Bianca Extra Band 56

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ZWISCHEN VERLANGEN UND WAHRHEIT von FERRARELLA, MARIE
Irena kehrt in ihre Heimat zurück, um dem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der sie einst im Stich ließ. Doch statt bitterer Erinnerungen erwartet sie Ryans charismatischer Bruder! Von ihm fühlt sie sich wie magisch angezogen! Hat sie etwa all die Jahre den falschen Mann geliebt?

EIN WOMANIZER FÜRS LEBEN? von DYER, LOISFAYE
Um eine arrangierte Ehe abzuwehren, macht die kluge Frankie mit Playboy Elijah Wolf einen Deal: Eli spielt ihren Lover, dafür vermittelt sie ihm einen Auftrag. Perfekt, dass seine Nähe in ihr pures Adrenalin freisetzt. Aber Gefühle zeigen? Niemals! Bis ein Unfall alles verändert …

KÜCHE, COWBOYS, HOCHZEITSTRÄUME von MAXWELL, MEG
West Montgomery will bei ihr kochen lernen? Davon hält Chefköchin Annabel rein gar nichts. Denn der attraktive Cowboy ist nicht nur arrogant, er hat ihr schon einmal das Herz gebrochen. Nur für seine kleine Tochter stimmt sie zu - und entdeckt an West völlig neue Seiten …

UNTER EINSATZ MEINER LIEBE von MADISON, TRACY
Nach einem schweren Schicksalsschlag hat Krankenschwester Andrea Caputo jeden Lebensmut verloren. Erst durch die Begegnung mit dem umwerfend charmanten Physiotherapeuten Ryan Bradshaw bebt ihr Herz wieder vor Glück. Aber warum kann sie ihm trotzdem nicht vertrauen?


  • Erscheinungstag 10.04.2018
  • Bandnummer 0056
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733568
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Lois Faye Dyer, Meg Maxwell, Tracy Madison

BIANCA EXTRA BAND 56

MARIE FERRARELLA

Zwischen Verlangen und Wahrheit

Damals konnte Brody nicht verhindern, dass sein Playboy- Bruder Irena das Herz brach. Jetzt liegt die smarte Anwältin endlich in seinen Armen. Aber denkt Irena in ihren Liebesnächten wirklich an ihn?

LOIS FAYE DYER

Ein Womanizer fürs Leben?

Francesca Fairchild will, dass er ihren Verlobten spielt? Für Playboy Eli ist diese Rolle eine willkommene Chance! Denn was der sexy Wildfang nicht weiß: Sie begehrt er mehr als jede andre Frau …

MEG MAXWELL

Küche, Cowboys, Hochzeitsträume

Kochen? Das muss Single-Dad West Montgomery für seine kleine Tochter erst noch lernen! Und Chefköchin Annabel wird ihm dabei helfen. Aber warum will er plötzlich mehr von ihr als raffinierte Rezepte?

TRACY MADISON

Unter Einsatz meiner Liebe

Therapeut Ryan bringt seine bezaubernde aber traumatisierte Patientin Andi wieder zum Lachen! Trotzdem scheint ihr Selbstvertrauen für immer verloren. Kann seine Liebe ihre Wunden wirklich nicht heilen?

1. KAPITEL

Egal, wo sie hinsah, nichts als Wildnis. Als sie Anchorage verlassen hatte, hatte sie mehr oder weniger auch die Zivilisation hinter sich gelassen.

Nichts hat sich verändert. Außer mir.

Nach all der Zeit kam es ihr merkwürdig vor, an einen Ort zurückzukehren, den sie nie wiedersehen wollte. Das hatte sie sich mal geschworen. Die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens hatte sie nur davon geträumt, wie sie diesen Ort verlassen würde. Als sie das schließlich getan hatte, war es unter Tränen gewesen. Tränen, die nichts mit nostalgischen Gefühlen zu tun hatten.

Sondern mit einem gebrochenen Herzen.

Daran wollte sie sich nicht erinnern.

Aber war das nicht der Grund, warum sie zurückgekommen war? Weil sie sich erinnerte?

Irena Yovich schaute aus dem Flugzeugfenster und beobachtete, wie Hades, Alaska, beim Anflug größer wurde und sich von einem Punkt in der Ferne in ein Städtchen mit fünfhundert Einwohnern verwandelte.

Das „Taxiflugzeug“, in dem Irena saß, gehörte Kevin Quintano und seiner Frau June. June steuerte das kleine Passagierflugzeug. Als Irena Hades verlassen hatte, um nach Seattle zu ziehen und aufs College zu gehen, war June die beste Mechanikerin im Umkreis von zweihundert Meilen gewesen. Inzwischen war sie nicht nur eine erfolgreiche Geschäftsfrau, sondern auch verheiratet und die Mutter von zwei, bald drei Kindern.

„Als ich gehört habe, dass dich jemand vom Flughafen abholen muss, hab ich Kevin gesagt, dass unmöglich jemand anders fliegen kann. Er macht mir immer die Hölle heiß, weil er glaubt, dass Frauen in anderen Umständen kein Flugzeug fliegen sollten. Aber ich hab ihn dazu gebracht, nachzugeben.“ June lachte triumphierend. Aus ihrer Stimme klang Zuneigung heraus, als sie hinzufügte: „Kevin ist wirklich ein Schatz.“

Soweit Irena das beurteilen konnte, war ihrer Freundin die Schwangerschaft nicht anzusehen. Also konnte sie nicht anders, als zu fragen: „In welchem Monat bist du denn?“

„Erst im vierten Monat“, sagte June über ihre Schulter hinweg. Dann fügte sie etwas leiser hinzu: „Und vier Wochen.“

Irene spürte den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. June hatte so eine Art, die Dinge zu ihrem Vorteil zu verdrehen. „Wenn mich meine Rechenkünste nicht total im Stich gelassen haben, heißt das, du bist eigentlich im fünften Monat.“

June seufzte theatralisch. „Ich weiß, ich weiß. Aber ich musste doch sichergehen, dass du wirklich du bist und nicht jemand mit demselben Namen.“

Zum ersten Mal, seit ihr Großvater ihr am Telefon berichtet hatte, dass Ryan Hayes Selbstmord begangen hatte, lachte Irena.

„Und wie viele Irena Yovichs gibt es wohl?“, fragte sie.

Sie sah, wie June unter ihrem pelzgefütterten Parka die Schultern zuckte. „In Alaska vielleicht nicht so viele. Aber in Russland, wer weiß? Und eine von ihnen könnte sich ja mal einen Ort ansehen wollen, der nach der Hölle benannt ist und sechs Monate im Jahr eingeschneit ist und dann abgesehen von unserem kleinen Flugservice von der Welt abgeschnitten ist. Und abgesehen von den fliegenden Ärzten, natürlich. Hab ich dir erzählt, dass April jetzt mit einem Arzt verheiratet ist?“ Damit meinte June ihre ältere Schwester. „Mit dem jüngeren Bruder von Kevin“, fügte sie hinzu. „Er ist nach Hades gekommen, um Alison zu besuchen, eine Schwester von den beiden. Sie ist jetzt hier Krankenschwester – und mit Jean Luc verheiratet. Max hat ihre Schwester Lily geheiratet. Die beiden haben sich auch kennengelernt, als sie zu Besuch hier war. Wir denken schon darüber nach, das zum offiziellen Motto der Stadt zu machen“, scherzte June.

Himmel, die sind in Hades echt fleißig – jedenfalls, was das Heiraten angeht, dachte Irena. Da fühlte sie sich wie eine Außenseiterin. Dabei wusste sie, dass sie in Sachen Karriere zweifellos alle überflügelte. Auch wenn ihr beruflicher Erfolg in letzter Zeit lange nicht mehr so viel Trost spendete wie früher.

„Also, ich bin ich“, sagte sie. „War das die kleine Lüge wert?“

„Oh, Kevin ist ziemlich gut in Mathe“, versicherte ihr June. „Unter anderem.“

Der blonde Schopf der vor ihr sitzenden Freundin schränkte Irenas Blickfeld ein; aber so, wie sich das anhörte, grinste June gerade frech und zufrieden.

„Gut für dich“, sagte Irena. Sie freute sich ehrlich für ihre Freundin.

„Also, was ist mit dir?“, hakte June nach. „Bist du schon verheiratet oder so?“

Aha. Die Frage.

„Nein, weder noch. Und bevor du fragst, im Augenblick gibt’s da niemand Besonderen.“

Das war ein Ablenkungsversuch. Obwohl sie vor ein paar Jahren sogar mal verlobt war, hatte es in ihrem Leben nie jemanden gegeben, der wirklich etwas Besonderes war. Nicht seit Ryan. Und Ryan war nie der Mensch gewesen, für den sie ihn gehalten hatte.

Nein, ermahnte sie sich streng, es hat sich herausgestellt, dass er genau der Mensch war, für den du ihn ursprünglich gehalten hast. Sie hatte nur geglaubt, dass er sich für sie geändert hatte. Himmel, wie hatte sie nur so naiv sein können? Ryan Hayes war der „schlimme Finger“ von Hades gewesen. Und so attraktiv, dass keine Frau ihn ansehen konnte, ohne ihm augenblicklich zu verfallen.

Hochgewachsen, mit unglaublich grünen Augen und einem Blick, der für Herzklopfen sorgte, war er so treu gewesen wie ein Schmetterling im Frühling. Er war von einer willigen Blume zur nächsten geflattert. Aber nach einer Weile – nach drei Jahren, um genau zu sein – hatte sie Ryan schließlich geglaubt, als er geschworen hatte, dass er ihr treu war.

Sie hatte ihm geglaubt, als er versprochen hatte, mit ihr zu kommen, wenn sie aufs College ging. Sie erinnerte sich, wie stolz sie auf sich gewesen war. Ryan war zwei Jahre älter als sie gewesen und hatte keinerlei Interesse gehabt, mehr für seine Bildung zu tun. Sie hatte tatsächlich gedacht, dass sie ihn überzeugt hatte. Sie hatte ihm geglaubt, als er ihr erzählt hatte, dass er von derselben Universität eine Zusage hatte wie sie. Hatte ihm geglaubt, obwohl er ihr immer ausgewichen war, als sie den Brief mit der Zulassung sehen wollte.

Was für ein Dummkopf war sie damals doch. Aber sie hatte so sehr an ihn – und an ihre Beziehung – glauben wollen, dass sie aus Sturheit viele Anzeichen ignoriert hatte.

Bis zu dem Abend, als sie ihn mit Trisha Brooks erwischt hatte.

Als sie aus dem Haus gerannt war, hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes gespürt, wie ihr das Herz brach. Sie war so fassungslos, dass sie nicht sicher war, auf wen sie wütender war – auf Trisha, die immer behauptet hatte, eine ihrer besten Freundinnen zu sein, oder auf Ryan, dem sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz geschenkt hatte.

Trisha hatte sie schließlich verziehen. Denn sie wusste aus eigener Erfahrung, wie überzeugend Ryan sein konnte, wie er Frauen dazu bringen konnte, jegliche Vernunft fahren zu lassen. Aber sie weigerte sich, Ryan zu verzeihen. Am Ende gab sie zu, dass sie sich etwas vorgemacht hatte, was ihre gemeinsame Zukunft anging. Es gab keine Zukunft für sie. Damit fertigzuwerden hatte verdammt wehgetan. Denn obwohl sie sich ursprünglich dagegen gesträubt hatte, hatte sie ihn von ganzem Herzen geliebt.

In den Tagen nach ihrer Entdeckung war sie wie von Sinnen, sie fühlte sich gleichzeitig wie betäubt und litt Höllenqualen. Dann überkam sie ein Gefühl der Gleichgültigkeit. Sie wollte alles aufgeben – ihre Ziele, ihre Träume vom Anwaltsberuf, vom College, alles. Nicht, um bei Ryan zu bleiben. Aber sie hatte jeglichen Antrieb verloren.

Schließlich hatte ihr Großvater Yuri sie beiseitegenommen und sie mit viel Geduld wieder zur Vernunft gebracht. Drei Jahre später war Yuri dann voller Stolz mit ihrer Mutter zu ihrer Abschlussfeier gekommen, als Irena mit glänzenden Noten das College beendet hatte. Und wieder drei Jahre später, als sie mit dem Jurastudium fertig war.

Ihr Studium hatte sie so schnell wie möglich absolviert. Sechs Jahre lang gönnte sie sich keine Freizeit. Nur so konnte sie über Ryan hinwegkommen.

Nach dem Studium hatte sie bei einer der renommiertesten Rechtsanwaltskanzleien von Seattle, bei Farley & Roberson, angefangen. Ihre Mutter war dann auch nach Seattle gezogen, um in ihrer Nähe zu sein. Kurz nach dem Umzug hatte ihre Mutter – die ihren Mann vor über zwanzig Jahren bei einem Grubenunglück verloren hatte –, jemanden kennengelernt. Ein Jahr später war sie Mrs. Jon Alexander und überglücklich.

Vermutlich musste Irena sich in gewisser Weise bei Ryan für das Glück ihrer Mutter bedanken. Wanda Yovich wäre nie nach Seattle gezogen und wäre nie „Wanda Alexander“ geworden, wenn sie ihrer Mutter nicht erklärt hätte, dass sie niemals nach Hades zurückkommen würde. Wegen Ryan.

Irena schaute auf die trostlose Landschaft hinunter.

Schon komisch, wie „niemals“ am Ende eine ziemlich kurze Zeitspanne war. Vor zwei Tagen war Ryan Hayes von seinem jüngeren Bruder Brody tot aufgefunden worden. Unter diesen Umständen konnte sie unmöglich wegbleiben.

Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass eine Ehe mit Ryan unter Garantie nie funktioniert hätte. Aber sie fühlte sich trotzdem schrecklich, wenn sie sich eine Welt ohne Ryan vorstellte.

Sogar jetzt spürte Irena, wie ihr die Augen brannten, als das Gefühl des Verlusts sie wieder packte.

Werde lieber wütend, du Dummkopf. Schließlich hat er dich wie ein Stück Dreck behandelt. Er hat deine Tränen nicht verdient.

Aber sie schaffte es nicht, wütend zu sein – nicht mehr. Räumlicher und zeitlicher Abstand hatten es ihr ermöglicht, die Vergangenheit gelassener zu sehen. Sie war kein achtzehnjähriges Mädchen mehr, das ganz krank vor Liebeskummer war. Sie war jetzt eine achtundzwanzigjährige Frau und hatte in Seattle mehr Menschenkenntnis und Lebenserfahrung gesammelt, als es in Hades je möglich gewesen wäre. Daher konnte sie jetzt zumindest teilweise nachvollziehen, warum Ryan so gehandelt hatte.

Was die Gründe für Ryans schamloses, fehlgeleitetes Verhalten anging, gab es mehr als einen Schuldigen. Erst mal war nie etwas von ihm erwartet worden. Er war in eine reiche Familie hineingeboren worden. Also hatte er sich nie mit den Problemen normaler Menschen auseinandersetzen müssen. Ryan musste nicht jobben, musste keine Familie unterstützen oder auch nur für sich selbst sorgen. Es gab keine Herausforderungen für ihn. Abgesehen davon, wie viele Frauen er ins Bett kriegen konnte.

Dann hatte er keine Vorbilder. Ganz bestimmt nicht sein Vater. Eric Hayes war mit seinen zwei kleinen Söhnen nach Alaska gezogen, nachdem er seine Frau bei einem Bootsunfall verloren hatte.

Einige Leute behaupteten, dass Eric mit den Schuldgefühlen nicht fertigwurde, weil er seine Frau vielleicht hätte retten können. Die einzige Möglichkeit für Eric, wenigstens zeitweilig dem Schmerz zu entfliehen, bestand darin, sich mit Alkohol zu betäuben.

Diese Methode hatte er an seinen älteren Sohn weitergegeben. Ryan hatte mal damit geprahlt, dass er seinen ersten Drink im Alter von neun Jahren von seinem Vater bekommen hatte. Damals wollte Irena ihn nicht verurteilen. Also hatte sie sich eingeredet, dass Ryan jederzeit aufhören könnte zu trinken, wenn er wollte. Das Problem war nur, er wollte nicht.

Aber sie war eben bis über beide Ohren in ihn verliebt und bis zu jenem schicksalhaften Abend auch felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er ihre Liebe erwiderte. In den Monaten danach hatte sie sich oft gefragt, ob Ryan gewollt hatte, dass sie ihn mit Trisha erwischte. Er hatte gewusst, dass sie oft zu früh kam. Hatte er den Nervenkitzel genossen? Oder hatte er ihr zeigen wollen, dass er nicht mit ihr zusammenbleiben wollte? Er musste gewusst haben, dass sie am Boden zerstört sein würde. Und er hatte es trotzdem getan.

Er war schon ein richtig mieser Kerl, dachte Irena und bemühte sich verzweifelt, den Erinnerungen den Hahn abzudrehen. Er war ein Mistkerl und sie war eine Närrin, weil sie ihn so sehr geliebt hatte.

Und weil sie immer noch Gefühle für ihn hegte.

„Warte nur, bis du Hades siehst“, meinte June plötzlich. „Du wirst die Stadt nicht wiedererkennen.“

Irena lachte abgehackt. „Das ist gut. Denn für das alte Hades hatte ich nicht viel übrig.“

„Ach, so schlimm war es nun auch wieder nicht“, sagte June. „Und in den letzten zehn Jahren ist es wirklich aufgeblüht. Ike hat sich zu einem richtigen Geschäftsmann gemausert. Er und Jean Luc haben echt dazu beigetragen, etwas aus der Stadt zu machen.“

„Ike?“, wiederholte Irena überrascht. „Der Typ vom Salty Dog Saloon?“

„Genau der“, sagte June mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Er hat das alles ins Rollen gebracht hier. Wir haben jetzt ein Hotel und letztes Jahr haben Ike und Jean Luc ein Kino nach Hades geholt. Und den Supermarkt haben sie auch ausgebaut. Du wirst ihn nicht wiedererkennen.“

Irena lachte und schüttelte den Kopf. Junes Liste reichte nicht mal annähernd an das heran, was sie unter Fortschritt verstand. „Wahnsinn, dann ist die Stadt jetzt wo – in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts angekommen? Ich schätze, dann müsst ihr nur noch sechzig Jahre aufholen.“

June warf ihr einen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Landebahn vor ihnen konzentrierte.

„Nichts, was ein schönes Einkaufszentrum und ein guter Anwalt nicht in Ordnung bringen könnten“, meinte sie. „Weißt du, wir haben immer noch keinen richtig guten Anwalt in Hades. Wenn du zurückkommen würdest, hätten wir einen.“ Ihr scherzhafter Tonfall war verschwunden, als sie sich plötzlich anspannte. „Festhalten, Irena. Das letzte Stück kann ein bisschen haarig werden.“

Irena wollte ihr schon erklären, dass kein Geld der Welt sie in Versuchung führen könnte. Doch dann war sie zu sehr damit beschäftigt, den Atem anzuhalten und sich an den Armlehnen festzuhalten. Der unruhige Flug endete mit einer noch holprigeren Landung. Irena klammerte sich fest, bis das Flugzeug sich nicht mehr bewegte.

June schnallte sich ab und drehte sich um. Sie lächelte breit und war offensichtlich sehr mit sich zufrieden.

„Also, da hast du jetzt was für dein Geld bekommen“, erklärte sie. „Die Landung hat besser geklappt, als ich gedacht habe.“

„Klar“, murmelte Irena. „Wir hätten abstürzen können.“

Im nächsten Augenblick öffnete ein hochgewachsener, gut aussehender Mann mit silbern melierten Schläfen die Tür des kleinen Flugzeugs.

„Das war’s, June“, sagte er entschieden. „Du fliegst nicht mehr, bis das Baby da ist.“

„Liebling, jetzt zeigst du dich aber nicht von deiner besten Seite“, tadelte ihn June.

„Das liegt daran, dass meine beste Seite gerade einen Herzanfall hatte, als ich zugesehen habe, wie du das Flugzeug gelandet hast“, informierte er sie. Dann half er ihr beim Aussteigen.

Sicher auf dem Boden angekommen, lächelte June wie zum Ausgleich sanftmütig. „Irena, ich möchte, dass du meinen Ehemann Kevin kennenlernst. Er schaut übrigens nicht immer so finster aus der Wäsche.“

„Nur wenn June wild entschlossen ist, dafür zu sorgen, dass ich einen Herzinfarkt bekomme“, erklärte Kevin. Er streckte die Hand aus. „Ich bin Kevin Quintano.“

Irena schüttelte seine Hand. „Irena Yovich.“

„Ich schätze, dann sind wir sozusagen verwandt“, meinte Kevin, als sie zu dem kleinen Terminal gingen. „Wo Yuri doch Junes Großmutter Ursula geheiratet hat.“

Der Job und das Bedürfnis, Ryan nicht zu begegnen, hatten Irena daran gehindert, zur Hochzeit zu kommen; aber ihr Großvater und seine neue Frau hatten sie in Seattle besucht. „Ursula ist doch nicht immer noch für die Post zuständig, oder?“

„Natürlich ist sie das“, versicherte ihr June. „Meine Großmutter hört erst als Postmeisterin von Hades auf, wenn man sie mit den Füßen zuerst aus dem Postamt tragen muss.“

„Hat sich wirklich nicht viel geändert“, meinte Irena.

„Du wirst überrascht sein“, widersprach June. Sie blieben vor dem Terminal stehen. „Also, wenn du keine Übernachtungsmöglichkeit hast, hätten wir dich sehr gerne bei uns.“

Irena lächelte, während sie den Kopf schüttelte. „Danke. Aber mein Großvater hat schon gedroht, dass er mir nie verzeiht, wenn ich nicht bei ihm und seiner ‚Braut‘ wohne.“

„Sie sind so süß zusammen“, erklärte June. „Und“, fügte sie glücklich hinzu, „er zeigt keinerlei Verschleißerscheinungen.“

„Verschleißerscheinungen?“, wiederholte Irena. Jetzt konnte sie June nicht ganz folgen.

„Meine Großmutter hat drei Ehemänner begraben“, erinnerte June sie. „Sie ist sehr lebenslustig für Ende siebzig.“

„Lebenslustig.“ Kevin grinste amüsiert. „Ich glaube, das Wort, das June sucht, ist ‚lüstern‘.“

Irena dachte an die lebhafte Postmeisterin, die auch die größte Klatschtante der Stadt war. Anscheinend hatte sich wirklich nicht viel geändert.

In dem Hades, das Irena kannte, gab es nicht mal die einfachsten Dienstleistungen. Aber June beharrte ja darauf, dass der kleine Ort dabei war, sich zum blühenden Städtchen zu mausern. Also fragte sie: „Kann ich hier irgendwo ein Auto mieten?“

„Mieten?“, antwortete June. „Nein. Borgen? Klar.“

June warf ihrem Ehemann einen Blick zu – und Kevin nickte. Sie brauchen nicht mal Worte, um sich zu verständigen, dachte Irena mit einem Anflug von Neid.

Dann zog June ihre Autoschlüssel aus der Tasche und hielt sie ihr hin. „Du kannst mein Auto haben, während du hier bist.“

Irena machte keine Anstalten, sie zu nehmen. „Das geht doch nicht“, protestierte sie.

„Klar geht das.“ Zum Beweis drückte June ihr die Schlüssel in die Hand. „Ich bestehe darauf.“

Zweifelnd starrte Irena die Schlüssel an. „Aber brauchst du denn kein Auto?“

June deutete mit einem Kopfnicken auf Kevin. „Ich klau mir einfach Kevins Wagen. Das ist das Beste daran, mit seinem Mann zusammenzuarbeiten.“ June warf Kevin einen Blick zu und lächelte. Ihre Augen funkelten. „Na ja, vielleicht nicht das Allerbeste, aber schon ziemlich gut.“ June neigte den Kopf zur Seite. „Findest du dich hier noch zurecht?“

Die Stadt erstreckte sich zwar über ein großes Gebiet, aber viel hatte Hades nicht zu bieten. Das Stadtzentrum bestand nur aus ein paar Straßen. Die meisten Wohnhäuser befanden sich am Stadtrand oder noch weiter weg.

„Manche Sachen vergisst man nie. Ich werde meinen Großvater überraschen“, erklärte Irena. „Ich war mir nicht sicher, wann ich ankommen würde. Ich glaube, er erwartet mich erst spätabends.“

June nickte, dann ging sie auf die Garage zu. „Dann stell ich dir mal Clarisse vor.“

„Clarisse?“, fragte Irena. Dann lachte sie. „Ich hab ganz vergessen, dass du deinen Autos Namen gibst.“

„Das erleichtert den Umgang“, antwortete June, als ob es das Normalste auf der Welt war, einen Pkw mit Vornamen anzureden.

Irena hatte wirklich vor, gleich zum Blockhaus ihres Großvaters zu fahren. Sie war sich nicht ganz sicher, wie es kam, dass sie in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Vielleicht lenkte die Sehnsucht sie. Doch schon fuhr sie auf das Haus zu, wo sie ihre frühe Kindheit verbracht hatte. Bevor ihre Familie vom Unglück heimgesucht worden war.

Sie erinnerte sich voller Zuneigung an das Haus. Hier hatte sie gelebt, bis ihr Vater bei einem Minenunglück getötet wurde. Ihre Mutter hatte das Haus nie verkauft, höchstwahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem sie jetzt dorthin unterwegs war. Aus Sentimentalität.

Die Wehmut wurde stärker, je näher sie kam. Inzwischen war sie so an das geschäftige Treiben von Seattle gewöhnt, dass Irena beim Anblick des alten Hauses dachte, wie außerordentlich einsam es aussah.

Vielleicht konnte sie bis zur Beerdigung hier wohnen. Wenigstens hätte sie dann nicht das Gefühl, im Weg zu sein.

Außerdem müsste sie sich dann keine Mühe geben, ihre aufgewühlten Gefühle zu verbergen. Sie hätte gerne Zeit, um allein damit fertigzuwerden, ohne gut gemeinte Ratschläge.

Eine Bewegung neben dem Haus zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Irena kniff die Augen zusammen.

Ihre Hände krampften sich um das Lenkrad, als sie ihn erblickte. Ihre Finger wurden eiskalt und schwach.

War das …?

Das war unmöglich.

Oh Gott. Ryan?

Ihr Herz klopfte, und Irena trat aufs Gas. Der Jeep machte einen Satz vorwärts. Fast hätte sie ihn umgefahren.

Der Mann, der beinahe dafür gesorgt hatte, dass ihr Herz stehen blieb, stand auf einer Leiter und war dabei, ein Loch in der Wand im ersten Stock zu flicken.

Sie hatte Halluzinationen.

Ich bilde mir das nur ein, beharrte Irena im Stillen. Sie bekam keine Luft. Sie war für Ryans Beerdigung hier. Wie konnte er auf einer Leiter stehen, wenn er angeblich tot war?

War das alles nur ein Scherz?

Oder waren sie mit Junes Flugzeug abgestürzt und das war das Leben nach dem Tod?

Wenn sich das in Hades abspielt, dann lässt das viele Wünsche offen, dachte sie.

Hatte sie wirklich Halluzinationen?

Sie stieg aus und ging vorsichtig auf die Leiter zu.

„Ryan?“, flüsterte sie unsicher.

Als er sich umdrehte, bemerkte sie ihren Fehler. Das war nicht Ryan; das war Brody, Ryans jüngerer Bruder.

Die letzten zehn Jahre hatten dafür gesorgt, dass die Brüder sich unheimlich ähnlich sahen. Oder besser gesagt, Brody sah jetzt aus, wie Ryan damals ausgesehen hatte. Die gleichen grünen Augen, stellte sie fest und unterdrückte das Flattern in ihrem Magen, als er mit finsterem Blick auf sie herabstarrte.

„Nein“, sagte er mit tiefer Stimme. Ein Anflug von Enttäuschung huschte über sein Gesicht. „Ich bin …“

„Brody“, ergänzte sie. „Ja, ich weiß. Tut mir leid, aber du hast ihm gerade so ähnlich gesehen …“

„Das höre ich immer wieder.“ Aus seinem Tonfall konnte sie nicht schließen, ob ihn das störte.

Brody kletterte die Leiter hinunter. Lebenslange Selbstdisziplin sorgte dafür, dass er die Gefühle unterdrückte, die in ihm bei ihrem Anblick aufwallten.

Es schien unmöglich, aber Irena war noch schöner als vor zehn Jahren. Sie nahm ihm den Atem. Brody brauchte einen Moment, um sich zu fassen.

„Hallo, Irena. Wie ist es dir ergangen?“

Brody hörte sich an, als ob sie sich vor einem Monat das letzte Mal gesehen hatten und nicht vor zehn Jahren.

„Gut. Großartig.“ Wenn Brody nicht inzwischen geheiratet hatte, war er nach Ryans Tod der Letzte seiner Familie. Mitleid stieg in ihr auf. Und dann, weil sie immer ein enges Verhältnis zu Ryans Bruder gehabt hatte und mit ihm immer über alles hatte reden können, fragte Irena: „Wie wäre es mit einer Umarmung für eine alte Freundin?“

„Immer.“ Er streckte die Arme aus und drückte sie an sich.

Innerlich wappnete er sich. Brody weigerte sich, das Chaos der Gefühle und Empfindungen zur Kenntnis zu nehmen, das ihn erfasste. Und wenn der Duft von Irenas goldblondem Haar Erinnerungen weckte, dann tat er sein Bestes, sie zu ignorieren.

Einen Augenblick lang konnte Irena sich beinahe vorstellen, dass Ryan sie umarmte. Aber so zu tun, als ob Brody Ryan war, wenn auch nur für einen Moment, würde nur zu noch mehr Leid führen.

Sie stemmte die Hände gegen seinen Oberkörper. So sorgte sie für Abstand. Dann machte sie einen Schritt rückwärts. Sie warf einen Blick auf ihr altes Zuhause, bevor sie Brody ansah. Das war der letzte Ort, an dem sie mit ihm gerechnet hätte.

„Was machst du denn hier?“

Er ging in die Hocke und räumte sein Arbeitsgerät wieder in den Werkzeugkasten. „Ich bin nie weg gewesen.“

„Nein.“ Sie deutete auf das Haus. „Ich meine hier, beim alten Haus meiner Eltern.“

„Ich mach es bewohnbar für dich“, antwortete er einfach.

Irena starrte ihn verwirrt an. „Du hast gewusst, dass ich komme?“

Ein Lächeln zeigte sich in seinen grünen Augen. „Dein Großvater ist mit Ursula verheiratet.“

Nun, das beantwortete natürlich ihre Frage. Wenn Ursula Bescheid wusste, dann waren alle informiert. „Aber dann weißt du doch auch, dass ich bei meinem Großvater übernachten soll.“

„Das tue ich“, gab er zu. „Aber ich erinnere mich auch daran, wie viel dir an deiner Unabhängigkeit liegt. Also hab ich mir gedacht, dass du wahrscheinlich lieber deine eigenen vier Wände hast, jedenfalls einen Teil der Zeit.“

Irena lächelte Brody an. Wenn sein Bruder nur halb so viel Intuition gehabt hätte, nur halb so zuverlässig gewesen wäre, dann wäre ihr Leben und das von Ryan vielleicht ganz anders verlaufen. „Du hast mich schon immer gut verstanden.“

Hat mir aber nichts gebracht, Irena, oder? Brody konnte den Gedanken nicht unterdrücken, auch wenn er keine Miene verzog. Er hatte vor langer Zeit gelernt, seine Gefühle nicht zu zeigen, damit niemand ahnte, wie sehr er in die Freundin seines Bruders verliebt war.

„Also, wenn du hierbleiben willst“, fuhr er fort, „der Strom ist an. Und das Wasser auch. Das Telefon wird noch eine Weile dauern, also musst du Yuris benutzen, wenn du jemandem Bescheid sagen willst, dass du gut angekommen bist und so.“

Sie hatte niemanden, den sie anrufen konnte. Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren auf einer Kreuzfahrt und sonst hatte sie keine engen Beziehungen. Ihr Chef musste jedenfalls nicht darüber informiert werden, dass sie wohlbehalten hier gelandet war.

Irena holte ihr Handy heraus und hielt es hoch. „Ich nehme an, dann ist hier noch immer kein Empfang.“

Brody überraschte sie damit, dass er ihre Vermutung nicht automatisch bestätigte. „Doch, schon. Aber der ist recht launisch.“

Irena lachte. „Gar nicht so anders als im richtigen Amerika.“

Brody lächelte. Jungenhaft und so ganz anders als Ryans Lächeln. Ryan war sexy. Oder war das nur ihre Einbildung, die ihr etwas vorgaukelte, weil sie Brody beim ersten Anblick für Ryan gehalten hatte?

„Was denn?“, fragte sie. Wenn irgendwas komisch war, wollte sie mitlachen.

„Nichts. Du hörst dich nur wie eine Touristin an und nicht wie jemand von hier.“

„Ich bin ja auch nicht mehr von hier“, sagte sie. „Seattle ist jetzt mein Zuhause. Ich bin nur hier …“ Plötzlich versagte ihr die Stimme. Eine Sekunde lang schnürten ihr die Gefühle die Kehle zu. Sie versuchte es noch mal. „Ich bin nur hier …“

„Um innerlich einen Abschluss zu finden?“, schlug Brody vor.

Einen Abschluss. Himmel, das klang so trendy, so überheblich. Sie war nicht für einen Abschluss hier, sondern um sich von ihrer Jugend zu verabschieden. Und von der Liebe. Denn sie hatte Ryan Hayes mit ihrem ganzen jungen und naiven Herzen geliebt. Sie hatte ihn auf eine Art und Weise geliebt, wie sie nie zuvor geliebt hatte und wahrscheinlich auch nie wieder lieben würde.

„Um ihm die letzte Ehre zu erweisen“, sagte sie schließlich.

Brody starrte sie eine ganze Weile lang nur an. „Ich bezweifle, dass du das wirklich ernst meinst.“ Er sah ihre Überraschung. Sie machte den Mund auf, um zu protestieren, aber er schnitt ihr das Wort ab. „Er war mein Bruder und ich habe ihn geliebt. Aber Ryan hat keinen Respekt verdient. Er hat auch nie jemanden respektiert.“

Das hatte sie von Brody nicht erwartet. Er hatte immer alles so locker genommen. „Du bist strenger, als ich dich in Erinnerung habe.“

„Nicht strenger, nur ehrlicher“, korrigierte er sie. „Aber ich hätte strenger sein sollen. Wenn jemand mal ein ernstes Wort mit Ryan geredet hätte, vielleicht wäre er dann noch da.“

Es fiel ihm nicht leicht, die Trauer aus seiner Stimme zu verbannen. Seine Wut hatte er auch noch nicht verarbeitet. Wut, weil er tief in seinem Inneren das Gefühl hatte, dass Ryan sein Leben verschwendet hatte. Auf eine schreckliche, schreckliche Art und Weise.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sein Schmerz war greifbar.

„Was ist passiert, Brody?“, fragte sie sanft. „Mein Großvater hat gesagt, dass Ryan … dass er seinen Tod selbst verursacht hat.“ Das war eine höfliche Umschreibung für Selbstmord, aber sie konnte sich einfach nicht dazu bringen, das Wort zu benutzen. Es war einfach zu schrecklich, sich vorzustellen, dass Ryan sich das Leben genommen hatte.

„Das war die konkrete Todesursache“, bestätigte Brody. Er hatte Ryan in einer Blutlache gefunden, die Waffe in der Hand, mit der er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. „Aber der Weg dahin hat für Ryan lange vor diesem Montag angefangen.“ Er sah ihren Augenausdruck und wusste sofort, was sie dachte. „Nein, nicht vor zehn Jahren. Du bist nicht schuld“, sagte er mit fester Stimme. „Verdammt, du warst das Beste, was ihm je passiert ist, aber er war damals zu dämlich, um das zu merken. Und was meine Bemerkung angeht, Ryan hat angefangen, sich kaputtzumachen, lange bevor du weggegangen bist.“

Trotzdem machten sich Schuldgefühle breit. Wenn sie hiergeblieben wäre, vielleicht hätte sie Ryan helfen können.

„Aber wenn ich nicht weggegangen wäre …“

Brody schüttelte den Kopf. Auf seine eigene Art, wenn es um Irena und Ryan ging, war Ryan der Starke gewesen. Er hatte Irena immer dazu gebracht, zu tun, was er wollte.

„Wenn du nicht weggegangen wärst, hätte Ryan es wahrscheinlich geschafft, dich mit ins Grab zu nehmen.“ Der Anflug eines Lächelns wurde wieder sichtbar. „Obwohl, wer weiß. Du warst immer ziemlich tough.“

Sie lachte und schüttelte den Kopf. „So habe ich mich aber nicht gefühlt.“

„Warst du aber“, widersprach er. „Außer dir hat Ryan niemand sitzen lassen. Ich habe gedacht – gehofft –, dass das ein Weckruf für ihn sein würde. Stattdessen hat er einfach nur noch mehr getrunken.“

Sie wusste, dass das nicht seine Absicht war, aber diese Worte trafen sie bis ins Mark. „Dann war es doch meine Schuld.“

„Nein“, beharrte er. Verdammt, Ryan, du bist tot und du setzt ihr immer noch zu. „Es war genauso wenig deine Schuld wie meine.“ Er nahm ihre Hände. „Denk so was gar nicht erst, Irena. Das macht dich nur kaputt, und es kommt nichts dabei raus. Ryan war ein großer Junge, und er war für sich selbst verantwortlich. Er hat gut ausgesehen, er hatte Geld, er hatte Charme. Er hätte alles tun können, aber er hat sich dafür entschieden, zu trinken.“ Brody verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. „Nicht unbedingt die klügste Karriereentscheidung. Wie mein Vater unter Beweis gestellt hat. Sein Tod hätte Ryan als Warnung dienen können. Hat er aber nicht.“

Forschend sah sie ihn an. „Wie hast du es geschafft, diesem Schicksal zu entkommen?“

Brody zuckte die Schultern. Diese Frage hatte er sich in den letzten zehn Jahren mehr als einmal gestellt. „Ich schätze, mich hat gerettet, dass ich alles sein wollte, was sie nicht waren. Anstatt immer nur an mich zu denken, hab ich mir überlegt, was ich mit meinem Leben und mit meinem Geld anstellen kann, außer Ike reich zu machen.“ Er grinste. „Nichts gegen Ike.“

Jetzt kam sie nicht mehr mit. „Ike? Was hat der denn damit zu tun?“

„Ike und sein Cousin Jean Luc sind doch die Besitzer von Salty Dog. Ryan hat die letzten paar Jahre praktisch in der Kneipe gelebt. Wenn er da war, hat Ike ihm rechtzeitig den Hahn abgedreht. Aber Ike und sein Cousin haben inzwischen so einige Projekte am Laufen. Er muss seine Zeit aufteilen, wenn er nicht zu Hause ist und Frau und Kinder vergöttert. Ich konnte nicht von ihm erwarten, für Ryan den Schutzengel zu spielen.“

„Ike ist verheiratet?“ Die Vorstellung schien unmöglich. „Ike, der ewige Junggeselle?“

Brody grinste wieder. „Nicht mehr. Seine Schwester Juneau ist gestorben. Sie hat eine kleine Tochter hinterlassen, die er großzieht. Seither ist er richtig häuslich geworden. Und als die beste Freundin von Dr. Kerrigans Frau zu Besuch gekommen ist, da hat Ike sein Herz an sie verloren.“

Brody hielt inne und schaute nach oben. Der Himmel verfärbte sich rasch zu einem unheilvollen Grauton. Der Wind wurde stärker.

„Ich denke, wir sollten besser reingehen oder vielleicht noch besser, zu deinem Großvater fahren, bevor es anfängt zu schneien und wir hier festsitzen.“

Obwohl, fügte er in Gedanken hinzu, das nicht das Schlimmste wäre. Wie oft hatte er sich genau das vorgestellt – er und Irena, eingeschneit in einem Blockhaus? Und das Ende war immer gleich gewesen: Irena hatte plötzlich gemerkt, dass sie die ganze Zeit über ihn und nicht Ryan geliebt hatte.

„Ich weiß, dass Yuri sich sehr darauf freut, dich zu sehen – er wird sich Sorgen machen, bis du zur Tür hereinkommst.“

„Vielleicht hast du recht“, stimmte sie zu.

„Hab ich doch immer.“ Er musterte sie mit einem Augenzwinkern.

Irena lachte und spürte, wie sich ihre Anspannung legte. Brody schafft es immer, dass ich mich entspanne, dachte sie. Sie hatte ihn vermisst. Schließlich hatte sie einen großen Teil ihrer Kindheit mit ihm geteilt. Es war schön, dass sie mit ihm praktisch da weitermachen konnte, wo sie aufgehört hatte.

„Himmel, es tut gut, dich zu sehen“, erklärte sie mit Nachdruck.

„Finde ich auch“, sagte er. Aber aus seinem Lächeln wurde sie nicht ganz schlau.

Ganz spontan, als Reaktion auf eine verwirrende Mischung von Gefühlen, die sie noch nicht benennen konnte, warf Irena die Arme um Brody und küsste ihn. Sie küsste ihn aus vielen Gründen. Um eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen, um Brody zu zeigen, wie dankbar sie war, dass die letzten Jahre ihn nicht verändert hatten. Und vielleicht ganz einfach, weil sie das brauchte.

Sie hatte nicht erwartet, dass er zurückweichen würde.

2. KAPITEL

„Tut – tut mir leid“, stammelte sie. „Ich wollte nicht …“

Beschämt und sprachlos spürte Irena, wie sie rot wurde. Abrupt drehte sie sich um und wollte hastig den Rückzug zum Auto antreten.

Aber Brody hielt sie fest. „Nein, mir tut es leid“, entschuldigte er seine Reaktion. „Du hast mich einfach nur überrumpelt, das ist alles.“

Nachdem er jahrelang seine Gefühle in ihrer Gegenwart unterdrückt hatte, hatte er instinktiv reagiert und war ihr ausgewichen.

Aber dafür gab es keinen Grund mehr. Selbst wenn sein Bruder noch leben würde, Irena war nicht mehr Ryans Freundin. Er musste keinen respektvollen Abstand mehr einhalten und so tun, als wäre sie seine Schwester und nicht die Frau, in die er seit seiner Schulzeit verliebt war. Er durfte ihr jetzt seine Gefühle zeigen – wenn er das wollte.

Aber der Mensch war eben ein Gewohnheitstier.

„Nein, es ist meine Schuld“, sagte Irena. Sie wollte nicht, dass er dachte, er hätte etwas falsch gemacht. „Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, als ob überhaupt keine Zeit vergangen war.“ Wieder wurde sie rot, als sie sagte: „Ich hab es einfach als selbstverständlich angesehen, dass du immer noch der alte Brody bist.“

Lächelnd versicherte Brody ihr: „Das bin ich auch.“

„Ich meine …“

Seit wann war sie so auf den Mund gefallen? Die richtigen Worte zu finden, war noch nie ein Problem für sie gewesen. Heutzutage trat sie ganz selbstverständlich vor Geschworenen auf und hielt brillante Plädoyers.

Trotzdem fiel ihr im Augenblick nichts ein. Woran lag das?

Daran, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte etwas als selbstverständlich angesehen, und das hätte sie nicht tun sollen.

„Du bist wahrscheinlich glücklich verheiratet, und jetzt führe ich mich auf, als ob wir noch auf der Highschool sind. Wenn deine Frau uns gesehen hätte …“

„Es gibt keine Frau“, unterbrach er sie leise. „Ich bin nicht verheiratet.“

Irena machte den Mund zu und starrte ihn an. Brody war so ein wunderbarer Mensch. „Das bist du nicht? Warum das denn?“

Brody warf einen Blick auf ihre linke Hand. „Und warum bist du nicht verheiratet?“

Sie schüttelte den Kopf, weil sie nicht über sich sprechen wollte. „Ich hab zuerst gefragt.“

„Ich bin zu beschäftigt.“ Außerdem ist die einzige Frau, die ich je geliebt habe, vor zehn Jahren weggezogen.

Er wusste inzwischen, dass es kein Recht darauf gab, sich zu verlieben. Liebe war ein mysteriöses Gefühl, das aus vielen Komponenten bestand. Seit Irena Hades verlassen hatte, hatte er nie alle Puzzleteile gleichzeitig erlebt.

„Beschäftigt?“, wiederholte sie. Jetzt war ihrer Neugierde geweckt. „Womit?“ Ryan hatte ihr erzählt, dass sein Vater ihnen beiden so viel Geld hinterlassen hatte, dass sie nie arbeiten müssten. Und Ryan hatte das in vollen Zügen ausgekostet.

Aber Brody war schon immer anders als sein Bruder gewesen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, überraschte es sie nicht wirklich, dass er sich seiner Karriere widmete.

„Ich verwende das Vermögen, das Dad uns hinterlassen hat, um Menschen zu helfen, die weniger Glück hatten.“

Er hätte wissen müssen, dass sie mit dieser Antwort nicht zufrieden sein würde.

„Weniger Glück?“, wiederholte sie. „Und wie hilfst du ihnen?“

Er wollte nicht über sich sprechen. Weil die Temperatur jetzt rapide fiel, klappte Brody ihren Kragen für sie hoch. Er ertappte sich dabei, wie er ihren Anblick in sich aufsaugte. Ehe er sich’s versah, würde sie wieder weg sein. Und die gleiche Leere zurücklassen wie bei ihrem ersten Abschied.

Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Haus. „Willst du reingehen?“

Darum bist du doch hergekommen, rief Irena sich ins Gedächtnis. Der Anblick von Brody – und wie ähnlich er seinem Bruder sah – hatte sie das ganz vergessen lassen. Aber jetzt nickte sie. „Klar.“

Die Haustür war nicht verschlossen. Sie machte sie auf und ging hinein. Irena erwartete voll und ganz, Chaos vorzufinden. Schließlich hatten weder sie noch ihre Mutter seit mehr als achtzehn Jahren hier gelebt. Sie waren ausgezogen, als ihr Großvater darauf bestanden hatte, dass sie bei ihm wohnten, nachdem sein Sohn bei dem Grubenunglück ums Leben gekommen war.

Irena warf einen Blick in die Zimmer. Anstatt unter dem Schmutz von fast zwanzig Jahren begraben zu sein, war das Haus überraschenderweise blitzsauber.

Verblüfft drehte sie sich zu Brody um. Er hatte Strom und Wasser erwähnt. Hatte er etwa auch sauber gemacht?

„Hast du …?“

Brody wusste, was sie fragen wollte. „Nein, das kann ich mir nicht als Verdienst anrechnen lassen“, erklärte er. „Sydney, Marta, Alison, Lily und ein paar andere Frauen aus der Stadt sind eingesprungen und haben geputzt, falls du hier wohnen willst.“

Er fügte nicht hinzu, dass er den Ball ins Rollen gebracht hatte.

Irena sah ihn verwundert an. „Aber ich kenne sie doch gar nicht.“ Warum sollten Wildfremde so etwas für sie tun?

Wieder konnte er die unausgesprochene Frage in ihren Augen sehen. Zehn Jahre waren vergangen, und er konnte in ihrem Gesicht immer noch lesen wie in einem Buch. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.

„Hast du vergessen, wie Nachbarschaftshilfe hier funktioniert?“, fragte er.

In Seattle grüßte sie ihre Nachbarn nur flüchtig. Die meisten kannte sie nicht mal beim Namen. Anonymität war inzwischen selbstverständlich für sie.

„Ich schätze, ja.“ Sie sah sich wieder im Wohnzimmer um und erinnerte sich an glückliche Zeiten. Sie merkte nicht, dass sie jetzt lächelte. „Das ist toll. Du musst mir Sydney und die anderen vorstellen, damit ich mich richtig bedanken kann.“

Er hatte vergessen, wie sehr er es genoss, ihre Reaktionen zu beobachten. Damals hatte er ihre Unschuld und ihre Naivität geliebt. In der Frau von heute steckte immer noch ein Funken des Mädchens von einst. Bei dieser Entdeckung wurde ihm warm ums Herz. „Kein Problem. Du wirst sie wahrscheinlich heute Abend im Salty Dog sehen.“

„Wie bitte?“ Sie hatte noch keine festen Pläne, abgesehen davon, ihren Großvater zu besuchen und zum Beerdigungsinstitut zu gehen, wo Ryan aufgebahrt war.

„Noch etwas, das du vergessen hast“, bemerkte Brody amüsiert. „Die Leute hier lieben Willkommenspartys.“

Sie erinnerte sich an die Tradition. Aber die galt doch nicht für sie. „Aber ich bleibe doch nicht lange.“

„Egal. Eine Party gibt’s trotzdem. Lily steht schon den ganzen Tag in der Küche.“ Ihr Gesichtsausdruck sagte ihm, dass noch eine Erklärung nötig war. „Lily gehört das Restaurant.“

„Ike hat jetzt Konkurrenz?“

„Er könnte nicht mal davon träumen, Lily Konkurrenz zu machen“, sagte Brody. „Das Restaurant, das Lily in Seattle hatte, hat Preise gewonnen.“

„Was macht sie dann hier?“

„Verliebt sein“, sagte Brody einfach. „Lily hat Max geheiratet, den Sheriff.“ Brody schaute wieder auf ihre Hand herab. „Okay, also ich hab dir erzählt, warum ich nicht verheiratet bin. Jetzt bin ich dran. Warum bist du immer noch Single?“

Irena zuckte die Schultern und tat so, ob sie sich noch im Haus umsah. Sie redete wirklich nicht gern über sich selbst. „Aus dem gleichen Grund.“

„Zu beschäftigt damit, weniger Glücklichen zu helfen?“, fragte er scherzhaft.

Irena lachte. Diesmal sah sie ihn an. „Nein, Klugscheißer. Ich hab zu viel zu tun, um auszugehen.“

„Oh, und jetzt hab ich gedacht, es hat vielleicht etwas damit zu tun, wie Ryan dir das Herz gebrochen hat.“

Erneut zuckte sie die Schultern. Einerseits fühlte sie sich unbehaglich, weil Brody den wahren Grund erkannt hatte. Andererseits gefiel es ihr, dass Brody ihre Ausflüchte immer noch durchschaute.

„Das auch“, gab sie zu. Weil ihr das Thema zu unangenehm wurde, wandte sie sich wieder ihm zu. „Also, was genau machst du, um den ‚weniger Glücklichen‘ zu helfen?“

Er durchschaute die Taktik, aber er wusste, wann es besser war, sie nicht zu bedrängen. Irena konnte sehr stur sein, wenn man sie unter Druck setzte.

„Was nötig ist.“ Er lächelte, während er darüber nachdachte, was er erreicht hatte. „Hier in Hades gibt es ein beeindruckendes Netzwerk von Freiwilligen. Sydney und Marta opfern einen Teil ihrer Freizeit, um Kindern von Ureinwohnern Nachhilfe zu geben. Die drei Ärzte – Shayne, sein Bruder Ben und Aprils Ehemann Jimmy – und Alyson, das ist die Krankenschwester und Jimmys Schwester …“, erläuterte er, um ihr die diversen Beziehungen aufzuzeigen, „… behandeln die Familien im Reservat für umsonst. Ich ersetze ihnen die Kosten für Medikamente.“

Er war immer so bescheiden. Sie hatte keinen Zweifel, dass er hinter all dem steckte. Die anderen Leute meinten es sicherlich gut. Aber Brody organisierte alles.

Wie anders als sein verstorbener Bruder war Brody doch. Ryan hatte immer nur Spaß haben wollen. Brody fühlte sich wohl, wenn er anderen half.

Lachfältchen bildeten sich um ihre Augenwinkel, als sie ihn anlächelte. „Sehr nobel, Brody.“

Aber er schüttelte den Kopf. „Nicht nobel. Einfach nur richtig.“

Irena drehte sich zu ihm um. Er hörte sich so ernst an, wenn er das sagte. Als ob er auf einer wichtigen Mission war. Dafür fiel ihr nur ein Grund ein. „Versuchst du wettzumachen, was dein Bruder und dein Vater getan haben?“

Dazu bräuchte ich zwei Leben, dachte Brody. Mindestens. Eher mehr.

Er schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur, meinen Anteil beizutragen. Das ist alles.“ Er dachte über seine nächsten Worte nach. Aber dann beschloss er, dass er nichts zu verlieren hatte. „Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen, wenn ich das nächste Mal nach Kenaitze fahre.“

„Mach ich gerne“, sagte sie. Dann hatte sie das Gefühl, sich berichtigen zu müssen. „Wenn ich dann noch hier bin.“

Er nickte. „Klar.“ Es wurde langsam dunkel. Er drehte sich zum Fenster um. Schnee fing an, gemächlich zu fallen. Wie lange würde es dauern, bis ein Blizzard daraus wurde? „Wenn das Wetter passt, zeig ich dir morgen die Stadt. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen.“

Bei ihm hörte sich das nach Tagesausflug an. Sie wusste es besser. „Was machen wir die restlichen dreiundzwanzig Stunden und fünfundvierzig Minuten?“

Er lachte. „Hades ist wirklich größer geworden“, beharrte er. „Ehrlich.“

Sie musterte ihn einen Augenblick. Dabei nahm sie geistesabwesend zur Kenntnis, dass seine Gesichtszüge auf eine Art und Weise reifer geworden waren, die ihn noch besser aussehen ließen.

„Wir haben alle erwartet, dass du zurückkommst, weißt du.“ Oder eher gehofft, fügte er im Stillen hinzu. „Erst nach dem College und dann nach dem Universitätsstudium. Aber das hast du nicht getan.“

Sie zuckte die Achseln und schaute weg. „Hat halt nicht geklappt.“ Und dann sah sie ihn wieder an. „Du bist doch auch aufs College gegangen.“

Er hatte geglaubt, dass er sie vergessen könnte, wenn er genug zu tun hatte. Da hatte er sich getäuscht. „Ja. Aber ich bin zurückgekommen.“

„Du hast ja auch keinen Grund gehabt, das nicht zu tun. Du hast nicht versucht, irgendwas zu vergessen.“

„Vielleicht doch, auf meine Art.“

Sobald er das gesagt hatte, bereute er es. Er hatte die ganze Zeit seine Gefühle für sich behalten und zu niemandem ein Wort gesagt, auch wenn er vermutete, dass Ryan Bescheid gewusst hatte.

Es war untypisch für seinen Bruder, ihn nicht damit aufzuziehen. Sensibilität war nie eine von Ryans Stärken gewesen. Aber in diesem einen Fall hatte sein Bruder so viel Verstand gehabt, das Thema auf sich beruhen zu lassen.

Abgesehen von einem einzigen Mal.

Am Tag, bevor er sich das Leben genommen hatte, war Ryan nachmittags merkwürdig gesprächig gewesen. Er war eine Liste der Fehler durchgegangen, die er im Lauf der Jahre gemacht hatte. Brody erinnerte sich, dass Irena zweimal vorgekommen war. Einmal, weil Ryan es bereute, dass er sie so schlecht behandelt hatte. Und ein zweites Mal, hatte Ryan ihm erklärt, weil ihm klar geworden war, dass eigentlich Brody sie verdient hatte.

„Irena hat etwas Besseres verdient als mich. Und du verdienst jemanden wie sie“, sagte Ryan, ungewöhnlich ernst. „Wenn ich nicht da gewesen wäre, wer weiß? Vielleicht hättet ihr zwei geheiratet. Oder wenigstens viel Spaß zusammen gehabt.“ Ryan zwinkerte ihm zu und lachte. Daraufhin bekam Brody einen Hustenanfall.

„Jetzt redest du aber Blödsinn“, erklärte er seinem Bruder und tat dann sein Bestes, um Ryan ins Bett zu bugsieren, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. Es war vier Uhr nachmittags, und Ryan war schon völlig dicht.

„Vielleicht“, gab Ryan zu und ließ sich aufs Bett fallen wie eine ausgeleierte Marionette. „Aber es ist wahr.“ Ryan packte ihn am Hemd und richtete sich noch mal auf. „Ich weiß, dass du sie liebst. Seh ich dir doch an.“

Sanft löste er Ryans Griff und ließ ihn wieder zurück aufs Bett sinken. „Jetzt halluzinierst du aber.“

„Nein, tu ich nicht“, beharrte Ryan. „Hab ich immer gewusst. Vielleicht hab ich sie mir deswegen geschnappt. Weil ich wollte, was du wolltest. Es tut mir so leid, Brody, so leid.“ Dann fing er an zu weinen. „Ich hab’s für uns alle vermasselt.“

Brody hatte eine ganze Weile gebraucht, um Ryan zu beruhigen. Was die Entschuldigung anging, so hatte er sie zu dem Zeitpunkt auf den Alkohol geschoben. Er hatte von Vater und Bruder genug Beichten gehört, um zu wissen, dass von Ryans Reue am nächsten Morgen höchstwahrscheinlich nichts mehr da sein würde.

Stattdessen war Ryan am nächsten Morgen nicht mehr da.

„Was?“, fragte Irena und hakte nach. „Was wolltest du vergessen?“

Brody schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so melodramatisch klingen.“ Er warf wieder einen Blick aus dem Fenster. Das Wetter wurde von Minute zu Minute schlechter. „Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, schneien wir hier noch ein.“

Sie zog die Kapuze ihres Parkas über den Kopf. „Du hast recht. Lass uns gehen.“

Brody folgte ihr nach draußen.

3. KAPITEL

„Du bist wirklich hier, meine Kleine! Wie wunderbar, dich zu sehen!“

Als Yuri Yovich die Haustür aufmachte, strahlte er vor Freude über das ganze wettergegerbte Gesicht. Die rauen Züge des ehemaligen Bergarbeiters wirkten mindestens zehn Jahre jünger, als er mit seinen neunundsiebzig Lenzen war.

Fröhlich zog er seine Enkelin in eine heftige, warmherzige Umarmung. Einen Augenblick verfiel er ins Russische und dankte Gott, dass sie heil und gesund angekommen war.

„Es tut mir so leid, dass kein glücklicherer Anlass ist“, sagte er und zog sie noch mal an sich. „Ich nicht gedacht, dass du schon kommst. Warum du nicht angerufen?“ Die Aufregung verstärkte seinen Akzent. „Hätt ich dich doch abgeholt.“

Dann merkte Yuri, dass seine Enkelin nicht allein war. „Ah, Brody, danke, dass du sie mir gebracht hast.“ Rasch schloss er hinter ihnen die Tür, um die Kälte auszusperren.

Brody schüttelte lächelnd den Kopf. „Niemand ‚bringt‘ Irena irgendwohin, Yuri. Sie ist selber gefahren. Ich bin ihr nur gefolgt, um aufzupassen, dass sie sicher herfindet.“

Yuri drehte sich verwirrt zu Irena um. War sie vom Flughafen in Anchorage hergefahren? „Du fährst? Mit Auto? Wie ist das möglich?“

Nur wenige Fahrzeuge bewältigten die Fahrt von Anchorage nach Hades um diese Jahreszeit.

„June hat mich hergeflogen. Sie hat darauf bestanden, dass ich ihren Jeep nehme“, erklärte Irena.

Yuri nickte. „June, sie ist braves Mädchen.“ Er strahlte und umfasste Irenas Gesicht mit seinen großen Händen. „Lass mich anschauen.“ Freude klang aus jedem Wort heraus. „Ist viel zu lange her, meine Kleine.“

„Das ist es“, stimmte sie zu. Sie hatte ganz vergessen, wie lieb sie diesen Bär von einem Mann hatte. „Du und Ursula, ihr solltet mich öfter besuchen.“

„Ach.“ Er winkte ab. „Ich mag den Lärm in Stadt nicht. Besser, dass du hier bist. Wie geht es deiner Mutter? Gut, hoffe ich.“

„Sehr gut sogar“, versicherte ihm Irena. „Und sehr verliebt.“

„Liebe ist gut“, sagte er mit Nachdruck und nickte wieder. „Ursula wird sich so freuen, dich zu sehen.“ Und dann fiel ihm etwas ein. „Ich muss los. Meine Braut abholen.“ Yuri ging zur Garderobe und holte seinen Parka. „Ich sage ihr, sie soll aufhören. Aber sie weigert sich.“ Er senkte die Stimme, als ob er ihnen ein Geheimnis verraten würde. „Sie liebt es, die Postmeisterin zu sein.“ Er seufzte dramatisch. Aber es war klar, dass ihm das nicht wirklich etwas ausmachte. „Ursula tut, was sie will.“ Er zog einen bunten Schal aus der Tasche und wickelte ihn sich um den Hals. „Bin gleich wieder da“, versprach er. Und dann drehte er sich zu Brody um. „Du leistest ihr doch Gesellschaft, bis ich wieder da bin, ja?“

Sie wollte Brody nicht in Verlegenheit bringen. „Grandpa, ich brauche doch keinen Babysitter.“

„Keinen Babysitter. Einen Freund“, antwortete Yuri unschuldig. „Und alle brauchen einen Freund, ja?“

„Ja.“ Sie lachte und steckte ihm die Enden des Schals in die Jacke. „Pass auf dich auf.“

„Immer“, sagte er feierlich. Dann gab er ihr ein Küsschen auf die Stirn. Und als er schon fast zur Tür hinaus war, bemerkte er: „Und wenn ich zurückkomme, gehen wir.“

Überrascht hielt Irena ihn am Arm fest. „Gehen? Wohin denn?“

Yuri starrte seine Enkelin ungläubig an. „Na, wo wir immer zum Feiern hingehen. In den Salty Dog.“

Brody lächelte nur, als der alte Mann das Haus verließ. Als Yuri weg war, sah Brody Irena an. „Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns bei Ike treffen.“

Sie wusste es zu schätzen, dass ihr Großvater sich freute, sie zu sehen, und dass ihre alten Freunde sie treffen wollten. Aber sie war einfach nicht in der Stimmung für eine Party.

„Ich würde lieber zum Beerdigungsinstitut gehen“, sagte sie.

„Das hat nicht viel Sinn. Geschlossener Sarg“, erklärte er. „Nathan und seine Frau konnten Ryan nicht so herrichten, dass man ihn hätte aufbahren können.“

Er beließ es dabei und ging nicht näher darauf ein, dass Ryan offensichtlich die Mündung der Waffe unter sein Kinn gepresst hatte. Das war die ultimative Ironie. Ryan hatte sein gutes Aussehen immer ausgenutzt. Es hatte ihm als Eintrittskarte in zahllose Schlafzimmer gedient. Am Ende hatte er es zerstört. Mit Absicht? Das konnte man nicht wissen, aber Brody hatte so seinen Verdacht.

Irena spürte, wie ihr Herz sich verkrampfte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass Ryan sich erschossen hatte. Hatte nicht bedacht, was das bedeutete.

„Ich würde ihm trotzdem gerne die letzte Ehre erweisen.“

Er wollte nicht, dass sie da allein hinging. Ganz egal wie unabhängig sie war, in so einem Augenblick brauchte sie jemanden an ihrer Seite. „Ich sag dir was: Wenn du bis um acht fertig sein kannst, bring ich dich morgen früh hin.“

Acht war für ihre Verhältnisse alles andere als früh. Für ihn offensichtlich schon. Also fragte sie: „Warum so früh?“

„Ich hab Matthew Long Wolf versprochen, dass ich morgen ganz früh ins Reservat komme.“

Weil sie nicht tatenlos herumsitzen wollte, fragte sie spontan: „Kann ich mitkommen?“

Die Frage überraschte ihn. Aber dann wurde ihm klar, dass sie nicht notwendigerweise mit ihm zusammen sein wollte; sie wollte wahrscheinlich nur sehen, was er so machte. Aber das Ergebnis war dasselbe. Er würde Zeit mit ihr verbringen.

„Klar. Gerne.“ Er schwieg einen Augenblick. Ihre Hände waren weich, ihre Nägel manikürt. Wahrscheinlich war sie an körperliche Arbeit nicht gewöhnt. „Wie gut kannst du mit einem Hammer umgehen?“

Ein neckendes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Hängt ganz davon ab, was ich mit dem Hammer machen soll.“

„Nägel einschlagen.“

„In irgendwas Besonderes?“, fragte Irena.

„Ein Haus. Oder zumindest wird es hoffentlich bis Ende der Woche ein Haus sein.“

„Erzähl weiter, Brody. Sonst muss ich den Hammer am Ende kreativer einsetzen.“

Er lachte. „Du und dein Wortwitz. Kein Wunder, dass du Anwältin geworden bist.“

„Erst mal eine Erklärung, Komplimente können warten“, befahl sie.

„Ein paar der älteren Häuser im Reservat sind dabei, auseinanderzufallen. Oder haben das schon getan. Es wird bald Winter. Ohne eine ordentliche Unterkunft ist das Erkrankungsrisiko unheimlich hoch. Vor ein paar Jahren gab es bei einer Grippewelle mehr Todesfälle als nötig.“

Irena starrte ihn an. Erst neigte sie den Kopf zur einen, dann zur anderen Seite. Er verstummte. „Was soll das denn?“

Ihre Miene war die eines Unschuldslamms. „Ich versuche nur, den Heiligenschein auszumachen.“

Er runzelte die Stirn. „Sehr witzig.“

Wenn er so böse schaut, sieht er genau wie Ryan aus, dachte sie. Nur dass man Ryan nie dabei erwischt hätte, so selbstlos zu sein.

„Nein, ehrlich, das ist echt bewundernswert“, sagte sie mit ernster Stimme. „Ich würde deine Arbeit gerne unterstützen.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und kramte ihr Scheckbuch heraus.

Brody legte seine Hand auf ihre und hielt sie auf. „Ein Paar tatkräftige Hände ist mehr als genug.“

Sie hatte sich schon bereit erklärt zu helfen, aber sie wollte mehr tun. Sie sollte mehr tun. Schließlich hatte sie hier mal gelebt. „Zu viel Geld geht doch gar nicht.“

„Doch“, sagte er. „Mein Vater und Ryan hatten mehr als genug fürs ganze Leben, und schau dir nur an, was ihnen das eingebracht hat. Mein Vater hat sich zu Tode getrunken, und Ryan hat sich selbst gerichtet.“

Schuldgefühle überkamen sie. Irena presste die Lippen zusammen. „Tut mir leid. Ich hab einfach nicht nachgedacht.“

„Doch, das hast du. Du hast an die Menschen im Reservat gedacht und du wolltest großzügig sein. Es ist nicht so, dass ich das nicht zu würdigen weiß. Aber ehrlich, wenn du morgen einspringst, reicht das. Alle Leute hier haben mehr als genug zu tun.“ Das Leben in Hades konnte sehr hart sein. „Freiwillige zu finden ist nicht immer einfach.“

Sie nickte. Dann leuchteten ihre Augen auf, als sie eine Idee hatte. „Mach doch einfach eine Party draus.“

Ihre Augen zogen ihn in ihren Bann. Es kostete ihn richtig Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte. „Was?“

„Na, du hast doch gesagt, die Leute hier in Hades feiern gerne, egal aus welchem Anlass.“ Sie grinste. „Dann mach die Party nächstes Mal nicht bei Ike, sondern im Reservat.“

Er überlegte. „Weißt du was“, sagte er mit einem Lächeln, „das könnte funktionieren. Vielleicht probier ich diese Taktik an einem der nächsten Wochenenden mal aus.“

Dann wäre sie wieder weg. Beinahe bereute sie das. Betonung auf „beinahe“. „Zu schade, dass ich das nicht miterleben werde.“

Obwohl er keine Miene verzog, spürte Brody, wie ihm das Herz sank. „Wie bald musst du wieder abreisen?“

Sie hatte mit Absicht ein undatiertes Rückflugticket gekauft, weil ihr Großvater nicht ganz sicher war, wann die Beerdigung sein würde. „Ich hab gedacht, am Tag nach der Beerdigung. Übrigens, wann ist die?“

Er hatte am Vortag alles geregelt. Und dann hatte er sich aufs Laufband gestellt und war zehn Meilen gerannt. Dabei hatte er versucht, mit seiner Trauer fertigzuwerden, und hatte Ryan die ganze Zeit im Stillen verflucht, weil er so egoistisch und so dumm war.

„Samstag, um elf.“

Samstag. Das bedeutete, dass sie fünf Tage bleiben musste, den heutigen Tag eingeschlossen. Sie dachte daran, dass ihr Boss sie wieder an ihrem Schreibtisch sehen wollte, bevor sie überhaupt abgereist war. Eli würde nicht erfreut sein, wenn sie bis Montag weg war. „Dann reise ich Sonntag ab.“

Sonntag. Heute war Mittwoch. Dann hatte er drei volle Tage. Drei Tage mit ihr. Das kam ihm nicht mal ansatzweise genug vor. „Musst du wirklich so bald wieder zurück?“

Sie nickte. „Ich hab eine Menge Fälle. Es war so schon schwer, freizubekommen. Mein Boss ist kein Fan von Angestellten mit Privatleben.“

„Bist du glücklich?“, fragte er plötzlich. „Dieser Anwaltskram, macht dich das glücklich?“

Sie spürte, wie sie sich instinktiv verteidigen wollte. In letzter Zeit, das hatte sie schon gemerkt, war sie viel zu streitsüchtig. Das war der Stress.

„Ich kann etwas bewirken“, antwortete sie. Hörte sich das für ihn so klischeehaft an wie für sie? „Und das macht mich glücklich.“

„Kriminelle zu verteidigen macht dich glücklich?“ Sein Tonfall war äußerst skeptisch.

Jetzt kehrte sie die Anwältin heraus. „Das sind keine Kriminellen, bis ihre Schuld bewiesen ist.“

Ihre Kanzlei vertrat Menschen, die wegen schwerwiegender Delikte angeklagt wurden. Brody hatte ihren Karriereweg verfolgt. „Das ist doch nur Wortklauberei“, erwiderte er.

„Nein“, entgegnete sie. „Das ist unser Rechtssystem.“ Es war ihr wichtig, dass er das verstand. Aus irgendeinem Grund war seine Billigung ihr wichtig. „Und nicht alle, die festgenommen werden, sind schuldig.“

Brody nickte langsam. „Wohl wahr.“ Dann entschuldigte er sich. „Ich habe kein Recht, infrage zu stellen, was du mit deinem Leben machst.“

Wenn sie schon mal beim Entschuldigen waren, war sie jetzt an der Reihe. „Und ich wollte nicht mit dir streiten.“

Der Augenblick zog sich in die Länge. Brody schaute nach unten. Er hatte seine ältesten Jeans an, und das Hemd unter seiner Jacke hatte mehrere Risse.

„Ich sollte mal nach Hause fahren und mich umziehen“, sagte er. Und dann sah er Irena noch ein bisschen länger an. Er versuchte, genug von ihrem Anblick in sich aufzusaugen, damit es für die nächsten zehn Jahre oder so reichen würde. „Dann sehen wir uns nachher im Saloon.“

„Vermutlich“, stimmte sie zu. „Nachdem mir da anscheinend keine Wahl bleibt.“

Er zögerte, bevor er die Tür öffnete. Sein Blick begegnete ihrem. „Du hast immer eine Wahl, Irena.“

Und dann ging er hinaus in die Kälte und ließ sie zurück. Sie starrte die geschlossene Tür an und fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, zurückzukommen.

„Wie geht’s dir, Schätzchen?“, fragte Klondike LeBlanc, der überall nur als Ike bekannt war. Er hatte seine Bar verlassen, als Irena hereingekommen war. Jetzt nahm er ihre Hände und gab ihr ein flüchtiges Küsschen auf die Wange.

Das Gefühl, nach Hause zu kommen, wallte in ihr auf, bevor sie es unterdrücken konnte.

Das ist nicht mehr dein Zuhause, ermahnte sie sich.

Nichts hatte sich verändert. Nicht die Kneipe, nicht Ike, nicht die Leute, die sie lauthals begrüßten. Oh, ein paar sahen ein bisschen älter aus, ein bisschen abgearbeiteter, und es gab auch einige wenige neue Gesichter. Aber im Großen und Ganzen war es, als wäre sie nie weg gewesen. Als ob in Hades die Zeit stehen geblieben war, wie in einem Märchen.

„Mir geht’s prima, Ike“, sagte sie. „Und du siehst so gut aus wie eh und je.“

„Das liegt daran, dass die Ehe ihm so gut bekommt“, erklärte eine zierliche Blondine und legte ihm einen Arm um die Taille. „Stimmt’s, Ike?“

„Absolut.“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hab gar nicht gewusst, was mir fehlt, bis du aufgetaucht bist, Liebling.“

„Gute Antwort“, lobte Marta LeBlanc. Sie lächelte breit. Und dann, als ob ihr plötzlich aufgefallen wäre, dass sie in der vollen Kneipe nicht gerade allein waren, streckte Marta die Hand aus. „Hi, ich bin Marta. Seine Frau.“

„Das hab ich mir schon gedacht“, sagte Irena und schüttelte ihre Hand. „Brody hat erzählt, dass du mitgeholfen hast, mein altes Haus zu putzen. Danke schön.“

Marta winkte ab. „Kein Problem. War mir ein Vergnügen. Wozu hat man denn Nachbarn?“ Wärme lag in ihren Augen, als sie fragte: „Also, sag schon, wie lange bleibst du?“

„Nicht lange“, antwortete Irena. „Ich muss gleich nach der Beerdigung wieder zurück.“

Marta und ihr Mann sahen sich an. „Das ist wirklich schade. Brody wird so enttäuscht sein.“

Irgendetwas regte sich in Irena. Neugierde? Hatte Brody irgendwas zu Ike gesagt? „Warum sollte er denn enttäuscht sein?“

Ike beantwortete ihre Frage nicht. Stattdessen wechselte er das Thema. „Weißt du, Marta wollte auch nur ein paar Wochen bleiben.“ Er warf seiner Frau einen Blick zu. „Wie lang ist das jetzt her, Liebling?“

„Das war in einem anderen Leben“, erwiderte Marta. Dann sah sie wieder Irena an. „Irgendwie gewinnt man diesen Ort lieb.“

„Außer, wenn du hier geboren bist“, widersprach Irena.

„Ike ist hier geboren“, meinte Marta. „Er wollte nie weg. Er will Hades nur größer machen.“

„Worum geht’s?“, fragte April Quintano und schob sich zwischen sie.

Irena erkannte die Stimme. „April?“

„Höchstpersönlich.“ Die andere Frau lachte und umarmte Irena. „June hat mir erzählt, dass sie dich heute Nachmittag hergeflogen hat.“ Sie wich zurück, um Irena gründlich zu mustern. „Himmel, das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch ein schlaksiger Teenager.“

„Und du warst kurz davor, Hades zu verlassen“, erinnerte sich Irena. „Und du wolltest nie wieder hierher zurückkommen.“

„Nicht nur nach Hades, sondern nach Alaska“, korrigierte April.

„Und jetzt lebst du hier?“, fragte Irena.

April lachte. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt …“

Ihrer Erinnerung nach hatte April damals sehr deutlich gesagt, wie sehr sie Hades hasste. Das passte nicht zu der zufriedenen Frau, die jetzt vor ihr stand. „Was ist passiert?“

„Meine Großmutter, diese Schlange“, sagte April liebevoll und warf Ursula einen Blick zu. „Angeblich hatte sie einen Herzinfarkt. Also bin ich zurückgekommen, um bei ihrer Pflege zu helfen. Zur gleichen Zeit war Jimmy hier, um seine Schwester zu besuchen.“ Sie zuckte die Schultern. „Eines führte zum anderen, und am Ende bin ich hiergeblieben.“ April hielt die linke Hand hoch und zeigte den goldenen Hochzeitsring. „Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich. Jimmy auch nicht, behauptet er.“ Kleine Fältchen bildeten sich um ihre Augen, als sie erneut lächelte. „Muss an der Luft liegen“, scherzte sie.

„Oder sie tun irgendwas ins Wasser“, spekulierte Irena trocken.

„Egal, was es ist, es scheint zu funktionieren“, antwortete April mit Nachdruck. „Hades wächst und gedeiht. Immer weniger Leute verlassen uns und ein paar kommen zu uns.“

„Apropos, hier kommt Brody“, sagte Ike und winkte.

Als sie den Namen ihres alten Freundes hörte, drehte Irena sich um. Weil der Saloon so voll war, brauchte sie ein paar Sekunden, um ihn zu entdecken. Als sie ihn ausgemacht hatte, fiel ihr ein weiteres Mal auf, wie sehr Brody seinem Bruder ähnlich sah, vor allem auf die Entfernung.

Ein merkwürdiges Gefühl erfasste sie, wie ein Tornado in ihrem Bauch.

4. KAPITEL

Während aus Minuten Stunden wurden, wurde Irena klar, dass sie noch etwas vergessen hatte: wie gesellig die Leute hier waren. Und dass sie sich nichts dabei dachten, unendlich viele persönliche Fragen zu stellen.

„Aufhören“, rief Lily Yearling nach einem weiteren Verhör. „Lasst die arme Frau es genießen, wieder mal hier zu sein, ohne ihr Löcher in den Bauch zu fragen.“

Lily, die Eigentümerin und Chefköchin des beliebtesten Restaurants von Hades, schenkte Irena ein mitfühlendes Lächeln. „Ich weiß, was du durchmachst“, sagte sie. „Als dieser Haufen die erste Party mir ‚zu Ehren‘ veranstaltet hat, da hab ich gedacht, der Kopf fliegt mir weg. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so gelöchert worden.“ Dann beugte Lily sich vor, als ob sie ihr ein Geheimnis verraten wollte. „Versuch einfach, daran zu denken, dass sie es gut meinen.“

Irena hatte auch vergessen, wie gut alle in Hades miteinander auszukommen schienen. Sie merkte nicht, dass sie lächelte, bis sie hörte, wie jemand sagte: „Ich wüsste gern, was du jetzt denkst.“

Brody beugte sich vor, damit nur sie seine Bemerkung hören konnte.

Sie benutzte immer noch das gleiche Parfüm, stellte er fest. Irgendeine erotische Mischung aus Vanille und Jasmin. Wenn der Jasmin blühte und er hinter seinem Haus übers Feld ging, musste er bei dem Geruch immer an sie denken.

Viele Dinge ließen ihn an sie denken.

„Also, da musst du dir schon mehr Mühe geben, wenn du das willst.“ Irena lachte und drehte den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen.

„Ach? Was wäre denn dafür nötig?“, fragte er.

Das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt. Vielleicht nur drei und einen Herzschlag. Und was das anging, ihr Herz schlug plötzlich schneller, und ihr Puls pochte heftig in den Adern.

Die anderen Gäste in der überfüllten Kneipe verblassten. Der Lärm wurde schwächer. Danach folgte Stille. Eine Stille, die nur sie beide einhüllte und diesen einen, viel zu warmen Augenblick.

„Bilde ich mir das nur ein“, murmelte sie. „Oder wird das langsam heiß hier?“ Die Silben kamen ihr nur in Zeitlupe über die Lippen.

„Das bildest du dir nur ein“, meinte Brody. „Obwohl die Tatsache, dass hier so viele Leute auf engem Raum zusammengepfercht sind, etwas damit zu tun haben könnte.“

Verdammt, er wollte sie küssen. Wollte die Hände um ihr Gesicht legen und ihre Lippen mit seinen berühren. Er wollte sie kosten, wie er es sich seit Jahren wünschte. Aber er würde sich nur zum Narren machen. Er war froh, dass sie hier waren und nicht allein.

Brody riss sich zusammen. „Du siehst müde aus.“

„Ja, das bin ich vermutlich.“ Sie griff nach ihrer Handtasche. „Also, wenn ich morgen früh aufstehen soll, dann sollte ich vielleicht nach Hause fahren.“

„Zu mir, hoffe ich“, rief Yuri. Ihr Großvater stand schon auf.

Eigentlich hatte sie an das Haus ihrer Mutter gedacht. Aber das wäre eine Beleidigung für den alten Mann. Und sie wollte wirklich nicht seine Gefühle verletzen.

Dann vielleicht morgen.

„Ja, aber meinetwegen musst du nicht schon gehen, Grandpa“, erwiderte sie. „Ich weiß den Weg.“

„Bei Nacht verirrt man sich schnell mal“, fiel Shayne ein.

Warum taten alle so, als ob sie gerade zum ersten Mal in Hades war? „Ich hab achtzehn Jahre hier gelebt. Ich bin nicht unbedingt neu hier.“

„Nein, nur aus der Übung“, erklärte Brody und machte sich bei Yuri beliebt, indem er sich auf seine Seite schlug. „Keine Sorge, Yuri. Ich kann sie nach Hause bringen. Liegt sowieso auf meinem Weg.“

Yuri strahlte dankbar – und wohlwollend. „Danke. So dankbar ich bin dir.“

Irena gab sich Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Sie hatte ganz vergessen, wie liebenswert die Ausdrucksweise ihres Großvaters war.

„Ist mir ein Vergnügen“, versicherte Brody. Dann nahm er Irenas Parka und half ihr hinein.

„So ein guter Junge“, hörte Irena Ursula sagen, als sie mit Brody zur Tür ging. „Gar nicht wie sein Bruder.“

Innerlich zuckte Irena zusammen. Sie sah zu Brody hinüber. Hatte er das gehört? Ein Blick auf sein Gesicht sagte ihr, dass er das mitbekommen hatte.

Vor der Tür drehte sie sich zu ihm um. „Tut mir wirklich leid, dass du das hören musstest.“

„Warum?“, fragte er neugierig. „Stimmt doch. Ich bin nicht wie Ryan. Und Ryan hat das auch gewusst. Das hat er sogar ein paarmal gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob er das als Beleidigung aufgefasst hat oder nicht.“ Brody machte die Tür auf und wartete darauf, dass sie hinausging. „Er wollte mich immer dazu überreden, mehr zu sein wie er. Es ruhig angehen lassen und die schönen Dinge des Lebens genießen.“

In diesen Worten erkannte sie beide wieder. Ryan hatte genau das Gleiche zu ihr gesagt, als sie geschimpft hatte, weil er nichts aus seinem Leben machte. Er hatte gesagt, dass er zu beschäftigt damit war, das Leben zu genießen. Das sollte sie doch auch mal versuchen.

Der Wind ging ihr durch Mark und Bein, sobald sie aus dem Saloon traten. Irena zog die Kapuze über ihren Kopf.

„Warum tust du das nicht?“, fragte sie neugierig. „Ryan hat gemeint, es wäre genug Geld da, dass ihr beide euch entspannt zurücklehnen könnt.“

Er konnte sich nicht vorstellen, das zu tun. Oder genauer gesagt, nichts zu tun.

„Ist nicht mein Ding“, antwortete er.

Brody öffnete die Autotür für Irena. „Nichtstun macht mich kribbelig“, erklärte er. „Überall sehe ich Sachen, die getan werden müssen.“ Er ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. „Menschen, die Unterstützung brauchen.“

Sie schnallte sich an. Dann drehte sie sich zur Seite, um Brody anzusehen. So war er schon immer, erinnerte sie sich. Warum war ihr noch nie aufgefallen, was für ein guter Mensch er war?

„Warum bist du nicht Arzt geworden?“

Brody lachte kurz, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Zwei Versuche waren nötig, um den Wagen zu starten. Wenn das Wetter abkühlte, wurde sein Auto immer widerspenstig.

„Dafür hab ich nicht genug Geduld oder Talent, Irena. Ich bin gut darin, Helfer aufzutreiben und Nägel in Holz zu hämmern, einfache Sachen.“

Abgesehen von den Scheinwerfern war der Vollmond die einzige Lichtquelle. Auch wenn Irena das nicht gerne zugab, es wäre ihr schwergefallen, den Weg zum Haus ihres Großvaters zu finden.

„So einfach hört sich das nicht an“, sagte sie bewundernd. „Du gibst so viel.“

Brody tat den Kommentar ab. Anders als seinem Bruder waren ihm Aufmerksamkeit und Komplimente schon immer unangenehm gewesen. Er blieb lieber im Hintergrund. Er war zufrieden, wenn er das schaffte, was er sich vorgenommen hatte. Egal, ob er nun dafür sorgte, dass jemand etwas zu essen auf dem Tisch hatte, dass eine kranke Mutter medizinisch versorgt wurde oder dass die Talente eines Kindes richtig gefördert wurden. Vermutlich war er so was wie ein Kuppler – er brachte Leute mit anderen Leuten zusammen, Hilfsbedürftige und Hilfsbereite. Das war seine Begabung, sein Talent. Das reichte auch.

„Wir tun doch alle, was wir können“, sagte er leise.

Irena dachte an die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete. Alle hochgebildet, sehr elitär. Viele herzlos. Im Vergleich zu Brody die reinsten Barrakudas.

„Nicht alle“, sagte sie mit Nachdruck.

Er warf ihr kurz einen Blick zu, bevor er wieder die Straße im Auge behielt. Redete sie über sich selbst oder über andere? Es war zehn Jahre her, seit sie sich das letzte Mal getroffen hatten. Was hatte sie in diesen Jahren getan? Hatte es einen besonderen Menschen für sie gegeben? Gab es ihn vielleicht noch?

„Willst du darüber reden?“, fragte er beiläufig.

Sie hatte sich so auf ihre Karriere konzentriert, dass sie nicht mehr darüber nachgedacht hatte, ob sich das Ganze überhaupt lohnte. Das hatte sie einfach angenommen; jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

„Eigentlich nicht.“

Sie schaute starr geradeaus. Im Gegensatz zum Haus ihrer Mutter befand sich das Blockhaus ihres Großvaters am Stadtrand, auf halbem Weg zwischen Stadtzentrum und Wildnis.

Obwohl der Mond schien, war es schwierig, irgendwas jenseits der Scheinwerferkegel zu sehen.

„Ich hatte ganz vergessen, wie dunkel es hier draußen ist.“

„Das ist es“, stimmte er zu. „Irgendwie beruhigend.“

Beruhigend. Das Wort, das ihr dazu einfiel, war „einsam“ oder vielleicht „leer“. Aber sie sagte nichts. Stattdessen schaute sie zu den Sternen hinauf.

„Die wirken heller hier“, meinte sie. Dann fügte sie hinzu: „Die Sterne.“

„Das liegt daran, dass sie heller sind.“ Er bog ab und hielt vor dem letzten Haus an. „Da sind wir.“

„In der Tat. Danke fürs Mitnehmen.“ Sie hatte gar nicht gemerkt, dass das Haus ihres Großvaters vor ihnen lag, bis sie direkt davorstanden.

„War mir ein Vergnügen.“ Sie musste sich nicht bei ihm bedanken. Sie waren Freunde. Freunde taten so was füreinander. Sogar wenn ein Freund in den anderen verliebt war.

Irena wollte schon die Tür aufmachen, dann hielt sie inne. „Und du holst mich morgen früh um acht ab?“

Brody nickte. Er beobachtete, wie das Mondlicht sie auf ihrem Sitz einrahmte, als ob es sie vor der Dunkelheit abschirmen wollte.

„Versprochen.“

Irgendetwas regte sich in ihr, etwas Undefinierbares, Warmes. Sie lächelte. „Und ich habe dich schon immer beim Wort nehmen können.“

Der Innenraum des Autos schien kleiner zu werden. Er konnte sie atmen hören, konnte ihren Atem beinahe auf seinen Lippen schmecken. Der Duft ihres Parfüms erfüllte seine Sinne.

Ob dieser Duft aus einer Flasche mit Designerlabel stammte oder einfach nur ihrer Haut anhaftete, wusste er nicht. Aber eines wusste er ganz genau: Wenn Irena nicht innerhalb der nächsten paar Sekunden aussteigen würde, dann würde er den Kampf gegen die Versuchung verlieren.

Weil sie sich nicht rührte, musste er etwas tun. Brody stieg aus. Dann ging er um den Wagen herum. Er öffnete die Tür für sie und trat zurück.

Sie schaffte es trotzdem, ihn zu streifen, als sie aus dem Wagen kletterte.

Ihre Blicke trafen sich, als sie zu einer Entschuldigung ansetzte.

Die Worte erstarben ihr auf den Lippen.

Irena war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass Brody sie an Ryan erinnerte und sie ein letztes Mal an die Vergangenheit anknüpfen wollte.

Oder daran, dass sie einfach menschliche Nähe brauchte, wenn auch nur für einen Augenblick.

Das alles wusste sie nicht, und sie machte sich nicht die Mühe, es sich zu überlegen. Oder auch nur einen halbherzigen Versuch zu unternehmen, sich die Idee aus dem Kopf zu schlagen. Stattdessen machte sie einen Schritt auf ihn zu. Und dann, mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem, küsste Irena ihn.

5. KAPITEL

Vor allem als er jünger war, hatte es Zeiten gegeben, da ließ Brody seinen Gedanken freien Lauf, ungehindert und ungezügelt.

Vor allem stellte er sich gerne vor, wie es wäre, Irena zu küssen. Wie es wäre, ihre Lippen zu spüren und sich in ihrem Duft zu verlieren. Er lag im Bett und fragte sich, wie es wäre, mit ihr zu schlafen.

Dabei hatte er sich mehr als einmal geschworen, dass er nie ihre Gefühle verletzen würde und sie nie als selbstverständlich ansehen würde.

So wie Ryan es getan hatte.

Die Wirklichkeit war noch viel besser als jede Fantasie.

Ihr Kuss überrumpelte ihn völlig und jagte ihm das Adrenalin durch den Körper.

Brody machte sich keine Illusionen. Er wusste genau, warum das gerade passierte. Das war ein Verdrängungsmechanismus, mehr nicht. Sie küsste nicht wirklich ihn. Sie küsste die Erinnerung an seinen Bruder. Aber das machte ihm nichts aus. Er würde diesen Kuss nehmen, egal wie und warum er ihn bekam. Außerdem verstand er das Bedürfnis nach Trost.

Brody legte die Arme um sie und vertiefte den Kuss. Nur ganz, ganz kurz erlaubte er seinen Gefühlen, sich ein kleines bisschen Luft zu verschaffen.

Verdammt, es war schwierig, sich nicht ganz in ihr zu verlieren. Yuri und Ursula waren noch im Salty Dog Saloon und würden dort wahrscheinlich noch eine Stunde oder sogar länger bleiben. Sie wären jetzt allein im Haus.

Zusammen. Allein.

Und er könnte … er könnte …

Nein, das könnte er nicht. Denn dann würde er Irenas Trauer und ihre Verletzlichkeit ausnutzen. Dabei würde er sie als Freundin verlieren. Und das wollte er auf gar keinen Fall.

Also legte Brody mühsam die Hände auf Irenas Schultern und sorgte sehr sanft, aber bestimmt für Abstand zwischen ihnen.

Als er sich von Irena löste, sah Brody ihren leicht benommenen, verwirrten Gesichtsausdruck, die Sanftheit ihrer Augen und die Röte ihrer Wangen. Ihr Blick brachte ihn beinahe dazu, dem Verlangen, das in ihm tobte, nachzugeben. Nur die Folgen hinderten ihn daran, seinen Begierden freien Lauf zu lassen.

„Es ist kalt hier draußen“, sagte er sanft und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Du solltest besser reingehen.“

Kalt? Es war kalt? Sie spürte nur eine wilde Hitze, die in ihr aufloderte. Sie hätte schwören können, dass sie kurz davor war, in Flammen aufzugehen. War das die Folge deplatzierter sexueller Anziehungskraft? Oder fühlten sich ihre Wangen aus Scham so heiß an?

Das sah ihr so gar nicht ähnlich, sich einem Mann an den Hals zu werfen, weil sie „Bedürfnisse“ hatte, die gestillt werden mussten.

Heute Abend schon, beharrte eine hämische Stimme in ihrem Kopf.

Und diese Bedürfnisse schienen sie bei lebendigem Leib zu verschlingen.

Irena stieß den Atem aus. Gott sei Dank war Brody so ehrenhaft.

„Du hast recht. Wir sehen uns dann morgen früh“, sagte sie.

„Richtig. Verlass dich drauf.“ Die Worte kamen ihm automatisch über die Lippen, während er weiter um seine Selbstbeherrschung kämpfte. „Jetzt geh ins Haus.“

Geh rein, bevor ich alles vergesse, was ich je über Anstand gewusst habe.

Brody machte einen Schritt rückwärts und wartete, bis die einzige Frau, die er je geliebt hatte, die Tür hinter sich zumachte. Eine Sekunde lang kämpfte er gegen eine neuerliche Welle des Verlangens an. Dann schob er die Hände in die Taschen, drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zu seinem Wagen.

Dabei fragte er sich, ob er zu alt für ein Leistungsabzeichen war. Gab es bei den Pfadfindern ein Abzeichen für Enthaltsamkeit?

Um acht Uhr am nächsten Morgen stand Brody wieder vor Yuris Haustür. Er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht. Hinter ihm war die Sonne erst mühsam dabei, aufzugehen.

Er hatte sehr wenig geschlafen. Sobald er im Bett war, hatte er gemerkt, dass er viel zu aufgedreht war, um mehr als ein paar Minuten am Stück zu schlafen. Und wenn er doch einschlief, dann träumte er von Irena. Nicht, dass es schlecht war, den Kuss immer und immer wieder zu durchleben. Aber das führte nicht zu einem ruhigen Schlaf.

Oder zu echter Befriedigung.

Also stand er jetzt da, mit weniger als anderthalb Stunden Schlaf, und hatte einen langen Tag mit anstrengender körperlicher Arbeit vor sich. Er hoffte nur, dass er nicht mit der Kettensäge in der Hand einschlafen würde.

Irena kam beim ersten Klopfen an die Tür und öffnete. Sie sah unglaublich erholt aus.

„Gut geschlafen?“, hörte er sich selbst fragen. Hatte der vergangene Abend sie gar nicht wach gehalten? Hatte ihr der Kuss gar nichts bedeutet?

Denk gar nicht erst dran. Du machst dich nur verrückt.

Irena lächelte beinahe schüchtern. In Wahrheit hatte sie nicht besonders gut geschlafen. Eine Mischung aus Schuldgefühlen und Adrenalin hatte dem entgegengewirkt. Aber in ihren Jahren als Jurastudentin und Anwältin hatte sie zwei Dinge gelernt: Wie man mit sehr wenig Schlaf zurechtkommt und dabei gut aussieht. Sie war sehr geschickt mit Make-up.

„Wie ein Baby.“

Brody ging voran zu seinem Wagen. Er öffnete die Autotür für sie und schloss sie auch wieder, nachdem sie sich gesetzt hatte.

Irena wartete, bis er eingestiegen war, um zu sagen: „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Brody, dass du mich zum Beerdigungsinstitut begleitest.“

Er winkte ab. „Kein Problem.“

„Und ich hab ernst gemeint, was ich gesagt habe“, fuhr sie fort. „Ich will im Reservat mithelfen.“

„Das ist aber nicht nötig“, sagte er. Den Blick hielt er auf die Straße gerichtet.

„Doch, ist es“, beharrte Irena. „Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Außerdem hab ich gerne was zu tun.“

Brody seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Ich werde mich nicht mit dir streiten.“

„Gut. Denn ich würde gewinnen.“ Sie grinste. „Vergiss nicht, damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.“

Da lachte er. „Du hättest wirklich keinen passenderen Job finden können.“

Ihr Lachen war wie Musik in seinen Ohren.

Der Allen Brothers Funeral Parlor war eines der ältesten Gebäude in Hades. Es war auch eines der kleinsten. Aber in Anbetracht der Einwohnerzahl reichte es völlig.

Das riecht ja modrig hier, dachte Irena, als sie leise das Gebäude betrat. Es roch genau wie an dem Tag, als sie an der Hand ihrer Mutter hereingekommen war, um ihren Vater aufgebahrt zu sehen.

Ein Gefühl eines Déjà-vu überkam sie.

Aber es gab einige Unterschiede.

Anders als bei ihrem Vater war der Sarg diesmal nicht offen. Brody hatte sie ja vorgewarnt. Der Deckel war fest geschlossen und machte einen letzten Blick auf Ryan unmöglich.

Das Herz tat ihr weh, als sie näher trat. Die Worte „Was wäre wenn?“ hallten in ihrem Kopf wider und wider und wider, als ob die Nadel in der Rille einer alten Schallplatte hängen geblieben war.

Wie in Zeitlupe ging Irena vorsichtig auf den Sarg zu. Einen Herzschlag später hob sie die Hand und fuhr über das glatte, glänzende Holz. Ryan war da drin. Oder was von ihm noch übrig war.

Wie in Trance streichelte sie den Rand des Sargdeckels.

Sie blieben ein paar Minuten schweigend stehen. Brody wartete geduldig, während Irena neben dem Sarg verharrte. Tränen stiegen in ihren Augen auf. Stumm bot Brody ihr ein Taschentuch an. Sie nahm es und wischte sich die Augen ab.

Sie schaute auf den Sarg hinunter und stieß heftig den Atem aus.

„Auf Wiedersehen, Ryan“, flüsterte sie. Sie hob den Kopf und warf Brody einen Blick zu. Dann zwang sie ihren Mund, ein schwaches Lächeln zu formen. „Okay. Gehen wir.“

Ohne ein Wort nahm er ihren Arm und führte sie aus dem Gebäude. Sobald sie draußen waren, hörte er, wie sie einen tiefen, zitterigen Atemzug nahm.

„Sicher, dass du mitkommen willst?“, fragte er, beunruhigt darüber, wie ihr das alles zusetzte. „Ich kann dich auch zu deinem Großvater zurückbringen.“

Seit sie denken konnte, hatte Brody immer sein Bestes getan, um auf sie aufzupassen. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte sie.

„Ganz sicher“, bekräftigte sie. Und dann lächelte sie ihn an und legte beide Hände um seine Unterarme. „Außerdem will ich doch sehen, was du in den letzten zehn Jahren so angestellt hast.“

„Nichts Weltbewegendes“, sagte er. „Ich leiste nur meinen Anteil.“

„Und den von vielen anderen, wie ich dich kenne“, fügte sie hinzu.

Er tat ihre Worte ab. Er wusste, dass sie ihm ein Kompliment machen wollte. Aber Aufmerksamkeit brachte ihn immer dazu, sich unwohl zu fühlen.

„Was ich tun muss“, gab er zu. Brody warf einen Blick auf ihre Hände. Ihre Nägel waren wunderschön manikürt und glänzten leicht. „Du wirst dir die Nägel abbrechen und nicht nur welche einschlagen.“

Irena grinste. Der Gedanke daran, den Hammer zu schwingen, gefiel ihr. So könnte sie die Anspannung loswerden, die sie immer noch spürte.

„Das macht mir keine Angst, weißt du“, erklärte sie. Dann reckte sie das Kinn und warf das Haar über die Schulter zurück. „Ich hab noch nie Angst vor harter Arbeit gehabt.“

„Wovor hast du Angst?“ Die Frage rutschte ihm einfach so heraus, und er bedauerte das sofort. Das war viel zu persönlich.

Zu seiner Erleichterung reagierte sie nicht mit Verschlossenheit oder Zurückweichen. Stattdessen erwiderte sie leichthin: „Nicht viel.“ Dann, ernster, fügte sie hinzu: „Außer vielleicht, zu viel Zeit zu haben.“

Es gefiel ihm, ihre Hände zu spüren. Er genoss ihre Nähe, wenn auch nur für einen Augenblick. „Und woran liegt das?“

Verdammt, wenn sie doch nur Ryan nicht geliebt hätte – wenn sie Ryan nicht lieben würde …

Sie stieg ins Auto und schnallte sich an. „Wenn ich zu viel Zeit habe, fange ich an zu grübeln, an mir selbst zu zweifeln, alles zu Tode zu analysieren. Und das bringt einfach nichts.“ Brody ließ den Motor an, und sie lehnte sich zurück. „Ich kann das Rad nicht zurückdrehen und etwas ändern.“

„Was würdest du ändern, wenn du könntest?“, fragte er.

Sie starrte ihn an. „Ach, einfach nur … Dinge“, flüsterte sie.

Er wusste, was er aus ihrem Kommentar heraushören wollte – dass sie es bedauerte, nicht gemerkt zu haben, dass er sie liebte, dass er derjenige war, der ihr immer treu sein würde, nicht Ryan. Wahrscheinlich meinte sie nur, dass sie Hades nicht verlassen würde, wenn sie eine zweite Chance hätte. Dass sie Ryan verziehen hätte und sich mehr bemüht hätte, ihn fest zu binden.

Wer weiß, vielleicht hätte das ja funktioniert. Aber er hatte da so seine Zweifel.

Dann waren sie auf dem Weg zum Reservat. Schweigend sah Irena sich um, während Brody fuhr. Das Tageslicht machte die trostlose Landschaft schöner.

Nichts hat sich verändert, dachte sie. Hier gibt es keine Zeit. Auch wenn wir schon lange tot sind, wird es hier immer noch so trostlos aussehen. Nichts würde …

Irena blinzelte und versuchte, etwas vor ihnen zu erkennen. Ein anderes Auto. Nur stand es mitten auf der Straße.

Irena konnte erkennen, dass jemand im Wagen war.

„Wer ist das?“, fragte sie.

„Da bin ich mir noch nicht sicher“, sagte Brody und trat aufs Gas.

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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