Bianca Extra Band 22

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DAS PRINZESSINEN-PROJEKT von RIMMER, CHRISTINE
Keine Eskapaden mehr - Prinzessin Alice will sich künftig untadelig benehmen. Doch beim Anblick des neuen Pferdepflegers schmilzt ihr Vorsatz dahin. Alice ahnt nicht, dass der vermeintliche Habenichts ein Tycoon ist, der zwei Trophäen begehrt: Ihren Lieblingshengst - und ihre Hand!

DENN DEIN HERZ WEIß MEHR ALS DU von PADE, VICTORIA
Eigentlich hat Derek ein Faible für verhängnisvolle Affären. Dennoch weicht er der warmherzigen Gia nicht von der Seite, als sie Hilfe braucht, um Freunde zu retten. Und plötzlich begreift er, was gefährlicher ist als immer an die Falschen zu geraten: Das Herz für die Richtige zu öffnen.

ZWEI WUNDER FÜR JODIE von DARCY, LILIAN
Drei wunderbare Nächte verbringt Dev mit Jodie. Dann geschieht ein Unfall. Seine Geliebte fällt ins Koma - und schenkt dennoch ihrer gemeinsamen Tochter das Leben! Als Jodie endlich zu sich kommt, kann Dev nur beten, dass auch ihre Liebe erwacht: zu der Kleinen - und zu ihm …

EINE FAMILIENPACKUNG GLÜCK von THOMPSON, NANCY ROBARDS
Nanny Lily hat vier Wünsche für Weihnachten: 1. Dr. Dunlevys verwaisten Patenkindern ein Lächeln entlocken, 2. sie am Brauen von "Zaubertränken" hindern, 3. gemeinsam Plätzchen backen - wie eine echte Familie. 4. Den Mistelzweig so hängen, dass Dr. Dunlevy ihn auch wirklich sieht …


  • Erscheinungstag 01.09.2015
  • Bandnummer 0022
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732561
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Rimmer, Victoria Pade, Lilian Darcy, Nancy Robards Thompson

BIANCA EXTRA BAND 22

CHRISTINE RIMMER

Das Prinzessinnen-Projekt

Noah wollte die Hand einer Prinzessin … und gewinnt das Herz einer Frau. Allen Härten des Lebens hat er standgehalten – wie kann es sein, dass Alice Bravo-Calabrettis zarte Liebe ihn so erschüttert?

VICTORIA PADE

Denn dein Herz weiß mehr als du

Derek hilft Gia, ihre alten Nachbarn vorm Ruin zu retten. Doch womöglich ist der Immobilienerbe auf deren Haus aus! Soll sie den Warnungen der Leute glauben – oder dem Versprechen seiner blauen Augen?

LILIAN DARCY

Zwei Wunder für Jodie

Als Jodie aus dem Koma erwacht, versteht sie die Welt nicht mehr. Wollte Dev nicht fortgezogen sein? Spontan besucht sie ihren Traummann – und trifft ihn mit einem Baby im Arm. Doch wo ist die Mutter?

NANCY ROBARDS THOMPSON

Eine Familienpackung Glück

Cullen will Lily nicht mehr gehenlassen. Denn die Nanny zaubert seinen Pflegekindern endlich wieder ein Lächeln aufs Gesicht. Doch er muss verhindern, dass sie auch sein gebrochenes Herz berührt …

1. KAPITEL

Am ersten Mittwoch im September wurde Alice Bravo-Calabretti in Versuchung geführt.

Dabei hatte sie sich so tapfer gehalten. Mehr als zwei Wochen lang war sie dem Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, treu geblieben. Alice hatte sich selten in der Öffentlichkeit gezeigt und wenn, dann hatte sie sich tadellos benommen. Sie hatte sich auf keinerlei Abenteuer eingelassen und Situationen gemieden, in denen sie negativ hätte auffallen können.

Eigentlich war das gar nicht so schwer gewesen. Sie hatte die Tage mit ihren geliebten Pferden und die Nächte allein zu Hause verbracht. Versuchungen waren so lange kein Problem für sie, wie es ihr gelang, sie zu meiden.

Bis zu jenem schicksalhaften Mittwoch.

Es war noch vor dem Morgengrauen in den Ställen. Alice machte eine der Stuten, Yasmine, für einen Morgenritt bereit. Gerade als sie ihr den Sattel aufgelegt hatte, hörte sie ein Geräusch im leeren Stall hinter sich.

Yasmine schlug mit dem Schweif und wieherte leise. Ihr Fell glänzte im fahlen Licht der Stallbeleuchtung. Alice sah sich suchend um, bis sie die Geräuschquelle entdeckte.

Einer der Angestellten fegte den Stallboden vor der Tür, die hinaus in den Hof führte.

Seltsam, sie hatte den Mann noch nie gesehen. Dabei waren die Stallungen des Palasts ihre zweite Heimat. Alle anderen Pferdepfleger und Stallburschen kannte sie sogar mit Namen. Vielleicht war dieser hier neu.

Gilbert, der Chef-Pferdepfleger, betrat den Stall und wechselte einige Worte mit dem Fremden. Der Mann lachte. Gilbert auch. Offenbar mochten die beiden einander.

Achselzuckend zog Alice Yasmines Sattelgurt an und trenste sie auf. Als sie die edle Stute aus dem Stall führte, bemerkte sie, dass Gilbert verschwunden war. Doch der neue Pferdepfleger war noch da und nickte ihr grüßend zu, als sie an ihm vorbeiging. „Ihre Hoheit.“

Seine Stimme klang tief und geheimnisvoll. Seine Körperhaltung zeigte eine merkwürdige Mischung aus Ehrerbietung und Selbstbewusstsein. Und dann auch noch sein Akzent … amerikanisch.

Alice hatte nichts gegen Amerikaner. Schließlich war ihr Vater einer. Aber alle anderen Pferdepfleger stammten aus Montedoro und benahmen sich ihr gegenüber völlig anders. Dieser Mann entsprach einfach nicht dem Typ, den Gilbert normalerweise einstellte.

Der Pferdepfleger hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah das Blitzen in seinen Augen und ihr Herz begann schneller zu schlagen.

Rasch sah sie weg. Es konnte ihr ganz egal sein, wie gut der neue Pferdepfleger aussah. Selbst wenn sie beim ersten Blick in sein Gesicht schlagartig daran erinnert wurde, wie langweilig ihr Leben doch geworden war, und ihr unwillkürlich eine ganze Reihe von unangemessenen Dingen einfiel, die mit ihm sicher Spaß machen würden.

Doch nichts davon würde passieren.

Sie riss sich am Riemen und musterte den Mann kühl. Er trug ein verblichenes Sweatshirt, dessen Ärmel abgerissen waren, dazu alte Jeans und noch ältere Cowboystiefel.

Und er war heiß. Groß und muskulös, mit einem Hauch bronzefarbener Bartstoppeln an den hohen Wangen.

Seltsam, schoss es ihr durch den Kopf, dass er nicht die übliche Kleidung der Pferdepfleger trug: braune Hosen, Hemd und Gummistiefel.

Der Fremde machte einige Schritte in ihre Richtung und sie vergaß den Gedanken so plötzlich wieder, wie er gekommen war.

„Was für eine Schönheit“, sagte er beinahe andächtig. Alice starrte ihn an wie hypnotisiert, während er ihrer Stute zärtlich die Nase streichelte.

Wie viele edle Pferde hatte Yasmine einen untrüglichen Instinkt, was Menschen anbelangte. Sie zeigte nur wenigen ihre Zuneigung. Doch zu dem attraktiven Amerikaner fasste sie sofort Vertrauen und knuffte ihn spielerisch in die Schulter.

Alice sah es mit Überraschung. Aber wenn Yasmine sich für den Fremden interessierte, hatte sie nichts dagegen. Und als sie beobachtete, wie freundschaftlich und vertrauensvoll Mensch und Tier miteinander umgingen, verstand sie auch, warum Gilbert den Mann eingestellt hatte. Ganz offensichtlich hatte er ein Händchen für Pferde. Außerdem brauchte er den Job, seinen Kleidern nach zu urteilen, dringend. Bestimmt hatte er Gilbert einfach leidgetan.

„Schönen Ausritt, Ihre Hoheit“, wünschte er ihr. Die Worte waren neutral, der Ton freundlich und unterwürfig und die Anrede „Ihre Hoheit“ korrekt.

Aber sein Blick …

Alles andere als korrekt. Ganz im Gegenteil.

„Danke schön“, antwortete sie knapp und flüchtete mit ihrem Pferd aus dem Stall.

Als Alice von ihrem Ausritt zurückkehrte, war der neue Pferdepfleger verschwunden. Nun, das war keine Überraschung für sie. Zum Aufgabenbereich der Pfleger gehörten auch viele Arbeiten außerhalb der Ställe.

Ihr Land, das Fürstentum Montedoro, war ein paradiesischer Flecken an der Côte d’Azur. Die Grenze zu Frankreich lag weniger als zwei Kilometer von den Ställen entfernt, und die fürstliche Familie besaß sogar ein Landgut in Frankreich.

Vielleicht musste der Pferdepfleger heute ja dort aushelfen.

Aber warum machte sie sich eigentlich so viele Gedanken darüber, wo sich der attraktive Amerikaner befand? Als ob sie das etwas anginge …

Sie widerstand der Versuchung, sich bei Gilbert nach ihm zu erkundigen, denn übermäßige Neugier in Bezug auf einen der Pferdepfleger war ein Luxus, den sie sich im Augenblick nun wirklich nicht leisten konnte.

Nicht nach der Sache in Glasgow.

Schon beim Gedanken daran stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht.

Und genau deswegen war es notwendig, dass sie immer wieder daran dachte. Sie musste die Erinnerung an diese Peinlichkeit frisch im Gedächtnis bewahren, um sich davon abzuhalten, sich irgendwann in Zukunft wieder so danebenzubenehmen.

Wie bei den meisten ihrer Eskapaden hatte alles ganz harmlos begonnen.

Aus einer Laune heraus hatte sie sich kurzfristig entschlossen, zum internationalen Vielseitigkeitsturnier nach Blair Castle zu fahren.

In der Woche vor dem Turnier war sie nach Glasgow geflogen, um zuvor noch eine kleine Tour mit dem Auto durch Schottland zu machen.

Sie kam nie bis Blair Castle. Genauer gesagt blieb sie schon in Glasgow hängen, wo sie sich mit einigen Freunden traf. Es war ein lustiger, ausgelassener Abend. Bis sie zufällig in diesem urigen Pub landeten, in dem gerade Karaoke-Nacht war.

Alice hatte ein oder zwei Bier über den Durst getrunken. Altus, ihr Bodyguard – ein Mann wie ein Baum, der ihr seit vielen Jahren ein treuer Wegbegleiter war –, hatte sie mehr als nur einmal warnend angesehen.

Doch sie hatte seine Blicke ignoriert. Und plötzlich hatte sie auf der Bühne gestanden und voller Inbrunst den Song „I kissed a girl“ von Katy Perry zum Besten gegeben. In diesem Augenblick war es einfach nur ein Spaß gewesen. Sie hatte ihre Performance voll ausgekostet und den Text nicht nur gesungen, sondern auch vorgespielt.

Am nächsten Morgen war die Klatschpresse voller Bilder gewesen, auf denen sie – mit hochgezogenem Rock und nicht mehr ganz korrekt sitzendem Oberteil – mit der süßen schottischen Barfrau geknutscht hatte.

Die Paparazzi hatten ihr Glück kaum fassen können.

Doch ihre Mutter, die Fürstin, war alles andere als begeistert gewesen.

Weil Alice zugeben musste, dass ihre Mutter recht damit hatte, sich über ihr unverantwortliches Verhalten zu ärgern, hatte sie sich geschworen, sich in Zukunft besser zu benehmen. Und dazu gehörte nicht zuletzt, sich von attraktiven, geheimnisvollen amerikanischen Pferdepflegern fernzuhalten, die ihr Herz schneller schlagen ließen.

Auch am nächsten Morgen, einem Donnerstag, traf sie wieder auf den Pferdepfleger, als sie um fünf Uhr in den Stall ging. Sein Anblick, in denselben verwaschenen Jeans und dem zerrissenen Sweatshirt wie am Vortag, sorgte für ein Flattern in ihrer Magengegend.

Um ihre Verlegenheit über das Wiedersehen zu überspielen, sagte sie in einem angeberisch-forschen Ton, für den sie sich schämte, sobald sie ihre eigene Stimme hörte: „Entschuldigen Sie, ich hatte wohl Ihren Namen nicht verstanden.“

Er hörte auf zu kehren. „Noah, Ihre Hoheit.“

„Ah, schön, Noah …“ Irgendwie hatte es ihr plötzlich die Sprache verschlagen. Sie fühlte sich wie eine Sechzehnjährige bei einem Meet & Greet mit Justin Bieber. Lächerlich. Einfach lächerlich.

„Würden Sie mir bitte Kajar satteln?“ Sie deutete vage auf die Box, in der der Schimmelwallach stand. Normalerweise putzte und sattelte sie die Pferde, die sie ritt, selbst. So konnte sie sich gleich ein Bild vom Zustand und der Laune des Pferdes machen und die Bindung zu ihm verstärken.

Doch da sie den Pferdepfleger nun einmal angesprochen hatte, musste sie auch etwas zu ihm sagen.

Außerdem war sie neugierig: Würde er mit Kajar ebenso souverän umzugehen wissen wie mit Yasmine?

Der Pferdepfleger – Noah – stellte den Besen zur Seite und machte sich an die Arbeit. Kajar stand ganz ruhig und spitzte die Ohren, als sich der Mann an ihm zu schaffen machte. Noah sprach leise mit dem Pferd, während er es für den Ausritt vorbereitete. Der Wallach war dabei vollkommen entspannt. Genau so sollte es sein.

Als Kajar gesattelt und aufgezäumt war, führte der Amerikaner ihn aus der Box in die Stallgasse und übergab Alice die Zügel. Dabei berührten die langen Finger des Stallburschen flüchtig ihre in Reithandschuhen steckenden Hände. Sie erhaschte einen Hauch seines Duftes. Sein Aftershave roch nach Zitrone, nach Sonne und nach Tannennadeln.

Sie hätte sich einfach bedanken und mit dem Pferd den Stall verlassen sollen. Doch irgendwie hatte er etwas ungeheuer Anziehendes an sich. So begann sie, ohne richtig darüber nachzudenken, ein Gespräch mit ihm: „Sie stammen nicht aus Montedoro.“

„Stimmt“, antwortete er leicht amüsiert und mit einem Hauch von Ironie.

„Sind Sie Amerikaner?“

„Richtig.“ Er sah sie ruhig an, seine Augen so blau wie das Mittelmeer am Privatstrand der Fürstenfamilie. „Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, in Los Angeles. Eigentlich in East LA.“ Er beobachtete sie aufmerksam, ähnlich, wie er es mit den Pferden tat. „Sie haben keine Ahnung, wo East LA ist, Ihre Hoheit, nicht wahr?“

Machte er sich über sie lustig? Sie spürte einen kurzen Anflug von Ärger, was diesen Mann nur noch interessanter machte. „Ich war schon in Südkalifornien. Ich habe dort einen Großcousin. Er lebt mit seiner Familie in Bel Air.“

„Bel Air und East LA trennen Welten. In Bel Air befinden sich einige der teuersten Anwesen der Welt – ähnlich wie hier in Montedoro. Dagegen ist East LA ein sozialer Brennpunkt.“

Alice hatte keine Lust, sich über Immobilien zu unterhalten. Oder über Klassenunterschiede. Im Übrigen sollte sie sich endlich auf den Weg machen. Doch ehe sie sich’s versah, öffnete sie den Mund, und eine weitere Frage kam heraus: „Leben Ihre Eltern noch dort?“

„Nein. Mein Vater wurde bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle getötet, als ich zwölf war. Meine Mutter starb neun Jahre später an einer Grippe.“

So jung hatte er schon beide Eltern verloren! Bestimmt war das nicht leicht gewesen!

Kajar schlug ungeduldig mit dem Kopf. Sie klopfte ihm beruhigend den Hals. „Wir gehen ja gleich, mein Junge, versprochen.“ Zu Noah sagte sie: „Wie traurig, das tut mir sehr leid für Sie.“

„Man sucht sich die Dinge nicht aus.“

Sie sah dem Pferdepfleger in die Augen. „Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.“

„Es hat dazu geführt, dass ich früh erwachsen und selbstständig geworden bin.“

„Haben Sie Geschwister?“

„Eine jüngere Schwester, Lucy. Sie ist jetzt dreiundzwanzig.“

Alice hätte nur zu gern gewusst, wie alt er war. Doch irgendwie erschien ihr die Frage zu persönlich. Um seine Augenpartie zeigten sich ganz leichte Fältchen. Er musste mindestens dreißig Jahre alt sein. „Und was hat Sie nach Montedoro geführt?“

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Sie haben aber viele Fragen, Ihre Hoheit.“

Sie antwortete ehrlich. „Ich fürchte, da haben Sie recht. Ich bin schrecklich neugierig. Außerdem sollte ich endlich gehen.“ Doch sie tat es nicht. „Seit wann sind Sie schon hier in Montedoro?“

„Erst seit Kurzem.“

„Und bleiben Sie länger?“

„Das kommt darauf an …“

„Worauf?“

Er antwortete nicht, sah sie nur unverwandt an.

Sie spürte ein Kribbeln im Bauch. Es fühlte sich an, als würde sie Champagner trinken. „Sie lieben Pferde.“

„Oh ja, sehr. Und Sie fragen sich jetzt, warum jemand aus East LA mit Pferden umgehen kann.“

Geh jetzt endlich! ermahnte Alice sich selbst, doch es war zwecklos. „Das haben Sie völlig richtig erkannt“, führte sie das Gespräch fort.

„Als ich achtzehn war, musste ich mir einen Job suchen. Ich landete bei einem Pferdezüchter in den Bergen von Santa Monica. Er hat mir viel beigebracht. Und ich habe schnell gelernt. Er hatte hauptsächlich Hannoveraner und Morgan Horses.“

„Tolle Rassen.“ Alice nickte anerkennend. „Stark, zuverlässig und schön. Längst nicht so nervös und anspruchsvoll wie Achal-Tekkiner.“

Alle ihre Pferde waren Achal-Tekkiner. Sie galten als die edelste und älteste Pferderasse der Welt. Ihre Wurzeln lagen in den kargen Wüsten von Turkmenistan und des nördlichen Irans. Achal-Tekkiner waren schnelle, temperamentvolle und zähe Pferde. Es galt als historisch gesichert, dass sowohl Dschingis Khan als auch Alexander der Große auf Achal-Tekkinern in die Schlacht gezogen waren.

„Achal-Tekkiner sind mit keiner anderen Rasse vergleichbar“, schwärmte der Pferdepfleger. „Eines Tages möchte ich einen besitzen.“

„Ein hochgestecktes Ziel“, bemerkte Alice.

Er lachte.

Es fühlte sich an wie eine zärtliche Berührung auf ihrer Haut.

„Wollen Sie mir damit sagen, dass ich niemals in der Lage sein werde, mir einen zu leisten?“

„Das wäre unhöflich. Außerdem scheinen Sie mir ein sehr zielstrebiger Mensch zu sein. Ich würde Ihnen durchaus zutrauen, dass Sie es schaffen, wenn Sie es nur genug wollen.“

Er sah sie schweigend an.

Von einem Moment auf den anderen übermannte Alice das Gefühl, dass ihr etwas entging.

„Was ist?“, fragte sie endlich, unangenehm berührt von der plötzlichen Stille und seinem durchdringenden Blick.

„Ich bin fest dazu entschlossen.“

Sie starrte auf seinen Mund. Die Form war wirklich verlockend. Wie es sich wohl anfühlen würde … sein Mund auf ihren Lippen. Es wäre so einfach, das herauszufinden. Der Pferdepfleger stand keinen Meter von ihr entfernt. Sie musste nur zwei Schritte machen, sich auf die Zehenspitzen stellen und sich einen Kuss stehlen …

Halt! Stopp! Sofort aufhören! Genau dieses dumme, kindische, ganz und gar unfürstliche Benehmen war es, das sie unter allen Umständen vermeiden wollte.

„Ich …“ Sie konnte ihren Blick noch immer nicht von seinen Lippen abwenden.

„Ja?“ Noah kam einen Schritt näher.

Sie packte die Zügel, die über Kajars Hals hingen. „Ich muss jetzt wirklich los.“

Der Pferdepfleger trat sofort zwei Schritte zurück. Zu ihrem Bedauern. Aber andererseits konnte sie froh sein, dass er ihr die Entscheidung abgenommen hatte.

„Einen schönen Ausritt, Ihre Hoheit!“, wünschte er ihr noch.

Wieder war der Mann fort, als sie mit Kajar von ihrem morgendlichen Ausritt zurückkehrte. Sie verbrachte den Vormittag damit, mit einigen der Jährlinge zu arbeiten. Danach ging sie zum Duschen und Umziehen nach Hause.

Am Nachmittag traf sie sich mit dem Organisationskomitee, das für die Grand Champions Tour verantwortlich zeichnete. Diese hochdotierte Springturnierserie würde im Juni des nächsten Jahres im Hafen von Montedoro Station machen, wo direkt am Wasser eigens für diese drei Tage ein Springplatz angelegt wurde.

Während der scheinbar endlosen Sitzung tat sie ihr Bestes, sich den Pferdepfleger mit den blauen Augen, den ebenmäßigen Lippen und der tiefen, ruhigen Stimme aus dem Kopf zu schlagen. Erfolglos.

In der Nacht, allein in ihrem Bett, träumte sie von einem Ausritt mit Noah. Sie hatte sich Yasmine gesattelt, er ritt ihren braunen Hengst Orion. Auf einer bunten Blumenwiese hielten sie an, stiegen ab und unterhielten sich, während die Pferde frisches Gras fressen durften. Doch als sie aufwachte, erinnerte sie sich an kein einziges Wort ihrer Unterhaltung.

Es war ein ganz und gar unspektakulärer Traum. Sie berührten einander kein einziges Mal, und von der Spannung, die sie in seiner Nähe gespürt hatte, war im Traum nichts zu bemerken. Sie lachten herzlich miteinander und benahmen sich wie langjährige Freunde, die einander gut kannten.

Am Freitagmorgen wachte Alice zur üblichen Zeit – lange vor Sonnenaufgang – auf. Sie war unruhig und unzufrieden. Ihre Gedanken kreisten um den Amerikaner. Warum nur? Sie kannte ihn ja kaum. Eigentlich gar nicht. Sie hatte ihn nur zweimal gesehen und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Es gab keinen guten Grund dafür, dass er sie so beschäftigte!

Aber andererseits war es auch nicht besonders verwunderlich. Noah war sexy und geheimnisvoll, ungezähmt und einen Hauch gefährlich. Er sprach ihre wilde Seite an. Sie fühlte sich magisch von ihm angezogen.

Wahrscheinlich war sie in letzter Zeit auch zu viel allein und zu Hause gewesen. Sie wollte sich wirklich nicht noch einmal in aller Öffentlichkeit lächerlich machen. Aber das bedeutete schließlich nicht, dass sie leben musste wie eine Nonne. Dass sie plötzlich so von diesem Noah besessen war, bedeutete wahrscheinlich einfach nur, dass sie wieder etwas mehr unter Leute gehen sollte.

Und dem stand nichts im Weg: Schon heute Abend würde im Palast der Fürstenfamilie ein Galadiner anlässlich des Geburtstags ihrer Schwester Rhiannon stattfinden. Es würde ein wundervoller Abend werden. Sie würde die ganze Nacht tanzen und jede Menge Spaß haben. Das nahm sie sich fest vor.

Alice stand auf, zog sich an und ging in den Stall. Halb wünschte sie sich, Noah dort zu treffen, halb hoffte sie, er würde nicht da sein.

Im Stall war keine Spur von ihm zu sehen.

Ihre Unsicherheit verschwand mit einem Schlag. Sie bedauerte, dass er nicht dort war. Sie hätte ihn gern getroffen und seine Stimme gehört. Außerdem hätte sie gern gewusst, ob sie sich auch heute noch so stark von ihm angezogen fühlte wie gestern.

Während sie die Rappstute Prisma putzte, sattelte und aufzäumte, hörte sie immer mit einem Ohr darauf, ob ein Geräusch sein Kommen verriet. Aber da war nichts.

Alice machte ihren üblichen Ausritt in der Hoffnung, der Pferdepfleger würde da sein, wenn sie zurückkehrte. Doch: Fehlanzeige.

Sie war kurz davor, sich bei Gilbert nach ihm zu erkundigen. Aber dann machte sie doch einen Rückzieher, weil sie das Gefühl hatte, sich zum Narren zu machen.

Und das war untypisch für sie. Sie war ein selbstbewusster Mensch. Das war sie schon immer gewesen. Sie sagte in jeder Situation ihre ehrliche Meinung, und es gab wenig, vor dem sie sich fürchtete. Auch wenn sie sich vorgenommen hatte, sich selbst und ihre Familie in nächster Zeit nicht mehr zu blamieren, so durfte sie doch Spaß haben und das Leben genießen. Das Problem war nur …

… es gab keines.

Sie hatte einen Mann kennengelernt, den sie attraktiv fand. Vielleicht würde sie ihn wiedersehen, vielleicht auch nicht. Gut, vielleicht gab es nicht viel, was sie verband – schließlich war sie eine Prinzessin von Montedoro, und er war ein mittelloser Amerikaner aus einer schlechten Gegend von Los Angeles.

Aber andererseits hatten sie doch einiges gemeinsam: Zum Beispiel war auch sie zur Hälfte Amerikanerin. Sie beide liebten Pferde. Sie hatte sich prächtig mit ihm unterhalten. Außerdem war er einfach eine Augenweide.

Und schon wieder ertappte sie sich dabei, wie sie ins Schwärmen geriet. Sie musste endlich damit aufhören. Vielleicht sah sie ihn wieder, vielleicht auch nicht. Ganz egal, was passierte, die Welt würde sich auf jeden Fall weiterdrehen.

2. KAPITEL

Nach einem anstrengenden, arbeitsreichen Tag bei den Pferden kehrte Alice gegen sechs Uhr abends zurück in ihre Villa im Stadtteil Monagalla, ganz in der Nähe des fürstlichen Palasts.

Ihre Haushälterin, Michelle Thierry, erwartete sie schon an der Haustür.

„Ich dachte schon, Sie würden überhaupt nicht mehr nach Hause kommen“, tadelte die Haushälterin ihre Chefin. „Haben Sie die Geburtstagsfeier Ihrer Schwester vergessen?“

„Natürlich nicht, Michelle. Entspannen Sie sich. Bis dahin habe ich noch alle Zeit der Welt.“

„Aber Sie sagten, Sie müssen um acht Uhr dort sein, wenn ich mich nicht irre“, widersprach Michelle.

„Oh, ich bitte Sie, Michelle. Das schaffen wir doch leicht.“

Michelle rümpfte die Nase. „Und wonach riechen Sie eigentlich?“

„Ich habe den ganzen Tag mit den Pferden gearbeitet. Dreimal dürfen Sie raten, wonach ich rieche …“

Die Haushälterin hob verzweifelt die Arme zum Himmel. „Stehen Sie doch nicht einfach nur herum! Ziehen Sie die Stiefel aus, und kommen Sie herein. Wir müssen uns beeilen. Es gibt noch so viel zu tun!“

„Warum erlaube ich Ihnen eigentlich, mich so herumzukommandieren?“

Michelle schenkte ihr ein charmant-zufriedenes Lächeln. „Vermutlich, weil Sie ohne mich nicht zurechtkommen würden.“

Und das war die Wahrheit.

Michelle war Ende vierzig und ein Muster an Disziplin und Effizienz. Sie kümmerte sich nicht nur um die ganze Villa samt Garten, als wäre es ihre eigene, sondern kochte auch noch hervorragend und trug die Verantwortung für Alices Garderobe. Michelle liebte ihre Arbeit und hatte einen exzellenten Geschmack.

Alice wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, sie in ihren Diensten zu haben. Lachend setzte sie sich auf die Treppenstufen vor der Haustür, um die Stiefel auszuziehen, die ihr Michelle sofort aus den Händen riss.

„Ins Bad“, befahl Michelle in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. „Sofort.“

Alice duschte, wusch sich die Haare und legte Make-up auf, bevor sie in das elegante rote Taftkleid von Oscar de la Renta schlüpfte, das Michelle für sie auf dem Bett bereitgelegt hatte.

Anschließend setzte sie sich an ihren Schminktisch, um sich von Michelle Fuß- und Fingernägel lackieren und dafür rügen zu lassen, dass sie ihre Hände nicht besser pflegte. Aber das ging nun wirklich nicht, wenn man tagein, tagaus mit Pferden arbeitete!

Die Limousine wartete bereits vor der Villa, als sie um zehn vor acht endlich ausgehfertig war. Die Fahrt hinauf zum Cap Royale, der Klippe über dem Mittelmeer, auf der der fürstliche Palast in all seiner marmornen Schönheit thronte, hätte eigentlich nur einige Minuten dauern sollen.

Doch die engen Straßen waren voll von Limousinen, die Gäste zu Rhias Geburtstagsfeier brachten. Alice hätte die Strecke schneller zu Fuß zurücklegen können. Und vor nicht allzu langer Zeit hätte sie dem Fahrer auch aufgetragen, kurz anzuhalten und sie aussteigen zu lassen. Aber heute nicht mehr.

Sie war fest entschlossen, sich in Zukunft weniger wild und dafür würdevoller zu benehmen. Also wartete sie geduldig in ihrer Limousine wie die anderen Gäste. Kurz vor halb neun rollte der Wagen endlich in den Innenhof des Palasts.

Für Alices Geschmack war das eigentlich noch pünktlich genug. Doch ihre Mutter würde das anders sehen. Fürstin Adrienne erwartete von den Mitgliedern ihrer Familie, dass sie bei wichtigen Anlässen nach Möglichkeit schon mit den ersten Besuchern eintrafen.

Nach wie vor strömten Gäste – die Damen in ihren feinsten Abendroben, die Herren im Smoking – über den roten Teppich durch den Haupteingang.

Alice ließ sich am Haupteingang vorbei zu einem Seiteneingang fahren, an dem zwei Palastwachen mit ernsten Mienen die Mitglieder der fürstlichen Familie und enge Freude erwarteten. Ihre Handtasche und ihre leichte Stola übergab sie einer Bediensteten, die sie in die Garderobe bringen würde.

Dann huschte sie durch scheinbar endlose marmorne Korridore zu dem Säulengang über dem ausgedehnten Palastgarten.

An der wuchtigen Steintreppe, die hinunter in den Garten führte, blieb sie kurz stehen und ließ die Szenerie auf sich wirken.

Unten, mitten im Garten, war ein riesiges weißes Zelt aufgestellt worden, in dem gleich dreihundert geladene Gäste sechsgängig speisen würden. Der Weg von Palast bis zum Zelt wurde von hunderten weißen Kerzen beleuchtet. Der Palast, das Zelt, die Gärten, ja ganz Montedoro schien in goldenes Licht getaucht.

„Da bist du ja endlich!“ Ihre Schwester Rhiannon, im fünften Monat schwanger und strahlend vor Glück, war am Fuße der Treppe aufgetaucht. So schnell es ihr Babybauch zuließ, eilte sie die Treppe hinauf, um Alice zu begrüßen.

Alice liebte alle vier ihrer Schwestern, doch zu Rhia hatte sie eine ganz besonders enge Beziehung. Sie waren nicht einfach Schwestern, sondern beste Freundinnen. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Der Verkehr … Die Straßen sind vollkommen verstopft.“

Die Schwestern umarmten sich kurz und küssten sich rechts und links neben die Wangen, um ihr Make-up nicht zu verschmieren.

Um sie herum fand ein wahres Blitzlichtgewitter statt. Überall warteten Fotografen – selbst bei einem eigentlich privaten Anlass wie diesem.

Rhia flüsterte: „Ich bin so froh, dass du da bist. Ich habe dich so vermisst!“

Alice hakte sich bei Rhia unter. Gemeinsam drehten sie sich zu den Kameras.

„Einfach lächeln“, riet Alice ihrer Schwester leise, ohne die Lippen zu bewegen. „Und keine Schwäche zeigen.“

Rhia legte ihre freie Hand stolz auf ihr Bäuchlein und lächelte für die Kameras. Sie hatte ja auch allen Grund zur Freude. Fast ein Jahrzehnt lang hatte sie gegen ihre Liebe zu Marcus Desmarais, einem der hochrangigen Mitglieder des fürstlichen Sicherheitsdiensts, angekämpft.

Nun hatte all das ein Ende. Rhia und Marcus waren seit einigen Monaten verheiratet, und man brauchte Rhia nur anzusehen, um zu erkennen, wie glücklich sie war.

Rhias große Geburtstagsparty heute Abend diente nach der eher bescheidenen Hochzeit im kleinen Kreis ein wenig auch dazu, ihren Ehemann in der Familie Bravo-Calabretti willkommen zu heißen.

Das war eines der Dinge, die Alice an ihrer Familie liebte: Dass sie Menschen an ihrem Verhalten und ihren Leistungen maß, nicht an Namen, Titeln oder Besitztümern. Selbst wenn sie, Alice, sich dafür entscheiden würde, ihr Leben mit einem Mann zu verbringen, der nichts war und nichts hatte, würde ihre Familie ihr keine Steine in den Weg legen.

Nicht, dass sie die Absicht hatte, sich in näherer Zukunft für einen Mann zu entscheiden. Und ganz bestimmt nicht für einen gewissen blauäugigen Amerikaner, den sie kaum kannte und vielleicht nie wiedersehen würde.

Einmal mehr versuchte sie, sich den Pferdepfleger aus dem Kopf zu schlagen. Rhia half ihr dabei, indem sie sie bei der Hand nahm und die Treppe hinunterzog.

Unten angekommen, suchten sie sich einen Weg durch die Menge. Vor dem Zelteingang entdeckte Alice ihren Bruder Damien, den jüngsten der vier Prinzen des Fürstenhauses Bravo-Calabretti. Er lachte gerade über eine Bemerkung seines Gesprächspartners und warf dabei den Kopf in den Nacken.

„Alice?“ Rhia wandte sich erstaunt zu ihr um.

Erst da wurde Alice klar, dass sie wie angewurzelt stehen geblieben war und mit offenem Mund zu ihrem Bruder hinüberstarrte.

Damien und der andere Mann waren inzwischen im Zelt verschwunden. Sie hatte seinen Begleiter hauptsächlich von hinten und nur einen Augenblick lang von der Seite gesehen, als dieser kurz den Kopf gedreht hatte.

„Das ist doch nicht möglich …“, murmelte sie stirnrunzelnd.

„Alice?“, fragte Rhia unsicher.

„Ich hätte schwören können …“

„Alles in Ordnung, Schwesterlein?“ Rhia zog besorgt die Stirn in Falten.

Alice schüttelte irritiert den Kopf. Na toll! Nicht nur, dass sie ständig an diesen Stallburschen denken musste, jetzt hatte sie schon Halluzinationen von ihm, wie er im Smoking mit ihrem Bruder plauderte.

„Hast du den großen, dunkelblonden Mann gesehen, der sich eben mit Damien unterhalten hat? Sie sind gerade gemeinsam ins Zelt gegangen.“

„Mit Damien? Den habe ich gar nicht bemerkt.“

„Wen hast du nicht bemerkt? Damien oder den Mann, der bei ihm war?“

„Weder den einen noch den anderen. Was ist denn plötzlich los mit dir, Alice? Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Das frage ich mich langsam auch“, antwortete sie trocken.

Am liebsten hätte sich Alice mit ihrer Lieblingsschwester irgendwo ein ruhiges Plätzchen gesucht, um ihr alles über den ebenso attraktiven wie geheimnisvollen Pferdepfleger zu erzählen, der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf ging.

Nach dieser Halluzination, die sie wie ein Blitzschlag getroffen hatte, wären eine tröstende Umarmung und einige nüchterne Ratschläge ihrer vernünftigen Schwester genau das Richtige gewesen.

Aber dazu war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. „Ach, egal“, winkte sie ab. „Ich erzähle es dir später. Komm, lass uns ins Zelt gehen. Marcus wird sich schon fragen, wo du geblieben bist!“

Der Familientisch befand sich auf einem langen Podest am hinteren Ende des Zelts. Alices Geschwister waren schon da, die verheirateten hatten ihre Ehepartner mitgebracht. Sogar Belle, die es nach Amerika verschlagen hatte, war mit ihrem Mann Preston McCade aus Montana angereist, um mit Rhia zu feiern.

Rhia flüsterte Alice zu: „Wir finden nie mehr Zeit, um in Ruhe zu reden.“

„Das empfinde ich auch so.“

„Komm doch am Sonntagabend zu mir. Wir essen gemeinsam zu Abend und reden, bis wir heiser sind, nur wir beide.“

„Wo ist denn Marcus?“

„Er trifft sich mit ein paar Freunden.“

„Ich werde kommen“, versprach Alice.

Die Schwestern umarmten sich kurz, bevor Rhia zu ihrem Mann ging und mit ihm in der Mitte der Tafel Platz nahm.

Bevor Alice ihren Platz suchte, begrüßt sie noch ihre Eltern. Ihre Mutter, die in einem schwarzen, mit Perlen besetzten Kleid von Chanel wie immer umwerfend aussah, begrüßte sie mit einem fröhlichen „Guten Abend, mein Kind“ und verlor glücklicherweise kein Wort über ihre Verspätung.

So war Fürstin Adrienne. Sie hatte hohe Erwartungen, aber sie übte selten Kritik, wenn sie nicht erfüllt wurden. Und vor allem nicht in der Öffentlichkeit.

In der Vergangenheit hatte Alice auf einem Marktplatz mit einem Motorrad einen Totalschaden verursacht, war eine Woche mit einem Scheich durch Marrakesch gezogen, hatte sich für den Playboy nur in ein gekonnt drapiertes Seidentuch gehüllt ablichten lassen und war in Peking bei der Teilnahme an einem Protestmarsch gegen das Regime verhaftet worden. Und das waren nur die Verfehlungen, an die sie sich spontan erinnern konnte. Vermutlich hatte sie auch eine ganze Reihe davon einfach bereits erfolgreich verdrängt.

Bis zu der Sache in Glasgow hatte ihre Mutter nie mehr getan, als sie behutsam daran zu erinnern, dass sie eine Prinzessin war und sich nach Möglichkeit auch so benehmen sollte.

Doch nach Glasgow war Alice zum ersten Mal in ihrem Leben ins Büro ihrer Mutter zitiert worden. Fürstin Adrienne hatte sie gebeten, die Tür hinter sich zu schließen, und ihr kühl mitgeteilt, dass sie nun zu weit gegangen war.

„Alice“, hatte ihre Mutter leise und traurig begonnen, „es spricht nichts dagegen, spontan und abenteuerlustig zu sein und das Leben zu genießen. Aber ich finde es nicht schön, wenn du dich selbst und unsere Familie blamierst und durch den Schmutz ziehst. Ich hoffe wirklich, dass ich nie wieder beim Frühstück peinliche Bilder von meiner halbnackten, sturzbetrunkenen Tochter in der Zeitung sehen muss.“

Schon bei der Erinnerung an diese unangenehme Unterredung krampfte sich Alices Magen zusammen. Sie schämte sich aufrichtig. Aber daran ließ sich nun leider nichts mehr ändern.

Alice studierte die Tischkärtchen und fand ihren Platz zwischen Belles Mann Preston und ihrer jüngeren Schwester Genevra.

Damien saß am anderen Ende der Tafel. Von dem Mann, der sie an Noah erinnert hatte, war keine Spur zu sehen.

Alice spielte mit dem Gedanken, vor dem ersten Gang noch rasch zu Damien hinunterzuhuschen und ihn zu fragen … ja, was eigentlich?

Wer war der dunkelblonde Mann, mit dem du gekommen bist?

Und wenn er sie daraufhin verwundert ansah und zurückfragte: Welcher Mann? Ich bin doch allein gekommen?

Sie überlegte so lange, bis sie ihre Chance verpasst hatte. Ihre Mutter stand auf, um die Gäste mit einer kurzen Ansprache zu begrüßen.

Spätestens als die Vorspeise serviert wurde, war Alice froh, dass sie es nicht geschafft hatte, sich bei Damien nach dem breitschultrigen Fremden zu erkundigen.

Ihr konnte völlig gleichgültig sein, wer er war und ob er überhaupt existierte. Sie würde den Abend genießen und den Geburtstag ihrer Lieblingsschwester feiern.

Dass sie Menschen sah, die gar nicht da waren, brauchte niemand zu wissen. Sie ließ sich ein zweites Glas Champagner geben und aß zufrieden einen Bissen perfekt gegarten Spargel, als ihr beinahe die Gabel hinuntergefallen wäre.

Noah, in perfekter Abendgarderobe, saß einige Tische entfernt zwischen einer langbeinigen Blondine und einer attraktiven Rothaarigen und sah ihr direkt ins Gesicht.

Noahs Blick ruhte auf Alice, als sie ihn bemerkte. Sie riss die Augen weit auf und wurde schlagartig blass.

In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er seinen kleinen, unschuldigen Schwindel vielleicht etwas zu weit getrieben hatte.

Sie hatte ihn für einen neuen Stallburschen gehalten, und er hatte einfach nur mitgespielt. Er war davon ausgegangen, dass sie das Ganze witzig finden würde.

Dass sie sich darüber ärgern oder aufregen könnte, war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können? Er hatte sich doch bestens über sie informiert, bevor er nach Montedoro gekommen war. Sie war mutig, unabhängig, neugierig und zu jeder Schandtat bereit. Ein Liebling der Klatschpresse. Warum sie so mitgenommen wirkte, jetzt, wo sie herausgefunden hatte, dass er doch kein Stallbursche war, konnte er nicht nachvollziehen.

Und was sollte er jetzt tun?

Jedenfalls nicht aufgeben. So viel stand fest. Jetzt nicht mehr, wo er sie kennengelernt und mit ihr gesprochen hatte, ihr Lächeln gesehen und in ihre Augen geschaut hatte. Sie war genau die Frau, die er gesucht hatte – und mehr.

Er hatte keine andere Wahl, als sich zu entschuldigen und zu versuchen, die Sache wieder geradezubiegen.

Das Essen – so raffiniert die einzelnen Gänge auch zubereitet waren – zog sich endlos hin.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Fürstin Adrienne endlich aufstand und die Gäste einlud, ihr zum Tanz in den Ballsaal des Palasts zu folgen.

Alice erholte sich nur langsam von dem Schock, Noah zwischen zwei Traumfrauen bei einem Galadiner am fürstlichen Hof gesehen zu haben. Erst gegen Ende des Essens war sie sich einigermaßen sicher gewesen, dass sie nicht halluzinierte.

Dieser Mann, der genauso aussah wie der amerikanische Pferdepfleger namens Noah, konnte kein reines Produkt ihrer überbordenden Fantasie sein.

Immerhin bedeutete das zu ihrer Erleichterung, dass sie nicht verrückt wurde.

Aber war der Mann von heute Abend wirklich der aus dem Stall, oder waren sich die beiden nur einfach verblüffend ähnlich? Oder wollte ihr vielleicht jemand einen Streich spielen? Und wenn ja, wer?

Wieder überlegte sie, sich Damien zu schnappen und ihn über seinen ihr unbekannten Freund auszufragen.

Aber selbst wenn Damien die Antworten auf all ihre Fragen hatte, würde es sich nicht vermeiden lassen, dass er im Gegenzug hinter ihre alberne Schwärmerei für den gut aussehenden Pferdepfleger kam.

Und wozu sollte sie sich das antun? Er würde sie nur auslachen.

Während sie noch überlegte, was sie tun sollte, sagte hinter ihr jemand: „Alice. Tanzen Sie mit mir.“

Die tiefe, samtweiche Stimme ging ihr wieder genauso sehr unter die Haut wie die beiden Male frühmorgens im Stall.

Alice drehte sich nicht um. Sie starrte wie hypnotisiert auf die geöffneten Flügeltüren des Ballsaals, die hinaus auf die Terrasse führten.

Sie würde so tun, als hätte sie die Stimme nicht gehört. Sie würde einfach losgehen, ohne sich umzusehen.

Und Gnade ihm Gott, wenn er es wagte, ihr zu folgen.

Andererseits würde ihm das nur zeigen, dass sie Angst vor ihm hatte. Das wollte sie nun auch wieder nicht.

Sie wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. „Sie!“

Er nickte. Dabei streckte er ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. „Bitte, lassen Sie mich erklären …“

„Ich traue Ihnen nicht.“

„Das kann ich verstehen.“ Er hielt seine Hand weiter ausgestreckt.

Der Mann hatte Nerven wie Drahtseile.

Irgendwann hielt Alice es nicht mehr aus. Es war einfach nur unhöflich, eine dargebotene Hand nicht zu schütteln, und unhöflich wollte sie nicht sein.

Als sich ihre Finger berührten, stockte ihr Atem.

Lächerlich.

Sie konzentrierte sich so sehr darauf, gleichmäßig ein- und auszuatmen, dass sie gar nicht bemerkte, wie Noah sie auf die Tanzfläche führte. Wie von selbst lag sie plötzlich in seinen Armen, und sie wiegten sich gemeinsam im Takt der Musik.

Zum Glück war er klug genug, sie nur vorsichtig zu berühren. Minutenlang schwiegen sie beide, was Alice nur recht war.

Denn die Alternative dazu wäre gewesen, ihn wütend und wild gestikulierend anzuschreien. Nur leider würde das Aufmerksamkeit erregen und den unvermeidlichen Paparazzi den nächsten Zeitungsaufmacher liefern, was absolut nicht infrage kam.

Ein Hauch seines Aftershaves stieg in ihre Nase. Zitrone und Tannennadeln, wie schon zuvor im Stall.

Alice fühlte sich merkwürdig. Schüchtern, sprachlos, jung.

Und im Nachteil. Während er ganz genau wusste, wer sie war, hatte sie keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatte. Sie hatte eine Menge Fragen an ihn, auf die er gute Antworten brauchen würde …

Das Stück endete, ein neues begann.

Noah steuerte sie fast unmerklich heraus aus der Menge an die Seite der Tanzfläche, wo sie weniger auf die anderen Paare achten mussten.

„Sie sind böse“, stellte er irgendwann fest.

„Wo haben Sie Ihre Freundinnen gelassen?“

„Meine Freundinnen?“

„Na, die Rothaarige und die Blonde, die beim Essen neben Ihnen saßen.“

„Das sind nicht meine Freundinnen.“ Er sprach sehr leise, dafür zog er sie eine Spur enger an sich.

Sie ließ es zu, weil sie ihn sonst wegen der lauten Geräuschkulisse, die die Tanzkapelle bot, nicht verstanden hätte.

„Die Damen wurden nur zum Essen neben mir platziert. Ich hatte darauf keinen Einfluss.“

„Dafür schienen Sie sich aber gut mit ihnen zu verstehen.“ Auch Alice sprach leise. Es hätte ihr gerade noch gefehlt, dass jemand das Gespräch mit anhörte und die Gerüchteküche zum Brodeln brachte.

Er zog sie noch enger an sich und flüsterte lächelnd: „Und das werfen Sie mir vor?“

Alice kochte im Stillen. Aber irgendwie hatte er ja recht. „Wer sind Sie eigentlich?“, fragte sie schließlich.

„Sie wissen, wer ich bin.“

„Noah.“

„Richtig.“

„Haben Sie auch einen Nachnamen?“

„Cordell.“ Er führte sie wie selbstverständlich zu einer Drehung. Dabei blieb er geschickt am äußeren Rand der Tanzfläche.

„Sind Sie Pferdepfleger?“

„Nein. Aber das habe ich auch nie behauptet. Sie sind einfach davon ausgegangen.“

„Und Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, den falschen Eindruck, den Sie mir vermittelt haben, zu korrigieren.“

„Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage.“

„Leben Sie in Los Angeles?“

„Seit einigen Jahren nicht mehr. Ich habe ein Anwesen in Carpinteria, in der Nähe von Santa Barbara. Dort lebe ich den Großteil des Jahres, wenn ich nicht gerade in einer meiner Wohnungen in London oder Paris bin.“

„Daraus schließe ich, dass Sie sich den Achal-Tekkiner, den Sie sich wünschen, ohne Schwierigkeiten leisten können.“

„Das kann ich durchaus. Das Problem ist nur, dass ich einen ganz bestimmten haben möchte.“

Eigentlich hätte sie das ahnen können. „Lassen Sie mich raten. Einen von meinen?“

„Orion.“

Alice stockte der Atem. Das war doch nicht möglich: In ihrem dummen Traum hatte er Orion geritten! „Den bekommen Sie nicht.“

Sie verhielt sich kindisch, und das wusste sie auch. Ganz davon abgesehen, war es auch schlecht fürs Geschäft. Letzten Endes züchtete sie ihre Pferde nämlich zum Verkauf – wenn auch zu hohen Preisen und nur an erfahrene Pferdeleute, die sie zu schätzen und gut mit ihnen umzugehen wussten.

Diese anspruchsvollen Kriterien erfüllten nur wenige Käufer. Und obwohl sie sich über Noah geärgert hatte, so war ihr doch klar, dass er dazugehörte.

Es war mit Sicherheit kein kluger Schachzug, Noah von vornherein abzulehnen. Zumindest nicht als potenziellen Pferdekäufer. Also fügte sie rasch hinzu: „Ich denke, dies ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit für einen Pferdehandel.“

„Sie haben damit angefangen.“

Der nächste Song war ein langsamer. Mühelos passte Noah sich an das neue Tempo an. Dabei sah er die ganze Zeit auf ihren Mund – gerade so, als wolle er sie küssen. Eine verrückte Idee, die er besser nicht in die Tat umsetzen sollte.

„Ich habe die Sache mit dem Pferdekauf als Beispiel dafür erwähnt, wie Sie mich angelogen haben. Vielleicht nicht direkt, aber indirekt. Als ich Sie das erste Mal gesehen habe, haben Sie den Stallboden gefegt, und Gilbert schien Sie zu kennen. Was sollte ich da anderes annehmen, als dass er Sie eingestellt hatte?“

„Gilbert und ich haben nur Spaß gemacht. Er sah mich beim Fegen und fragte mich, ob ich einen Job brauche. Ihr Bruder Damien hatte uns am Vortag vorgestellt. Damien weiß, dass ich Pferde liebe, und wollte mir während meines Aufenthalts in Montedoro eine Möglichkeit zum Reiten verschaffen.“

„Dann sind Sie also mit meinem Bruder bekannt?“

„Ja, wir sind befreundet.“

Sie erinnerte sich wieder an die beiden Frauen an seiner Seite, deren Aufmerksamkeit und Bewunderung er als selbstverständlich hingenommen hatte. „Sie sind ein Frauenheld. Wie Damien.“

„Ich bin Single. Ich genieße mein Leben und die Gesellschaft schöner Frauen.“

„Sie spielen mit mir.“

„Das tue ich nicht, Alice.“

Er hielt ihrem Blick über lange Zeit stand, was sie irgendwie aufregend fand.

Aber auch falsch. „Sie spielen schon mit mir, seit Sie im Stall diesen Besen in die Hand genommen und vorgegeben haben, jemand zu sein, der Sie nicht sind.“

„Jedes Wort, das ich zu Ihnen gesagt habe, war die Wahrheit. Jedes einzelne. Heute habe ich alles, was ich brauche – und mehr –, aber ich habe in East LA mit nichts begonnen. Meine Eltern waren beide tot, als ich einundzwanzig war, und ich habe eine Schwester namens Lucy.“

„Und Sie haben mit achtzehn begonnen, auf der Ranch dieses Pferdezüchters zu arbeiten?“

„Nein. Ich war auf dieser Ranch zu Besuch. Ziemlich oft. Sie gehörte meinem Boss, mit dem ich mich gut verstand. Er handelte mit Immobilien und stellte mich, als seine Geschäfte gut liefen, auf Provisionsbasis ein. Er hat mir alles beigebracht, was er wusste, und ich habe nicht nur bei den Pferden, sondern auch in Bezug auf Immobilien schnell gelernt.“

Das überraschte sie nicht.

„Vor der Krise war ich auf allen wichtigen Märkten aktiv. Ich bin rechtzeitig ausgestiegen und habe dabei einen schönen Gewinn gemacht. Heute verwalte ich nur noch mein Vermögen und verbringe den Rest meiner Zeit mit Dingen, die mir Spaß machen.“

Einige Minuten lang tanzten sie schweigend, bis Alice schließlich meinte: „Sie hätten mir das alles sofort sagen sollen.“

„Das sehe ich mittlerweile auch so. Es tut mir leid, dass ich das nicht getan habe, und ich entschuldige mich dafür.“

Er klang so … aufrichtig. Als täte es ihm wirklich leid, sie derartig an der Nase herumgeführt zu haben.

Aber trotzdem durfte sie sich nicht von ihm einwickeln lassen. „Warum haben Sie es dann nicht getan?“

„Alice, ich …“ Er brach ab.

„Ihnen fehlen die Worte? Das kann ich nicht glauben. Sagen Sie es mir einfach: Warum waren Sie nicht ehrlich zu mir?“

„Ich weiß es wirklich nicht. Weil es Spaß gemacht hat, Sie ein wenig in die Irre zu führen. Ich fand es aufregend.“

Sie verkniff sich ein Lächeln. „Ich bin nicht sicher, ob ich mit dieser Antwort zufrieden bin.“

„Okay, dann versuche ich es noch einmal“, schlug er vor. „Ich kam also früh am Morgen zum Reiten. Dann sah ich Sie, wie Sie die schöne Stute sattelten. Draußen war es noch dunkel, und außer uns beiden war niemand im Stall. Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen. Also habe ich mir den Besen geschnappt und gefegt, denn was ist weniger bedrohlich als ein Mann beim Kehren? Und dann … ich weiß nicht. Sie haben mich für einen Stallburschen gehalten und trotzdem mit mir gesprochen. Das hat mir gefallen, und ich wollte mehr über Sie erfahren. Das war alles.“

Sie schüttelte missbilligend den Kopf, obwohl sie ihm glaubte und genau wusste, dass er recht hatte. So gesehen hatte er sich wirklich tadellos benommen.

„In gewisser Weise bin ich der Noah, den Sie im Stall kennengelernt haben“, fuhr er fort. „Nur eben eine andere mögliche Ausgabe von mir. Der Noah, der nicht mit viel Glück ein Vermögen mit Immobilien gemacht hat. Ich dachte wirklich, wir würden später gemeinsam über diesen Spaß lachen.“

Der Tanz endete. Einen Moment lang wiegten sie auf der Tanzfläche weiter hin und her. Sie hätte sich aus seiner Umarmung lösen sollen.

Doch sie blieb, wo sie war.

Ihre Wut auf ihn war verraucht. Sie glaubte ihm, was er sagte. Er ging ihr unter die Haut.

Wieder begann ein neuer Song, und sie tanzten weiter.

Noah flüsterte ihr ins Ohr, sodass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte: „Ich habe es vermasselt, okay?“ Er wirbelte sie herum, und sie tanzten in die andere Richtung.

„Sie haben von Anfang an gewusst, wer ich bin, nicht wahr?“

Er lehnte sich so weit zurück, dass sie einander in die Augen sehen konnten, doch er ließ sie dabei nicht los. „Selbstverständlich. Ich bin ein Freund Ihres Bruders. Er hat mir von Ihnen erzählt, und auch von seinen anderen Geschwistern. Außerdem kenne ich Sie als erfolgreiche Pferdezüchterin und würde gerne – ganz unabhängig von meiner Freundschaft zu Damien – einen Ihrer Hengste kaufen. Da ist es doch nur natürlich, dass ich mich vorab informiert habe und jetzt alles über Sie weiß.“

Das bedeutete wohl, dass er auch die Bilder aus Glasgow gesehen hatte. Na dann, gute Nacht.

„Sie wissen alles über mich? Das klingt irgendwie, als würden Sie mir nachspionieren.“

Er zuckte die Achseln. „Wenn Sie es unbedingt so sehen wollen – vielleicht. Aber ich halte es einfach nur für eine gute Idee, mich so gut wie möglich über die Menschen zu informieren, mit denen ich Geschäfte machen möchte.“

„Es würde Sie also nicht stören, wenn ich Sie bei nächster Gelegenheit google und nachsehe, ob die Geschichte, die Sie mir heute erzählt haben, zur Abwechslung einmal stimmt?“

„Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich an Ihrer Stelle würde das mit Sicherheit auch tun.“ Er lächelte halb reumütig, halb amüsiert. „Und wenn Sie sich davon überzeugt haben, dass ich die Wahrheit gesagt habe, geben Sie mir dann noch eine Chance?“

Von einem Augenblick auf den anderen begann ihre Haut unter seiner Berührung zu prickeln.

„Was für eine Chance? Ich dachte, Sie wollten nur Orion kaufen?“

Er zog sie so eng an sich, dass sie kaum mehr atmen konnte. „Sie wissen genau, dass es um mehr geht als um das Pferd. Wer von uns beiden lügt jetzt, Ihre Hoheit?“

Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass der Noah, den sie heute Abend kennengelernt hatte – so selbstsicher, weltgewandt und erfolgreich –, mindestens genauso männlich, interessant und attraktiv war wie der Pferdepfleger.

Sie hatte keineswegs vorgehabt, ihm zu verzeihen, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte. Doch wenn sie ehrlich war, war es bereits geschehen.

Und nicht nur das: Sie dachte sogar darüber nach, ihm Orion zu überlassen. Weil sie ihn mochte, und weil sie gesehen hatte, wie gut er mit Pferden umgehen konnte. Sie konnte sich keinen besseren Besitzer für Orion vorstellen.

Als die Band schließlich eine Pause machte, ließ sie sich ohne Widerspruch von Noah bei der Hand nehmen und hinaus in den Garten führen.

3. KAPITEL

Es lief überraschend gut, fand Noah, während sie Hand in Hand durch den festlich beleuchteten Garten spazierten. Sie schien ihren anfänglichen Ärger auf ihn überwunden zu haben.

Trotzdem spürte er noch eine gewisse Zurückhaltung. Aber das störte ihn nicht.

„Sollen wir uns etwas zu trinken holen?“, fragte er.

„Gern.“

Im Zelt schenkten Kellner Wein und Champagner aus und mixten Cocktails. Sie nahmen sich zwei Gläser Champagner und gingen zurück an die frische Luft.

„Bei unseren Gesprächen im Stall hatte ich das Gefühl, dass Sie noch nicht wissen, wie lange Sie in Montedoro bleiben …“

„Damals wusste ich es wirklich noch nicht, aber mittlerweile hat sich einiges geändert, sodass ich am Donnerstag zurückfliegen werde.“

„Hat Damien Sie im Palast untergebracht?“

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, im Palast waren schon so viele Geburtstagsgäste einquartiert, dass ich eine Suite im Belle Époque genommen habe.“

Das Belle Époque war Montedoros teuerstes Fünf-Sterne-Hotel. Es lag mitten im Stadtzentrum, direkt gegenüber vom Kasino.

Ein anderes Paar kam ihnen entgegen. Sie grüßten sich mit einem Nicken.

Sobald sie wieder allein waren, sagte Alice: „Ich liebe das Belle Époque. Als Kinder gingen wir dort manchmal zum Nachmittagstee. Dann habe ich mich mit Kuchen vollgestopft und unsere Gouvernante, Miss Severly, hat mich getadelt.“

„Gouvernante? Ich dachte, Damien hätte gesagt, er und seine Geschwister wären ganz normal zur Schule gegangen.“

„Das sind wir auch. Aber sobald wir so alt waren, dass wir kein Kindermädchen mehr brauchten, hat sich Miss Severly um uns gekümmert, wenn unsere Eltern offizielle Verpflichtungen wahrgenommen haben. Sie hat in den Ferien mit uns gelernt und vor allem versucht, uns Manieren beizubringen.“

„Hatten Sie Angst vor ihr?“

„Kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Wenn Miss Severly mich getadelt hat, habe ich gewartet, bis sie wegsah, und dann so viel Kuchen in mich hineingestopft, wie es nur irgendwie ging, bis sie wieder hersah.“

„Und davon ist Ihnen dann schlecht geworden.“

Alice warf ihm einen bewundernden Blick zu. „Woher wissen Sie das?“

Er erinnerte sich zurück an all die Artikel aus der Klatschpresse, die er über sie gelesen hatte. Da lag die Vermutung nahe, dass sie meist das Gegenteil von dem getan hatte, was andere von ihr wollten. „Nur geraten.“

Sie kamen an einen Aussichtspunkt, der tagsüber einen traumhaften Blick hinaus aufs Meer bot. Alice ging bis ganz nach vorn an das Geländer, hinter dem die Klippen steil abfielen. Sie nippte an ihrem Champagner und machte eine beiläufige Bemerkung über den Zauber des nächtlichen Sternenhimmels.

Noah fühlte sich wie in einem Traum. Alice war eine faszinierende, in Rot gehüllte Erscheinung, die wirkte, als ob sie schwebte. Ihre Arme waren auf eine ästhetische, feminine Art trainiert, und ihre Haut war so zart wie die eines Babys.

Doch wenn sie ihn ansah, waren ihre Augen voller Geheimnisse.

„Ich habe mich leider nie so benommen, wie meine Eltern und Lehrer es gerne gehabt hätten“, kehrte sie mühelos zum ursprünglichen Thema zurück. „Das ist seit jeher ein Problem für mich. Ich bin einfach zu risikofreudig und abenteuerlustig. Aber ich versuche gerade, mir das abzugewöhnen.“

Er lehnte sich neben ihr an das Geländer. „Ein wenig Abenteuerlust und Risikofreude sind doch wirklich nicht verkehrt.“

Alice musste lachen. „Stimmt schon: ein wenig. Aber mit der Abenteuerlust ist das bei mir wie mit dem Kuchen. Ich bin voll davon.“ Sie leerte ihr Glas. „Deshalb versuche ich derzeit, mich ein wenig zurückzuhalten und möglichst damenhaft zu benehmen.“

„Ein Jammer. Ich finde Sie genau richtig, wie Sie sind.“ Er kämpfte gegen den Impuls, mit der Hand über ihr glänzendes Haar zu streichen. Aber er hielt sich zurück, denn er wollte sie nicht verschrecken.

„Irgendwann muss wohl auch ich einmal erwachsen werden.“ Ihre Schultern berührten sich, als sie sich über das Geländer lehnte. Sie duftete nach Lilien und Leder und einer frischen Meeresbrise.

Noah genoss den Moment. Er hätte die ganze Nacht so neben ihr stehen können. Doch sie war schon auf dem Weg zu einer schmiedeeisernen Bank, die sich in einer geschützten Laube hinter ihnen befand, die er bisher übersehen hatte.

Er folgte ihr langsam.

Alice setzte sich währenddessen und stellte das leere Glas neben sich auf den Boden. Dann forderte sie ihn auf: „Erzählen Sie mir mehr über Ihre Schwester.“

„Lucy ist viel jünger als ich – wir sind zwölf Jahre auseinander. Sie wurde fast immer zu Hause unterrichtet. Sie ist sehr einfühlsam und hat eine künstlerische Ader. Zeichnen konnte sie schon immer sehr gut, und sie trägt einen Zeichenblock und einen Bleistift bei sich, wo sie auch geht und steht.“

Alice deutete auf den Platz neben sich auf der Bank. „Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?“

Er tat es und sprach dabei weiter: „Außerdem näht sie gern und gut. Sie beherrscht ihre Nähmaschine besser als jeder Schneider, bei dem ich je war. Sie entwirft und fertigt ihre gesamte Garderobe selbst. Und jetzt hat sie von einem Tag auf den anderen beschlossen, dass sie nach New York gehen will, um dort Modedesign zu studieren.“

Irgendetwas an dem Ton, in dem er das sagte, störte sie. Also fragte sie nach: „Aber Sie haben etwas dagegen?“

„Lucy wurde den Großteil ihres Lebens zu Hause unterrichtet, weil sie oft krank war. Mehr als einmal wäre sie fast gestorben. Sie hatte Asthma und eine kaputte Herzklappe.“

„Hatte?“ Sie nahm ihm sein leeres Glas ab und stellte es zu ihrem. „Bedeutet das, dass es ihr jetzt besser geht?“

„Das Asthma ist deutlich zurückgegangen. Und nach einigen nutzlosen Operationen an ihrem Herzen wurde vor zwei Jahren endlich ein erfolgreicher Eingriff durchgeführt.“

„Dann kann sie jetzt ein normales Leben führen?“

„Sie muss noch immer vorsichtig sein.“

Alice blickte ihn forschend an. Zu forschend für seinen Geschmack. „Ich glaube, Sie sind da etwas überfürsorglich.“

„Bin ich nicht.“

Alice hatte ihn erwischt, das verriet ihr seine Stimme. Also bohrte sie weiter: „Aber Lucy empfindet es so …“

„Sie sind ganz schön clever“, murmelte er halb bewundernd, halb ärgerlich. Vielleicht hätte er sich doch besser eine dumme Prinzessin suchen sollen.

Aber er musste sie nur ansehen, lachen hören und beim Umgang mit den Pferden beobachten, um zu wissen, dass ein kleines Dummchen nicht die richtige Frau für ihn war.

Alice dagegen schon. Daran hatte er keine Zweifel.

„Natürlich bin ich clever“, neckte sie ihn. „Deshalb sollten Sie auch ab sofort ehrlich mit mir sein. Denn wenn Sie mich anlügen, werde ich es früher oder später herausfinden.“

„Ich war ehrlich mit Ihnen.“ Jedenfalls weitgehend.

„Sie sagten, Lucy sei dreiundzwanzig, nicht wahr?“

Er ertappte sich dabei, wie er auf ihre verführerisch vollen Lippen starrte. Aber er würde sie heute Nacht nicht küssen. Noch nicht. Er hatte Glück gehabt, dass es ihm noch gelungen war, die Situation zu retten und sie auf seine Seite zu ziehen. Ein weiteres Risiko wollte er heute nicht mehr eingehen.

„Warum sprechen wir eigentlich über Lucy?“, fragte er vorsichtig.

„Weil sie Ihnen wichtig ist.“

In diesem Moment überfiel ihn ein merkwürdiges Gefühl. Es war der Wunsch … nun ja … besser zu sein, als er in Wirklichkeit war. Alice gelang es mit ihrer schlichten, spontanen Art, ihn zu berühren.

Und Noah begann ungewollt, sich ihr zu öffnen. „Als unsere Mutter starb, standen wir vor dem Nichts. Lucy war neun und ständig krank, ich war einundzwanzig und begann gerade, für den Immobilienhändler zu arbeiten, von dem ich Ihnen erzählt habe. Gleichzeitig ging ich in die Abendschule, um einen Abschluss zu machen. Am Tag nach Mutters Tod stand die Fürsorge bei uns vor der Tür und nahm Lucy mit.“

„Es tut mir so leid …“, sagte sie leise, und er spürte, wie viel ehrliches Bedauern in ihrer Stimme mitschwang.

Er wollte viel von ihr, aber Mitleid nicht. „Glücklicherweise ist das gar nicht nötig. Am Anfang hielt ich es zwar in der Tat für ein Drama, aber irgendwann verstand ich dann, dass wir eigentlich großes Glück hatten.“

Sie sah ihn erstaunt an.

„Lucy hat eine wunderbare, liebevolle Pflegemutter namens Hannah Russo bekommen, bei der ich sie nicht nur jederzeit besuchen konnte, sondern die zusätzlich auch noch mich bemutterte.“

„Das klingt toll.“

„Das war es auch. Und dass mir die Fürsorge nicht erlaubt hat, die Vormundschaft für meine Schwester zu übernehmen, obwohl ich eigentlich alt genug dazu war, war ein wichtiger Weckruf für mich. Mir wurde klar, dass ich schnellstens vernünftig und erwachsen werden musste, wenn ich die Verantwortung für sie übernehmen wollte.“

Alices Blick war weich, doch ihre Augen glänzten so sehr, dass sich der Mond darin spiegelte. „Wie lange hat es gedauert, bis Ihnen die Vormundschaft übertragen wurde?“

„Drei Jahre nach dem Tod unserer Mutter durfte Lucy zu mir ziehen. Damals war sie zwölf. Seither habe ich mich um sie gekümmert. Sie ist meine Familie. Und auch wenn sie es manchmal nicht versteht – ich will wirklich nur ihr Bestes.“

„Das glaube ich Ihnen zur Abwechslung sogar.“ Sie beugte sich vor und wandte ihm den Kopf zu. „Sie sind ein Macho und ein Frauenheld. Aber gleichzeitig ein ruhiger, ausgeglichener Pferdemensch und ein verantwortungsbewusster Bruder, der seine Schwester über alles liebt. Sie senden ganz schön widersprüchliche Signale, Noah. Sie verwirren mich. Aber ich mag Sie. Vermutlich sogar zu sehr.“

„Gut“, flüsterte er. Mehr fiel ihm nicht ein, weil seine Sinne verrücktspielten. Was übte diese Frau nur für eine seltsame Macht über ihn aus? Aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – durfte er nichts überstürzen und sie schon gar nicht gleich an ihrem ersten gemeinsamen Abend küssen!

Ihr rotes Taftkleid raschelte, als sie sich noch näher zu ihm herüberbeugte.

Er spürte ihren warmen, süßen Atem auf seiner Wange.

Und erstarrte. Was nun? Sollte er sich zurückziehen? Oder war ein Kuss am ersten Abend vielleicht doch in Ordnung, solange er von ihr ausging und nicht von ihm?

Sie flüsterte: „Ich habe mir geschworen, ich würde Sie nicht küssen …“

„Na … dann.“ Er gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

„Aber … Noah … ich möchte es so gern.“

Ihre Köpfe waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er wagte kaum zu atmen. Jede Zelle seines Körpers befand sich in höchster Alarmstufe. Am liebsten hätte er Alice an sich gezogen und nie wieder losgelassen. Stattdessen sagte er mit rauer Stimme: „Vergessen Sie nicht Ihre guten Vorsätze.“

Vielleicht meinte er diese Ermahnung ja ernst. Aber für sie klang sie wie eine Herausforderung.

Und leider neigte sie dazu, jede Herausforderung anzunehmen, die sich ihr bot. „Ich pfeife auf meine Vorsätze.“

„Morgen werden Sie das vielleicht anders sehen.“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, log sie schamlos. In Zeitlupe lehnte sie sich vor, bis der Abstand zwischen ihren Lippen gerade noch groß genug war, um ein Blatt Papier durchfallen zu lassen. „Im Augenblick will ich dich einfach nur küssen.“

Er wartete. Lange. Sehr lange. Eine Ewigkeit. Doch Alice wich keinen Millimeter zurück.

Eine Unendlichkeit später legte er die Arme um sie, zog sie an sich, und ihre Lippen berührten sich.

Es dauerte einige Zeit, bis Alice während des atemberaubendsten Kusses ihres Lebens einen klaren Gedanken fassen konnte. Doch als es so weit war, riss sie sich los und rannte in den Palast. Dort holte sie sich in der Garderobe ihre Handtasche und ihre Stola und bat die Garderobenfrau, ihren Fahrer zu rufen.

Zwanzig Minuten später war sie wieder zu Hause. Aber sie war viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Also ließ sie sich ein Bad ein, um zu entspannen. Doch es funktionierte nicht. Sie konnte sich nicht entspannen. Sie war einfach ein hoffnungsloser Fall. Eine Fünfundzwanzigjährige mit der Impulskontrolle einer Grundschülerin.

Das Badewasser wurde immer kälter, und sie wurde immer wütender auf sich selbst.

Gegen zwei Uhr morgens stieg sie schließlich aus der Wanne und trocknete sich ab. Es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen.

Doch sie konnte nicht schlafen. Ständig ging ihr durch den Kopf, dass Noah gesagt hatte, er habe nichts dagegen, wenn sie nachlas, was sie im Internet über ihn fand.

Irgendwann gab sie auf. Sie stand auf, holte sich ihren Laptop und setzte sich damit ins Bett.

Es dauerte nicht lange, bis sie herausgefunden hatte, dass alles, was er ihr erzählt hatte – im Stall ebenso wie heute Abend – der Wahrheit entsprach. Was seine finanzielle Situation und seinen beruflichen Erfolg anging, hatte er offenbar eher unter- als übertrieben. Er war ein angesehener Geschäftsmann. Ein amerikanischer Selfmademan, wie er im Buche steht.

Mit achtundzwanzig Jahren hatte er es auf die Forbes-Liste der zwanzig erfolgreichsten Unternehmer unter dreißig geschafft. Vor zwei Jahren hatte ihn eine populäre Zeitschrift zu einem der zehn begehrtesten Junggesellen Amerikas gekürt. Über sein Anwesen in Santa Barbara hatte die Zeitschrift Leben und Wohnen heute einen mehrseitigen, reich bebilderten Artikel gebracht.

Einige der Bilder zeigten ihn mit seiner Schwester Lucy, die ein richtig nettes Lächeln hatte und noch sehr jung wirkte. Doch auf den meisten Fotos waren andere Frauen an seiner Seite. Fast immer verschiedene, aber eine attraktiver als die andere.

Es schien, als hätte er noch niemals eine längere, ernsthafte Beziehung geführt.

Diese nicht enden wollende Serie von Frauen in seinem Leben war der beste Grund, sich nicht mit ihm einzulassen. Das Letzte, was sie brauchte, war, sich in einen auf mehreren Kontinenten bekannten Frauenschwarm zu verlieben, der sie bei nächster Gelegenheit für ein x-beliebiges neues hübsches Gesicht mit überlangen Beinen eintauschen würde.

Erst nach vier schlief sie schließlich über dem eingeschalteten Laptop ein.

Sie erwachte gegen Mittag, frühstückte rasch, zog ihre Reitsachen an und fuhr in den Stall.

Von Noah war nichts zu sehen. Sehr gut. Mit etwas Glück würde es ihr gelingen, ihm in den fünf Tagen, die er noch in Montedoro verbringen würde, aus dem Weg zu gehen.

4. KAPITEL

Am Sonntag, beim traditionellen Familienfrühstück, wiederstand Alice heldenhaft der Versuchung, ihren Bruder Damien mit Fragen über seinen Freund Noah Cordell zu löchern. Sie hätte schon gern mehr über den interessanten Amerikaner erfahren. Doch da sie bereits entschieden hatte, dass sie und Noah ohnehin keine gemeinsame Zukunft hatten, konnte sie sich diese Mühe genauso gut sparen. Außerdem war es ohnehin besser, wenn Damien nichts von ihrem Interesse an Noah wusste. Das hätte nur zu endlosen Ermahnungen geführt.

Sie musste nur einfach noch einige Tage durchhalten, ohne etwas Dummes zu tun. Dann würde Noah wieder zurückfliegen nach Kalifornien, und spätestens in ein paar Wochen oder vielleicht auch Monaten würde sie ihn vergessen haben.

Am Montag und Dienstag hatte sie eine Reihe von Terminen im Zusammenhang mit der Grand Champions Tour. Eine prima Ablenkung, für die sie dankbar war.

Doch am Mittwoch, den sie im Stall verbrachte, hatte sie mit jeder Minute mehr Mühe, sich auf die Pferde zu konzentrieren. Umso mehr, wo sie ständig Orion sah.

Morgen würde Noah abreisen.

Sie hätte heulen mögen!

Er würde nach Amerika zurückkehren. Vermutlich würde sie ihn dann nie wiedersehen.

Und sie tat genau das, was sie unter allen Umständen hatte vermeiden wollen: Sie rief im Belle Époque an und ließ sich mit Noah Cordells Zimmer verbinden.

Noah hob nach dem zweiten Klingeln ab.

„Hallo?“

„Hier ist Alice. Fliegst du nun wirklich morgen zurück?“ Sie war überrascht und erleichtert, dass ihre Stimme normal und ruhig klang.

„Alice! Was für eine Überraschung.“

Sie versuchte, anhand seines Tonfalls seine Stimmung einzuschätzen. Gelangweilt klang er nicht. Aber begeistert auch nicht gerade.

„Bist du böse auf mich?“

„Nein. Ich habe einfach nur verstanden, dass du kein Interesse an mir hast. Erst bist du am Freitagabend weggelaufen, und dann bist du mir die letzten Tage absichtlich aus dem Weg gegangen.“

„Es tut mir leid. Ich … Ich hätte nicht anrufen sollen.“

Es entstand eine endlos lange Pause, bis er antwortete: „Sag das nicht. Ich freue mich, dass du’s getan hast.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

Sie seufzte vor Erleichterung. „Also: Fliegst du nun?“

„Ja. Morgen.“

„Und heute Abend?“ Ihre Stimme klang plötzlich rau. Sie räusperte sich. „Hast du schon etwas vor?“

Wieder Schweigen. Sie überlegte schon, ob er aufgelegt hatte, als er endlich fragte: „Was für ein Spiel spielst du eigentlich, Alice?“

„Es ist kein Spiel. Bestimmt nicht.“

„Es fühlt sich aber so an. Wie ein Spiel, in dem ich gar nicht gewinnen kann.“

„Sieh es positiv – wenigstens bin ich nicht langweilig und berechenbar“, antwortete sie leichthin.

Noch mehr Stille. Bis er schließlich antwortete: „Ich habe Zeit. Für dich.“

Von einem Moment auf den anderen fühlte es sich an, als würde sie schweben. „Ich werde ein langes Kleid und Diamanten tragen“, verkündete sie fröhlich. „Und ich möchte im La Chanson essen.“ Das La Chanson de la Mer galt als das beste Restaurant an der Riviera und lag direkt am Wasser. „Danach könnten wir ins Kasino gehen und ein paar Runden Baccara spielen“, schlug Alice vor.

„Wie du willst. Ich werde mich darum kümmern.“

In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Wangen wurden heiß. Sie war drauf und dran, die Kontrolle zu verlieren.

Und sie genoss es. „Wir treffen uns am Springbrunnen vor deinem Hotel“, erklärte sie. „Um acht Uhr.“

„Ich werde da sein.“

Noah wartete wie versprochen am Springbrunnen, als ihre Limousine vorfuhr.

Der Fahrer sprang heraus und hielt ihr die Wagentür auf.

Alice, in ihrem figurbetonten, bodenlangen goldenen Kleid, ließ sich von ihm beim Aussteigen helfen. Sie trug ihr Haar hochgesteckt, doch einige Locken waren den Haarnadeln entkommen und ringelten sich in ihrem Nacken.

Sie war allein, ohne Bodyguard. Genau, wie er gehofft hatte.

Als sich ihre Blicke trafen, stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht.

Während sich der Fahrer zurück ans Steuer setzte, standen sie einfach nur da und starrten einander an. Als sich die schwarze Limousine praktisch geräuschlos entfernt hatte, begannen sie beide gleichzeitig, aufeinander zuzugehen.

Drei Schritte, und er stand unmittelbar vor ihr, sah wie gebannt in ihre faszinierenden blaugrünen Augen.

Irgendwann hauchte er atemlos: „Du bist so unglaublich schön.“

Alice sagte: „Du bist hier. Ich hatte schon Angst, du würdest es dir anders überlegen.“

„Warum sollte ich die einmalige Gelegenheit verpassen, den Abend mit dir zu verbringen?“

Hinter ihr tauchte ein Fremder mit einer Kamera auf. „Da kommt ein Fotograf“, warnte er sie.

„Benimm dich möglichst würdevoll, und ansonsten ignorier ihn“, riet sie ihm. „Das ist jedenfalls das, was ich versuchen werde. Aber wie wir leider alle wissen, gehört würdevolles Benehmen nicht gerade zu meinen Stärken.“

„Ich finde, du benimmst dich äußerst würdevoll“, widersprach er. Sie lachte laut auf: „Das ist zwar gelogen, aber danke trotzdem für das Kompliment.“

Er hätte sie nur zu gern geküsst, doch das ging nicht, solange sie dieser Fotograf mit seiner Kamera verfolgte. „Sollen wir zuerst essen gehen?“ Galant bot er ihr seinen Arm.

„Sehr gern.“ Sie hakte sich unter.

Zum Restaurant waren es nur ein paar Schritte über den Platz und anschließend einige Stufen hinunter ans Wasser.

Noah hatte einen romantischen Tisch in der ruhigsten Ecke der Terrasse reserviert. Das Essen war wie immer vorzüglich und der Service genau so, wie er sein sollte: gleichzeitig aufmerksam und unsichtbar.

Sie unterhielten sich angenehm und ungezwungen. Wichtige Themen kamen dabei nicht zur Sprache, was ihm recht war. Er war schon glücklich darüber, einfach nur Zeit mit ihr zu verbringen und ihr Lachen zu hören, das ihn an perlenden Champagner erinnerte.

Nach dem Essen spazierten sie gemütlich zum Kasino. Erst spielten sie einige Runden Roulette und Würfel, bevor sie an einen Baccaratisch wechselten.

Viele Menschen blieben stehen, um ihnen zuzusehen. Einige schossen Fotos, andere flüsterten einander hinter vorgehaltener Hand etwas zu.

Noah hatte das vorhergesehen und den Kasinodirektor schon am frühen Abend telefonisch vorgewarnt. Das zahlte sich nun aus, denn das Kasinopersonal war offensichtlich auf die Situation vorbereitet und stellte sicher, dass ihnen die Schaulustigen nicht zu nahe kamen.

Alice gewann mehr, als sie verlor, und ihm ging es ebenso. Gegen elf Uhr forderte er sie heraus, in einem der exklusiven Räume hinten im Kasino Poker gegen ihn zu spielen.

Sie warf ihm erst einen misstrauischen Blick zu. Aber es kam, wie er es erwartet hatte: Sie konnte nicht widerstehen und stellte sich der Herausforderung. „Wird mir das später leidtun?“

Er zwinkerte ihr wortlos zu und führte sie in den von der Öffentlichkeit abgeschirmten Bereich des Kasinos, wo bereits ein Croupier auf sie wartete.

Während er sie zu ihrem Stuhl brachte, bemerkte sie die gleich hohen Chipstapel, die an beiden Plätzen vorbereitet waren.

„Ich würde vorschlagen, wir spielen um etwas Spannenderes als Geld.“ Er ging um den Tisch herum zu seinem Stuhl und setzte sich.

„Wenn du glaubst, dass ich mich hier ausziehen werde, hast du dich geschnitten.“

Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, woran sie gedacht hatte, und zu lachen begann. „Oh, wenn du willst, können wir den Croupier ja wegschicken.“

Alice versuchte, ernst zu bleiben, doch es gelang ihr nicht ganz. Die Grübchen in ihren Wangen verrieten sie. „Wechseln wir besser das Thema.“

„In Ordnung.“

Der Croupier begann mit dem Mischen der Karten.

„Also … worum willst du dann spielen, wenn nicht um Geld?“

Er sah ihr gerade ins Gesicht und sagte nur ein Wort: „Orion.“

Sie starrte ihn an. „Ich hoffe, das ist ein Scherz.“

Er schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Wenn ich gewinne, verkaufst du ihn mir.“

Sie legte den Kopf zur Seite und musterte Noah aufmerksam. Dabei glitzerten ihre Diamantohrringe im Licht der Kronleuchter, die an der Decke hingen.

„Meinetwegen“, räumte sie nach einigem Überlegen schließlich ein. „Aber du gewinnst nur das Recht, ihn zu kaufen. Bezahlen musst du ihn trotzdem. Und zwar zu meinem Preis.“

„In Ordnung.“

„Bist du sicher, Noah? Der Preis ist astronomisch.“

„Was verlangst du?“

Sie nannte ihm den Preis.

Er sah sie aufmerksam an, überlegte kurz und machte ein Gegenangebot.

Sie lachte, sah nach unten und machte ein Gegenangebot zu seinem Gegenangebot.

„Einverstanden.“

Der Croupier legte den gemischten Kartenstapel vor Alice hin, damit sie abheben konnte.

„Aber was bekomme ich, wenn ich gewinne?“, erkundigte sie sich neugierig.

„Kommt darauf an, was du haben willst.“

„Hmm.“ Sie musste nachdenken. Dann fiel ihr etwas ein. „Jetzt weiß ich etwas. Du spendest dem Kinderheim, in dem mein Schwager Marcus aufgewachsen ist, zwanzigtausend Dollar.“

Noah schmunzelte. „Okay, ich verstehe – ich zahle also in jedem Fall, ganz egal, ob ich gewinne oder verliere.“

Alice zog die linke Augenbraue hoch. „Völlig richtig erkannt.“

Er tat so, als zögere er, bevor er resignierte: „Zumindest ist es für einen guten Zweck. Einverstanden.“

Sie begannen zu spielen.

Noah bemerkte schnell, dass sie eine hervorragende Spielerin war – risikofreudig und konzentriert. Trotzdem schaffte sie es, nebenbei viel zu lachen und eine charmante Konversation zu führen.

Irgendwann hatte er nur noch wenige Chips übrig. Doch er kämpfte sich zurück und gewann mehrere Spiele in Folge.

Gegen zwei Uhr morgens nahm er ihr endlich ihren letzten Chip ab.

Es zeigte sich, dass sie eine gute Verliererin war. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und gestand ihre Niederlage ein: „In Ordnung, Noah. Du hast gewonnen. Ich überlasse dir Orion zu dem vereinbarten Preis.“

Schlagartig kam ihm eine Erkenntnis: „Du hättest ihn mir sowieso verkauft.“

Sie zuckte die Achseln und lächelte geheimnisvoll. „Wer weiß?“

Noah schüttelte fasziniert den Kopf. Diese Frau war wirklich immer wieder für Überraschungen gut.

„Lass uns gehen“, schlug sie vor.

Wie aus dem Nichts tauchte ein Bediensteter auf, der sie in ein Büro führte, in dem ihnen die Gewinne des früheren Abends ausgezahlt wurden, als sie noch gegen das Haus gespielt hatten.

Ein weiterer Bediensteter brachte Alice ihr goldenes Tuch und ihre Handtasche.

Wenige Minuten später standen sie unter dem sternklaren Himmel von Montedoro.

„Was nun?“, fragte Noah, obwohl ihm klar war, dass das ein Risiko war, weil er ihr so die Möglichkeit bot, den Abend an dieser Stelle zu beenden.

Aber er spekulierte darauf, dass sie das nicht tun würde. Sie schien ihre gemeinsame Zeit zu genießen.

„Gehen wir irgendwohin, wo wir allein sind.“ Wie aufs Stichwort tauchten zwei Männer mit Kameras vor dem Kasino auf. „Irgendwohin, wo wir uns ungestört unterhalten können.“

Noah stellte zufrieden fest, dass seine Einschätzung gestimmt hatte. „Als ob es in Montedoro einen Ort gäbe, an den die Paparazzi uns nicht folgen würden.“

Sie nahm ihn bei der Hand. Er atmete ihren Duft ein. So frisch. So aufregend. „Lass mich nur machen. Ich habe da eine Idee.“

„Oh-oh.“

Alice lachte. „Genau das sagt meine Schwester Rhia in solchen Situationen auch immer.“ Mit gespielter Verwunderung runzelte sie die Stirn. „Ach, woran kann das nur liegen?“

Er ließ sich nicht aufs Glatteis führen: „Ich habe nicht den Funken einer Ahnung. Aber lass hören.“

Als sie ihm ihren Plan auseinandergesetzt hatte, nickte er bewundernd. „Ich glaube wirklich, das könnte klappten“, stimmte er zu.

„Natürlich wird es das.“

„Also gut, dann los.“

Sie machten sich auf den Weg zurück zu seinem Hotel. Dabei blickten sie nicht zurück, um zu sehen, ob sie verfolgt wurden. Wozu auch? Natürlich wurden sie das. Die Paparazzi waren gnadenlos.

In der Hotellobby angekommen, zog Noah sein Handy aus der Tasche und rief seinen Fahrer an, bevor er mit Alice an seiner Seite in den Aufzug stieg.

Gemeinsam fuhren sie zu seiner Suite in der obersten Etage. Dort verließen sie den Lift und fuhren mit einem anderen wieder nach unten bis in die Tiefgarage. Von dort aus liefen sie über die Treppe zurück ins Erdgeschoss und verschwanden durch den Seiteneingang, vor dem schon Noahs Wagen wartete.

Der Fahrer, Talbot, hielt ihr die Tür auf, während Noah auf die andere Seite rannte und dort einstieg.

„Wohin soll die Fahrt gehen?“, erkundigte sich Talbot, sobald alle hinter den schwarz getönten Scheiben des Wagens in Sicherheit waren. Alice gab ihm einige Anweisungen, und die Limousine setzte sich in Bewegung.

Noah ließ inzwischen die Trennscheibe zwischen dem Fahrer und dem Fond hochfahren. „Endlich allein“, stellte er zufrieden fest. Er legte den Arm um Alice und zog sie an sich.

„Wenn ich dich jetzt küsse, wirst du dann wieder weglaufen?“

Sie betrachtete ihn ruhig. Ihre Augen glimmerten im Halbdunkel des Wagens. „Nicht, solange der Wagen fährt.“

Er neigte den Kopf und berührte mit seinen Lippen fast unmerklich ihre Stirn. „Erinnere mich daran, Talbot zu sagen, dass er nie wieder anhalten darf …“

„Klingt verlockend … für immer hier mit dir …“

Sie sah zu ihm hoch.

Ihre Lippen kamen sich ganz nahe, doch berührten sich kaum. Er gab ihr Zeit, sich an das Gefühl zu gewöhnen. Erst als Alice den Mund leicht öffnete und hörbar ausatmete, wagte er sie zu küssen.

Erleichtert stellte er fest, dass sie mitspielte.

Er erkundete ihren zarten, weichen Mund, ließ seine Zunge über ihre perlweißen, regelmäßigen Zähne gleiten.

Ihr leises Stöhnen verstand er als Einladung und rückte näher.

Als sie die Hand auf seine Brust legte und versuchte, ihn von sich wegzudrücken, murmelte er nur kurz zwischen zwei Küssen: „Was ist?“

Doch sie drehte den Kopf zur Seite. „Als Damien mitbekommen hat, dass ich dich besuche, hat er mich ausdrücklich vor dir gewarnt. Er hat gemeint, ich solle mich nur ja nicht mit dir einlassen.“

Ärger stieg in Noah hoch, doch er ließ sich nichts anmerken.

Alice fügte hinzu: „Aber meine Schwester Rhia hat mir geraten, nicht auf Damien zu hören.“

„Deine Schwester ist mir sehr sympathisch“, scherzte er und stahl sich einen Kuss. „Und mit deinem Bruder muss ich bei nächster Gelegenheit ein ernstes Wörtchen reden.“

Alice streichelte mit den Fingern seinen Nacken. „Oh nein! Bitte sprich nicht mit Damien über mich. Es geht ihn überhaupt nichts an, was ich tue und was nicht.“

Noah hatte mehr oder weniger erwartet, dass Damien ihn nicht gern mit seiner Schwester sehen würde. Er hatte überlegt, Damien den wahren Grund dafür zu verraten, warum er seine Einladung nach Montedoro angenommen hatte. Doch er hatte sich schließlich dagegen entschieden und Damien nur gesagt, dass er Alice gerne ein Pferd abkaufen wollte.

Ein Glück, dass er Damien keinen reinen Wein eingeschenkt hatte. Und auch Alice durfte nie die ganze Wahrheit erfahren. Sie würde ihm nie verzeihen, wenn sie wüsste, dass er schon mit der Absicht, sie zu heiraten, nach Montedoro gekommen war.

Erst jetzt, da er sie besser kennengelernt hatte, kamen ihm Zweifel an seinem ursprünglichen Plan.

Alice war offen, ehrlich. Seit er gesehen hatte, wie übel sie es ihm genommen hatte, dass er sich ihr gegenüber als Stallbursche ausgegeben hatte, war ihm eines klar: Er durfte sie nicht noch einmal anlügen.

Doch andererseits würde ihr die Wahrheit vermutlich noch weniger gefallen.

Aber all diese Überlegungen waren ohnehin müßig, denn womit er im Vorfeld nicht gerechnet hatte, war, dass ihm seine Gefühle einen Strich durch die Rechnung machen würden.

Es war, als würde er sich in Alices Gesellschaft plötzlich in einen anderen Menschen verwandeln. In einen Menschen, der ihr alles geben wollte, was er hatte, einen Menschen mit dem festen Vorsatz, ab sofort alles richtig zu machen und über sich selbst hinauszuwachsen.

Noah verstand die Welt nicht mehr. War das wirklich noch er selbst?

Alice bedeutete ihm etwas. Und zwar nicht als Prinzessin, nicht als Statussymbol, nein, als Mensch. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, welche Folgen das langfristig haben konnte – nämlich dass sie alles von ihm verlangen konnte. Einschließlich der vollen, ungeschönten Wahrheit.

Aber so weit konnte und wollte er heute nicht gehen. Dafür war es einfach noch zu früh.

Sie legte ihre Hand an seine Wange. „Erde an Noah. Bist du noch da?“

„Vergiss Damien!“ Er sagte es viel zu grob, das merkte er selbst. „Küss mich lieber.“

Sie lachte und gehorchte.

Danach schmiegte sie sich eng an ihn und legte den Kopf auf seine Schulter, bevor sie fragte: „Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt, du und Damien?“

Gierig sog er den süßen Duft ihres Haares ein. „Ich dachte, wir wollten Damien vergessen.“

Sie hob den Kopf gerade weit genug, um ihn schütteln zu können. „Du vielleicht. Aber ich nicht. Und ich würde wirklich gern wissen, wie ihr euch kennengelernt habt.“

„Auf einer Cocktailparty in New York, vor etwas über zwei Jahren. Wir waren beide Bekannte des Gastgebers. Beim Small Talk haben wir festgestellt, dass wie gemeinsame Interessen haben.“

„Lass mich raten: schnelle Autos und schöne Frauen …“

Noah stritt es nicht ab. „Ich mag deinen Bruder. Wir verstehen uns gut. Jedenfalls meistens.“

Der Wagen hielt.

„Da sind wir ja schon“, stellte Alice fest. Sie richtete sich auf und wartete, bis Talbot nach hinten kam, um ihr die Tür zu öffnen, während Noah an seiner Seite ausstieg.

Die Limousine stand auf einem Plateau an einem einsamen Küstenstreifen, der steil ins Meer abfiel. Noah konnte das Rauschen der Wellen hören, die unten auf die Felsen prallten.

Er suchte über den Wagen hinweg den Blickkontakt zu Alice. „Es ist traumhaft schön hier.“

Sie strahlte, als hätte sie die Landschaft persönlich geschaffen. „Ich habe gewusst, dass es dir gefallen würde. Siehst du die Stufen dort drüben? Sie führen hinunter zu unserem Privatstrand. Hast du zufällig eine Decke im Kofferraum?“

Talbot eilte dienstfertig zum Kofferraum und öffnete ihn. Er fand sogar zwei Decken, die er Noah reichte, bevor er wieder in die Limousine stieg, um auf ihre Rückkehr zu warten.

Noah warf einen zweifelnden Blick auf ihre goldfarbenen Sandalen mit den schmalen, hohen Absätzen. „Schaffst du es mit diesen Schuhen über die steile Treppe nach unten?“

Sie sah an sich hinunter. „Nur unter Lebensgefahr.“ Kurz entschlossen streifte sie die filigranen Gebilde ab, hob sie auf und warf sie ins Auto. „Okay, ich bin bereit. Los geht’s.“

Alice ging voraus. Ohne Stolpern, Klagen oder Schmerzensschreie kamen sie unten am Sandstrand an.

Hier zog Noah seine Schuhe und Socken ebenfalls aus und rollte die Hosenbeine hoch.

Unweit des Wassers breitete er eine der Decken aus, und sie setzten sich gemeinsam darauf. Nun, da sie still saßen, fühlte sich die abendliche Brise plötzlich kühl an. Also legte er Alice die zweite Decke um die nackten Schultern.

Wie schon im Wagen schmiegte sie sich an ihn, als hätten sie schon immer zusammengehört. Eine Zeit lang blickten sie schweigend, wie verzaubert, auf die fahle Mondsichel, die sich vor ihnen im Wasser spiegelte.

Irgendwann brach sie das freundschaftliche Schweigen. „Ich glaube, ich mag dich zu sehr.“

Er küsste ihre Haare. „Zu sehr gibt es gar nicht.“

Sie lachte. „Außerdem bist du zu attraktiv.“

„Dann werde ich dir zuliebe versuchen, hässlicher zu sein.“

„Aber das ist noch nicht alles. Du bist nämlich zudem noch zu witzig und zu respektlos und zu gefährlich. Und ein Herzensbrecher, genau wie Damien gesagt hat. Das darf ich niemals vergessen, sonst werde ich mich früher oder später selbst davon überzeugen können.“

Er legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob es an, bis sie ihm in die Augen sah. „Ich habe nicht vor, dir das Herz zu brechen.“

Alice schüttelte nachdenklich den Kopf. „Vielleicht nicht mit Absicht. Männer wie du tun Frauen nicht absichtlich weh. Es passiert einfach. Sobald sie eine Frau erobert haben, beginnen sie sich zu langweilen und suchen sich eine neue. Und lassen dabei die alte mit gebrochenem Herzen zurück.“

Langsam begann er, sich angegriffen zu fühlen: „Soweit ich gehört habe, sollst du auch schon das eine oder andere Herz gebrochen haben.“

Sie stöhnte auf. „Ich hätte mir denken können, dass du das sagen würdest. Schließlich kann ich ja keine Geheimnisse haben. Mein ganzes Leben liegt wie ein offenes Buch vor jedem, der sich dafür interessiert.“

Unvermittelt warf sie die Decke über ihren Schultern ab, sprang auf und lief bis ins knöcheltiefe Wasser.

Er stand ebenfalls auf und folgte ihr langsam.

Vermutlich war es besser, ihr einen Moment allein zu gönnen, damit sie sich wieder fangen konnte.

Als er schließlich neben ihr stand, sagte sie sofort: „Tut mir leid. Ich hätte dich nicht so anfahren sollen. Schließlich ist es nicht deine Schuld, dass ich keine Privatsphäre habe. Ich will doch nur …“ Sie brach ab.

Er wartete einige Zeit, bevor er nachfragte: „Was willst du?“

Sie sah versonnen hinaus aufs Wasser. „Ich will mir mein Kleid ausziehen und baden. Hier und jetzt.“

Die Ankündigung traf ihn wie ein Blitzschlag. „Nichts dagegen“, antwortete er mit gespielter Gleichgültigkeit. „Ich bin dabei.“

Sie ließ den Kopf hängen. „Aber das ist es ja genau – ich kann nicht.“

„Hier ist doch niemand außer uns“, beruhigte er sie.

Sie schüttelte den Kopf. „Ach, Noah, wenn du wüsstest. Ich kann mir einfach nie sicher sein, kann nie vorsichtig und diskret genug sein. Stell dir vor, was los wäre, wenn uns jemand gefolgt ist und morgen die Zeitungen voller Bilder davon sind, wie ich nackt mit dir in den Wellen herumtolle … meine Mutter würde mir das nie verzeihen.“

„Ich finde, du bist zu streng mit dir selbst.“

„Vielleicht. Früher war mir das alles egal. Ich habe getan, was ich wollte, und mich einen Dreck darum geschert, wer was darüber schrieb. Aber heute ist das anders. Ich bin es einfach leid, ewig die wilde, zügellose Prinzessin Alice zu geben.“

Er hatte eine vage Ahnung, woran das liegen konnte. „Könnte das vielleicht etwas mit den Bildern aus Glasgow zu tun haben?“

Sie seufzte. „Du hast sie also gesehen?“

„Ja.“

„Meine Mutter war deswegen ganz schön enttäuscht von mir. Ich schäme mich wirklich dafür.“

Noah atmete langsam aus, während er überlegte, was er sagen sollte. „Wenn ich ehrlich sein soll … ich fand sie ziemlich sexy.“

Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Dann sagte sie: „Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen.“

Nein! Noch nicht! Nicht heute!

Er legte seine Hand in ihren Nacken und zog ihren Kopf zu sich. „Küss mich.“

„Noah …“

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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