer schlimmen Diagnose weiß sie nicht weiter. Und vielleicht heilt Liebe ja wirklich alles – auch die Wunden in seinem Herzen, weil sie ihn damals verließ …

VORSICHT – REICHER RANCHER! von BRENDA HARLEN
Ein Mann wie der vermögende Patrick Stafford bringt nur Unglück, weiß Brooke. Für ihn ist alles ein Spiel! Also versucht die Tierärztin immer so kurz wie möglich auf seiner Ranch zu bleiben. Ganz anders sieht das leider ihr kleiner Sohn, der sich einen Daddy wünscht – Patrick …


  • Erscheinungstag 24.08.2021
  • Bandnummer 100
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500401
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Allison Leigh, Tara Taylor Quinn, Kathy Douglass, Brenda Harlen

BIANCA EXTRA BAND 100

ALLISON LEIGH

Die kleine Farm in den Bergen

Es gewittert mächtig, als April die einsame Farm erreicht. Sie will sie kaufen, aber davon will der attraktive Jed Dalloway nichts wissen. Es herrscht Feindschaft – bis Jeds Kuss alles ändert …

TARA TAYLOR QUINN

Mit dir sind wir komplett

Entschlossen sucht Dr. Craig Harmon die schöne Amelia auf. Er hat erfahren, dass sie ein Baby erwartet – sein Kind! Aber was kann er tun, damit das kleine, süße Glück alle Liebe dieser Welt bekommt?

KATHY DOUGLASS

Küsse sind die beste Medizin

Rose hat eine Krebsdiagnose erhalten? Paul beschließt, seinen Stolz zu vergessen und sich um seine Ex zu kümmern. Aber sie leiden zu sehen, macht ihm klar: Er hat nie aufgehört, sie zu lieben …

BRENDA HARLEN

Vorsicht - reicher Rancher!

Sie ist hübsch, sexy, Tierärztin. Aber Brooke ist auch Single- Mom – weshalb der bindungsscheue Rancher Patrick ihr lieber aus dem Weg geht. Doch da hat er die Rechnung ohne Brookes Söhnchen gemacht!

1. KAPITEL

Das Haus – das man eigentlich kaum als solches bezeichnen konnte – lag direkt an der Bergflanke. Die Witterung hatte seinem Holz eine gräuliche Farbe verliehen, und die wenigen Fenster waren klein – wahrscheinlich, um die Kälte fernzuhalten. An Orten, die so weit oben lagen wie dieser, ließ der Wind selbst an den wärmsten Sommertagen nicht nach.

In diesem Teil Wyomings war noch lange nicht Sommer, in der Zeit zwischen März und Mai konnte hier an einem Tag die Sonne strahlen und am nächsten ein Schneesturm aufziehen. Mitten im April, dem Monat, nach dem sie benannt worden war, war es bitterkalt, und an den schattigen Plätzen lagen noch immer ein paar Zentimeter Schnee – was bedeutete, dass eine noch steifere Brise wehte als sonst zu dieser Jahreszeit.

April Reed verließ die Wärme ihres beheizten Wagens, und sogleich peitschte der harsche Wind ihr wütend die Haare in die Augen. Sie musste blinzeln, als sie in Richtung des Gipfels blickte, wo das seltsame, windschiefe Holzhaus am Steilhang thronte.

Das Material, aus dem das Haus erbaut war, musste robuster sein, als es den Anschein erweckte, sonst wäre es schon vor langer, langer Zeit vom Rambling Mountain geweht worden. Entweder das oder seine Beständigkeit zeugte von der Halsstarrigkeit seines Bewohners.

Ihr Großvater, Squire Clay, hatte immer behauptet, niemand sei sturer als Otis Lambert. Nicht einmal er selbst.

Und das wollte schon etwas heißen.

Sie zog den Kragen ihres Ledermantels enger um ihren Hals und holte ihre Aktentasche vom Rücksitz. Als sie sich aufrichtete, knallte eine Böe die Autotür zu und ließ ihren Mantel aufwehen. Leicht genervt band sie den Gürtel fester und machte sich auf den Weg. Der Wind zwang sie, die Augen zusammenzukneifen, während sie erst an einem verstaubten blauen Pick-up vorbeilief und sich dann an der Holzschranke vorbeidrückte, die die Straße hoch zu dem verwitterten Haus blockierte. So oder so wäre es ihr unmöglich gewesen, die letzte halbe Meile mit dem Auto zurückzulegen. Nicht bei den vielen Felsbrocken, die hier vom Steilhang auf die Straße gerutscht waren.

April kaute auf der Innenseite ihrer Wange, während sie um einen Geländewagen herumging, der auf der anderen Seite der Schranke parkte, und blickte zurück. Die Straße auszubauen könnte teuer werden. Nach ihrem Treffen mit Lambert würde sie einige Fotos von den Schäden machen und sie ihrem Boss schicken. Gage Stanton war niemand, der vor ein paar Felsbrocken Halt machte, aber er würde trotzdem wissen wollen, womit sie es zu tun bekämen.

Ihr Chef plante den Bau eines luxuriösen Urlaubsresorts für Outdoor-Fans, denn genau diesem Publikum hatte der Rambling Mountain so einiges zu bieten: Klettern, Jagen, Angeln – was immer das Herz begehrte. Die einzige Straße, die in dieses Naturparadies führte, war die, auf der sie sich gerade befand. Sie würde befestigt werden müssen, auch wenn Gage das Hotel schlussendlich an einem anderen Ort auf dem Berg errichten würde.

Der Wind pfiff, als sie sich wieder umdrehte, um der Straße weiter zu folgen. Sie war steil. Und gefährlich schmal. Instinktiv hielt sie so viel Abstand wie möglich von der Kante, von der man senkrecht in den Abgrund blicken konnte. Viele, viele Meter unter ihr und umgeben von völlig unberührter Natur glitzerte ein See. Er wurde von natürlichen, unterirdischen Quellen gespeist und bewässerte die gesamte Region einschließlich der Stadt Weaver und der Ländereien der umliegenden Ranches. Dieser See würden den Gästen endlose Erholungsmöglichkeiten bieten – wenn alles nach Plan lief.

Dass ein Mann einen ganzen Berg besaß, war nicht gerade alltäglich.

Doch der Rambling Mountain, und damit Abertausende Hektar von Land, gehörte tatsächlich einem einzigen Mann.

Otis Lambert.

Vor einer Woche hatte Otis überraschend ihren Chef kontaktiert. Gage Stanton war der Gründer von Stanton Development – ein in Colorado ansässiges Unternehmen, das sich einen Namen mit zahlreichen Großprojekten gemacht hatte, darunter preisgekrönten Wohnanlagen, Krankenhäusern und Vergnügungsparks.

Dass Otis Gage kontaktiert hatte, schien auf dessen wachsende Bereitschaft hinzudeuten, seinen Berg mit anderen zu teilen.

„Keine Chance, Mädchen.“

Die Worte ihres Grandpas vom heutigen Morgen kamen ihr in den Sinn. Sie hatten an dem runden Eichentisch gesessen, der in der Mitte der Küche des großen Hauses stand. Der Stapel aus goldgelben Waffeln, den ihre Grandma auf den Tisch gestellt hatte, war dank Squire und ihrem Onkel Matthew schnell geschrumpft. Matthew war Squires Sohn und führte die Double-C Ranch schon, so lange April denken konnte.

Alle vier – Squire und ihre Grandma Gloria sowie Matthew und seine Frau Jaimie – lebten zusammen in dem geräumigen alten Haus, das jeder nur „das große Haus“ nannte. Als einer der größten Viehzuchtbetriebe in Wyoming und des ganzen Landes verfügte die Double-C über beträchtlichen Einfluss und Wohlstand. Gemessen daran, war das Haus eher von bescheidener Größe.

Ihr Grandpa hatte sich zwar offiziell zur Ruhe gesetzt, stand jedoch jedem seiner Nachkommen zu Pferd und mit dem Lasso in nichts nach und war stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, seinen Besitz zu erweitern.

„Keine Chance, Mädchen“, hatte er gesagt, als er sie mit seinen eisblauen Augen ins Visier genommen und an seiner Porzellantasse voll dampfendem Kaffee genippt hatte. „Hab mehr als die Hälfte meines Lebens mit dem Versuch verbracht, einen Pachtvertrag mit Lambert auszuhandeln. Wollte unsere beiden Grundstücke an der südwestlichen Ecke miteinander verbinden. Der alte Eigenbrötler lässt nicht mal über ein paar Hundert Hektar mit sich reden, obwohl er sie nicht einmal vermissen würde! Der Mann sitzt auf Millionen von Dollar und lebt wie ein Bettler – und es gefällt ihm so. Ist ’ne Zeitverschwendung, da raufzugehen.“

„Entmutige sie nicht“, hatte Gloria ihn daraufhin gerügt und April kurz zugezwinkert. „Nicht jeder ist so ein Sturkopf wie du. Vielleicht hat Otis ja eine Schwäche für rothaarige junge Damen.“

Daraufhin hatte Squire nur gegrummelt, aber ein leichtes Lächeln war auf seinen Lippen aufgetaucht. „Ich könnt’s ihm nicht verdenken. Ich kann mich noch gut an früher erinnern, als du noch Krankenschwester warst und ständig rumgenörgelt hast, dass ich zu viel Kaffee trinke …“

„Was nur zu deinem Besten war“, hatte Matthew seinen Vater erinnert, als er vom Tisch aufgestanden war und Jaimie einen Kuss auf den Scheitel drückte. „Jeder weiß, dass Lambert krank ist. Ernsthaft krank. Du ärgerst dich nur, dass er sich mit deiner Enkelin trifft und dich seit Jahren am langen Arm verhungern lässt.“

Squire hatte eine Grimasse geschnitten, doch seine Augen, die kalt wie der Winter sein konnten, waren warm und freundlich gewesen, als er den Blick auf sie gerichtet hatte.

„Gib dein Bestes, Mädchen. Aber mach dich auf eine Enttäuschung gefasst. Lambert hat nie auch nur einen Zentimeter seines Landes geteilt. Krank oder nicht krank, ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich auf seine alten Tage geändert hat.“

Lose Geröllsteine gerieten jetzt unter Aprils Stiefeln ins Rutschen, und sie konnte gerade so verhindern, dass sie auf ihren Knien landete. Leise fluchend blieb sie stehen und holte tief Luft. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr diese Wanderung bevorstand, hätte sie passenderes Schuhwerk angezogen.

Wieder blickte sie nach unten zu ihrem roten Auto und dann nach oben zum Haus. Sie hatte noch die halbe Strecke vor sich. Sie war eigentlich an das Leben mit Höhenunterschieden gewöhnt – Denver wurde immerhin nicht umsonst die „Mile High City“ genannt –, aber die Luft hier oben war wirklich extrem dünn. Und das baufällige Haus lag noch nicht einmal in der Nähe des Gipfels.

Sie wusste, warum Gage sie zum Treffen mit Lambert geschickt hatte. Zwar hatte sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in Arizona verbracht, war jedoch im Sommer oft bei ihren Großeltern gewesen und damit, so hatte Gage es ausgedrückt, so gut wie eine Einheimische.

Doch sie wusste, dass mehr dahintersteckte. Wenn es wirklich so schlecht um Lamberts Gesundheit stand, gab es ganz sicher einen Haufen Interessenten. Allen voran ihr Grandad, Squire Clay. Das Einzige, das ihm wichtiger war als das Geschäft, war seine Familie. Wenn April Erfolg hätte und ein Deal mit Lambert zustande käme, würde Squire nicht versuchen, sich Stanton in den Weg zu stellen.

Gages unternehmerischer Erfolg kam eben nicht von ungefähr.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, holte noch einmal tief Luft und setzte sich wieder in Bewegung.

Sie war noch keine zwanzig Meter gegangen, als hinter dem Haus eine Gestalt auftauchte. Der Mann war zu weit weg, als dass sie seine Gesichtszüge erkennen konnte. Er pflügte zielstrebig mit schnellen Schritten durch einen Schneehügel und steuerte auf sie zu.

Sie hatte Otis Lambert noch nie getroffen. Sie hatte ihn nicht einmal von Weitem gesehen. Doch der Mann trug keine Kopfbedeckung, und sie bezweifelte, dass Otis – der wie Squire in den Neunzigern war – derart volles dunkles Haar hatte.

Was bedeutete, dass es sich um seine rechte Hand auf der Ranch handeln musste. Jed Dalloway.

Otis hatte ihn laut Squire vor einigen Jahren bei sich aufgenommen, und wie man hörte, lebte er fast so zurückgezogen wie der alte Mann selbst.

Er machte ihr keine Angst. Der Hund an seiner Seite, der gerade die Lefzen zurückzog und ihr seine gefährlich aussehenden Zähne zeigte, war allerdings eine ganz andere Sache.

Sie war es gewohnt, Hunde um sich zu haben. Sie mochte sie. Der einzige Grund, warum sie selbst keinen hatte, war, dass sie in einer Loftwohnung in der Innenstadt von Denver lebte und mehr Stunden im Büro als zu Hause verbrachte. Sie konnte einem Tier einfach nicht die Aufmerksamkeit schenken, die es verdiente.

Aber dieses zottelige, graue, wild knurrende Biest sah mehr nach Wolf als nach Hund aus.

Einmal war ein Wolf aus dem Bergen zur Double-C heruntergekommen und hatte unterwegs eine Kuh gerissen. Matthew und seine Brüder hatte dem Treiben des Tiers mit dem Gewehr ein Ende gesetzt. Sie war damals sechzehn und völlig empört gewesen.

Nun, da sie selbst dem starren Blick dieses Beinahe-Wolfes ausgesetzt war, galt ihr Mitgefühl allerdings eher der Kuh.

Sie hob ihr Kinn. „Beißt er?“, rief sie laut, doch der Wind verschluckte ihre Worte.

Der Mann machte ein paar Schritte auf sie zu; der Hund folgte ihm bei Fuß. „Wie bitte?“

Je näher der Mann und der Hund ihr kamen, desto schneller schlug ihr Herz. Sie waren weniger als zehn Meter von ihr entfernt, als sie wieder stehen blieben. Das Jeanshemd, das der Mann offen über einem weißen T-Shirt trug, spannte über seinen breiten Schultern und flatterte im Wind. Der Hund lehnte seitlich an seiner schlammigen Jeans, die Zähne noch immer gefletscht. Sie brauchte es sich nicht länger vorzustellen – sie konnte sein Knurren wunderbar hören. Das Geräusch ging ihr durch Mark und Bein.

Es verlangte ihr jedes Fünkchen ihrer Willenskraft ab, keinen Schritt zurückzuweichen. „Ich wollte wissen, ob er beißt.“

„Wenn es sein muss.“

Sie fuhr sich durch die Haare und zwang sich, ihren Blick von dem furchterregenden Hund abzuwenden und stattdessen den Mann anzusehen. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

Aber sie hatte eine Mission. Auf keinen Fall würde sie sich von einem Mann mit grimmiger Miene in die Flucht schlagen lassen. „Wie beruhigend.“

„Sie zu beruhigen war nicht meine Absicht.“ Trotzdem legte er seine Hand auf den Kopf des Hundes. Das Tier sank prompt auf sein Hinterteil. Das Knurren verstummte. „Sie begehen Landfriedensbruch. An der Straße stehen überall Schilder. An der Privatstraße.“

April schloss ihre Hand fester um den Lederriemen ihrer Aktentasche. Sie ließ sich von niemandem an der Nase herumführen – auch nicht von Jed Dalloway.

Also trat sie auf ihn zu. „Mein Name ist April Reed, ich arbeite für Stanton Development. Ich habe einen Termin mit Mister Lambert.“

Seine Augen wurden noch schmaler. Ohne die grimmigen Falten, die seine Stirn zerfurchten, wäre er auf eine rustikale Art und Weise ein attraktiver Mann gewesen. „Otis ist nicht zu sprechen.“

Sie runzelte die Stirn. „Sind Sie für Otis das, was der da…“, sie deutete mit ihrer Hand auf den Hund, „… für Sie ist? Eine Art Wachhund?“

Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich ein wenig, obwohl sein Gesichtsausdruck feindselig blieb. Warum nur pochte ihr Herz so aufgeregt?

„Sie haben Ihre Zeit vergeudet.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Haus. Der Hund folgte ihm.

Fassungslos starrte sie ihm einen Moment nach. Dann setzte auch sie sich in Bewegung. „Halt, warten Sie!“

Er war genervt. Das konnte sie daran sehen, wie er stehen blieb, aber einen Moment wartete, bevor er sich zu ihr umdrehte. Die tiefen Furchen auf seiner Stirn waren zurück.

„Sie sind Jed, nicht wahr? Jed Dalloway?“

Er antwortete nicht. Er blickte sie einfach aus einem Paar dunklen, seelenlosen Augen an, während sie weiter auf ihn zuging. Schließlich stand sie direkt vor ihm. Mit den klobigen Absätzen ihrer Lederstiefel war sie gut einen Meter achtzig groß. Dennoch überragte er sie.

„Ich versichere Ihnen, Mister Dalloway, Ihr Chef erwartet mich.“ Noch nie war es ihr so schwergefallen, selbstsicher aufzutreten. Sie zwang sich zu einem Lächeln und schob sich an ihm vorbei. Die verwitterte Veranda an der Vorderseite des Hauses war noch immer rund dreißig Meter entfernt.

Sie ragte schwebend über die Klippe – die reinste Todesfalle.

„Tja, dann ist er wohl wegen Ihnen abgehauen.“

Sie blickte ihn an. „Er ist nicht hier?“

Jed zuckte nur mit den Achseln. Sie musterte ihn argwöhnisch. Versuchte, nur den Hauch einer Information in seinem Gesicht zu lesen. „Wie ich hörte, verlässt Mister Lambert den Berg nur selten.“

„Hab nicht behauptet, dass er nicht auf dem Berg ist, Miss Reed.“

Sie wandte ihren Blick von ihm ab und betrachtete die Umgebung. Die zerklüfteten Felsen fielen an manchen Stellen sanfter ab und bildeten ebene Flächen, die größtenteils noch mit Schnee bedeckt waren. Neben dem Haus stand ein kleiner Schuppen mit einem Fenster und ein noch kleinerer ohne. In dessen Schutz stand ein Pferd mit dickem Fell. Die Rinder, die angeblich auf der Ranch gehalten wurden, waren nirgends zu sehen – was nicht besonders ungewöhnlich war, es sollten weniger als hundert Stück sein.

„Was macht er?“ Sie deutete mit ihrer Hand auf die Kulisse um sie herum. „Ist er mal kurz spazieren gegangen?“

„Ich sagte, er ist nicht zu sprechen.“ Jed gestikulierte in Richtung Veranda. „Wenn Sie sich selbst davon überzeugen wollen, nur zu. Ich habe zu tun.“ Er wandte sich ab und ging zur Rückseite des Hauses. Der Hund ließ es sich nicht nehmen, ihr ein letztes Mal seine Zähne zu zeigen, bevor er ihm hinterhertrottete.

April wartete, bis die zwei ungemütlichen Zeitgenossen verschwunden waren, und zwang sich dann, ihren Kiefer zu entspannen. „Wie nett“, murmelte sie, bevor sie zur Veranda ging und das Konstrukt prüfend musterte. Sie hoffte inständig, dass es stabiler war, als es aussah.

Dann erklomm sie vorsichtig die knarzenden Stufen. Oben angekommen, trat sie um die fehlenden Bretter herum, blieb vor der Eingangstür des Hauses – oder besser der Hütte – stehen und klopfte. Mehrmals und lautstark. Nichts.

Sie atmete frustriert aus und ging zum hinteren Teil der Veranda, der nicht über den Rand der Klippe hinausragte. Suchend ließ sie ihren Blick über die Seite des Hauses schweifen. Kein Mensch zu sehen – weder alt noch jung. Und kein Hund.

Erneut klopfte sie an die Eingangstür – ohne Erfolg. Dennoch: Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Lambert ihren Termin vergessen hatte. Sie kehrte zu den Stufen, die auf die Veranda führten, zurück und ließ sich auf diejenige sinken, die auf sie den stabilsten Eindruck machte. Dann holte sie ihr Handy aus ihrer Aktentasche, um nachzusehen, ob sie Empfang hatte. Dass dem nicht so war, war wenig überraschend. An vielen Orten außerhalb von Weaver hatte man noch immer kein Netz. Manchmal – zum Beispiel jetzt – war das absolut frustrierend. Und manchmal war es eine Wohltat. Es blieb abzuwarten, wie Gage mit diesem Problem umgehen würde.

April schob das Handy zurück in ihre Tasche und zog stattdessen eine Visitenkarte und einen Stift heraus.

„Was treibt sie da draußen nur?“

Jed runzelte die Stirn und blickte aus einem der hochgelegenen, quadratischen Fenster. „Sie sitzt immer noch auf der Treppe.“

Das tat sie bereits seit einer guten halben Stunde. Als ob sie darauf wartete, dass Otis die unbefestigte Schotterpiste hinauffuhr. Er warf seinem Boss einen Blick zu. „Wenn du das nächste Mal beschließt, einen Termin nicht wahrzunehmen, musst du ihn selbst absagen.“

Otis schnalzte mit der Zunge, als er in seinem hölzernen Schaukelstuhl vor und zurück wippte. Normalerweise fand man diese Art Stuhl auf einer Veranda vor. Bei Otis stand er vor dem Holzofen. Ohne Kissen für zusätzlichen Komfort. Die uralte Strickdecke auf seinen Knien war erst kürzlich hinzugekommen. Zusammen mit dem trockenen Husten, der niemals wieder verschwinden würde.

„Ich hatte nicht mit einer Frau gerechnet.“

Jed blickte noch einmal aus dem Fenster. Aus seinem Blickwinkel konnte er nicht mehr als einen mit kupferfarbenen Haaren bedeckten Hinterkopf und den Umriss einer Schulter unter glattem, schwarzem Leder sehen. Wenn sie in fünf Minuten noch immer dort saß, würde er wieder hinausgehen – ob er damit Otis’ Missfallen auf sich ziehen würde oder nicht.

„Mann, Frau …“ Und eine Frau war April Reed zweifellos. „Macht das einen Unterschied, Otis? Wir wissen beide, dass du nicht verkaufen wirst. Vor allem nicht an einen Bauunternehmer.“ Sie hatten weiß Gott oft genug über dieses Thema gestritten, besonders in den letzten Jahren.

Das einzige Geräusch, was auf seine Worte folgte, war das rhythmische Knarren von Holzkufen auf den Bodendielen.

Jed zog eine Grimasse. „Alter Sturkopf.“

Das Knarren blieb gleichmäßig. „Die Sturheit hält mich am Leben, Junge.“

Aber wie lange noch?

Jed sprach seine Frage nicht laut aus. Er wollte die Antwort nicht hören. So übellaunig der alte Mann auch war – Otis war das Letzte auf dieser Welt, das Jed etwas bedeutete. Und er lag im Sterben. Er lag im Sterben, weil er beschlossen hatte, sich nicht weiter behandeln zu lassen.

Endlich setzte sich der Rotschopf in Bewegung.

Sie kam zurück zur Tür, und er erwartete, dass ein Klopfen ertönte, doch es blieb aus. Stattdessen kehrte sie nach einem Moment zur Treppe zurück und wich beim Heruntersteigen den morschen Brettern aus. Jed würde sie reparieren müssen, sobald sich das Wetter endlich besserte. Das nächste Mal, als er einen Blick auf sie erhaschte, ging sie bereits Richtung Straße.

Groß. Schlank. Angetan mit einem eng geschnittenen Mantel und einem Paar hoher Stiefel. Sexy Stiefel.

Sie sah aus, als würde sie auf das Cover eines Magazins gehören. Oder an einen großen Schreibtisch, von dem sie ihre Mitarbeiter herumkommandierte.

Stattdessen war sie von einem streitsüchtigen alten Mann versetzt worden.

Er beobachtete, wie sie den Gurt ihrer Aktentasche wie eine Umhängetasche um ihre Brust legte und etwas herauszog.

Ein Handy, erkannte er, als er beobachtete, wie sie es von sich weghielt. Offensichtlich machte sie Fotos. Vielleicht ein Video. Sie schwenkte ihren Arm herum, bis das Handy auf die Hütte gerichtet war. Er machte sich allerdings keine Sorgen, dass sie ihn hinter dem Fenster im Inneren sehen konnte.

Schließlich schwenkte sie ihren Arm in die andere Richtung und begann, sich auf den Rückweg zu machen. Erst als sie völlig außer Sichtweite war, ging er zur Vordertür und öffnete sie.

Die Visitenkarte, die sie in den Türspalt gesteckt hatte, landete neben seinem Stiefel auf dem Boden.

Er hob sie auf und las die schwarze, geprägte Schrift. Er erfuhr nicht viel mehr als das, was sie ihm vorhin mitgeteilt hatte. April Reed. Stanton Development. Denver, Colorado.

Auf der Rückseite hatte sie eine Telefonnummer und eine kurze Nachricht notiert.

„Sie wird wiederkommen“, erklärte er Otis. Er war nicht sicher, ob er darüber froh war oder nicht. „Morgen.“

„Woher weißt du das?“

Er legte Otis die Visitenkarte in den Schoß. „Sie hat dir eine Notiz dagelassen.“

Otis brummte widerwillig. Er studierte die Visitenkarte. „Kümmere du dich um sie.“

„April Reed ist nicht mein Problem.“

„Wenn ich es sage, ist sie das.“ Der alte Mann lächelte listig. „Stört dich das aus irgendeinem Grund? Es ist eine Weile her, dass du vom Berg runter bist und dich mit einer Frau getroffen hast.“

„Ja. Weil ich den ganzen Winter lang mit dir hier festsaß.“

„Umso besser.“ Otis wedelte mit der Visitenkarte. „Du weißt doch, wie man Geschäfte macht. Oder hast du das vergessen?“

Jed ignorierte die Anspielung. „Du wirst mit niemandem einen Deal abschließen, das wissen wir beide. Ich kümmere mich für dich um dein Land, Otis. Aber das macht mich nicht zu deinem Lakaien.“ Er verließ den Raum.

„Wohin gehst du?“ Otis verdrossene Stimme folgte ihm.

„Die Arbeit erledigen, für die du mich bezahlst.“

2. KAPITEL

„Und, wie lief’s?“

April verzog frustriert das Gesicht, als sie ihren Mantel auszog und neben ihre Freundin Piper Madison auf einen Barhocker rutschte. „Gar nicht.“

Colbys Bar & Grill war für einen Donnerstagnachmittag gut besucht.

Piper sah sie mitleidig an. „Tut mir leid. Ich weiß, du hasst es, deinen sexy Boss zu enttäuschen.“

April rollte mit den Augen. „Das habe ich nun davon, dass ich ihn dir vorgestellt habe.“

Piper grinste. „Du bist wahrscheinlich die einzige Frau auf dem Planeten, die sich nicht zu Gage Stanton hingezogen fühlt. Groß, dunkler Typ, reich – hallo?“

„Du hast ‚fordernd, perfektionistisch und arrogant‘ vergessen.“

„Klingt wie jemand, den ich kenne.“ Die attraktive, blonde Besitzerin des Colbys war auf der anderen Seite der Bar auf ihrer Höhe stehen geblieben. „Lasst mich raten.“ Janes Lächeln wirkte nun etwas angestrengt. „Dein Boss? Wie ist es, für Gage zu arbeiten?“

April wusste, dass Jane und Gage vor Ewigkeiten für eine kurze Zeit miteinander verheiratet waren, bevor sie nach Weaver gezogen war. Mittlerweile war sie mit Aprils Cousin Casey verheiratet.

„Es ist nie langweilig, das ist sicher.“

Jane lachte. „Verstehe. Okay, was kann ich euch bringen?“

„Für den Anfang nur einen Kaffee.“ Sie warf einen Blick in die Karte.

„Die Hühnchen-Enchiladas sind gut, die hatte ich letzte Woche“, schlug Piper vor. Sie hatte bereits von einem Salat gegessen, der vor ihr stand.

„Dann also die Enchiladas“, erklärte April.

Jane platzierte einen Becher unter Aprils Nase und füllte ihn mit Kaffee. Piper wartete, bis sie außer Hörweite war, bevor sie das Gespräch wieder aufnahm. „Warum ist das Leben so unfair? Sie hat schon den zweiten heißen Ehemann, und ich bekomme nicht einmal ein Date!“

„Natürlich bekommst du ein Date“, rügte sie April.

„Klar, wenn ich an einem anderen Ort als Weaver leben würde“, jammerte Piper. „Hier werde ich für immer die Tochter des Pfarrers sein, die die sechste Klasse unterrichtet.“

„Dann komm nach Denver“, schlug April ihr prompt vor. „Wir könnten uns meine absurd hohe Miete teilen.“

„So sehr ich dein schickes Loft auch liebe, du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Ich weiß, dass du es nicht willst“, korrigierte April sie milde. „Also hör auf, dich zu beschweren. Wenn es jemanden gibt, mit dem du ausgehen willst, frag ihn einfach. Warte nicht darauf, dass er es tut.“

„Nicht alle Frauen sind mit deinem Selbstbewusstsein gesegnet. Dir lagen die Männer schon immer zu Füßen. Das könnte daran liegen, dass du groß, schlank, rothaarig und umwerfend bist. Ich hingegen bin klein, rund, brünett und unscheinbar.“

April musste lachen. „Ich kenne niemanden, der so maßlos übertreibt wie du.“ Anders als Piper, die schon ihr Leben lang mit ihren – ihrer Ansicht nach – überflüssigen acht Kilos kämpfte, musste April sich bemühen, nicht wie eine lebende Vogelscheuche auszusehen.

Die Augen ihrer Freundin funkelten. „Was einen gewissen Finanzanalysten alias ‚Mister Perfect‘ betrifft, übertreibe ich ganz bestimmt nicht.“

April seufzte schwach und gab etwas Milch in ihren Kaffee. „Kenneth und ich hatten eine gute Zeit, aber …“

„Er hat den schlimmsten aller Fehler begangen: Er wollte etwas Ernstes und du nicht.“

„Im Gegensatz zu dir bin ich nicht daran interessiert, jetzt schon sesshaft zu werden. Ich meine …“ Sie wurde unterbrochen, als ein Kellner ihr Essen brachte. Sie dankte dem jungen Mann und entfaltete ihre Serviette. Dann setzte sie erneut an.

„Ernsthaft, wer macht einer Frau, mit der er sich erst ein paar Monate trifft, einen Antrag? Wir hatten noch nicht einmal miteinander geschlafen!“ Trotz allem nagte das schlechte Gewissen an ihr. Sie wusste, dass sie Kenneth verletzt hatte, wenn auch ungewollt.

Unbeeindruckt von April, die ihren Teller mit fuchtelnden Händen zu verteidigen versuchte, schob Piper ihren Salat zur Seite und nahm ein wenig Guacamole mit einem Tortillachip auf. „Vielleicht ist Kenneth einfach der altmodische Typ.“ Sie schob sich den Chip in den Mund und zermalmte ihn geräuschvoll.

„Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der so altmodisch ist.“ April atmete aus. Piper schaffte es Tag für Tag, einen Raum voll hormongeladener Teenager zu bändigen – mit ihrer aufgebrachten besten Freundin wurde sie mit Links fertig. Ihr Gleichmut war einfach beruhigend.

„Nun, ich werde niemals die Hoffnung aufgeben, dass da draußen noch ein paar mehr von der Sorte herumlaufen“, scherzte Piper. Sie bediente sich wieder an der Guacamole – dieses Mal griff sie direkt mit ihrer Gabelspitze an. „Aber zurück zu deinem Meeting. Was meintest du mit ‚gar nicht‘?“

„Dass ich Otis Lambert nicht einmal zu Gesicht bekommen habe.“ Jed Dalloways Antlitz manifestierte sich vor ihrem inneren Auge. Sie fröstelte.

„Wusstest du, dass der Weg zu seinem Haus versperrt ist? Wahrscheinlich ein Felsrutsch. Ich musste den restlichen Weg laufen. Hiermit!“ Sie streckte ein Bein aus.

„Du rennst mit zehn Zentimeter hohen Absätzen herum, seit du deinen ersten Gehaltsscheck bekommen hast. Erwartest du Mitgefühl?“

April grinste. „Bei dir bin ich da offensichtlich an der falschen Adresse.“

„Okay, du bist also mit deinen Absätzen da hochgelaufen. Und dann?“

„Nichts. Er war nicht da. Zumindest hat man mir das gesagt.“

„Man?“

„Jed Dalloway.“ Sie blickte ihre Freundin an. Abgesehen von den vier Jahren, in denen sie am College Zimmergenossinnen gewesen waren, hatte Piper ihr gesamtes Leben in Weaver verbracht.

„Ist er dir mal über den Weg gelaufen?“

„Wenn er keine Kinder hat, die zur Schule gehen, wüsste ich nicht, wo. Aber ich habe natürlich von ihm gehört. Wie ist er so?“

April blickte auf ihren Kaffee und wurde sofort an Jeds dunkle Augen erinnert.

„Sagen wir so: Jed Dalloway ist besser als jedes ‚Betreten verboten‘-Schild.“ Sie schüttelte frustriert den Kopf. „Ich habe Otis meine Karte dagelassen. Gesagt, ich käme wieder.“ Sie schwieg kurz. „Was meintest du damit, dass du natürlich schon von ihm gehört hast?“

Piper zuckte mit den Achseln. „Du weißt doch, wie es hier ist. Früher oder später wird über jeden getratscht. Willst du die schwarze Olive?“ Noch bevor April Gelegenheit hatte, den Kopf zu schütteln, griff sie zu und steckte sich die Olive in den Mund. „Oh, heiß!“ Sie kaute schnell und vorsichtig. „Ich habe gehört, er kommt aus Chicago. Es gab wohl einen Skandal.“

„Haben dir das Weavers muntere Vögelchen gezwitschert?“

„Weißt du doch.“ Piper wischte sich die Fingerspitzen mit einem verschmitzten Lächeln an ihrer Serviette ab. „Nicht, dass mich derlei Gerede groß kümmern würde.“

Aprils Lippen zuckten. „Natürlich nicht.“ Sie zerschnitt die dampfenden Enchiladas mit ihrem Messer. „Okay, dann erzähl mal. Was ist gibt es Neues?“

Piper lachte und blickte auf die Uhr. „In einer Viertelstunde muss ich zur Lehrerversammlung. Such dir eine Kategorie aus.“ Sie hielt ihre Hand hoch „Geldprobleme, eheliche Streitigkeiten …“ Sie zählte die Punkte an den Finger ab. „Politik, Sexskandale …“

Nachdem Piper sich eine Viertelstunde später mit einer schnellen Umarmung von ihr verabschiedet hatte, widmete sich April ihren mittlerweile abgekühlten Enchiladas. Als sie mit dem Essen fertig war, schob sie den Teller zur Seite, holte ihr Telefon hervor und studierte die Fotos, die sie auf dem Berg gemacht hatte. Die besseren leitete sie an ihren Boss weiter und begann anschließend, sich durch ihre E-Mails zu arbeiten. Sie hatte gerade einmal zwei beantwortet, als ihr Telefon vibrierte.

„Das ging schnell“, murmelte sie.

„Felsstürze – passiert das oft?“ Wie immer kam Gage umgehend zum Punkt.

„Keine Ahnung“, gab sie zu. „Aber ich werde es herausfinden.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Gages Ex-Frau am anderen Ende der Bar Drinks mixte, und sie fragte sich, ob sie vielleicht auch ein Grund war, warum er sich nicht selbst auf den Weg nach Weaver gemacht hatte. Jane war mittlerweile eine glücklich verheiratete Frau mit einer Familie. Gage genoss zwar den Ruf eines umtriebigen Junggesellens, aber er war April immer sehr einsam vorgekommen.

„Sag mir Bescheid, sobald du mehr weißt.“ Dann legte er wie üblich abrupt auf.

April widmete sich wieder ihrem vollen E-Mail-Postfach. Zwei Becher Kaffee später war sie fertig. Sie bezahlte ihre Rechnung und brach auf. Die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war strahlend blau und die Luft klar. Es war eiskalt, selbst durch ihren Ledermantel.

Sie fuhr zum Einkaufszentrum am anderen Ende der Stadt, wo man den besten Handyempfang hatte, und tätigte einige Anrufe. Die zusammengefassten Ergebnisse ihrer Recherche über Felsstürze auf dem Rambling Mountain schickte sie dann per E-Mail an ihren Boss.

Vom Sitzen im geparkten Wagen war ihr noch kälter geworden als ohnehin schon, und die hellen Lichter des Einkaufszentrums leuchteten einladend. Also verstaute sie ihren Laptop, schnappte sich ihre Handtasche und ging in das überdimensionierte, geschäftige Gebäude. Zuerst zog es sie in die Modeabteilung, wo sie sich mit einem preiswerten, wattierten Mantel, einem Schal, einer Mütze sowie passenden Handschuhen eindeckte. Anschließend machte sie einen Abstecher in die Lebensmittelabteilung, um Schokolade zu kaufen, weil man Schokolade immer gebrauchen konnte.

Ihr Telefon brummte, und sie jonglierte mit dem Berg Kleidung auf ihrem Arm, als sie es aus der Tasche zog. Eine E-Mail von ihrem Chef. Am Telefon und im Gespräch fasste Gage sich stets kurz, von seinen E-Mails konnte man das nicht gerade behaupten. Während sie die Nachricht las, bewegte sie sich auf die Kassen im vorderen Teil des Ladens zu und rannte dabei in eine Pyramide aus Küchenrollen. Fluchend ließ April ihre Einkäufe fallen und bewahrte das Konstrukt gerade so vor dem Umfallen. Einige Rollen fielen trotz ihrer Bemühungen zu Boden. Sie sammelte sie eilig ein, um sie zurück in die nunmehr schiefe Pyramide zu stopfen.

„Die hier haben Sie vergessen.“

Ihr Blick wanderte von der Küchenrolle vor ihrer Nase über die langen, maskulinen Finger, die sie hielten. Über das nicht minder maskuline Handgelenk. Ihr rutschte das Herz in die Hose, noch bevor sie sein Gesicht erreicht hatte. Schnell schnappte sie sich ihre Einkäufe, richtete sich aus der wenig graziösen Kauerstellung auf und nahm ihm die Rolle ab.

„Mister Dalloway.“ Schokoladenbraun, fuhr es ihr unwillkürlich durch den Kopf, als sie ihn anblickte. Die Farbe seiner Augen.

Und in diesen Augen blitzte nun ein Hauch von Belustigung auf, wenngleich der Rest seines Gesichts völlig unbewegt blieb. Es mochte vielleicht nicht klassisch attraktiv sein, aber es zog sie definitiv in seinen Bann.

„Miss Reed“, nickte er. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stiefelte von dannen.

Und schon wieder folgte sie ihm. „Ich habe Ihrem Chef meine Karte dagelassen“, erklärte sie seinem Rücken. Er trug die gleiche Kleidung wie am Morgen, als würde ihm die Kälte nichts anhaben können.

Alles an ihm strahlte Unwillen aus, doch er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Die strahlenförmigen Linien, die von seinen Augen ausgingen, sagten ihr, dass er viel Zeit in der Sonne verbrachte. Sie hatte etwa ein Dutzend Verwandte, deren Gesichter genau die gleichen Linien zierten. Doch woher stammten die um seinen fest zusammengepressten Mund?

„Sie können so oft auf den Berg kommen, wie Sie wollen. Otis wird Sie nicht empfangen“, erklärte er. „Er verkauft nicht. Schon gar nicht an ein Bauunternehmen.“

Er sagte nichts, was ihr Großvater nicht auch gesagt hatte. Und weder seine noch Jeds Worte würden sie von ihrem Ziel abbringen.

„Warum hat er dann um ein Treffen mit Stanton Development gebeten?“

„Warum Otis tut, was er tut?“ Er breitete die Hände aus und sie bemerkte die kleine braune Arzneiflasche in seiner Hand. „Das ist und bleibt sein Geheimnis. Ich bin nicht einmal sicher, ob er es selbst weiß.“

„Sie führen seine Ranch für ihn, oder? Die Rambling Rad. Haben Sie Angst um Ihren Job?“

Seine Lippen wurden schmal. „Er wird nicht verkaufen, Miss Reed. Das kann ich Ihnen versichern. Was das für mich bedeutet, interessiert Otis genauso wenig wie Ihr Unternehmen.“

„Und ich versichere Ihnen, dass es der Firma, für die ich arbeite, nicht darum geht, Menschen arbeitslos zu machen. Es geht darum, Möglichkeiten zu schaffen.“

Seine Miene veränderte sich nicht. Sie hätte nicht sagen können, ob er ihr glaubte.

„Ich würde Ihnen raten, nach Colorado zurückzukehren. Konzentrieren Sie Ihre Bemühungen besser auf grünere Weiden.“ Wieder wandte er sich um, um weiterzugehen.

„Es tut mir leid, dass er krank ist, Mister Dalloway.“

Er drehte sich nicht zu ihr um. „Mir auch, Miss Reed.“

Sie beobachtete, wie er Richtung Apotheke ging. Wenn sie aus einem anderen Holz geschnitzt wäre, würde sie jetzt zu ihrem Auto eilen, um die Chance zu ergreifen, vor Jed zu Otis zu gelangen. Doch einen kranken Mann zu überfallen – das war einfach nicht ihr Stil. Stattdessen stellte sie sich an einer der Kassen an, bezahlte ihren Einkauf und fuhr zurück zur Double-C Ranch.

Als sie das große Haus durch die Hintertür betrat, war es draußen fast dunkel, und der Geruch von Glorias Kochkunst drang betörend in ihre Nase.

Alle saßen bereits am Küchentisch beisammen. Schnell stellte sie ihre Aktentasche und ihre Handtasche in der Waschküche ab, in die der Hintereingang führte, wusch sich die Hände und gesellte sich zu den anderen. „Entschuldigt die Verspätung.“ Sie rutschte auf den leeren Stuhl neben ihrer Grandma.

„Sei nicht albern.“ Gloria reichte ihr eine Platte, auf der dampfendes gebratenes Gemüse und Rindfleisch aufgetürmt waren. „Wir haben gerade erst angefangen.“

April nahm die Platte und schaufelte eine Portion auf ihren Teller. Trotz des Lunchs im Colbys knurrte ihr bereits der Magen. „Das riecht köstlich.“

Sie reichte die Platte an Matthew weiter, der am Kopf des Tisches saß. „So viel, wie ich hier esse, werde ich nicht mehr in meine Klamotten passen, wenn ich wieder nach Denver zurückkehre.“

Squire, der am anderen Ende des Tisches saß, schnaubte. „Bist eh viel zu dünn. Könntest etwas Fleisch auf den Knochen vertragen. Genau wie deine Mutter.“

Gloria schnalzte mit der Zunge. „Lass sie in Frieden.“

April machte sich nicht die Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. Sie kannte niemanden, der so streng blicken konnte wie Squire Clay. Doch wenn es um seine Enkel und Urenkel ging, war sein Herz weich wie Butter – auch wenn er zuweilen eine scharfe Zunge hatte.

Das Gespräch drehte sich schnell um den Ranchbetrieb, und April hörte nur mit halbem Ohr zu, während sie sich durch den Berg auf ihrem Teller arbeitete.

„Wie lief es da oben?“, fragte Squire nun.

Die Frage war unvermeidlich gewesen. Sie verzog das Gesicht. „Genau wie du erwartet hattest.“

„Tut mir leid, dass ich recht hatte, Mädchen.“

„Tut es nicht“, spottete Matthew und zwinkerte April zu. „Du liebst es, recht zu haben.“

„Ja. Wenn es um Söhne geht, die nichts als Sägemehl im Kopf haben“, schoss Squire zurück.

„Wie auch immer, ich werde nicht aufgeben“, erklärte April entschlossen.

„Verdammt richtig“, nickte Squire zustimmend. „In unserer Familie ist Aufgeben keine Option.“

„Nun, eigentlich hätte ich nichts dagegen, wenn du uns noch etwas erhalten bleibst. Aber wenn du das nächste Mal auf den Berg gehst, um Otis zu treffen, nimm was Selbstgekochtes mit. Es würde mich doch sehr wundern, wenn zwei alleinlebende Männer ein hübsches Mädchen mit etwas Essbarem im Gepäck abweisen würden.“

April stöhnte. „Das ist so altmodisch, Grandma.“

„Mag sein.“ Gloria nickte weise. „Aber wetten, dass es funktioniert?“

3. KAPITEL

Am darauffolgenden Nachmittag fuhr April – in ihrem neuen Mantel und mit Schal und Handschuhen – erneut auf den Berg. Den Rat ihrer Grandma befolgte sie nicht. Um Himmels willen, ihr Treffen mit Otis war ein Geschäftstermin, kein Mitbringbüfett.

Nicht, dass es dazu kam: Wie am Tag zuvor kehrte sie der Rambling Rad nach einer Stunde den Rücken, ohne durch die Eingangstür der kleinen, baufälligen Hütte gegangen zu sein. Den Rest des Tages verbrachte sie erneut am Laptop und am Telefon.

Als sie sich am Abend mit ihren Cousinen und Cousins im Colbys traf, musste sie ihre Bemühungen, Lambert zu Gesicht zu bekommen, erneut zum Besten geben. „Der einzige Lichtblick – wenn man das so nennen kann – war, dass Jed Dalloway dieses Mal nicht da war und Zeuge meines Scheiterns wurde“, erklärte sie und nahm einen Schluck von ihrem heißen Cider.

„Von Scheitern kann nicht die Rede sein“, versicherte Lucy, die neben ihr saß. Sie hatten zwei Tische zusammengeschoben, um die zahlreichen Familienmitglieder, die nach und nach eintrudelten, unterzubekommen. „Es sei denn, du gibst schon auf.“

„Squire würde mich aus dem Haus werfen.“ April nahm eine knusprige Fritte von dem riesigen Berg in der Mitte des Tisches und tunkte sie in Ketchup. „Nicht zu vergessen Gage.“ Nicht, dass sie sich ernsthaft Sorgen um ihren Job machte. Doch sie hatte nicht vor, mit leeren Händen nach Colorado zurückzukehren. Nicht bei ihrem allerersten Auftrag. Ansonsten würde sie es Gage nicht verdenken, wenn er den Fehler, ihr zu vertrauen, so schnell nicht wiederholen würde.

April spürte einen Schwall kalter Luft, als sich die Tür zur Bar öffnete. Halb in der Erwartung, ein weiteres Mitglied ihrer Verwandtschaft eintreffen zu sehen, drehte sie sich um. Doch es war jemand anderes, der da durch die Tür kam.

Und aus irgendeinem Grund landete Jed Dalloways Blick direkt auf ihr, als er die Tür hinter sich zufallen ließ.

Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, und sah schnell weg, ärgerte sich jedoch gleich darauf über ihr kindisches Verhalten.

Helles Gelächter erhob sich über dem allgemeinen Lärm von Stimmen und Musik aus der Jukebox, und April blickte zu den Billardtischen hinüber, wo Megan – Sarahs sechzehnjährige Tochter – sich an einen jungen Mann lehnte und fröhlich lachte. Der Teenager ließ seine Hand an Megans Kehrseite hinuntergleiten. Sie verzog das Gesicht und wandte den Blick ab, froh, dass ihre Cousine, die ihr gegenübersaß, es nicht gesehen hatte.

Mit achtundzwanzig hatte April genau den gleichen Altersabstand zu Megan wie zu Sarah. Sie konnte sowohl die rebellische Tochter als auch ihre Cousine, die besorgte Mutter, verstehen.

Jed hatte mittlerweile auf einem Barhocker Platz genommen. Obwohl sie sich dagegen sträubte, wanderte Aprils Aufmerksamkeit immer wieder zu ihm. Er saß mit dem Rücken zu ihr, was nicht gerade hilfreich war. Ein Teil ihres Gehirns hatte offenbar entschieden, dass es völlig okay war, ihn eingehend zu studieren – jetzt, wo gerade keine Gefahr bestand, dass er es bemerkte.

Was lächerlich war. Immerhin konnte er sich jederzeit umdrehen. Oder den Blick heben und dank des großen Spiegels, der hinter der Bar hing, sehen, was hinter ihm vor sich ging.

All das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihn weiter anzustarren.

Breite Schultern, leicht zusammengesunken. Weil er seine Ellbogen auf dem polierten Tresen gestützt hatte? Oder war es die schwere Arbeit, die er für Otis leisten musste?

Gedankenversunken blickte sie auf ihre Hände. Und dann stand sie – ohne groß darüber nachzudenken – einfach auf, umrundete ein paar Tische und ging zur Bar hinüber.

Sie drängte sich zwischen Jed und die Person, die auf dem Barhocker neben ihm saß. „Darf ich Sie auf einen Drink einladen?“ Ihre Stimme klang atemloser, als ihr lieb war.

Er blickte sie nicht direkt an, sondern fing ihren Blick im Spiegel auf. „Ich trinke nicht.“

Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen ein paar Millimeter in die Höhe schossen. Vor ihm stand ein Whiskyglas, das bis zur Hälfte mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. Sie hob es an und hielt es sich unter die Nase. Scotch.

„Okay …“ Sie stellte das Glas exakt dort ab, wo es zuvor gestanden hatte. „Wie wäre es stattdessen mit einem Kaffee?“

Endlich bewegte er sich und blickte sie aus seinen dunklen, schokoladenbraunen Augen direkt an.

Ohne jeglichen Grund fühlte sich ihr Mund plötzlich trocken an.

„Sie kommen über mich nicht an Otis ran.“

„Manchmal ist eine Einladung auf einen Kaffee nichts weiter als eine Einladung auf einen Kaffee, Jed.“

„Was ist mit ‚Mister Dalloway’?“

Die Frau neben ihr verrückte ihren Barhocker und zwang April, ihre Position ebenfalls zu verändern. Ihre Schulter streifte versehentlich die von Jed. Sofort wich sie wieder zurück. „Es ist Freitagabend. Mit dem Mister-und-Miss-Kram können wir Montag weitermachen, oder?“

Seine Lippen dehnten sich tatsächlich zu etwas, das einem Lächeln gleichkam. Gerade so, dass etwas in ihr zu flattern begann. Ein Gefühl, das ihr fremd war.

Er drehte sich leicht zu ihr, und sein Oberschenkel stieß an ihr Bein. Mit dem Unterschied, dass er nicht zurückzuckte.

„Ich weiß die Geste zu schätzen“, sagte er schließlich. „Miss Reed.“ Er wandte sich wieder der Bar zu und brachte so erneut Abstand zwischen ihre Körper.

Das Flattern verpuffte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, konnte aber im Spiegel sehen, dass es genauso angestrengt wirkte, wie es sich anfühlte.

Sie blickte hinunter auf sein scheinbar unberührtes Glas Scotch. „Genießen Sie Ihren …“, sie wandte ihre Handflächen nach oben, „… was auch immer, Jed.“

Sie bahnte sich ihren Weg durch die dichter gewordene Menge und kehrte auf ihren Sitzplatz zurück. In der Zwischenzeit waren drei weitere Mitglieder ihrer Familie eingetrudelt.

Sie zwang sich, eine fröhliche Miene aufzusetzen. „Sieht ganz nach einem Mädelsabend aus“, rief sie, als sie sich wieder setzte, nachdem sie die Neuankömmlinge kurz umarmt hatte.

„Hey!“ Nick, Lucys Stiefsohn, warf eine zusammengeknüllte Serviette in ihre Richtung. „Was ist mit mir? Ich pinkel im Stehen!“

April grinste. „Charmant wie eh und je, Nick.“

Er zeigte ihr seine Grübchen und neigte seine Bierflasche in ihre Richtung. Sie lehnte sich zu ihm hinüber. Von all ihren Cousinen und Cousins stand er ihr vom Alter her am nächsten. „Es macht das Gerücht die Runde, dass du eine Romanze mit Weavers Milliardärswitwe hast“, zog sie ihn auf. Es war immer lohnenswert, sich von Piper in Sachen Klatsch und Tratsch auf den neuesten Stand bringen zu lassen.

Nick wirkte nur leicht verdrossen. „Mit Vivian Templeton würde sich jeder halbwegs zurechnungsfähige Mann übernehmen. Egal ob jung oder alt.“ April lächelte. Vivian Templeton war die Schwägerin von Squires verstorbener erster Frau. Sie hatte sie nie persönlich kennengelernt, wusste aber, dass die alte Dame weit in ihren Achtzigern sein musste. Die gut betuchte Exzentrikerin gehörte also in gewisser Weise zur Familie und war so etwas wie die Wohltäterin der Stadt – ihr aktuelles Projekt war die örtliche Bibliothek. Allerdings hegte ihr Grandad einen Groll gegen Vivian. Angeblich hatte sie vor Urzeiten seine erste Frau beleidigt.

„Hey.“ Megan war von den Billardtischen herübergekommen. „Um wie viel Uhr ist das Osteressen bei Onkel Jefferson?“

„Um vierzehn Uhr“, ertönte die Antwort vielstimmig. Die gesamte Familie würde da sein.

Megan verzog genervt das Gesicht. „Warum nicht gleich nach dem Gottesdienst? So wird es den ganzen Tag dauern.“

„Es ist Ostern“, erinnerte sie Sarah unbeeindruckt. „Familienzeit. Deine neuen Freunde können warten.“

Die junge Frau rollte mit den Augen, drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte zu den Billardtischen zurück.

Sarah seufzte geräuschvoll.

„Hey, April, Kenneth freut sich doch sicher, wenn du nach Denver zurückkehrst?“ Lucys Versuch, das Thema zu wechseln, war nur zu offensichtlich.

„Eher nicht“, antwortete sie abwesend. Jed hatte seinen Platz am Tresen verlassen und bahnte sich seinen Weg durch die Tische. Das Flattern in ihrem Bauch war wieder da. „Die Sache wurde mir zu ernst. Wir haben vor ein paar Wochen Schluss gemacht.“

Jeds und ihr Blick kreuzten sich, doch er tat nichts weiter, als in ihre Richtung zu sehen, als er an ihr vorbeiging und durch den Ausgang verschwand.

„Du kennst ihn?“

April, deren Blick noch immer auf den Ausgang gerichtet war, wandte sich zu Jane um, die an ihrem Tisch stand. „’Tschuldigung, was hast du gesagt?“

„Ob du Jed kennst.“

„Du etwa?“

„Er kommt ab und zu vorbei. Zu dieser Jahreszeit öfter. Du weißt ja, wie der Winter den Leuten zusetzt.“

April wartete. Sie war sicher, dass da noch mehr war. „Und?“

Jane zuckte mit den Achseln. „Nichts. Er wohnt oben auf der Rambling Rad Ranch. Ich weiß, dass er kein Trinker ist. Bestellt immer einen Doppelten. Trinkt keinen einzigen Tropfen. Das ist alles. Er ist nicht sehr gesprächig.“

„Hab gehört, er kommt aus Chicago“, warf eine ihrer Cousinen ein.

„Ich dachte, Atlanta“, meldete sich eine andere Stimme zu Wort.

„Mir egal, wo er herkommt“, sagte April. Sie blickte über Nicks Schulter zum Ausgang. „Hauptsache, er kommt mir nicht in die Quere.“

„Also, April, was genau ist mit Kenneth passiert?“, kehrte Nick zum ursprünglichen Thema zurück.

Sie blickte ihn an. Es war lächerlich schwierig, ihre Gedanken von Jed und Otis loszureißen.

„Was? Ach so. Ja. Er hat mir einen Antrag gemacht. Dann haben wir uns getrennt.“ Abrupt schob sie ihren Stuhl zurück. „Bin gleich wieder da.“

Sie schnappte sich ihre Jacke und eilte zur Tür hinaus. Draußen war es bereits dunkel, doch die altmodischen Laternen, die die Main Street säumten, spendeten genug Licht, um die Straße hinunter sehen zu können. Keine Spur von Jed. Sie lief bis zum anderen Ende des Gebäudes und dann wieder zurück.

Enttäuscht ließ sie sich auf die eiserne Bank vor dem Colbys fallen und zog sich langsam ihre Jacke über.

Sie holte tief Luft und streckte ihre Beine aus. Aus dem Inneren der Bar drang schwach Countrymusik, während aus einem vorbeifahrenden Pick-up lauter Rock dröhnte. In der Ferne erhob sich der Gipfel des Rambling Mountain – ein dunkler Schatten vor dem Himmel.

„Was heckst du da oben aus, Otis? Hast du deine Meinung geändert? Oder spielst du ein Spiel?“

„Es ist kein Spiel.“

Sie zuckte zusammen und setzte sich aufrecht hin. „Jed. Wo kommen Sie so plötzlich her?“

Er deutete mit dem Daumen hinter sich, und sie sah über die Straße.

„Sie waren im Park?“

„Überrascht Sie das?“

Sie presste die Lippen aufeinander. „Es ist ein schöner Park“, sagte sie schließlich. „Ich habe meinen ersten Kuss in dem Pavillon bekommen, als ich dreizehn war.“

Seine einzige Reaktion bestand darin, seine Fingerspitzen in die Vordertaschen seiner Jeans zu stecken.

Sie atmete heftig aus und fühlte sich wie eine Idiotin. „Ich weiß nicht, warum ich das jetzt gesagt habe.“

„Ist es wahr?“

„Ja.“

„Wer war er?“

„Irgendein Junge.“

„Kenneth?“

Ihr klappte die Kinnlade runter. „Sie müssen ein hervorragendes Gehör haben.“

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Er blickte über die Straße auf den Park, in dem der Pavillon in der Dunkelheit wie eine kleinere Version des Berges wirkte. „Das erste Mädchen, das ich geküsst habe, hieß Tanya.“

Es war nicht der Name, der sie schockierte, sondern die Tatsache, dass er die Information überhaupt mit ihr teilte.

Sie befeuchtete ihre Lippen. „Ähm … Sein Name war Scott. Er war ein Freund aus dem Sommercamp.“

„Und Kenneth?“

Sie studierte sein Gesicht. Seine Brauen waren dunkel und verliefen gerade. Die ähnlich dunklen Augen waren unmöglich zu lesen. Neben einem seiner Mundwinkel, die niemals nach oben zu zeigen schienen, prangte eine kleine weiße Narbe. Wie immer schien ihm die Kälte nichts auszumachen. Zu seiner Jeans trug er nicht mehr als ein langärmeliges Shirt.

„Das geht Sie eigentlich nichts an“, sagte sie schließlich. „Frieren Sie nicht? Es ist eiskalt hier draußen.“

„Es wird noch kälter werden. Ein Sturm zieht auf.“

„Das ist keine Antwort.“

Er zuckte mit den Achseln.

Sie schnaubte, kämpfte gegen ihre Ungeduld. „Trifft sich Ihr Boss nicht mit mir, weil er zu krank ist?“

„Das geht Sie eigentlich nichts an.“

„Ein Deal mit Stanton könnte ihm helfen.“

Jed blickte sie wortlos an, und sie merkte, wie in ihr schon wieder dieses seltsame Flattern einsetzte. „Wissen Sie“, fügte sie hastig hinzu, „wir reden hier über jede Menge Geld. Mit dem er die Kosten für seine Behandlung abdecken könnte. Oder für Medikamente. Je nachdem, was er benötigt.“

„Denken Sie, das weiß er nicht?“

Sie schluckte und rieb ihre Handflächen über die Vorderseiten ihrer Jeans, als sie sich erhob. Sie auf der Bank sitzend, während er in voller Größe vor ihr stand – das war eine ungünstige Konstellation. „Nun, ich weiß nicht, was Otis weiß, oder? Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.“ Sie verschränkte die Arme vor ihrem Körper und beäugte ihn argwöhnisch. „Hindern Sie ihn daran, Besucher zu empfangen?“

Er stieß ein Schnauben aus, das tatsächlich amüsiert klang. „Sie scheinen die Illusion zu haben, dass ich Einfluss auf Otis hätte. Der Mann tut, was er will, Miss Reed.“

Sie breitete die Arme aus. „Ach kommen Sie, können wir das mit der Miss und dem Siezen nicht bleiben lassen? Ich meine, Sie kennen jetzt meine romantische Biografie“, erklärte sie leichthin. „Und ich Ihre.“

Seine Augen schienen noch dunkler zu werden. „Nein.“ Er zog die Hände aus den Taschen. „Die kennst du nicht, April.“ Er schickte sich an wegzugehen, blieb jedoch nach ein paar Metern stehen. „Komm morgen gegen fünfzehn Uhr vorbei.“ Seine Stimme war gedämpft. Schroff. „Ich sehe, was ich tun kann.“

Sie nickte, zu überrascht, ein Wort herauszubekommen.

Dann war er weg.

Eigentlich war das ein Erfolg, doch sie fühlte sich eher verwirrt als euphorisch.

„Hey, April.“ Nick steckte seinen Kopf aus der Tür. „Alles gut?“

Sie nickte. „Ich habe nur etwas frische Luft gebraucht.“

Mit besorgter Miene trat er ganz nach draußen. „Na ja, ich hab Kenneth erwähnt, und du bist rausgestürmt …“ Er zog eine Grimasse. „Weißt du, ich wollte dich nicht verärgern.“

„Hast du nicht.“

Er wirkte nicht überzeugt. „Sicher?“

Sie ging auf ihn zu und hakte sich bei ihm unter. „Ganz sicher.“

„Dann komm wieder rein. Bei den ganzen Frauen fühl ich mich in der Unterzahl.“

„Du weißt schon, dass ich auch eine Frau bin, oder?“

„Hm“, Nick verzog zweifelnd das Gesicht. „Ist das so?“

„Wie ich vorhin gesagt hab: charmant wie eh und je, Nick.“

„Das bin ich: Nick Charming.“

Sie lachte und ging zurück in die warme, betriebsame Bar, fest entschlossen, die Gedanken an Jed Not-so-Charming draußen in der Kälte zu lassen, wo sie hingehörten.

4. KAPITEL

„Sie wird nicht kommen“, sagte Otis. „Nur Narren würden bei diesem Wetter den Berg hochfahren.“

Jed, der gerade den Ofen mit Holzscheiten bestückt hatte, blickte aus dem Fenster. Die dicke Wolkendecke, die am Berg hing, versperrte die Sicht auf die ihnen zu Füßen liegende Stadt.

Er hatte April gesagt, dass sie um fünfzehn Uhr kommen sollte, weil das für gewöhnlich die Zeit war, in der Otis zwischen seinen Nickerchen am fittesten war.

Es war erst vierzehn Uhr. Er hoffte inständig, dass der Rotschopf mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet war und nicht auf den Berg kommen würde. Nicht bei diesem Wetter.

Er blickte zu Otis hinüber. Die Krankheit zehrte an seinen Kräften, doch er war und blieb ein ausgefuchster Gauner. Jed würde nicht darauf wetten, dass er diesen Charakterzug jemals ablegen würde.

„Was hast du mit April Reeds Visitenkarte gemacht?“

„Hab sie weggeworfen.“

Jed sah ihn wortlos an.

Otis rieb mit seiner Hand über die wenigen weißen Barthaare, die ungleichmäßig verteilt auf seinem Kinn sprossen. „Ich kann mich nicht erinnern.“

Er hob die Augenbrauen.

Der alte Mann seufzte geräuschvoll. Er hob eines der Bücher hoch, die Jed bei einem seiner häufigen Besuche in der Bibliothek für ihn ausgeliehen hatte, und zog die Karte zwischen den Seiten hervor.

Jed nahm sie ihm ab und ging in die Küche. Er wählte Aprils Nummer auf dem alten Bakelittelefon, das noch aus einer anderen Epoche stammte, landete aber direkt auf der Mailbox. In Anbetracht der Tatsache, dass sich draußen gerade ein Sturm zusammenbraute, war das kein Wunder.

Er rechnete zwar nicht damit, dass die Nachricht jemals ankommen würde, hinterließ ihr jedoch trotzdem eine: „Wag dich bei dem Regen ja nicht hier rauf!“

Als er in den Wohnbereich zurückkehrte, war Otis in seinem Stuhl zusammengesunken und schlief, das Buch lag offen in seinem Schoß. Er schnarchte leise.

Er schlief mehr und mehr.

Jed legte das Buch auf den Tisch neben dem Stuhl und bedeutete Samson, ihm zu folgen. Der Hund erhob sich und trottete hinter Jed her. Abgesehen von Küche und Wohnzimmer gab es noch ein Bad und ein Schlafzimmer. Die gesamte Hütte hätte in das Schlafzimmer gepasst, das er einst mit Tanya geteilt hatte.

Er wusste, warum sie sich immer wieder in seine Gedanken schlich. So war es jeden Frühling. Nach acht Jahren waren die Erinnerungen noch immer nicht verblasst, und mittlerweile hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass sie es jemals tun würden.

Samson, der ihm durch die Hintertür in der Küche nach draußen gefolgt war, spitzte die Ohren. Einen Moment später war der Schäferhund-Mischling auf und davon. Jed machte sich keine Sorgen um ihn. Der Hund leistete Otis schon länger Gesellschaft als er.

Er ging hinüber zu dem Schuppen, den er sein Heim nannte, seit Otis in sein Leben getreten war. Bis zu Jeds Auftauchen hatte er hauptsächlich dazu gedient, Kälber zu beherbergen, wenn es nötig war.

In den letzten Jahren hatte Jed seine Unterkunft mit mehr als einem verwaisten Kalb geteilt. Aber er hatte auch ein paar Veränderungen vorgenommen: Auf der einen Seite des Raumes war ein Bett hinzugekommen. Außerdem eine funktionierende Küchenzeile, wo einst ein Pflanztisch gestanden hatte. In einem der beiden Wandschränke befand sich mittlerweile ein kleines Bad, in dem anderen hing seine Kleidung.

Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte die Vorstellung, dass sich Jed Dalloway einmal mit einer so kargen Existenz zufriedengeben würde, in Chicago für Gelächter gesorgt. Und er selbst hätte wohl am lautesten gelacht.

Obwohl der Wind pfiff, schloss er die Tür nicht, um etwas frische Luft in den Schuppen hereinzulassen, während er seine metallene Kaffeekanne auf den Herd stellte. Die Kanne begann gerade zu gurgeln, als der Geruch des einsetzenden Regens in die Hütte strömte.

Er stellte sich in den Türrahmen und atmete tief ein. Im Gegensatz zu Otis Lungen funktionierten seine einwandfrei.

Der Gedanke war deprimierend, und er wandte seinen Blick von den Wolken ab, die wie eine nasse Decke am Berg hingen. Plötzlich ertönte Gebell. Samson.

Seufzend stürzte Jed einen Schluck heißen, bitteren Kaffee hinunter, bevor er den Becher beiseitestellte und in den Regen hinaustrat.

Er triefte bereits vor Nässe, als er den Hund fand.

Genau wie die rothaarige Frau, die mit dem Rücken an einem der herabgestürzten Felsbrocken stand, vor dem der Hund sie festgenagelt hatte.

„Samson“, rief Jed, woraufhin der Hund zurückwich und bereitwillig Sitz machte. Jed ging auf April zu. „Du musst völlig verrückt oder völlig verzweifelt sein“, stellte er ohne Umschweife fest. „Was um alles in der Welt treibt dich dazu, bei einem Sturm hier hochzufahren?“

Sie ob ihr Kinn. „Ich lebe in Colorado“, erwiderte sie unbeeindruckt. „Dort haben wir auch Stürme.“

„Tja, aber das hier ist ein verdammter Steilhang, und man muss sich nicht besonders viel Mühe geben, um von der Bergkante zu rutschen.“ Seine Worte wurden vom krachenden Donner übertönt. Er deutete brüsk auf Otis Hütte. „Komm mit.“ Die tückische Straße würde sie jetzt auf keinen Fall wieder hinunterfahren können.

Sie setzte sich in Bewegung – in der einen Hand ihre Aktentasche, in der anderen eine gepolsterte Tragetasche – und machte dabei einen weiten Bogen um den Hund.

Er seufzte ungeduldig und nahm ihr beide Taschen ab. „Samson wird dir nichts tun. Aber pass bloß auf, wo du hintrittst.“

Er führte sie zum Haupthaus. Auf keinen Fall wollte er sie dort haben, wo er schlief – er musste auch so schon ständig an sie denken.

„Setz dich“, sagte er und stellte ihre Taschen auf dem kleinen Tisch ab. „Ich hole ein paar Handtücher und etwas Trockenes zum Anziehen für dich.“

Sie ließ ihre Hand über ihr Haar gleiten und wischte es sich aus dem Gesicht. Ihre Augen waren unergründlich, klar und blau – wie zwei Saphire. „Danke.“

Otis schlief immer noch im Wohnzimmer und ließ sich von Jed nicht stören, als er durch den Flur ging, um ein paar Handtücher, ein Shirt und eine Jogginghose aus dem Trockner im Bad zu ziehen. Als er in die Küche zurückkehrte, hatte April ihren Mantel ausgezogen. Das weiße Oberteil, das sie darunter trug, war völlig durchnässt. Die Spitzenkontur ihres BHs war deutlich zu sehen.

„Sieht nach einer Fehlinvestition aus.“ Er warf die Handtücher und die trockenen Klamotten auf den Tresen und griff nach dem kleinsten. Sie waren alt und zerschlissen. Aber sie erfüllten ihren Zweck.

April griff nach einem Handtuch und lehnte sich zur Seite, um ihr Haar trocken zu reiben. „Der Fairness halber muss ich zugeben, dass für mich die auschlaggebenden Argumente für den Kauf des Mantels ‚preiswert‘ und ‚warm‘ waren, nicht ‚wasserfest‘.“ Sie klang etwas atemlos.

Jed wies April den Weg ins Bad, damit sie sich umziehen konnte. Als sie einen Augenblick später wieder in die Küche kam, wirkte sie etwas befangen.

„So hatte ich mir den Nachmittag nicht vorgestellt“, seufzte sie. „Ich nehme an, Mister Lambert ist auch heute nicht zu sprechen?“

Jed legte seine Finger an die Lippen. „Psst.“

In Aprils ebenmäßigem Gesicht bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Er war nicht gänzlich überzeugt, dass ihre Haarfarbe nicht aus der Tube kam – immerhin zierte keine einzige Sommersprosse ihr auffallend hübsches Gesicht.

Sie presste die Lippen zusammen. An ihrem leicht spitzen Kinn bildete sich der Hauch eines Grübchens.

Doch dann hörte sie es – Otis’ laut vernehmbares Schnarchen.

Ihre Miene entspannte sich.

„Ich werde ihn nicht wecken“, erklärte er mit leiser Stimme. Sie wirkte etwas beleidigt.

„Habe ich dich etwa darum gebeten?“ Sie nahm das Handtuch, das sie wie einen Umhang um ihre Schultern gelegt hatte, und rubbelte sich das Haar ab. „Deine Meinung über mich muss wirklich hervorragend sein.“

Es war nur gut, dass sie nicht wusste, was er von ihr hielt. Oder besser, welche Vorstellung sich in seinem Kopf abspielte, wenn er an sie dachte. Seine Fähigkeit zu romantischen Gefühlen war zusammen mit Tanya und den Babys gestorben, doch das bedeutete nicht, dass er gegen die Frauenwelt völlig immun war.

„Hier.“ Sie hörte auf, ihre Haare mit dem Handtuch zu bearbeiten, und griff stattdessen nach der Tragetasche. „Mit den besten Grüßen von meiner Grandma.“ Sie holte eine rechteckige Auflaufform hervor, die mit Folie überzogen war. „Erdbeer-Rhabarber-Cobbler. Sie scheint zu glauben, dass zwei Männer, die alleine leben, kulinarische Nöte leiden.“

Immerhin ein Appetit, den er stillen konnte.

„Vielen Dank!“

Er öffnete eine Schublade und holte eine Gabel hervor. Und da er sich rechtzeitig besann, dass er nicht gänzlich zum Höhlenmenschen mutiert war, stellte er auch einen Teller auf den Tisch.

„Willst du auch?“

„Bloß nicht! Ich hasse Rhabarber.“

„Das grenzt an einen Skandal!“

Sie lächelte und nahm auf einem der Stühle am Tisch Platz.

Er schaufelte sich eine große Portion des Desserts auf den Teller und nahm eine Gabel voll davon. Es war noch warm.

Er konnte erst wieder sprechen, als er bereits die Hälfte verdrückt hatte. „Mein Kompliment an deine Grandma.“ Er platzierte den Teller und die Gabel auf dem Tisch und setzte sich ihr gegenüber.

„Du wirst noch eine Weile bleiben müssen“, sagte er dann und deutete Richtung Fenster. „Es ist nicht sicher, zumindest nicht, bis sich die Wolken verzogen haben. Und so, wie es sich anhört …“ Er machte sich nicht die Mühe, weiterzusprechen, der trommelnde Regen auf dem Dach der Hütte sprach Bände.

Sie schwiegen eine Weile, und April rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum.

„Es fühlt sich nicht richtig an, hier zu sein“, sagte sie leise. „Nicht so.“

Im Haus zu sein, während Otis schlief, ohne zu wissen, dass sie sich unter seinem Dach befand, erschien ihr falsch. Es fühlte sich ihm gegenüber nicht fair an.

Jed zog eine Braue hoch. „Weil …?“

Sie atmete aus. „Weil, … Ach, ich weiß es nicht! Es fühlt sich an, als würde ich die Situation ausnutzen. Das hier ist keine faire Verhandlung.“

„Für eine Verhandlung braucht es mehr als eine Partei am Tisch.“

„Genau.“

Ein Muskel in seinem Kiefer spannte sich an, was die Narbe in der Nähe seines Mundes noch weißer leuchten ließ. „Hör mal, April.“ Er fing ihren Blick ein. „Otis wird nicht verhandeln. Glaub mir. Ich habe die letzten zwei Jahre damit verbracht zu versuchen, ihn zum Verkauf zu bewegen. Seitdem klar war, dass es mit ihm nicht wieder bergauf gehen würde.“

Sie befeuchtete ihre Lippen. „Ich weiß, es geht mich nichts an, aber …“

„Krebs“, erwiderte er knapp. „Aggressiv und unheilbar.“

„Es tut mir leid“, flüsterte sie.

Er wandte den Blick ab. „Ja.“

Seine sichtliche Mühe, eine ausdruckslose Miene zu bewahren, brach ihr fast das Herz.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Hitze bildete sich in ihrer Handfläche und stieg ihren Arm hinauf. Das Letzte, was sie wollte, war, sich zu ihm hingezogen zu fühlen. So zu tun, als wäre dem nicht so, fiel ihr jedoch von Minute zu Minute schwerer. „Jed, ich weiß, das ist nicht leicht, aber hat er … Weißt du, ob er ein Testament aufgesetzt hat?“

„Er spricht nicht darüber.“ Er schwieg, und einen Moment lang dachte sie, er würde nichts weiter sagen. „Aber so wie ich ihn kenne, würde ich das bezweifeln“, fügte er schließlich hinzu.

Sie bemerkte, dass er ihre Hand auf seinem Arm fixierte, während er sprach, und zog sie schnell zurück. Sollte sie ihn warnen, dass Otis möglicherweise Verwandte hatte? Jemanden, der das Land erben würde, wenn Otis nicht vorgesorgt hatte. Sie fragte sich, ob Jed die Möglichkeit bereits in Erwägung gezogen hatte.

Der Gedanke ließ sie sich noch mehr wie ein Aasgeier fühlen.

Unruhig stand sie auf, zog die Jogginghose hoch, die ihr von den Hüften zu rutschen drohte, und sah sich in der Küche um. Das altmodische Spülbecken (die Sorte, für die die Leute heutzutage ein paar Tausender hinlegten, um diesen ganz speziellen „Landhauslook“ nachzuahmen), der Fünfzigerjahre-Herd, die offenen Regale unter dem Holztresen und das fadenscheinige, achtlos zur Seite geschobene Stück Stoff, das ihnen als Vorhang dienen sollte, die unordentliche Sammlung alter Schüsseln und Lebensmittel.

„Wie alt ist die Hütte“, fragte sie schließlich.

„Das müsstest du Otis fragen.“

Wenn sie alt genug war, um von historischem Wert zu sein, gäbe es zumindest die Möglichkeit, sie schützen zu lassen. Ganz gleich, wer sie nach Otis’ Tod bekommen würde. Vielleicht könnte man sogar eine Art Guest Ranch aus der Rambling Rad machen. April nahm sich vor, Gage auf diese Möglichkeit anzusprechen, wenn sie ihn das nächste Mal sah.

Ein rasselndes Husten ertönte aus dem Nebenzimmer, und April zuckte zusammen. Jed erhob sich wortlos und verließ den Raum.

Draußen regnete es noch immer in Strömen, doch April stieß trotzdem die Hintertür auf, um vor die Tür zu treten. Ein kläglicher Versuch, dem kranken Mann im Nebenzimmer so viel Privatsphäre wie möglich zu gewähren. Als Jed zurückkehrte, stand sie noch immer dort.

„Was zum Teufel treibst du da draußen?“

Sie schob sich an ihm vorbei zurück in die Küche und wischte sich mit dem Handtuch den Regenschleier vom Gesicht. Dann öffnete sie ihre Aktentasche und holte den ersten Angebotsentwurf heraus, den Gage ihr mitgegeben hatte. Sie legte die mit Hochglanzpapier beschichtete Mappe auf den Tisch.

„Du kannst es dir auch gern durchlesen“, bot sie ihm an. „Natürlich ist nichts darin in Stein gemeißelt.“ Sie breitete die Hände aus. „Vielleicht könnte man den Großteil der Ranch davon ausschließen.“ Nicht, dass Gage etwas in der Art erwähnt hätte, aber ihr Chef ließ durchaus mit sich reden.

„Diese Hütte, zum Beispiel. Otis und sein, ähm, sein Stellvertreter könnten so lange bleiben, wie sie möchten. Und genug Land behalten, um die Ranch weiterhin zu bewirtschaften. Was immer Otis im Sinn hatte, als er meinen Boss kontaktiert hat.“

Jeds Miene war noch immer quälend ausdruckslos. „Alles für den Deal, was?“

Darauf hatte sie keine Antwort. „Früher oder später wird etwas mit diesem Land passieren. Es gibt hier einfach zu viele natürliche Ressourcen, als dass die Leute es einfach ignorieren würden. Lies wenigstens das Angebot. Ich … ich gehe jetzt.“

„Du kannst bei diesen Bedingungen nicht fahren!“

„Werde ich auch nicht“, versicherte sie ihm. „Ich warte in meinem Auto, bis es aufgehört hat zu regnen.“ Sie gestikulierte Richtung Tür. „Es wird nicht mehr lange dauern, die Wolken verziehen sich bereits. Und ich fühle mich nicht wohl dabei, hier zu sein. Ich komme zurück, wenn Mister Lambert bereit ist, sich mit mir zu treffen.“

„Du bist verrückt. Es ist eisig kalt. Und nass.“

Sie zog erst den einen, dann den anderen Stiefel an und hüpfte dabei leicht herum.

„Ich werde es überleben.“ April hob ihren nassen Mantel auf, dann deutete sie auf das Dessert. „Heb etwas für Mister Lambert auf. Frohe … frohe Ostern!“

Dann – bevor ihr gesunder Menschenverstand über ihren Fluchtinstinkt siegen konnte – schnappte sie sich ihre Aktentasche und eilte hinaus in den Regen.

Als sie die Holzschranke und die Felsbrocken passiert hatte, war sie erneut völlig durchnässt und zitterte.

Sie startete ihr Auto, drehte die Heizung auf und kauerte sich in ihren Sitz. Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Innenraum des Wagens aufgeheizt, und die Fenster waren beschlagen.

Sie schlug ihren Kopf gegen die Kopflehne. „Dumm, dumm, dumm.“

Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, kramte sie ihr Handy aus ihrer Aktentasche hervor und prüfte, ob sie Empfang hatte. Kein einziger Balken.

Sie öffnete ihre Kontaktliste, wählte Gage aus, und tippte schnell eine Nachricht. Ihr Daumen zögerte kaum, bevor sie auf „Senden“ drückte. Die Nachricht würde zugestellt werden, sobald sie wieder ein Netz hatte.

April atmete tief aus und warf das Telefon zurück in die Tasche.

Und dann wartete sie darauf, dass der Regen aufhörte.

5. KAPITEL

Nein. Oder besser: zur Hölle, nein.

April drehte das Telefon, um Archer Templeton die Nachricht zu zeigen, die ihr Chef ihr geschickt hatte.

Es war Dienstag. Drei Tage nach dem Unwetter.

Gage hatte ihr am Sonntag geantwortet. Das Osteressen auf der Pferderanch ihres Onkels und ihrer Tante war gerade in vollem Gange gewesen.

Seitdem hatte er jeden ihrer Versuche, ihn zu erreichen, ignoriert.

„Du kennst Gage schon ewig“, erklärte sie Archer jetzt. „Du musst ihn überzeugen, dass ich recht habe.“

Archer lächelte sie schief an. Seine grünen Augen blitzten amüsiert.

„Ich berate den Mann in Rechtsfragen, April. Das war’s. Du tust es vielleicht nicht, aber Gage denkt offensichtlich, dass du die Richtige für den Job bist.“

Obwohl Archers Büro in der Nachbarstadt Brandon lag, saßen sie an einem Ecktisch in Ruby’s Diner, da er später einen Gerichtstermin mit einem Mandanten in Weaver hatte.

Draußen vor dem Fenster waren alle Spuren des Regensturms verschwunden. Ostern war vorbei, und es war, als wäre ganz plötzlich der Frühling ausgebrochen. Die gestiegenen Temperaturen hatten die letzten Schneereste wegschmelzen lassen, und die Blumen steckten bereits ihre fröhlichen, bunten Köpfe in die Höhe. Das Gras war grün geworden, und die Bäume trugen ihre ersten Knospen.

April drehte ihr Glas mit Mineralwasser zwischen den Fingern. „Ich hätte beim Marketing bleiben sollen“, erklärte sie trübsinnig. „Damit habe ich angefangen. Ich habe bei der Expansion von Huffington in Colorado Springs die PR gemacht. Stanton war einer der Projektpartner.“

Archer lachte. „Gage hat dich aus der Firma deines Vaters weggeholt?“

Sie nickte und musste bei der Erinnerung lächeln. Ihr Dad war nicht verärgert gewesen, dass sie sich außerhalb des Familienunternehmens orientiert hatte – schließlich hatte er einst genau dasselbe getan. Er hatte mehr Probleme damit gehabt, ihrer Mom zu erklären, dass sie nach Denver ziehen würde.

„Es spielt keine Rolle, in wie viele Projekte ich involviert war. Ganz offensichtlich bin ich nicht dafür gemacht, Deals wie diesen an Land zu ziehen.“

„Dieser Deal ist nicht gerade alltäglich. Außerdem dachte ich, die Clays Schrägstrich Reeds geben niemals auf?“

„Leichter gesagt als getan“, murmelte sie.

„Tja“, begann Archer, bevor er sich umdrehte und eine Mappe aus der Aktentasche neben sich zog. „Vielleicht hilft das hier, deine Meinung zu ändern.“

Er platzierte die Mappe geöffnet auf dem Tisch und drehte sie so, dass sie die Schrift lesen konnte. „Louis Snead. Der einzige lebende Verwandte von Otis Lambert. Zumindest der einzige, den wir finden konnten. Siebenundvierzig, lebt in Texas. Keine nennenswerte Karriere. Als Letztes hat er Gebrauchtwagen verkauft. Sein Schuldenberg reicht ihm bis zu seinem hübschen kleinen Porno-Schnurrbart.“

„Ich schätze, du willst mir sagen, dass er über alle Maßen begeistert wäre, den Rambling Mountain zu erben?“

„Er ist ganz sicher nicht daran interessiert, die Leitung der Ranch zu übernehmen. Gemessen an seiner Vergangenheit, wird er auf einen schnellen Verkauf aus sein. Falls Lambert kein Testament hat.“

„Was wir nicht wissen.“ Sie schlug einen hoffnungsvollen Ton an: „Meinst du, Snead würde mit Stanton Development verhandeln?“

„Weißt du, ich bin ein Fan von Gages Geschäftsmodell. Und es ist durchaus erfolgreich. Aber da draußen gibt es Leute, die dickere Brieftaschen haben als er. Es wird nicht lange dauern, bis andere Bauunternehmer die Lunte riechen.“

Archer stützte seine Arme auf den Tisch und lehnte sich vor. „Wenn du wirklich darauf aus bist, Lamberts Interessen zu schützen, sorg dafür, dass Stanton ganz vorne in der Reihe steht.“

„Ich habe es zweimal versucht – er will sich nicht mit mir treffen.“ Den letzten Versuch, bei dem der Regensturm ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, zählte sie nicht. „Keine Ahnung, wie ich ihn davon überzeugen soll, mit mir zu reden“, erklärte sie mutlos, womit sie sich einen strengen Blick von Archer einhandelte.

Sie stieß ein ungeduldiges Schnauben aus.

„Na schön. Ich versuche es noch einmal.“

Archer zwinkerte ihr lächelnd zu. „Na bitte, Süße.“

April schnaubte erneute und rollte mit den Augen. „Nenn mich nicht so, das ist respektlos, Archer.“

Doch ihr Protest ließ sein Grinsen nur noch breiter werden.

Am nächsten Morgen fuhr April zum vierten Mal den Berg hinauf. Das schwarze T-Shirt und die Jogginghose lagen frisch gewaschen und zusammengefaltet auf dem Beifahrersitz. Außerdem hatte sie einen Plastikbehälter mit den Resten des glasierten Schinkens vom Osteressen dabei.

Der Himmel war knallblau, und als sie die gewundene Straße hinauffuhr, war es schwer, sich nicht von der spektakulären Aussicht ablenken zu lassen. Der Weg war ihr inzwischen so vertraut, dass sie wusste, wann sie in den versteckten Kurven abbremsen und wann sie auf der Geraden beschleunigen konnte. Sie wusste, wo sie den Schlaglöchern ausweichen musste und wo sie auf neue Felsstürze zu achten hatte.

Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war der Anblick des Mannes, der etwa eine halbe Meile vor der Holzschranke direkt an der Bergkante saß.

Er war alt. Seine Haut von Falten durchzogen. Und er lehnte sich so weit nach vorne, dass es aussah, als würde er jeden Moment überkippen und geradewegs in den Himmel fallen.

Alarmiert fuhr sie an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Die Straße war an dieser Stelle schmal. Bis zu dem Mann waren es nur ein paar Meter, trotzdem fühlte sich ihr Magen flau an.

„Mister Lambert?“ Es konnte unmöglich jemand anderes sein. „Geht es Ihnen gut?“

Er drehte den Kopf in ihre Richtung und blinzelte sie aus einem blassen, runzeligen Gesicht an. „Wenn ich vorgehabt hätte, einen Kopfsprung von der Kante zu machen, hätte ich es längst getan, Miss. Ich will auf meinem Berg begraben werden. Nicht an seinem Fuß.“

Seine Stimme war kräftiger, als es sein Äußeres vermuten ließ, doch seinen Worten folgte ein heftiger Hustenanfall, der sie dazu bewog, die letzten Meter im Laufschritt zurückzulegen.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, doch er winkte nur ab und zog ein blaues, gefaltetes Stofftuch aus der Jacke, das er sich vor den Mund hielt. Sie sah, wie seine schmalen Schultern bebten, bevor der Husten endlich nachließ.

Er hatte vielleicht nicht die Absicht zu springen, aber dieser schreckliche Husten hätte jeden von den Füßen reißen können, ganz zu schweigen von einem schwachen, alten Mann am Rande einer Klippe.

Sie hielt sich die Hand an ihr pochendes Herz und kniete sich zögerlich neben ihn auf die Straße. „Wie wäre es, wenn ich Sie zu Ihrem Haus fahre?“

Oder besser noch, ins Krankenhaus. Seinem Aussehen nach zu urteilen, gehörte er nämlich genau dorthin. Doch sie würde sich hüten, ihm diesen Vorschlag zu unterbreiten.

„Ich bin auf meinen eigenen Beinen hier runtergekommen“, erklärte er mürrisch. „Da kann ich wohl auch selbst wieder hochlaufen.“

Sie ließ sich vorsichtig zu Boden gleiten, bis sie auf dem Hintern saß, die Beine wie ein Schulkind gekreuzt. „Ich bin nicht sicher, ob ich das auch behaupten kann“, gab sie zu. „Ich bin April Reed.“

„Ich weiß, wer Sie sind.“ Er sah sie aus blassblauen Augen an. „Ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen.“

Nach allem, was sie über Otis gehört hatte, hatte sie nicht erwartet, dass er der Typ für Entschuldigungen war. „Nein, das …“

Er unterbrach sie mit einem Wink mit seiner knochigen Hand. „Machen Sie diese Art Geschäfte oft?“

Sie würde nicht lügen. „Das wäre mein erstes.“

„Ich verkaufe nicht“, sagte er unverblümt. „Aber ich hatte nie die Absicht, Ihre Zeit zu verschwenden. Auch wenn es unterhaltsam war zu sehen, wie sich der gute, alte Jed ein bisschen windet.“

„Sich windet?“ Es erschien ihr etwas kaltherzig, so mit dem Mann umzuspringen, der sich um ihn kümmerte. Außerdem gab es keinen Zweifel, dass Otis Jed sehr am Herzen lag.

„Was Sie anbelangt“, erklärte der alte Mann.

Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“

„Dann sind Sie nicht so schlau, wie Sie aussehen, Mädchen. Ich kenne Jed jetzt seit fünf Jahren. Der Mann hat ein Auge auf Sie geworfen.“

In ihrem Magen zog sich etwas zusammen, und sie presste die Lippen aufeinander. Dieses Gespräch verlief in eine ganz und gar falsche Richtung. Schnell lenkte sie Otis’ Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema – und weg von Jed.

„Nach Weaver zu kommen ist für mich nie eine Zeitverschwendung.“

Er steckte das Stofftuch zurück in seine Jackentasche. „Ich weiß, dass Sie hier Verwandte haben. Ich werde auch nicht an Ihren Grandad verkaufen.“

„Wenn Sie das gewollt hätten, hätten Sie es schon längst getan, schätze ich.“

Seine dünnen Lippen verzogen sich zu etwas, von dem sie annahm, dass es ein Lächeln war.

Ein Vogel flog vorbei und schlug elegant mit seinen spitz zulaufenden Flügeln. Schweigend beobachteten sie, wie er in der Luft kreiste, hinabtauchte, wieder aufstieg und schließlich außer Sichtweite flog.

Es fühlte sich fast heilig an, hier zu sitzen und die Pracht zu bestaunen, die sich unter ihnen ausbreitete. Manche würden dieses Paradies teilen wollen. Andere – wie Otis – wollten es offensichtlich ganz für sich behalten. Sie konnte beides verstehen.

„Es ist wirklich wunderschön hier, Mister Lambert. Falls es das ist, wovor Sie Angst haben: Stanton Development würde dafür sorgen, dass Ihr Land genau so erhalten bleibt, wie es ist, und wie Sie es sich wünschen.“

Otis kniff die Augen noch mehr zusammen. „Als ich Ihre Firma anrief, habe ich erwartet, dass Ihr Boss kommen würde.“

„Gage.“ Sie konnte die Überraschung in ihrer Stimme nicht unterdrücken. „Es tut mir leid. Wenn er gewusst hätte, dass Sie mit ihm gerechnet haben, wäre er sicher persönlich gekommen. Wenn Sie Ihre Meinung deshalb geändert haben …“

„Ich hab meine Meinung über gar nichts geändert.“

April konnte nicht anders, als ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen. „Mister Lambert, warum haben Sie Stanton Development dann kontaktiert?“

„Ich kannte vor langer Zeit die Mutter Ihres Chefs.“

Sie öffnete den Mund, doch die Worte versiegten, als sie verstand.

„Althea Stanton“, murmelte er. „Was für eine Frau … Hat mir sehr leidgetan, als ich gehört hab, dass sie vor einer Weile gestorben ist.“ Seine Aufmerksamkeit war noch immer auf den Berghang gerichtet. „Wollte wissen, was für ein Mann ihr Sohn ist.“

April studierte sein Profil, während es in ihrem Gehirn ratterte. Gages Mutter war gestorben, bevor April angefangen hatte, für ihn zu arbeiten, aber er hatte ein gerahmtes Foto von ihr in seinem Büro in Denver stehen. Außerdem wusste sie, dass er irgendwo einen jüngeren Bruder hatte. Mehr nicht. „Er ist ein guter Mann, Mister Lambert. Mit ihm Geschäfte zu machen …“

Wieder winkte er ab. Noch ungeduldiger.

„Ich habe meine eigenen Pläne für den Rambling Mountain.“

„Spielt Ihr Cousin darin eine Rolle? Mister Snead?“

Otis schnaubte, was einen weiteren Hustenanfall auslöste. „Halten Sie mich für einen Narren, Mädchen?“, fragte er, als seine Schultern aufgehört hatten zu beben.

„Haben Sie irgendjemandem von Ihren Plänen erzählt?“

Er stieß ein gackerndes Lachen aus.

„Hab ein süßes, kleines Testament gemacht.“

Erleichterung machte sich in ihr breit. Nicht, weil sie annahm, dass das Vorhandensein eines Testaments Stantons Anliegen in irgendeiner Weise weiterhalf. Wenn überhaupt, würde es die Sache eher verkomplizieren. Aber ein Testament würde die Dinge für diejenigen, die Otis zurücklassen würde, einfacher machen.

Für Jed.

Als ob ihre Gedanken ihn herbeigezaubert hatten, sah sie ihn auf der Straße auf sie zukommen – den furchteinflößenden Hund an seiner Seite.

Schnell sprang sie auf ihre Füße und wischte den Schmutz von ihrem Hintern ab. „Ich möchte Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, Mister Lambert.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

Angesichts seines Gesundheitszustandes erschien ihr die Bemerkung schrecklich belanglos. „Ich weiß, mein Grandpa würde wollen, dass ich Ihnen das sage: Falls Sie irgendetwas brauchen sollten …“

Wieder stieß Otis sein gackerndes Lachen aus. „Alles, was Ihr Grandpa will, ist zu wissen, ob er endlich eine Chance auf das Stück Land bekommt, auf das er seit fünfzig Jahren ein Auge geworfen hat.“

Sie konnte sich nicht dazu durchringen, es zu leugnen. Vermutlich hatte er recht. „Leute wie Sie und Squire sind das Herz dieses Landes, Mister Lambert. Das kann ich Ihnen versprechen: Er respektiert Sie.“

Er gab einen undefinierbaren Laut von sich und griff dann nach ihrer Hand. Es war eher ein Drücken als ein Schütteln. „Seien Sie vorsichtig auf der Straße“, sagte er etwas barsch.

Ihre Augen brannten plötzlich. „Das werde ich. Sie auch.“

Dann bemerkte Otis, dass Jed und der Hund sich ihnen näherten, und April ging zu ihrem Auto, um die Kleidung und die Box mit dem Schinken zu holen.

Sie ging Jed entgegen, und ihre Finger berührten sich, als sie ihm den Behälter in die Hände drückte. „Danke“, sagte sie, die Stimme dumpf, und wandte sich dann schnell ab, um zum Auto zurückzujoggen, bevor sie sich gänzlich zur Idiotin machte.

Sie setzte sich hinter das Steuer, startete den Motor und fuhr langsam an den beiden vorbei. Sie würde die Straße noch ein Stück hinauffahren müssen, bevor es eine Stelle gab, die breit genug war, um wenden zu können.

Als sie das ungleiche Paar einige Momente später erneut passierte, ging es bereits langsam zurück den Berg hinauf. Otis war an Jed gelehnt.

Jeds Kopf drehte sich in ihre Richtung, und sein Blick folgte ihr, als sie an ihnen vorbeifuhr.

Auf dem Rückweg nach Weaver kreisten Otis’ Worte in ihrem Kopf.

Der Mann hat ein Auge auf Sie geworfen.

„Ich gehe mich mal kurz frisch machen. Bestell ruhig noch eine Runde. Wenn wir unseren Arbeitsstress schon ertränken wollen, sollten wir es richtig machen“, rief April Piper zu, als sie ihren Hocker von der Bar wegrückte. Es war Freitagabend, und sie hatte sich mit Piper zu Appetizern und Drinks im Colbys verabredet.

Sie bahnte sich ihren Weg durch die freitagabendliche Menge zu den Waschräumen. Davor hatte sich eine kleine Schlange gebildet, und sie musste etwas warten, bis sie an die Reihe kam. Als sie zu ihrem Platz an der Bar zurückging, hielt sie kurz inne, als sie die vertraute Gestalt sah, die neben Piper Platz genommen hatte.

Ihr wurde flau im Magen, und sie bereute die vielen pikant gewürzten Chicken Wings, die sie verdrückt hatte.

Dann gesellte sie sich wieder zu Piper, die ihr einen fragenden Blick zuwarf, und schaffte es irgendwie, eine freundliche Miene aufzusetzen. „Kenneth“, begrüßte sie ihn. „Was für ein … interessanter Zufall.“

Er sprang vom Barhocker und war so großgewachsen und weltmännisch wie eh und je in seinem perfekt sitzenden Sportmantel, dem lässig gestreiften Hemd und der schmal geschnittenen Hose. Er nahm ihre Hände in seine. „Liebling.“ Bevor sie ihm ausweichen konnte, drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen.

Der Kuss war nicht unangenehm. Nichts an Kenneth war ihr je unangenehm gewesen – außer die überraschende Ernsthaftigkeit, die er an den Tag gelegt hatte. Aber es war auch nicht so, als würde die einfache Berührung seiner Hand das Feuer durch ihre Adern peitschen.

Sie hatte nicht vor, eine Szene zu machen, war aber froh, als er schließlich den Kopf hob und ihr damit den Ärger ersparte, ihm den Absatz ihres Schuhs in den Fuß zu rammen.

Sie wich so weit von ihm zurück, wie es seine Hände ihr erlaubten. „Was tust du hier, Kenneth? Wir haben uns vor Wochen getrennt!“

Er ließ seine Hand über ihre Wange gleiten. „Du weißt doch, die Liebe wächst mit der Entfernung. Wünscht sich nicht jede Frau einen Mann, der ihr nachläuft?“

Piper beobachtete den Wortwechsel mit Interesse. April warf ihr einen Seitenblick zu, doch ihre Freundin hob nur die Schultern.

Sie war wirklich eine große Hilfe.

April sah zu Kenneths Gesicht auf. Klassisch attraktiv mit einem penibel gestutzten Bart. Der Mann roch sogar gut. Auf dem Papier wäre er der perfekte Partner. „Woher hast du überhaupt gewusst, dass ich hier bin?“

„Von deinem Büro natürlich.“ Interessant, dass ihr Büro ihr Gages Aufenthaltsort verschwieg, der sich seit seiner letzten SMS weigerte, mit ihr zu sprechen, aber keine Bedenken hatte, ihren ihrem Ex-Freund mitzuteilen.

„Und heute Abend?“

„Von deiner Grandma.“ Er lächelte unbekümmert. Entweder war er viel begriffsstutziger, als sie gedacht hatte, oder er gab sich absichtlich arglos. „Warum gehen wir nicht irgendwohin, wo es ruhiger ist?“

„Wozu, Kenneth? Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Es tut mir leid, dass du hergekommen bist, aber …“ Als sie in den Spiegel über der Bar blickte, wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, und sie verstummte. Sie drehte sich um, und ihre Augen trafen auf die von Jed. Im Gegensatz zu Kenneths stylischem Aufzug trug er uralte Jeans und abgewetzte Cowboystiefel. Sein T-Shirt war vom vielen Waschen ausgeblichen – nicht aus modischen Gründen. Seine Haare waren kurz und zerzaust, und das Einzige, wonach er roch, waren Seife und frische Bergluft. Der Duft, den sie einfach nicht aus dem Kopf bekam.

„Aber … Na ja, weiß du, es …“

„Du hast jemand anderen?“ Kenneths Stimme klang plötzlich schrill.

Schnell löste sie sich von ihm und griff nach dem Strohhalm, den er ihr bot. Sie nickte. „Ja.“

Ohne groß darüber nachzudenken, ob das jetzt klug war, ging sie zu Jed, hakte sich bei ihm unter und streckte sich, um ihre Lippen kurz über seine raue Wange streifen zu lassen. Obwohl sie auf die Berührung vorbereitet war, überkam sie etwas, das sie nur als Beben bezeichnen konnte. „Du bist spät dran“, sagte sie so laut, dass Kenneth es hören musste.

Glücklicherweise wich Jed nicht vor ihr zurück – obwohl sie das fast erwartet hatte. Doch dass seine Hand nun langsam ihren unteren Rücken hinauf wanderte, kam völlig unerwartet. Der grobe Strick ihres Rollkragenpullovers bot keinerlei Schutz gegen seine Berührung. Und so, wie er fast unmerklich die Augenbrauen hob, schien es, als wäre ihm das durchaus bewusst.

„Tut mir leid“, murmelte er und strich dann mit seinem Mund über ihren.

Ein halber Kuss.

Weniger noch.

Und trotzdem fühlte es sich an, als würde sich die Erde unter ihren Füßen bewegen.

Möglicherweise war er sich auch dessen bewusst, denn er legte seinen Arm um ihre Schultern und hielt sie fest. Er war ihr so nah, dass sie die Hitze spürte, die von ihm ausging. Dieser Mann war der reinste Ofen. Für eine Frau wie April, der oft kalt war, war das wie die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.

„Stellst du mich deinen Freunden vor?“ Seine Stimme war tief, der Tonfall vertraut.

Sie befeuchtete ihre Lippen und riss ihren Blick nur mit Mühe von seinem los, bevor sie zu Piper sah.

Ihre Freundin blickte sie mit großen Augen an.

Ihr Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment bersten. „Jed, das ist Piper Madison. Beste Freundin schon immer, für immer und das alles. Und das, ähm …“

„Mein Vorgänger“, beendete Jed den Satz. Er streckte Kenneth seine große, mit Schwielen überzogene Hand hin. „Nichts für ungut, Kumpel.“

Kenneth wirkte noch verwirrter als Piper. Sichtlich widerstrebend schüttelte er schließlich Jeds Hand. „Du scheinst von mir gehört zu haben. Kann ich andersherum nicht behaupten.“

Jeds Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, bei dem sich Aprils Nackenhaare aufstellten – wie damals, als sie Samson bei ihrer ersten Fahrt auf den Berg begegnet war.

„So läuft’s nun mal, Ken“, gab Jed leichthin zurück.

Er blickte an ihnen vorbei und zog mit einem Fingerzeig die Aufmerksamkeit des schwer beschäftigten Barkeepers auf sich. „Noch eine Runde für die Damen“, sagte er.

„Was ist mit dir, Ken? Du siehst mir aus wie der Scotch-und-Soda-Typ.“

Kenneth schob sich die Hände in die Taschen. Er hätte für einen Modekatalog posieren können. „Ich nehme ein Glas Merlot.“

Jeds unverbindliches Grinsen blieb unverändert, doch April spürte, wie er innerlich lachte. Als ob er wüsste, dass Kenneth niemals etwas Härteres als Bier oder Wein trank.

„Sie haben den Mann gehört, Christian“, wandte er sich an den neuen Barkeeper, der gerade erst im Colbys angefangen hatte.

„Und für Sie?“

„Ich bin heute der Fahrer. Kaffee reicht.“

Dann wandte er sich wieder Kenneth zu. „Also Ken, was führt dich in diese Gegend?“

Kenneth schaute von Aprils Gesicht zu Jeds Hand auf ihrer Schulter und dann wieder zu Jed. „Schätze, ich bin irgendwo auf dem Weg falsch abgebogen.“

Plötzlich fühlte April sich schlecht.

„Kenneth …“

„Passiert den besten von uns“, versicherte Jed ihm, als wären sie zwei Männer, die sich über einen verpatzten Abschlag beim Golf austauschten.

Autor

Tara Taylor Quinn
Mehr erfahren
Allison Leigh

Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...

Mehr erfahren
Brenda Harlen
Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
Mehr erfahren
Kathy Douglass
Als Tochter lesebegeisterter Eltern ist Kathy Douglass mit Büchern aufgewachsen und hat schon früh eins nach dem anderen verschlungen. Dann studierte sie Jura und tauschte Liebesgeschichten gegen Gesetzestexte ein. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder wurde aus der Liebe zum Lesen eine Liebe zum Schreiben. Jetzt schreibt Kathy die Kleinstadt-Romances,...
Mehr erfahren